DIE WEISSE WAND aus: Martin Benad: Farbgestaltung

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DIE WEISSE WAND aus: Martin Benad: Farbgestaltung
DIE WEISSE WAND
aus: Martin Benad: Farbgestaltung. Das Handbuch für Maler, Raumgestalter und Innenarchitekten.
Deutsche Verlags-Anstalt, München, 2. Auflage 2002, 128 Seiten mit ca. 160 Fotos, Farbtafeln und
Diagrammen in Farbe und einer Mappe mit rund 50 Lasur-Musterblättern im A4-Format. ISBN 3-421-032750, Verkaufspreis: 76,- €
Kontakt: [email protected]
Papier ist weiß. Dieses Kapitel ist auf weißem Papier gedruckt. Graue Steuerbescheide oder
Telefonrechnungen sind ebenso die Ausnahme wie rosarote Liebesbriefe und
Geburtstagsglückwunschkarten. Das eine ist Ökopapier, das andere Designerware, beides sind Spezialfälle.
So ist es auch mit Wänden. Welche Farbe haben die Wände des Zimmers, in dem Sie sich gerade
aufhalten? Wahrscheinlich Weiß. Um diese weißen Wände geht es, nicht um wirkungsvolle Ausnahmen, wie
etwa teure Spachtelwände, mit denen man Eindruck macht, oder ockerfarbene Landhauswände, durch die
auch kleine Mietwohnungen wie mediterrane Feriendomizile wirken. Es geht auch nicht um das erstklassige
Styling farbiger Wohnorgien in ausgesuchten Architekturzeitschriften und den Farbenreichtum afrikanischer
Lehmhütten. Das sind Ausnahmen, die das tägliche Leben nicht wirklich berühren.
Der Alltag ist immer noch von weißen Wänden geprägt. Und die Meinung hält sich hartnäckig, daß man für
Farbgestaltung nicht nur einen großen Geldbeutel mitbringen muß, sondern auch ungeheuren Mut, um sich
auf das unberechenbare Experiment farbiger Wände einzulassen.
Meistens muß der Farbenplaner sein Dasein durch Argumente rechtfertigen. Nicht nur gegenüber
Häuslebauern und Hausverwaltern, sondern auch vor den kritischen Augen zahlreicher Architekten. Die
haben sich im Lauf der letzten 15 Jahre daran gewöhnt, die Farbe Blau in ihr Repertoire aufzunehmen und
entdecken zur Zeit die Glättspachteltechnik in einem hellen Beige-Grau. Sie wetteifern dabei mit dem
schmucklosen Charme einer protestantischen Kirche - auch beim Argumentieren. "Zu dominant" heißt es
oft, wenn wirklich interessante Muster vorgelegt werden. Der Herr im Haus (der Dominus) ist nämlich Weiß.
Man sollte keine anderen Farben haben neben ihm.
Dabei ist es nicht einmal die Sehnsucht nach dem himmlischen, über alles vergänglich Bunte erhabene
Weiß des Barock, die den Architekten umtreibt. Hoch im Kurs ist heute die reine Klarheit, das PsychischSaubere, das den Raum nicht verunklart, sondern in seinen architektonischen Strukturen unterstreicht. Der
Hang zur Selbstdarstellung manch eines Planers triumphiert häufig über die Einsicht, daß Architektur für
fühlende Menschen gemacht werden sollte und nicht die Aufgabe hat, "Raum an sich" zu gestalten.
So hat der Trend "Wohnen mit Farbe" an dem Vorurteil, mit weißen Wände mache man nichts falsch, da sie
"neutral, freilassend und freundlich wirken", wenig geändert. So wie es "richtiges Papier" und
Designerpapier gibt, so gibt es auch Standardwände und Designwände. Darum nennen sich die Maler, die
nicht nur weiß rollen, neuerdings "Design-Maler". Früher ging jeder Maler ganz selbstverständlich mit Farbe
um. So ändern sich die Zeiten.
Die folgenden "7 Argumente gegen die weiße Wand" möchten dem engagierten Maler, Farbenplaner und
Innenarchitekten Argumente liefern. Nicht, um blindlings eine Farbinflation zu forcieren, sondern um Farbe
als Gestaltungsmittel und -notwendigkeit auch für die alltäglichsten Belange ernst zu nehmen.
1. Weiß wie Schnee: Fröhliches Frösteln im Rauhfaser-Iglu
Skifahrer und Nordpol-Expediteure benötigen eine Schneebrille. Das Auge, gewöhnt an grüne Auen, braune
Äcker und bunte Felder, ist der starken Blendung nicht gewachsen. Als ein echter Sonderfall in der Natur ist
die rein weiße Umgebung nur in extremen Situationen anzutreffen. Dort ist es immer kalt und ungemütlich,
und ohne spezielle Ausrüstung ist ein Überleben nicht möglich.
Schnee reflektiert das auftreffende Licht in hohem Maß. Und genauso sollen es die weißen Wände tun. Aber
welches Ideal steckt dahinter? Man will nichts mit dem Licht anstellen, was es verändert, beeinflußt,
veredelt. Nichts zeigen, was erst durch Licht und im Licht geworden ist ... "Rohes, ungeformtes Licht" soll
uns den Alltag in Gebäuden erleuchten. Hauptsache hell. Und genauso lebensfern wie eine
Nordpolexpedition. Dabei wäre doch ein Osterspaziergang mit Goethe sehr viel erbaulicher. Der wußte
bereits "[...] Aber die Sonne duldet kein Weißes [...] alles will sie mit Farben beleben."
2. Kalkweiß ... vor Schreck?
Weiß in der Architektur hat eine lange Tradition - den Kalk. Weiß gekalkte Wände finden wir auch heute
noch, wo naturverbundene Menschen an blauen Küsten ihre Häuser in blitzende Kleinode verwandeln und
hinter reflektierenden Fassaden in angenehm kühlen Räumen leben. Der farbliche Zusammenhang mit dem
Titandioxid in industriellen Dispersionsbeschichtungen ist da eher zufällig. Auch in Gegenden, in denen
früher Holzwände und Lehmputz Tradition waren, ist Titanweiß heute ein Wohnideal. Mit dem guten alten
Kalk hat das nichts zu tun, eher mit dem Wunsch nach überirdischer Reinheit und Emanzipation von allem
Natürlichen. Das vollkommene Weiß eines hochdeckenden Anstrichs wird dann auch mit dem ersten Dübel
in der Wand renovierungsbedürftig. Und wie vor Schreck erstarrt steht die Wand da, leblos in ihrer Weißheit,
die doch eigentlich über alles Zufällige erhaben sein sollte.
3. Eine perfekte Synthese aus Sparsamkeit und Angst
Büros sind fertig eingerichtet, wenn der Computer angeschlossen ist und das Telefon funktioniert. Sprech-,
Warte- und Behandlungsräume werden in Betrieb genommen, sobald die nötigen Apparate und Sitzmöbel
aufgestellt wurden. Bis auf wenige Ausnahmen (zum Beispiel bei Tiefgaragen) hat es die Einsicht schwer,
daß farbige Gestaltungen die Bewohnerzufriedenheit steigern, Vandalismus vorbeugen und Krankenstand
reduzieren. Noch immer bedarf es engagierter begeisternder Verkaufsgespräche, um erfolgreich darauf
hinzuweisen, daß die zusätzlichen Kosten für Farbenplanung und -gestaltung nur einige Promille der Baubeziehungsweise Einrichtungssumme betragen. Außerdem macht sich diese Investition durch ihre
Folgewirkungen mehr als bezahlt. Neben dieser falschen Sparsamkeit spielen natürlich auch verschiedene
Ängste eine Rolle. Wenn man nun die falsche Farbe auswählt? Wenn sich die Mitarbeiter dann noch
unwohler fühlen ...? Und schon vergessen sind die Renovierungsintervalle, die es möglich machen, ohne
Mehrkosten eine weniger gelungene Farbentscheidung zu korrigieren. Daß man mit Weiß auch eine
Entscheidung trifft, die denkbar ungünstigste sogar, wird gar nicht bewußt. Weiß ist doch keine Farbe.
Oder?
4. Weiß säen und Grau ernten
Goethe bemerkt in § 12 seiner Farbenlehre (1810): "Wer aus der Dämmerung ins nicht blendende Helle
kommt, bemerkt alle Gegenstände frischer und besser; daher ein ausgeruhtes Auge durchaus für mäßige
Erscheinungen empfänglicher ist." Wir danken Goethe für diesen Paragraphen im Kampf gegen weiße
Windmühlenflügel. Ein in der Dämmerung "ausgeruhtes Auge" sieht also besser als eines, das durch zu viel
Helligkeit desensibilisiert wurde. Je nach Lichtmenge vergrößert oder verkleinert sich die Pupille, und durch
große Pupillen sieht man besser. Einerseits heißt das: Sehr helle Räume setzen die Aufmerksamkeit für
feine Seheindrücke herab. Andererseits - und das behandelt Goethe in den nachfolgenden Paragraphen sind alle Seheindrücke, seien sie nun bunt oder unbunt, mit virtuellen Begleiterscheinungen verknüpft, die
den Wahrnehmungsvorgang ihrerseits beeinflussen. Wir nennen das heute zum Beispiel "Simultankontrast"
und "Sukzessivkontrast". Der Blick auf ein weißes Kreuz auf schwarzem Grund erzeugt im Nachbild ein
schwarzes Kreuz auf weißem Grund. Je länger man auf eine unifarbene Fläche starrt, um so weniger Farbe
sieht man, da sich das komplementäre Nachbild über die angestarrte Fläche schiebt und eine ins Graue
gehende Mischung einleitet, und so weiter. Diese Experimente sind allgemein bekannt und erforscht. In
einigen Galerien zog man, rechtzeitig vor dem 200jährigen Goethe-Jubiläum, die Konsequenzen. Die
Exponate hängen nicht auf Weiß, sondern auf Grau, manchmal sogar auf farbigen Wänden. Überzeugen
Sie sich selbst, und legen ein kleines rotes Papierstückchen (2 x 2 cm) auf einen weißen und auf einen
schwarzen Karton. Das weißgrundige Rot wirkt matt, während das schwarzgrundige leuchtet. Ein mittleres
Grau in der Helligkeit des Rot bringt die Farbe "objektiv" zur Geltung. Natürlich gelten diese Gesetze auch
im Büro, im Treppenhaus und anderen Räumen, in denen wir uns aufhalten. Die weiße Wand imprägniert
das Auge komplementär: Ein Grauschleier legt sich auf alles Angeschaute. Und je unerbittlicher die Wand
beleuchtet wird, um so mehr verschließt sich das Auge.
Dieses Sich-Verschließen gilt übrigens nicht nur auf der physiologischen Ebene. So wie ein rein weißer
Raum kurzfristig wach machen und die Aufmerksamkeit erhöhen kann, so kann er bei längerem Aufenthalt
ermüdend und abstumpfend wirken. Weiß ist "100 % Licht", und wer 100 % Aufmerksamkeit über längere
Zeit entfalten soll, bei dem setzen ganz natürliche Ermüdungserscheinungen ein.
5. Objekte statt Emotionen
Noch einmal zu den roten Papierschnipseln. Auf Weiß wirken sie wie kleine Teilchen, wie Dinge, die auf der
Papieroberfläche liegen. Auf Schwarz beginnen sie zu leuchten und wirken wie farbige Lichter, die aus dem
Untergrund heraus strahlen. Nehmen Sie ein rotes, grünes, gelbes Schnipselchen zugleich: Auf Grau
vereinen sich alle zum Ensemble, während sie auf Weiß oder Schwarz ein abschattiertes beziehungsweise
leuchtendes Einzeldasein führen. In der Regel hat man nicht Möbel in Rot, Grün und Gelb zugleich, und
darum ist auch keine neutralgraue Wand erforderlich, um ein Ensemble zu bilden. Ein warmes Ocker hinter
hölzernem Mobiliar, ein kühles Azur im Umfeld von Edelstahl und Granit schaffen Einheit statt Vereinzelung.
Wer den Objektcharakter seiner Einrichtung betonen möchte, wählt weiße Wände. Auch der Nutzer des
Raums wird dann zum Objekt. Er steht der Wand und den gleichsam "einzelkämpferischen" Gegenständen
distanziert gegenüber. Wenn Modefirmen wie Jil Sander weiße Wände für ihren Flagship-Store wählen,
dann nicht ohne Grund. Die Ware wird in ihrem emanzipierten Designanspruch präsentiert - weitere
Verkaufsargumente werden durch das bauliche Ambiente nicht geliefert und sind in diesem Umfeld auch
kaum möglich. Dabei kann die konsequent puristische Linie in ihrer schlüssigen Umsetzung auch wieder
fast so etwas wie Gefühle wecken. Der Kunde ist fasziniert von der suggestiven Kraft eines unterkühlten
ästhetischen Ideals.
Bei vielen anderen Gebäuden hingegen weiß man nicht, ob Weiß bewußtes Gestaltungsmittel oder das
Ergebnis ängstlicher Sparsamkeit ist. Und die weißen Wände in Postfilialen und sonstigen
"Abfertigungsräumen" scheinen lediglich ein Ausdruck dafür zu sein, daß Kunden Objekte sind, die sich in
einer langen Schlange aufzustellen haben. Sie teilen sich den Raum dann mit unzähligen Werbedisplays
und Formularständern, die vor den weißen Wänden selbst hochmodern renovierte Schalterräume optisch zu
Rumpelkammern machen.
6. Die weiße Fahne
In diesem Abschnitt soll nun die weiße Fahne der Unterhändler und Friedensboten geschwungen werden.
Selbstverständlich ist Weiß genauso großartig wie alle anderen Farben, nur ein bißchen einseitiger. Gelb
kann man verdichten, dann wird es orange, Grün auflockern, dann wird es gelblich, Blau konzentrieren,
dann wird es violett. Denken wir uns auf den Äquator von Runges Farbenkugel (oder auf den "Äquator"
eines zeitgenössischen Farbraummodells): Bunte Farben gehen ineinander über, indem sich ein kleines
Stückchen ihrer Qualität verwandelt. Aber weißer als Weiß geht nicht. Darum heißen Weiß, Schwarz und
Grau die "unbunten" Farben. "Unbunt" ist ein Synonym für unbeweglich. Damit ist nur ein kleiner, vielleicht
mißverständlicher Wesenszug der unbunten Farben angedeutet. Ein Blick auf die historische und
symbolische Verwendung sowie auf kollektive Assoziationen mag diesen Hang zum Absoluten,
Kompromißlosen des Weiß verdeutlichen: Das weiße Opferlamm, die weiße Friedenstaube, das weiße Ei
und das weiße Totenhemd. Weiß gilt symbolisch sowohl als Farbe des Wissen und Schweigens als auch
des Nichtwissens und Vergessens, der weiße Klapperstorch bringt die Kinder, blendend weiß ist das
überidische Licht der Erleuchtung und der Auferstehung ... Natürlich gibt es auch weiße Bäckerschürzen.
Doch im kollektiven Bewußtsein leben weniger die Frühstückssemmeln als das Überirdische, Geistige,
Unfaßbare, wenn wir an Weiß denken. Aber um alles in der Welt: Was hat das mit Wohnen, Leben und
Arbeiten zu tun?
7. Die weiße Leinwand und die Kunst, ein Bild zu malen
Was gibt es Schöneres als weiße Wände - jene perfekten Maluntergründe, deren Jungfräulichkeit zu neuer
Schöpfung ruft? So poetisch muß es der Malermeister seinem Kunden natürlich nicht sagen. Da reichen
vielleicht die Sätze: "Sie bekommen etwas ganz Individuelles. Farben strahlen Atmosphäre aus. Sie
spiegeln Ihre Gefühle, Ihre Persönlichkeit wider." Oder einfach nur: "Farbe ist schön."