Das schweizerische Berufsbildungssystem: Entwicklung oder

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Das schweizerische Berufsbildungssystem: Entwicklung oder
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Jürgen Oelkers
Das schweizerische Berufsbildungssystem:
Entwicklung oder Stagnation?*)
Bildungssysteme haben Stärken und Schwächen - Das zu sagen, ist nicht trivial, weil
bis vor kurzem alle Systeme nur Stärken hatten. Die Stärken waren Selbstzuschreibungen
ohne Datenbasis, also wohlfeile Meinungen, die sich verschiedener Stereotypen bedienen
konnten und die nicht überprüft werden mussten. Im deutschsprachigen Raum ist eine dieser
Stereotypen die Meinung, dass „man uns im Ausland um das duale System beneide.“ Das
duale System halte die Berufsbildung auf dem höchsten Stand und müsse keinen Vergleich
scheuen. Die Datengrundlage für diese Annahme war bis vor kurzem die Fortschreibung der
Behauptung; was der „höchste Stand“ ist, musste nicht gesagt werden. Echte Vergleiche mit
dem Ausland liegen kaum vor, ein „PISA für Berufsbildung“ gibt es bislang nicht und ist bis
2009 auch nicht vorgesehen.
Gleichwohl ist heute erlaubt, nicht nur auf Stärken, sondern auch auf Schwächen
hinzuweisen, ohne gleich als Verräter an der Bildung dazustehen. Selbstimmunisierung, lange
die Regel, ist nicht mehr ohne weiteres möglich. Die Hauptschwächen der Berufsbildung in
der Schweiz sind:
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Überregulierung: Jugendliche müssen mit 15 Jahren in der „Hochpubertät“ zwischen
rund 300 Berufen wählen, statt dass sie zuerst für Berufsfelder ausgebildet werden,
innerhalb deren sie später eine Vertiefungswahl treffen.
Zu lange Lehrzeiten: Vierjährige Lehren sind zu lang und dienen vor allem den
Arbeitsgebern (Bereitstellung praktisch vollwertiger Arbeitskräfte).
Zu wenig Lehrstellen: Die Zahl der Berufslehreabbrecher ist wohl vor allem deswegen
hoch, weil ein duales Ausbildungssystem mindestens 20% mehr Lehrstellen als
Lehrlinge haben müsste (was lange in der Schweiz zutraf). Dies führt zur Verteilung
der knappen Lehrstellen auf Lehrlinge statt von Lernwünschen auf Lehrstellen.
Neue Berufe sind tendenziell immer zu knapp an Lehrstellen, die aber häufig bei
Jugendlichen begehrt sind. Wir leben in der Berufsbildung faktisch mit einem
Numerus clausus, der bei den Universitäten zu einem offenen Aufstand führen würde.
Meine Schwächeanalyse ist ein Zitat. Das Zitat ist einem unveröffentlichten Text eines
bekannten Autors entnommen, dem gemeinhin grosse Erfahrung und Urteilskraft zuerkannt
wird, nämlich dem ehemaligen Zürcher Bildungsdirektor ERNST BUSCHOR. Ich werde mir
erlauben, seine These zu prüfen und setze voraus, dass er mir sein Imprimatur für das Zitat
erteilt hätte, würde ich ihn gefragt haben. Aber hat er Recht? Sind das die entscheidenden
Schwächen des Berufsbildungssystems? Und was wären die Stärken, die ja im Zuge der
Misstrauensverbreitung durch PISA nicht einfach übersehen werden können?
*)
Vortrag auf der Tagung „Berufsbildungssysteme“ im Lilienberg Unternehmerforum am 21. September 2004.
2
Zur Beantwortung dieser Fragen werde ich drei Schritte unternehmen: Zunächst stelle ich
dar, warum Berufsbildungssysteme zunehmend unter Druck geraten und sich nicht länger auf
Lösungen verlassen können, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelt wurden (1). In
einem zweiten Schritt werde ich auf Gründe eingehen, die Unternehmen veranlassen,
Lehrlinge auszubilden oder auch keine Lehrlinge auszubilden (2). Abschliessend komme ich
auf mein Thema zurück und stelle Entwicklungsaufgaben des schweizerischen
Berufsbildungssystems dar (3).
Sie haben sich einen Vertreter der Allgemeinen Pädagogik eingeladen und müssen nun
damit leben, dass ich eine Systemanalyse vorlege, die auch auf die Schweiz angewendet wird,
aber das schweizerische System nicht als Sonderfall der Entwicklung betrachtet. Ich werde
auch nicht auf die Lage der Gesetzgebung eingehen, also das neue Bundesgesetz für
Berufsbildung untersuchen, sondern jene Systemprobleme in den Mittelpunkt stellen, auf die
das BUSCHOR-Zitat hinweisen sollte. Und ich beginne mit der Geschichte dieser Probleme, die
auf Deutschland bezogen sein wird.
1. Lernen, Ausbildung und Arbeit
Der Begriff „duales System“ wird in Deutschland erstmalig 1964 im Gutachten über
das berufliche Ausbildungs- und Schulwesen des Deutschern Ausschusses für das Erziehungsund Bildungswesen gebraucht (BOHNENKAMP/DIRKS/KNAB 1966, S. 429).1 Der Begriff wird
zunächst historisierend verwendet; „um die Jahrhundertwende“, heisst es in dem Gutachten,
sei ein „duales System der beruflichen Ausbildung und Erziehung für Lehrlinge begründet“
worden, das es zuvor so nicht gab (ebd., S. 429/430). Was in Preussen von 1923 an
„Berufsschule“ genannt wurde, ging zurück auf die Bestrebungen des von OSKAR PACHE2
gegründeten „Vereins der Freunde und Förderer der deutschen Fortbildungsschule“. Der
Verein wollte die locker organisierten und nicht verbindlichen Fortbildungsschulen zu
obligatorischen Vollschulen entwickeln, was erst im Oktober 1937 mit einem Erlass des
Reichsministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung erreicht wurde.
Dieser Erlass verbot, kurze, flexible Kurse als „Schulen“ zu bezeichnen, mit denen
zuvor auf wechselnde Ausbildungsbedürfnisse reagiert worden war. Erstmalig wurde auch
verbindlich definiert, was die Stellung der Berufschule im dualen System ausmachen soll.3
Mit dem Reichsschulpflichtgesetz von 1938 wurde dann die Berufsschulpflicht eingeführt, die
nachträglich nie wieder in Frage gestellt wurde. Nicht mehr nur die Volksschule, auch der
Besuch der Berufsschule wurde für alle Auszubildenden verbindlich. Ursprünglich war die
Idee, mit der Berufsschule die „grosse Lücke zwischen der Volksschule und den Beginn des
Wehrdienstes“ zu füllen (ebd., S. 431), was von Anfang an mit Aufgaben der
„staatsbürgerlichen Erziehung“ verknüpft war, von denen nie klar war, was genau sie
ausmachen und warum für sie eine eigene Schulform zuständig sein sollte. Zur Begründung
genügte seinerzeit die Autorität von GEORG KERSCHENSTEINER, zum Durchsetzen die Lobby
1
Das Gutachten wurde am 10. Juli 1964 in Bonn verabschiedet. Zentralen Einfluss auf das Gutachten nahm
HEINRICH ABEL (1908-1965), der 1963 als Professor für Berufs-, Arbeits- und Wirtschaftspädagogik an die
Technische Universität Darmstadt berufen worden war.
2
OSKAR PACHE war seit 1896 Direktor der 1876 gegründeten IV. Fortbildungsschule und -wesen für Knaben in
Leipzig-Lindenau. Die Einrichtung von Fortbildungsschulen steht im Zusammenhang mit Massnahmen zur
Beschulung von Ungelernten (BIERMANN/KIPP 1989).
3
„Berufsschulen sind sämtliche Schulen, die pflichtmässig von gleichzeitig in der praktischen Ausbildung (mit
Lern- oder Ablernverhältnis und dergleichen) oder in Arbeit befindlichen jungen Menschen sowie von
erwerbslosen Jugendlichen besucht werden“ (MinErl. Reichsmin. f. Wiss., Erz. u. Volksb. vom 20. 10. 1937).
3
der Fortbildungsschulen. Sie setzte nicht nur eine theoretische, schulförmige Ausbildung
neben der praktischen Lehre durch, sondern zugleich einen steigenden Anteil an
Allgemeinbildung, für die zuvor ja schon die Volksschule gesorgt hatte.
Das Gutachten von 1964 enthält alle Argumenten und Begründungsformen, die auch
heute noch verwendet werden, wenn es um die Legitimation der Berufsschule im dualen
System geht:
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Lehrlinge seien derzeit billige Arbeitskräfte, nicht „Jugendliche, die
auszubilden“ seien;
• die Ausbildner müssten „pädagogisch und fachlich besser auf ihre Aufgaben
vorbereitet werden“;
• eine „zeitgemässe, erfolgreiche Berufsausbildung (müsse) betriebliche und
schulische Ausbildungsmethoden einander“ annähern, wo Betriebe das nicht
könnten, müssten Schulen die Aufgaben übernehmen;
• der geschlossene Lehrgang sei der Ausbildung „en passant“ überlegen, „und
zwar auch dann, wenn diese den Richtlinien der Berufsordnung entspreche“
(BOHNENKAMP/DIRKS/KNAB 1966, S. 421ff.).
Interessant ist, dass in dem deutschen Gutachten der Berufsbegriff mit „europäischen
Denken“ zusammen gebracht und von amerikanischen Ansätzen abgegrenzt wurde, von denen
es heisst, sie würden nur „von den Anforderungen des jeweiligen Arbeitsplatzes“ ausgehen
und kein Konzept wirklicher Bildung vertreten. Die europäische Auffassung stelle die Person,
ihre Ausbildung und Erfahrung in den Mittelpunkt (ebd., S. 481/482), nicht einfach den
„Job“. Das „Festhalten am personengebundenen Beruf“ aber sei das beste Mittel, auf die
„gewandelten gesellschaftlichen Verhältnisse“ und mit ihnen auf „die veränderte Stellung des
Berufs im Leben des einzelnen“ zu reagieren (ebd., S. 482). Im Kern müsse man Erziehung
zum Beruf als umfassende Bildungsaufgabe erfüllen, also ein altes Postulat EDUARD
SPRANGERS endlich erfüllen.4
Das Gegenteil, also fortlaufendes training-on-the-job, wird geradezu apokalyptisch
ausgeschlossen; wer von den Anforderungen des Arbeitsplatzes ausgehe, handele
grundsätzlich „apädagogisch“.5 Gleichzeitig wird wie selbstverständlich davon ausgegangen,
dass zusätzliche staatliche Leistungen nötig sind, um auf einen steigenden
Qualifizierungsbedarf, der nicht näher beziffert wird, reagieren zu können. Mein letztes Zitat
aus dem folgenreichen Gutachten von 1964 lautet so:
„Im ganzen aber sind die qualitativen und quantitativen Anforderungen an die
Ausbildung der Jugendlichen derartig gewachsen, dass daraus eine öffentliche
Verpflichtung geworden ist. Ihre Erfüllung hat mit legitimen, aber heute in ihrem
Verhältnis noch nicht ausgewogenen wirtschaftspolitischen, sozialpolitischen und
kulturpolitischen Interessen zu rechnen und deren Aspekte zu berücksichtigen“
(BOHNENKAMP/DIRKS/KNAB 1966, S. 473).
4
Allgemeinbildung und Berufsschule. Vortrag auf dem XIII. Deutschen Fortbildungsschultag am 27. Mai 1920
in Dresden (SPRANGER 1920).
5
„Wir haben heute nur die Wahl, die in der modernen Zivilisation auch im Felde der Arbeit und des Berufes
liegenden menschenbildenden Kräfte zu erschliessen und in der Jugendbildung wirksam zu machen oder vor der
Herausforderung unserer Zeit zu resignieren. Solche Resignation freilich würde bedeuten, die in dieser Welt
aufwachsende und ihr offen zugewandte Jugend in der zentralen Aufgabe, die ihre Existenzgründung und –
sicherung betrifft, allein zu lassen oder apädagogischen Kräften zu überlassen“ (BOHNENKAMP/DIRKS/KNAB
1966, S. 475).
4
Hinter dem etwas kryptischen zweiten Satz verbergen sich die Leitannahmen der Zeit,
also die mit OECD-Statistiken gestärkten Theorien, dass Wirtschaftswachstum wesentlich mit
Investitionen im Bildungsbereich zu tun habe, der Theorie der Chancengleichheit, die direkt
mit dem Ausbau des beruflichen Schulwesen verkoppelt wird (ebd., S. 474), und schliesslich
die Annäherung von allgemeiner Bildung und fachlich-beruflicher Ausbildung, wobei auf die
feine Differenz zwischen „Bildung“ und „Ausbildung“ zu achten ist, die nur die deutsche
Pädagogik gepflegt hat.
Sehr viel anders scheint die Theorielage heute nicht zu sein. Die OECD verfolgt
weiterhin eine Mischung aus Human Capital-Theorie und Postulaten der Chancengleichheit,
das duale System wird wohl zur Reform empfohlen, aber grundsätzlich mit weitgehend
unveränderten Argumenten verteidigt (SCHLAFFKE/WEISS 1996), und auch die feine Differenz
zwischen Bildung und Ausbildung ist nach wie vor wirksam. „Bildung“ folgt einer
neuplatonischen Begründungsspur, die auf den Anfang des 18. Jahrhunderts zurück weist und
in den Köpfen vieler Gymnasiallehrer immer noch sehr lebendig ist (OELKERS 1999), die
Bildung zweckfrei verstehen wollen. Demgegenüber ist „Ausbildung“ an die Niederungen der
Arbeitswelt gebunden, an praktische Tätigkeiten, die, obwohl mühselig, gründlich gelernt
werden müssen, wenn man im Berufsleben Erfolg haben will.6
Aber vierzig Jahre nach dem Gutachten des deutschen Ausschusses hat sich die
ökonomische und betriebliche Realität dramatisch verändert. Genauer: die Realität „Beruf“
hat sich irreversibel geändert, mit Folgen, die kaum absehbar sind. Die ersten Verträge, die
nach der Neuordnung des deutschen Lehrlingswesens 1897 mit Lehrlingen geschlossen
wurden, gingen davon, dass die Jugendlichen einen Beruf lernen würden, den sie lebenslang
ausüben könnten. Dem trugen auch die 1907 erstmals im Landwirtschaftsbereich
durchgeführten Lehrlingsprüfungen Rechung, deren Ordnungen auf grundlegende Fähigkeiten
und Fertigkeiten ausgerichtet waren, die einmal und dann auf Dauer gelernt werden sollten.
Das meint der Ausdruck „gründliche Berufsausbildung“ (BOHNENKAMP/DIRKS/KNAB 1966,
S. 482), der davon ausgeht, dass Berufe am Anfang so gelernt werden, dass die Grundlagen
beherrscht, geprüft und dauerhaft genutzt werden können.
Aber das traf schon 1907 nur in dem Sinne zu, dass Lernen auf Prüfungsordnungen
eingestellt wurde. Zudem war es schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts leichtsinnig, einen
Begriff „Beruf“ für alle möglichen Sparten zu verwenden und damit einheitliche
pädagogische Postulate mit zu verbinden. Aber was immer „Berufe“ mit einander gemein
haben, vor allem unterscheiden sie sich, und dies nicht zuletzt im Blick darauf, wie sie gelernt
werden sollen. Die von ERNST BUSCHOR erwähnten mehr als 300 Schweizerischen
Reglemente für Lehrlingsausbildungen betonen jeweils ihre Eigenständigkeit und die
Geschlossenheit ihrer Kompetenzen, wobei die Regelemente (nicht unbedingt das neue
Berufsbildungsgesetz)7 letztlich immer noch der Idee der „Ausrüstung“ folgen. Man muss
vorher lernen, was man später - und dies möglichst in toto - brauchen kann. Es handelt es sich
im Sinne MAX WEBERS um einen pädagogischen Idealtypus, der mindestens Schulbildung
immer noch massgeblich prägt.
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Wo der Heranwachsende seine Lernarbeit im Zusammenhang mit späterer „ökonomischer Sicherung“ und
„sozialer Einordnung“ sehen lernt, „wird er auch Anstrengung und Mühsal, wie sie mit jeder Berufstätigkeit
verbunden sind, als den von ihm geforderten Einsatz verstehen, durch den er sich dem Lebend er Gesellschaft
einordnet und an ihm teilhat“ (BOHNENKAMP/DIRKS/KNAB 1966, S. 482).
7
Die Zweckbestimmung wenigstens bezieht sich auf ein „Berufsbildungssystem, das den Einzelnen die
berufliche und persönliche Entfaltung und die Integration in die Gesellschaft, insbesondere in die Arbeitswelt,
ermöglicht und das ihnen die Fähigkeit und die Bereitschaft vermittelt, beruflich flexibel zu sein und in der
Arbeitswelt zu bestehen“ (BGB Art. 3 a).
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Lernen liegt im Sinne dieses Idealtypus der Arbeit voraus. Beides kann unterschieden
werden, so dass Zuordnungsprobleme nicht auftreten. Ausbildung ist Lernen, nicht schon
Arbeit; Arbeit setzt gelerntes Können voraus, das wohl ständig verbessert werden kann, aber
nicht mehrfach erzeugt werden muss. Das historische System der Berufsbildung basiert auf
der Annahme, am Anfang grundlegende Kompetenzen erzeugen zu können, die dauerhaft
wirksam sind, ohne ein zweites, ein drittes oder viele Male neu strukturiert werden zu müssen.
Man wird in einem Beruf ausgebildet, und die Erwartung geht dahin, das anschliessende
Lernen auf die Anforderungen dieses Berufes - und nicht vieler verschiedener Tätigkeiten ausrichten zu können.
Darauf reagiert die Praxis der Reglemente: Die formellen Anforderungen an die
Grundausbildung sind so hoch, dass es unmöglich ist, für mehrere Berufe gleichzeitig
ausgebildet zu werden. Allein diese Feststellung klingt anstössig und wirkt geradezu wie ein
Angriff auf die Seriosität der Ausbildung, obwohl in Zukunft
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kaum jemand lebenslang in einem Beruf arbeiten wird,
„Berufe“ ihren geschlossenen Charakter dramatisch verlieren,
die Professionalität sich zunehmend an Projekten orientiert,
Projekte hohe und originelle Lernfähigkeit verlangen,
„Lernfähigkeit“ Umlernen voraussetzt und
Lernqualität sich am individuellen Vermögen bemisst.
MAX WEBER (1972) hat drei typische Formen von moderner Arbeit beschrieben, die
auf Industrieproduktion, Gewerbetätigkeit sowie die Arbeit in Bürokratien bezogen waren. In
allen drei Fällen galten rationale Standardisierungen, die weitgehend unpersönlich verstanden
werden konnten. Die Symbole waren „Fliessband“, „Kaufhaus“ und „Grossraumbüro“, sie
verwiesen auf Rationalisierungen der Herstellung, des Handels und der Verwaltung, für die
bestimmte Tätigkeiten standardisiert werden konnten. Die Ausbildung zielte auf diese
Tätigkeiten, also auf eine wesentlich vorher bestimmbare Arbeit, die in ihre Elemente zerlegt
und gemäss dieser didaktischen Zergliederung gelernt werden konnte. Die handwerklichen
und landwirtschaftlichen Berufe näherten sich dieser industriellen Rationalisierung an und
konnten daher auf vergleichbare Weise didaktisiert werden.
Wenn es heute in der Schweiz mehr als 300 Reglemente allein im Bereich der
Ausbildung für die BBT-Berufe8 gibt,9 dann zeigt dies die historische Macht der
Rationalisierung, die wesentlich darauf fusst, mit Lernen gezielt auf absehbare und qualitativ
hoch stehende Berufsarbeit vorbereiten zu können. Aber: Arbeitsplätze gehen im Bereich der
Industriearbeit schnell und unwiederbringlich verloren, ebenso im digitalisierbaren Sektor der
Dienstleistungen oder als Folge der Reduktion von Grossbetrieben auf ihre Kerngeschäfte.
Neue, nicht-niederschwellige Arbeitsplätze entstehen oft nur unter drei Voraussetzungen,
Schnelligkeit, Nicht-Automatisierbarkeit und vielfältiger Einsatz allgemeiner Kompetenzen,
die auf je neue Tätigkeiten hin ausgerichtet werden. In diesem Sinne ersetzt Lernen
rationalisierte Arbeit, die auf mechanischen und nicht digitalen Grundlagen entwickelt wurde.
Mit der Überwindung mechanischer Rationalität sind weitgehende und dramatische
Folgen verbunden,
8
Berufe, die vom Bundesamt für Berufsbildung und Technlogie (BBT) anerkannt werden.
Die innere Differenzierung ist fast noch erstaunlicher. Etwa die Berufsschulen gewerblich-industrieller
Richtung unterscheiden sich in 16 verschiedene Felder und differenzieren diese Felder in mehr als 60 Bereiche
mit je eigenen Anforderungen.
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die ständige Neugestaltung von Arbeit durch Lernen,
die Auflösung starrer Arbeitszeiten,
die Minimierung arbeits- und lernfreier Zeiten,
die Erweiterung individueller Lernverantwortung,
die Selbstorganisation von Karrieren,
die ständige Neuverteilung von Gewinn und Verlust.
Die Berufsbildung wird sich auf diese neuen Verhältnisse einstellen müssen, und das
ist kein leichter Prozess. In der Schweiz werden derzeit 60% der Lehrverhältnisse im
traditionellen Gebiet des Veredelungssektors ausgebildet, der noch etwa 20% der Betriebe
ausmacht, während rund 70% der Betriebe im tertiären Dienstleistungsbereich nur etwa 20%
der Lehrverhältnisse ausbildet. Die Nachfrage der Zukunft gilt neben den niederschwelligen
Tätigkeiten deutlich Beschäftigten mit hoher und breiter Allgemeinbildung, die vielfach
wechseln und umlernen können, ohne sich mit einmal gelernten „Grundlagen“ zufrieden zu
geben. Die Besonderheit oder die Isolierung der Berufsbildung schwächt sich in dem Masse
ab, wie sich dieser Prozess durchsetzt. Die starre Trennung zwischen Berufsbildung und
Allgemeinbildung wird also durch die Entwicklung der Arbeitsmärkte und konkreter: der
Beschäftigungsverhältnisse porös.
Der Grund ist ein verändertes Verhältnis von Arbeit und Lernen: Wenn man überhaupt
noch von „Berufen“ sprechen kann, so ist Lernen nicht mehr nur die Vorbereitung darauf,
sondern die Grundlage der Berufstätigkeit selbst. Die didaktische Differenz von Lernen und
Arbeit, massgeblich zu Beginn des 20. Jahrhunderts, löst sich auf, weil Berufsarbeit
wesentlich zur Lernarbeit geworden ist. „Beruf“ heisst einfach kontinuierliche Problemlösung
unter je neuen Voraussetzungen, nicht mehr Anwendung des ein- für allemal Gelernten. Nach
der Ausbildung ist man nicht „fertig“, sondern nur für den Anfang qualifiziert; der Beruf
selbst besteht aus ständigem Weiterlernen, wer sich dieser Bedingung nicht anpasst, verliert;
die steigende Nachfrage nach Weiterbildung zeigt die Kalkulation von Kunden, die nicht
verlieren wollen. Daher ist nicht einfach „Bildung“ die Ressource der Zukunft, sondern
Lernfähigkeit, die imstande ist, Kompetenzen an je neue Situationen anzupassen und zu
entwickeln, ohne noch einen lebenslangen Beruf auszuüben.
Das verändert Bildung dramatisch, weil die Privilegien schrumpfen und stumpf
werden. Zeugnisse und Berechtigungen sind im 19. Jahrhundert eingeführt worden, um die
Zugänge zu einzelnen Berufen kontrollieren zu können. In dieser Hinsicht besteht zwischen
einer Industrielehre und der Niederlassung eines Arztes kein Unterschied, der Erfolg des
Lernens wird durch Patente bescheinigt, mit denen spezifische Privilegien verbunden sind.
Patente dieser Art sind immer abschliessend; sie bescheinigen berufliche Kompetenz nicht
unter dem Vorbehalt weiterer Lernprozesse, sondern eröffnen einen definitiven Berufszugang.
Aber es ist kein Zufall, dass „Kompetenz“ heute mehr und mehr in persönlichen Portfolios
beschrieben wird. Dabei spielen nicht Abschlussnoten die entscheidende Rolle, sondern die
Qualität permanenter Lernprozesse. Anders wäre es zum Beispiel unmöglich gewesen,
innerhalb kurzer Zeit ganze Generationen von Sekretariatskräften auf Computerprogramme
umzustellen.
Das Beispiel zeigt noch etwas: Lernfähigkeit bezieht sich zunehmend auf selbst
verantwortete und auch weitgehend selbst organisierte Ausbildung, die von starren
didaktischen Programmen mehr und mehr abrückt und sich auf immer neue, kurzfristige
Anfordernisse einzustellen versteht. Dadurch verändert sich nicht nur der Zeithorizont der
Ausbildung, sondern auch die Zuständigkeit, die nicht mehr einfach auf Schulen übertragen
werden kann, die abschliessend regeln, was an Lernen notwendig ist und was nicht. Die
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schulischen Lernquanten werden in Konkurrenz treten zur individuellen Lernarbeit, die sich
selbst auszurüsten versteht, und dies nicht mehr pauschal für „Leben“ oder „Beruf“ ohne jede
Frist, also auf fiktive Weise „lebenslang“, sondern für bestimmte Anforderungen, die sich
situativ stellen, also die genutzt oder verpasst werden können. In gewisser Hinsicht wird man
der eigene Bildungsunternehmer, der sich auf Nachfrage einzustellen versteht und am besten
selbst Nachfrage erzeugt.
Das setzt vor allem die Institutionen der Allgemeinbildung unter Druck, die wesentlich
mit starren didaktischen Programmen arbeiten und auf Selbstorganisation kaum oder nur
unzureichend eingestellt sind. Die zentrale Schwäche der Gymnasien etwa sind die
überfachlichen Kompetenzen, also die Strategien des Lernens, die gegenüber fachlichem
Unterricht deutlich zu kurz kommen (MAAG-MERKI 20028). Das Problem der
Allgemeinbildung generell besteht darin, dass ihre Verwendbarkeit kaum abgesehen werden
kann. Auch die Volksschule hat eine sehr vage Nutzenkalkulation, was sich nicht zuletzt
daran zeigt, welche Argumente angeführt werden, wenn Senkungen der staatlichen Ausgaben
angekündigt werden. Um ein aktuelles Zürcher Beispiel zu verwenden: Es ist nicht sehr
überzeugend, wenn ein vergleichsweise hoch dotiertes Fach wie Handarbeitsunterricht gegen
vergleichsweise moderate Kürzungen mit dem Hinweis auf die „Ganzheitlichkeit“ des
Lernens und unter Rückgriff auf PESTALOZZIS Formel „Kopf, Herz und Hand“ verteidigt
wird. Daten für diese Rechtfertigung stehen nicht zur Verfügung, wirkliche Standards gibt es
nicht, die Verwendung des Gelernten ist unklar, das Fach selbst erscheint eher in einer
sentimentalen Perspektive - kein Wunder also, dass hier zuerst gekürzt wird.
Generell kann „Verwendbarkeit“ nicht heissen, vom Angebot auf den Nutzen zu
schliessen. Das Problem ist immer, wie schulische Lerninhalte anschliessend genutzt werden.
In der fachdidaktischen Diskussion ist inzwischen klar geworden, dass viele Schüler Physik
oder Chemie allein für die Schule und genauer: für die Prüfungen lernen, ohne dass ein
nachhaltiger Effekt erzielt werden würde (SHAMOS 1995). Auch sehr aufwändigen und für die
Dauer der Schulzeit erfolgreichen Mathematikunterricht vergisst man, wenn anschliessend für
das Gelernte kein Anwendungsbedarf besteht. Und es wäre eine eigene Studie wert
herauszufinden, was vom Musikunterricht in staatlichen Schulen bleibt, wenn nutzbare
Kompetenz eher in den privaten Musikschulen entsteht.
Auch hier lautet das zentrale Stichwort Lernfähigkeit. Die inhaltliche Bestimmung von
„Allgemeinbildung“ muss auf Standards und Niveausicherung gerichtet sein, nicht oder nur
im Blick darauf auf die Vermittlung von lexikalischen Gehalten, die heute den Grossteil des
Unterrichts ausmachen, obwohl sie vielfach ausserhalb der Schule frei zugänglich sind. Das
Lexikalische wird nivelliert angeboten, während sich die persönliche Lernfähigkeit am
Niveau entscheidet. Das verlangt nicht nur Differenzierungsfähigkeit im Angebot der
Schulen, sondern vor allem individuelles Vorankommen, das überflüssige Erfahrungen
vermeiden kann. Neurophysiologen sagen bekanntlich: use it or lose it.
Damit entsteht ein neuartiger Effizienzdruck, der Leerlauf bestraft, während Schulen
immer noch Noten ohne Qualitätsnachweise verteilen können. Aber
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wer Frühenglisch lernen soll, muss mit gehaltvollem Englisch abschliessen,
wem die Hochsprache zugemutet wird, muss sie möglichst perfekt beherrschen
lernen,
wer neun Jahre lang fünf Stunden jede Woche die Anliegen der Mathematik
erlebt, muss am Ende über dauerhafte Kompetenzen verfügen,
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wer Lesen und Schreiben lernt, muss am Ende über mehr verfügen als lediglich
Kulturtechniken in den Anfangsgründen und
wer Sozialkompetenz aufbauen soll, darf sie nicht lediglich als Schulanlass
verstehen.
Allgemeinbildung ist wesentlich ein Niveauproblem. Bildung generell ist die
Akzeptanz von Lernstandards, also die Höhe einer Schwierigkeit, die Tiefe eines Problems
oder die Beständigkeit einer Herausforderung. Irgendwann gibt es keine Erleichterung mehr
und je eher Lernen auf den Ernstfall eingestellt wird, desto besser ist der Effekt. In diesem
Sinne sollte Allgemeinbildung nicht als Paradiesgarten vorgestellt werden, die letzte Zuflucht
vor der Unerbittlichkeit des Arbeitslebens, vielmehr muss auch und gerade die
Allgemeinbildung, entgegen der Herkunft ihrer Konzepte, nützlich sein. Die Zeit des Lernens
muss genutzt werden, möglichst hohe Niveaus in den allgemeinen Kompetenzen aufzubauen,
also wesentlich im Blick auf moderne Sprachen, Naturwissenschaft und Mathematik,
Wirtschaft, Gesellschaft und Politik, ästhetische Kultivierung sowie nicht zuletzt Lern- und
Arbeitstechniken.
Gegenüber der Allgemeinbildung, die eine geschlossene Welt darstellt, profitiert die
Berufsbildung von ihrer Nähe zu den Arbeits- und Lernfeldern der Wirtschaft. Sie kann sich
der Flexibilisierung des Lernens und des Arbeitens nicht verschliessen und wird mit
pragmatischer Anpassung reagieren müssen; eine automatische Unentbehrlichkeit gibt es in
Zukunft nicht mehr, und genau das setzt Lernfähigkeit frei. Dringlicher erscheint ein anderes
Problem: Die heutige Berufsbildung kann nicht davon ausgehen, dass in der Breite jene
Kompetenzen vorhanden sind, die sie voraussetzen muss und an die sie anschliessen kann.
Das System ist zwischen Berufsbildung und Allgemeinbildung nicht verzahnt, weil die
Schnittstellen und Übergänge nicht oder höchst unzureichend gestaltet werden. Auch hier
fehlen Standards, denen der Unterricht folgen würde, so dass eher zufällig ist, ob sich mit
guten Noten auch echte Kompetenzen verbinden.
Ich komme darauf im letzten Abschnitt meines Referates zurück, gleichsam als
Übergang frage ich, warum, wenn das so ist, Betriebe Lehrlinge einstellen und warum nicht.
Wenn Betriebe keine Lehrlinge einstellen, dann wird öffentlich in aller Regel nicht nach den
Gründen gefragt, sondern werden Zuschreibungen mobilisiert, die wie Reflexe abgerufen
werden können. Als befänden sich die Betriebe noch in KERSCHENSTEINERS Zeiten, wird
Lehrlingsausbildung als moralische Aufgabe verstanden, die nicht zu erfüllen, politische
Sanktionen nach sich zieht, man denke an die deutsche Diskussion der „Lehrstellenabgabe“.
Das setzt voraus, dass Lehrlingsausbildung für die Unternehmen ein gesellschaftlicher Wert
an sich ist, der unabhängig von seiner Qualität und seinem Nutzen verstanden werden kann.
Aber Betriebe sind selten philanthropisch eingestellt und müssen gerade im
Ausbildungsbereich lohnende Aufgaben vor sich sehen. In meinem zweiten Schritt gehe ich
auf die Gründe näher ein, die Betriebe und Unternehmen veranlassen, Lehrlinge einzustellen
oder eben auch nicht.
2. Gründe für und gegen Lehrlingsausbildung
Die im März 2003 vorgestellte Studie „Kosten und Nutzen der Lehrlingsausbildung
aus der Sicht Schweizer Betriebe“ (WOLTER/SCHWERI 2003) hat in einer repräsentativen
Erhebung bei 2300 Betrieben die ökonomischen Faktoren der Anstellung und Beschäftigung
9
von Lehrlingen untersucht. Die Studie geht zu Recht davon aus, dass diese Faktoren
gegenüber den pädagogischen Erwartungen in der Vergangenheit weitgehend vernachlässigt
worden sind und aber die Zukunft der Berufsbildung ebenso weitgehend bestimmen werden.
„Auf einen Nenner gebracht“, heisst es in der Studie, „kann man davon ausgehen, dass, falls
die Ausbildung von Lehrlingen ökonomisch keinen Sinn machen würde, diese in ihrer
heutigen Form schwerlich überleben könnte“ (ebd., S. 3).
Grundsätzlich und über alle Sparten gerechnet, lohnt sich die Ausbildung von
Lehrkräften. Der allgemeine Befund der Studie lautet daher:
„Bei fast zwei Dritteln aller Betriebe rechnet sich die Lehrlingsausbildung trotz der
hohen Kosten … schon während der Lehrzeit, d.h. die durch die Ausbildung
entstehenden Kosten werden durch die produktiven Leistungen der Lehrlinge
kompensiert, in den meisten Fällen sogar überkompensiert“. (ebd., S. 5).
Besonders aussagekräftig ist es, den Verlauf der Kosten-Nutzen-Ströme über die
gesamte Dauer der Lehrzeit zu beobachten. Über diese Daten heisst es:
„Die Bruttokosten steigen mit der Lehrzeit aufgrund der zunehmenden Lehrlingslöhne,
doch steigen die produktiven Leistungen über die Lehre stärker an.
Somit resultieren sinkende Nettokosten beziehungsweise zunehmende Nettoerträge.
Das letzte Lehrjahr ist jeweils das für die Betriebe rentabelste. Bei den vierjährigen
Lehren sind die Unterschiede zwischen den Lehrjahren besonders ausgeprägt.
In den ersten beiden Lehrjahren wird offensichtlich in das Humankapital der Lehrlinge
investiert, was sich in niedrigen produktiven Leistungen und hohen Nettokosten
äussert, während in den darauf folgenden Lehrjahren ein entsprechend hoher Nutzen
erzielt werden kann“ (ebd.).
Aber es gibt eben nicht „die“ Lehrlingsausbildung. Kosten und Nutzen unterscheiden
sich stark nach Betriebsgrössen, Branchen, Sprachregionen und nicht zuletzt den Lehrberufen
selbst. Die Ausbildung zum Elektromonteur ist enorm kostengünstig, die Ausbildung zum
Polymechaniker sehr teuer. Beide Ausbildungen sind vierjährige Berufslehren, aber die erste
ist wesentlich früher produktiv als die zweite. Polymechaniker werden in den ersten
Lehrjahren viel intensiver betrieblich ausgebildet als Elektromonteure, was die Kosten erhöht
und die zur Verfügung stehend Zeit für den produktiven Arbeitseinsatz mindert (ebd., S. 6).
Auch innerhalb ein- und desselben Lehrberufes können unterschiedliche zeitliche Abläufe der
Ausbildung und der produktiven Tätigkeit beobachtet werden. Schliesslich ist die
Verbleibquote der Lehrlinge, also die Zahl derer, die nach Abschluss der Lehre im
Ausbildungsbetrieb verbleiben, umso höher, je höher der rekrutive Opportunitätsertrag
ausfällt.
Dass sich die Lehrlingsausbildung in den Betrieben mehrheitlich lohnt, heisst nicht,
dass die traditionellen Formen der Ausbildung erhalten bleiben. Die Studie erwähnt einen sich
verstärkenden Trend zum Outsourcing der betrieblichen Ausbildung, die verlagert wird vom
Betrieb in externe, autonome Ausbildungszentren, deren Leistungen eingekauft werden (ebd.,
S. 7). Das klassische duale System wird damit unterlaufen, die Betriebe bilden nicht mehr
selbst aus, sondern lassen ausbilden, wobei die Auslagerung ganz oder teilweise erfolgen
kann. Für diese Strategie des Outsourcing sprechen zwei Gründe: Das pädagogische Know
How für die betriebliche Ausbildung gehört nicht zum Kerngeschäft und ist zugleich derart
anspruchvoll geworden, dass es als externer Service abgerufen werden muss. Zweitens
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erlauben Auslagerungen den kostengünstigen „Zusammenschluss mit gleichartigen
Tätigkeiten anderer Firmen“ (ebd., S. 8).
Die Betriebe sind auch gefragt worden, warum sie Lehrlinge ausbilden. Bei den
Motiven steht nicht die Kosten-Nutzen-Rechnungen im Mittelpunkt, sondern das Image:
„Die Hauptmotive … für die Lehrlingsausbildung … sind immer noch in der starken
Verankerung dieses Ausbildungsmodus in der Bildungstradition unseres Landes zu
suchen. Lehrlingsausbildung aus Imagegründen, weil es zur Firmentradition gehört
oder weil man damit junge Arbeitskräfte am besten in die Unternehmenskultur
einführt, sind die dominierenden Argumente“ (ebd., S. 8/9).
Weniger starke Argumente richten sich auf Innovationsfähigkeit oder
Wandlungsfähigkeit am Markt, also das, was die Zukunft des Betriebes am meisten
beeinflussen wird. Betriebe, die nicht ausbilden, werden sich von den herkömmlichen
Argumenten kaum beeindrucken lassen. Dabei gibt es auch in den ausbildenden Betrieben
eine deutliche, wenngleich eher unbewusste Kosten-Nutzen-Steuerung. Zwar spielt eine
betriebswirtschaftliche Kalkulation der Lehrlingsausbildung nur bei einer Minderheit der
Ausbildungstriebe eine Rolle, schon gar nicht als zentrales Ausbildungsmotiv, aber das
tatsächliche Ausbildungsverhalten der Betriebe korreliert „sehr stark mit den betrieblichen
Kosten- und Nutzenstrukturen“ (ebd., S. 9).
Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt die Lehrstellenumfrage 2003 des Kantons Zürich
(Gruppe Corso 2003). Sie stellt gesamthaft einen leichten Abbau von Lehrstellen fest, wobei
interessant ist, welche Betriebe aus welchen Gründen Lehrstellen anbieten oder nicht mehr
anbieten. Bei den Betrieben, die Ausbildung anbieten, steht auch in dieser Studie das, wie es
heisst „bewusste Bekenntnis zur Lehrlingsausbildung“ selbst in wirtschaftlich schlechten
Zeiten im Vordergrund, also ein letztlich traditionelles Motiv. Gleichzeitig sagt knapp die
Hälfte der Betriebe, die Lehrlinge seien für sie eine „gute Lösung“, wobei man die KostenNutzen-Rechnungen der ersten Studie vor Augen haben muss. Lehrlinge sind in vielen Fällen
sehr kostengünstige Investitionen.
Gründe im Lehrstellenabbau liegen entgegen den landläufigen Erwartungen primär
nicht im wirtschaftlichen Umfeld und ergeben sich auch nicht aus der konjunkturellen
Abschwächung. Vielmehr werden zwei hauptsächliche Gründe angegeben, nämlich
firmeninterne Einschätzungen, etwa solche, dass die Ausbildner fehlen, keine genügende
Infrastruktur für Ausbildung vorhanden sei oder die personelle Belastung zu gross sei, auf der
einen, Qualitätseinschätzungen der Lehrlingsausbildung auf der anderen Seite. Hauptsächlich
moniert wurden die vielen Auflagen und bürokratischen Vorgaben, die schwer zu erfüllen
seien, sowie die Qualität der Lehrlinge selbst. 40,5% der Betriebe, die Lehrstellen abbauen,
geben an, sie hätten nicht die besten Erfahrungen mit Lehrlingen gemacht. Auf der anderen
Seite sagen nur knapp 5% dieser Betriebe, dass die Aufteilung zwischen der Zeit in der
Berufsschule und der Arbeit im Betrieb ungünstig sei. Die Berufsschule spielt in der Optik der
Betriebe in beiden Umfragen keine wirkliche Rolle, was man so interpretieren kann, dass die
Beziehung wohl geregelt ist, aber auch so, dass mindestens im allgemeinbildenden Bereich
die Ergebnisse in der Sonderwelt der Schule verbleiben und den Betrieb nicht tangieren, allen
Transfertheorien zum Trotz.
Ein interessanter Sonderfall ist die Entwicklung im kaufmännischen Bereich. Hier
bauen 85% aller befragten Unternehmen Lehrstellen ab, wobei 78% als Grund angeben, der
Abbau habe mit der KV-Reform zu tun. Als Hauptprobleme der Reform werden angegeben:
11
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•
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•
zu hoher Arbeits- und Zeitaufwand,
zu grosse zusätzliche Ausbildungsverantwortung,
zu geringer Mehrnutzen,
Notengebung durch den Betrieb.
Das gilt, obwohl alle Betriebe über die Reform gut informiert waren und mehr als die
Hälfte an speziellen Kursen oder Einführungsveranstaltungen teilgenommen hat. Es kann also
nicht ein Informationsdefizit gewesen sein, das zum Abbau der Lehrstellen geführt hat.
Vielmehr war die Reform offenbar das Problem.
Unter „KV-Reform“ wird eine anspruchsvolle Veränderung der kaufmännischen
Grundbildung verstanden, die neu einen Basiskurs, einen Modellehrgang sowie Arbeits- und
Lernsituationen umfassen, die die Lehrmeister in Prüfungsgesprächen beurteilen sollen. Es
gibt Prozesseinheiten, die sich auf Geschäftsfälle beziehen und von Lehrling selbständig
bearbeitet werden. Diese Fallanalysen benotet der Lehrmeister. Das Konzept soll auf der
Basis neuester konstruktivistischer Didaktik „Selbsttätigkeit“ befördern, aber ist mit
Sicherheit nie auf seine Belastungsfolgen hin gestestet worden. So etwas geschieht bei keiner
Reform, während Zeitökonomie Grundlage jeden Lernens ist, was wirklich nur eine
wohlmeinende Didaktik übersehen kann.
Auch die Zürcher Studie schliesst mit dem Hinweis auf das allgemeine Image der
Lehrlingsausbildung und die immer noch oder unverändert hohe Akzeptanz in den Betrieben,
was auch für die Betriebe gilt, die selbst gar nicht ausbilden. Auch wer nicht ausbildet, stimmt
die Meinung zu, „die Lehrlingsausbildung ist bei uns noch immer vorbildlich organisiert“,
und auch wer immer weniger Erfahrungen mit Lehrlingen hat, kann der Auffassung
beipflichten, dass ein Lehrbetrieb durch die Lehrlinge „immer wieder in Kontakt mit neuen
Entwicklungen kommt“. Es ist aber unverkennbar, dass zwei kritische Komponenten
ebenfalls recht stark betont werden: die Hälfte der befragten Unternehmen äussert sich
dahingehend, dass „die Qualität der Lehrlinge in letzter Zeit nachgelassen“ habe und 41%
sind der Meinung, dass die „Lehrlingsausbildung für viele Unternehmen immer weniger
attraktiv“ geworden sei.
Das sind natürlich weiche Daten, Meinungen auf sehr generelle Fragen hin, die wenig
Aufschluss geben über das reale Verhalten der Unternehmen. Immerhin erlauben die
Untersuchungen fünf allgemeine Schlüsse:
1.
2.
3.
4.
5.
Trotz der Begründungen mit „Image“ oder „Tradition“: Die
Lehrlingsausbildung muss sich lohnen.
Längere Lehren lohnen sich für die Betriebe tendenziell mehr als kürzere,
wobei der Ausbildungsaufwand auch innerhalb gleicher Lehren
unterschiedlich ist.
Es gibt einen Trend zur Auslagerung der betrieblichen Ausbildung in
spezialisierte Ausbildungszentren.
Die Berufsschulen haben eine nicht näher bezifferte Randstellung.
Reformen müssen auf die Ausbildungssituation der Betriebe bezogen
werden, sonst werden sie durch Lehrstellenabbau unterlaufen.
Dieser Befund ist interessant, aber auch sehr spezifisch. Er macht naturgemäss keine
Angaben über das Gesamtsystem, insbesondere nicht über das Verhältnis von Volkschule und
Berufsausbildung. Zudem ist der Befund eher konservativ, weil er wenig Aussagen enthält
12
über die zukunftsfähige Konzepte der beruflichen Bildung in ihrem Verhältnis zu dem, was
allgemeine Bildung genannt wird. Mit diesem Verhältnis beginnt mein dritter Teil, der der
Frage gewidmet ist, in welche Richtung sich das System entwickeln soll, wenn es von sich
aus eher konservativ reagiert?
3. Die Zukunft von „Bildung“ und „Beruf“
Berufsschulen entstanden, wie gesagt, aus zahlenmässig kleinen Fortbildungsschulen,
später auch Gewerbeschulen und verstreuten Fachschulen, die sehr lange keine staatlichen
Privilegien erhielten. Der Ursprung war nicht zufällig die Sonntagsschule. Die Schulen waren
eigentlich Kurse, für die tatsächlich zunächst nur der Sonntag zur Verfügung stand. Ihr
Auftrag war eng und im Blick auf Bildung diffus, weil eigentlich die Entwicklung der
Volksschule mit der Vorbereitung auf Leben und Beruf begründet wurde (OELKERS 2000, S.
50ff. u. pass.). Eine Schule für alle sollte reichen, war lange die Maxime der Bildungspolitik,
die kein duales System vor Augen hatte, weil es sich ursprünglich gar nicht anbot.
Erst mit der Etablierung eines eigenen Berufsschulwesens wurde die Volksschule in
dem Sinne autonom, dass sie „Allgemeinbildung“ auf ihre Fahnen schreiben konnte. Ihr
grösster Erfolg sozusagen war die Etablierung einer von ihr unabhängigen und an sie
anschliessenden Berufsschule, die einen eigenen Bildungsauftrag zu erfüllen hatte. Nunmehr
konnte zwischen „Allgemeinbildung“ und „Berufsbildung“ systematisch und konsekutiv
unterschieden werden, vorausgesetzt noch eine zweite, aber höhere Allgemeinbildung, die mit
der Matur abschloss und Zugänge zu den akademischen Berufen eröffnete. Die Pointe dabei
ist, dass Universitäten bis heute Mühe mit der Zuschreibung haben, sie bereiteten auf
„Berufe“ vor, weil sie das dann als Berufsschulen erscheinen lassen müsste.
Bildung ist auf diesen Wegen institutionalisiert worden, ohne die historischen
Differenzen zu beseitigen. Sie waren im Gegenteil sehr lange entwicklungsbestimmend,
Bildung per Schule bedeutete den Ausbau der Volksschule einschliesslich der
Sekundarschule, der Berufsschule und des Gymnasiums als getrennte Grössen mit je eigenen
Aufträgen und Interessen. Massgebend bis heute ist die mehr oder weniger strikte
Unterscheidung von „Allgemeinbildung“ und „Berufsbildung“, die weniger inhaltlich
überzeugt als davon lebt, dass ihre Institutionen nacheinander tätig werden. Sie sind nicht
verschränkt, sondern mit der Konsekution getrennt. Das gilt für die „niedrigere“ ebenso wie
für die „höhere“ Allgemeinbildung.
Eine Besonderheit der Berufsbildung ist es, dass sie in sich die Differenz von
Allgemein- und Berufsbildung nochmals abbilden muss, wiederum ohne Anschlussgarantie.
Um ausnahmsweise doch das neue Berufsbildungsgesetz zu zitieren, es gibt drei „Lernorte“
für die Vermittlung der beruflichen Grundbildung,
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den Betrieb oder andere Institutionen für die „Bildung in beruflicher Praxis“,
die Berufsfachschulen für die „allgemeine und die berufskundliche Bildung“
sowie Kurse oder „dritte Lernorte“ für „Ergänzungen der beruflichen Praxis
und der schulischen Bildung“
(Bundesgesetz Artikel 16, 2).
Bildung für den Beruf heisst zugleich Erlernen bestimmter beruflicher Fertigkeiten,
dazu passender Theorien und begleitende Allgemeinbildung, ohne dass sich die drei Seiten
13
immer harmonisch verhalten würden. Die grundlegende Idee ist die der vorbereitenden
Ausrüstung, die verlässlich antizipiert, was später abverlangt wird, was mit beruflichen
Fertigkeiten leichter möglich zu sein scheint als mit beruflicher Allgemeinbildung. Generell
ist der Adressat von „Allgemeinbildung“ schwer zu bestimmen. Nützlich ist
Allgemeinbildung im öffentlichen Raum, ohne dass die politische Öffentlichkeit aus sich
heraus Niveaus der Bildung angeben oder gar abverlangen würde. Die Standards werden
durch die Schulen definiert, die aber für die anschliessende Verwendung nicht zuständig sind.
Ihre Zuständigkeit endet mit dem Patent, das aber nur dann sinnvoll ist, wenn es über die
Schule hinausweist.
Bildung wird mit der eigenen Person repräsentiert, und dies in jeder Hinsicht. Es gibt
nicht die eine Bildung für das Allgemeine und die andere für den Beruf, sondern immer nur
lernende Aneignung im Blick auf die eigene Person. Das gilt gleichermassen für Wissen und
Können, aber auch für Stil, Habitus und Verhalten. Entscheidend für die Glaubwürdigkeit der
Präsentation von Bildung ist nicht lexikalische Allmacht, sondern individuelle Verknüpfung.
Da man nicht alles wissen kann, ist es sinnlos, mit Enzyklopädien zu konkurrieren; Bildung
heisst, sich zurechtfinden können, also die Probleme und Zusammenhänge zu erkennen, ohne
davor zurückzuschrecken. Gleichzeitig, wenn ich Recht habe, ist Bildung Akzeptanz von
Niveaus im Lernprozess, die nur dann entsteht, wenn Schwierigkeiten erfolgreich
überwunden wurden. Wer eine überwundene Schwierigkeit hinter sich weiss, kann sich das
nächst höhere Niveau als nicht unüberwindlich vorstellen. Wer es sich leicht machen kann,
weil Anforderungen gar nicht gestellt sind oder auf bequeme Weise unüberwindlich scheinen,
dem fehlt diese Erfahrung der dosierten Anstrengung. Zugleich fehlt das Bewusstsein des
zunehmenden Könnens, das für jede Form von Bildung grundlegend ist.
Die ständige Wiederholung historischer Gegensätze verbessert die Leistungsfähigkeit
des Bildungssystems nicht, ebenso wenig garantiert der damit verbundene, ermüdende
Diskurs, dass dieses System mit den richtigen semantischen Strategien operiert, also nicht
lediglich für die eine Seite „Fortschritt“ reklamiert, damit die andere Seite „rückschrittlich“
erscheinen kann. Das ist kein geringes Problem: Wenn ständig die Reformsprache der Praxis
im Wege steht, kann kaum ein Bewusstein entstehen, wie vorrangige von nachrangigen und
nebensächlichen Zielen unterschieden, also Prioritäten der Systementwicklung festgelegt
werden sollen. Genau das aber ist eine wiederum prioritäre Notwendigkeit, und dies
mindestens aus drei Gründen:
1. Die Systeme öffentlicher Bildung werden zunehmend unter Wettbewerb gestellt.
2. Wettbewerb heisst auch Verstärkung der privaten Konkurrenz.
3. Der Wettbewerb zwingt zur Konzentration der Kräfte und zur optimalen Nutzung
der Ressourcen.
Die Sprache der Bildungsideale verleitet dazu, derartige Aussagen als schrecklich
anzusehen, aber gelegentlich erzieht gerade der Horror, dazu nämlich, die Triebkräfte der
Entwicklung zu erkennen und rechtzeitig für eine Systemanpassung zu sorgen. Ein
Bildungssystem, das nicht ständig Nachweise seiner Leistungsfähigkeit erbringt, wird in der
internationalen Konkurrenz nicht mithalten können. Das Bewusstsein dafür muss sich
entwickeln, und das setzt Einsicht in die Risiken voraus. Es gibt genügend Alternativen, und
jeder Ausfall des öffentlichen Systems wird private Anbieter anreizen, vorausgesetzt, die
Kunden des Systems können wählen und sind nicht länger auf einen Monopolisten verwiesen.
Bildung ist inzwischen in vielen Teilen Geschäft, wenn nicht einfach nur die Entwicklung der
staatlichen Schulen betrachtet wird, sondern der gesamte Bildungsmarkt, der sich schneller
14
entwickelt als je zuvor. MAXIMILIAN BERLITZ hat nicht ahnen können, was er langfristig
auslöste, als er 1878 die Berlitz School of Languages gründete.10
Um nicht missverstanden zu werden: ich plädiere für einen starken öffentlichen Sektor
im Bildungsbereich, aber einen, der imstande ist, sich selbst unter Innovationsdruck zu setzen.
Was heute noch „Berufsbildung“ heisst, ist dafür ein gutes Beispiel: Die Ausbildung muss
darauf reagieren, dass berufliche Tätigkeiten oder allgemeiner Beschäftigungen der Zukunft
zwei gegensätzliche Tendenzen haben,
•
•
sie werden intelligenter, also erfordern mehr kognitive Fähigkeiten als je
zuvor,
und sie werden trivialer, also erfordern kaum mehr als situatives Know-How.
Viele Beschäftigungen im Dienstleistungssektor brauchen keine Ausbildung, und nicht
nur, weil Hamburger zu braten keine Bildungsniveaus abverlangt. Die Präsentation von Image
und Aussehen ist ebenso wenig ausbildungsabhängig, ähnlich die Gleichsetzung von
Unterhaltung mit Schwachsinn, genannt „Comedy“, oder die Stilisierung von Geschwätz zu
Talk-Shows, ein Ausdruck, der das Problem in höchster Bündelung zeigt. BRITNEY SPEARS,
schliesslich, muss nicht Singen gelernt haben, und niemand braucht Bildung, der lediglich mit
Pokémon-Figuren umgehen will. All das kann Beschäftigung sichern und so Einkommen,
wäre also im Sinne WEBERS „Beruf“, aber verlangt keine Schulung, jedenfalls keine, die den
Titel „Berufsbildung“ für sich reklamieren konnte.
Ausbildung lohnt sich nur dann, wenn Qualität erzeugt wird, also tatsächlich
Kompetenzen oder Strategien der Problemlösung entstehen, die ohne Ausbildung nicht
entstehen würden. Für viele Dienstleistungen genügt oft einfach das Talent oder die
Auffälligkeiten des Alltags. Die Vermarktung von Schönheit beispielsweise, oder überhaupt
von Auffälligkeit, verlangt Imagepflege und darauf bezogen Professionalität, ohne dafür eine
Ausbildung nötig zu haben. Ausbildungsinvestitionen müssen dort eingesetzt werden, wo
echter Bedarf vorhanden ist. Wenn berufliche Tätigkeiten intelligent werden und die
Intelligenz ständig verbessern müssen - das gilt für viele Bereiche des Dienstleistungssektors,
der einfach zwei Seiten hat -, dann sind ständig Lernleistungen gefordert, die immer neu
Ausbildung verlangen, allerdings nur eine solche Ausbildung, die zum Problem oder zum
Projekt passt und keine, die einfach nur Zeit verbraucht. In diesem Sinne wird Ausbildung
zum Service, der dann nachgefragt wird, wenn er hochgradige Brauchbarkeit unter Beweis
stellen kann.
Die langen Zeiten der Grundausbildung sind überall in der Kritik, Effizienzprobleme
kennt der gesamte Bildungsbereich, Versuche gehen an vielen Stellen in die Richtung eines
nachfragegenauen Angebotes, das die starren Lehrpläne ersetzt oder mindestens in Teilen
ablöst. Insofern befinden wir uns mitten in einem Experiment, das letztlich mit dem
pädagogischen Wohlfahrtsstaat zu tun hat. Die Veränderung der Berufsbildung in Richtung
einer flexiblen Lernorganisation, die schnell auf echte Probleme zu reagieren versteht und so
die eigene Nachfrage sichert, ist dabei ein Test für das gesamte System. Die Zukunft dieses
Systems ist nicht gesichert, wenn einfach nur Stunden erteilt werden, starre Richtlinien gelten
sollen und am Ende EU-Normen die Leistung bestimmen. Die Kunst wird nicht mit ISO10
MAXIMILIAN D. BERLITZ (1852-1921) entstammte einer deutschen Lehrerfamilie und wuchs im Schwarzwald
auf. 1872 wanderte er in die Vereinigten Staaten aus und gründete 1878 in Providence, Rhode Island das heutige
Unternehmen Berlitz International, Inc. Das Unternehmen vermarktete eine innovative Methode des
Sprachunterrichts ausserhalb von Schulgrammatik und Buchlernen. Lehrer sind ausschliesslich native speakers,
der Unterricht erfolgt in mündlicher Form und wird ohne Ausnahme in der Zielsprache abgehalten.
15
Normen definiert, sondern mit dem tatsächlichen Ertrag, blosse Standardisierung führt nicht
zur gehaltvollen Bildung, aber es ist Bildung, die die Lernfähigkeit bestimmt. Eine
Diskrepanz zwischen Bildung und Beruf gibt es dann nicht mehr.
Keine Angst, mit dieser wohlfeilen Allgemeinheit schliesse sich nicht, zumal ja noch
ERNST BUSCHORS Fragen anstehen. Was kann oder muss getan werden, das Bildungssystem
insgesamt zu verbessern, ohne den alten Gegensatz von „Allgemeinbildung“ und
„Berufsbildung“ immer neu ins Spiel zu bringen? Ich habe fünf Vorschläge,11 die sich nicht
auf den Begriff, sondern auf das System Bildung beziehen:
1. Transparente und innovative Gestaltung der Übergänge.
2. Kompetenzbezogene, lernfähige Bildungsstandards mit neuen Formen der
Qualitätssicherung.
3. Innovationsfähigkeit und selbst verantwortetes Lernen.
4. Projektorganisation und Aufhebung/Relativierung des Gegensatzes von Lernen
und Arbeit.
5. Aufbau und Entwicklung von Bildungszentren im Bereich Sekundarstufe II.
Berufsbildung beginnt nicht bei einem Nullpunkt. Viele Probleme entstehen dadurch,
dass zwei unterschiedliche Organisationen und Kulturen für Bildung sorgen, die wenig bis
nichts mit einander zu tun haben. Das hängt auch mit der nicht-konsekutiven
Ausbildungsverantwortung zusammen. Die Volkschule ist für ihren Bereich verantwortlich,
nicht - mit ihrem Produkt - auch noch für Lerneingangsqualität beim Übergang in die
nachfolgenden Ausbildungen. Die Übergänge sind nur formal geregelt, mit Noten und
Patenten, die keinen allgemeinen Standards unterliegen. Zensuren und Zeugnisse geben
individuelle Lehrerurteile wieder, die mehr oder weniger gut einen Klassendurchschnitt
beschreiben, ohne auf allgemeine Bezugsnormen oder eben Standards bezogen zu sein.
Aber nicht nur muss die aufnehmende Schule nehmen, was kommt, ohne auf die
Qualitätskriterien der abgebenden Schule wirklich Einfluss nehmen zu können, auch ist die
Erführung der obligatorischen Schulzeit immer noch weitgehend starr organisiert. Das gilt für
die Zeitökonomie der Schule generell und sollte mindestens in bestimmten Sektoren
überdacht werden. Wer in der neunten Volkschulklasse unmotiviert seinen Lernaufwand auf
das die Lehrkraft beleidigende absolute Minimum reduziert, etwa weil der Lehrvertrag schon
unterschrieben oder kein solcher Vertrag in Sicht ist, muss Alternativen erhalten. Das gilt
generell: Es ist sinnlos, einfach nur den Lehrplan zu erfüllen, wenn niemand etwas lernt, weil
die Basismotivation fehlt.
Ein Projekt, das auf diese Situation reagieren soll, heisst „Stellwerk“. Es dient der
Bestimmung des individuellen Standortes der Schülerinnen und Schüler Mitte des achten
Schuljahres. Mit Hilfe eines Tests soll der Leistungsstand jedes Schülers ermittelt werden. Je
nach Resultat entscheiden die Lehrkräfte, wie und in welchen Bereichen die Schüler bis zum
Ende des 9. Schuljahres gezielt gefördert werden können, um das Niveau zu erreichen, eine
Lehrstelle finden zu können. Dieses Förderprogramm ersetzt in Teilen den Lehrplan, der
zugunsten von gezielten Nachbesserungen in bestimmten Kompetenzbereichen gelockert oder
suspendiert wird. Es ist illusorisch zu erwarte, dass die Schülerinnen und Schüler bis Mitte
der 8. Klasse einen angeglichenen Leistungsstand erreichen werden, aber die Schule kann mit
gezielten Förderprogrammen die Chancen auf dem Arbeitsmarkt verbessern.
11
Vorausgesetzt, dass andere Reformen wie Berufsmatur oder die Entwicklung der Fachhochschulen weiter
entwickelt werden und den Rahmen bestimmen.
16
Im Kanton Zürich wie überhaupt in der Schweiz sind vor allem grössere Firmen dazu
übergegangen, Lehrlinge mit eigenen Tests und Assessments auszuwählen (MOSER 2004).
Der Volksschulabschluss ist dadurch systematisch entwertet worden, heute bekommen
Schulabgänger eine Lehrstelle in bestimmten Bereichen nicht mehr nur, weil sie gute
Schulnoten nachweisen können, sondern weil sie firmeneigenen Aufnahmeprüfungen
bestanden haben. Dabei werden Tests verwendet, die private Büros entwickelt haben und auf
die die Schulen keinerlei Einfluss nehmen können. Das Projekt „Stellwerk“ soll dieser
Entwertung der allgemeinbildenden Schule entgegenarbeiten, indem die für den
Bewerbungsmarathon und die Lehren selbst erforderlichen Kompetenzen nachgebessert
werden. Das Projekt dient vor allem den leistungsschwächeren Schülern.
Nicht nur hier, sondern generell muss in der Schule selbst verantwortetes Lernen
gefördert werden, das sich an aussichtsreichen und echten Problemen orientiert. Die Aufgaben
müssen transparent sein und von den Lernenden nachvollzogen werden können. Lernen und
Arbeit auf dieser Linie keine Gegensätze, sondern Entsprechungen. Und irgendwann müssen
in diesem Setting auch die wirklichen Lehrlinge auftauchen, nicht deren didaktische
Abstraktionen. Über die Lebenswelt von Lehrlingen wissen wir kaum etwas, weil die
Forschung immer von der umfassenderen, aber zugleich unscharfen Kategorie „Jugendliche“
ausgeht, hinter der die Besonderheit der Lehrlinge verschwindet. Die Berufsausbildung wäre
vermutlioh sehr viel erfolgreicher, wenn sie das tatsächliche Lernverhalten und die realen
Lernumwelten von Lehrlingen besser kennen und sich darauf einstellen könnte.
Last but not least: Die Grundidee, „Bildungszentren“ einzurichten und zu entwickeln,
entspricht einer internationalen Forderung, die auch die OECD vertritt, nämlich eine stärkere
Verknüpfung zwischen der allgemeinen und der berufsbezogenen Bildung (OELKERS 2001).
Diese Absicht bezieht sich auf zwei Kulturen, die bislang kaum Gemeinsamkeit zeigen
mussten oder wollten. Trotz dieser Unterschiede gibt es gute Gründe für die Erprobung von
Bildungszentren.12 Die Aufteilung zwischen Allgemeinbildung und Berufsbildung ist nur im
Sinne eines massvollen Nacheinander mit neuen Mischungsverhältnissen aufrechtzuerhalten.
Das inhaltliche Angebot bis zum Abschluss der Sekundarstufe I lässt sich als qualifizierte
Allgemeinbildung fassen, die, wie gezeigt, vor allem der Entwicklung von Lernfähigkeit und
Lernniveaus dienen muss. Wie das anschliessende Angebot aussehen soll, ist nicht mehr
lediglich eine Frage der überkommenen Schulformen, die nach „Bildung“ einerseits, „Arbeit“
andererseits unterschieden worden sind.
Gegenüber „eingleisigen“ Schulen haben Bildungszentren - im Modell gedacht - vor
allem den Vorteil der profilierten Kooperation und intelligenten Durchlässigkeit. Dieser
Vorteil wird aber nur dann in nennenswertem Umfang genutzt, wenn die Organisation darauf
eingestellt ist, also Standards definiert sind und für Modularisierung gesorgt ist. Zudem
müssen Probleme vorhanden sein, die sich mit Formen der Kooperation besser lösen lassen
als mit individuellen Anstrengungen. Als Entwicklungsprojekt benötigen Bildungszentren,
weil sie eine parallele Schnittstelle bearbeiten, lokale Trägergruppen, die über einen hohen
inneren Konsens verfügen.
Die Bildungszentren sollten auch die Durchlässigkeit innerhalb der grossen Sektoren
der Berufsbildung erproben, sofern dies vor Ort möglich ist. Das Problem besteht nicht allein
12
Der Ausdruck „Bildungszentrum“ ist eher unüblich (bisher kein Eintrag in xipolis.NEZ). Wenn, dann
bezeichnet er Tagungsstätten, Fachschulen oder städtische Bildungseinrichtungen. Eine Verwendung wie im
Zürcher Projekt, also die Kooperation zwischen Mittelschulen und Berufsschulen in speziellen Zentren, ist
vermutlich einmalig. Interessant ist, dass die Firma feusi sich als „Bildungszentrum“ bezeichnet
(http://www.feusi.ch/ )
17
zwischen der Gymnasial- und der Berufsbildung, sondern auch innerhalb der Berufsbildung,
die, anders als die Gymnasien, nicht nur unterschiedliche Profile kennt, sondern die in
verschiedene Sektoren und Kulturen unterteilt ist. Wenn in Zukunft flexible Wechsel der
beruflichen oder besser der Erwerbstätigkeiten zur Regel werden, kann die Berufsbildung
nicht einfach nach Sparten und Sektoren unterschieden werden, die wenig bis nichts
miteinander zu tun haben. Letztlich wird die Verzahnung mit dem Berufsfeld und dessen
Entwicklung ausschlaggebend sein.
Das wäre meine Botschaft. Allerdings ist noch eine Frage offen: Hatte nun ERNST
BUSCHOR Recht?
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Im Blick auf die Überregulierung eines klein parzellierten
Ausbildungsmarktes: ja. Grössere Berufsfelder, die mit mehr didaktischer
Kompetenz allgemeiner ausbilden und danach spartenmässig spezialisieren,
wären ein gangbarer Weg. Das käme dem Trend zum Outsourcing entgegen.
Im Blick auf zu lange Lehrzeiten: nein, wenigstens wenn man die KostenNutzen-Rechungen der Betriebe zugrunde legt. Ob die Lehrlinge davon
profitieren oder nicht, ist nicht erhoben worden.
Zu wenig Lehrstellen: Ja, aber nur in dem Sinne, dass es eine Zuweisung nach
Ausbildungswünschen unter der Voraussetzung von regelmässig 20%
Stellenüberschuss in Zukunft nie mehr geben wird.
Numerus clausus in neuen Berufen: Zwischen ja und nein, weil Knappheit für
alle attraktiven Berufslehren gilt, nicht nur für neue Berufe.
Die Gretchenfrage ist eher, dass neue wie alte „Berufe“ nicht länger Berufe im
klassischen Sinne sind. Letztlich muss die Berufsbildung lernen, ohne „Berufe“
auszukommen und Lernen im Blick auf fortlaufende betriebliche Problemlösungen in den
Mittelpunkt zu stellen. Was die Berufsschulen einst begründet hat, die Form des
geschlossenen Lehrgangs, hat nur noch in bestimmten Segmenten der Ausbildung
didaktischen Wert und muss vor dem Hintergrund bewertet werden, dass Wissen in
Professionen nicht an Bedeutung verliert, sondern gewinnt, aber schneller als je zerfällt und
anders als früher gelernt wird. Im Zentrum der beruflichen Tätigkeit steht erfolgreiches Know
How, nicht Wissen fürs Leben.
Literatur
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(Stand am 22. Dezember 2003).
BIERMANN, H./KIPP, M. (Hrsg.,): Quellen und Dokumente zur Beschulung der männlichen
Ungelernten, 1869-1969. Band I/II. Köln/Wien: Böhlau Verlag 1989.
BOHNENKAMP, H./DIRKS, W./KNAB, D. (Hrsg.): Empfehlungen und Gutachten des Deutschen
Ausschusses für das Erziehungs- und Bildungswesens 1953-1965. Gesamtausgabe. Stuttgart:
Ernst Klett Verlag 1966.
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des Mittelschul- und Berufsbildungsamtes des Kantons Zürich. Ms. Zürich 2003.
MAAG MERKI, K.: Evaluation Mittelschulen - Überfachliche Kompetenzen. Schlussbericht der
ersten Erhebung 2001. Universität Zürich, Pädagogisches Institut, Forschungsbereich
Schulqualität&Schulentwicklung. Vervielf. Ms. Zürich 2002.
18
MOSER, U.: Jugendliche zwischen Schule und Berufsbildung. Eine Evaluation des Übergangs
von der obligatorischen Schulbildung in die berufliche Grundbildung bei Schweizer
Grossunternehmen unter Berücksichtigung des internationalen Schulleistungsvergleichs
PISA. Ms. Zürich 2004.
OELKERS, J.: The Origin of the Concept of „Allgemeinbildung“ in 18th Century Germany. In:
Studies in Philosophy and Education Vol. 18, Nos. 1-2 (1999), S. 25-41.
OELKERS, J.: Schulrefom und Schulkritik. 2., vollst. überarb. Aufl.Würzburg 2000. (=
Erziehung, Schule, Gesellschaft, hrsg. v. W. BÖHM u.a. Bd. 1) (erste Aufl. 1995)
OELKERS, J.: Was und wie sollen Jugendliche im Jahr 2006 auf der Sekundarstufe II lernen?
Expertise zuhanden des Mittelschul- und Berufsbildungsamtes des Kantons Zürich. Zürich:
Bildungsdirektion 2001.
SCHLAFFKE, W./WEISS, R. (Hrsg.): Das duale System der Berufsausbildung. Leistung,
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SHAMOS, M.: The Myth of Scientific Literacy. New Brunswick; N.H.: Rutgers University
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SPRANGER, E.: Allgemeinbildung und Berufsschule. Vortrag auf dem XIII. Deutschen
Fortbildungsschultag in Dresden. In: Die Deutsche Fortbildungsschule 29 (1920), S. 313324.
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WOLTER, St. C./SCHWERI, J.: Kosten und Nutzen der Lehrlingsausbildung aus der Sicht der
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