Das Manuskript Kandinskys „Über das Geistige in der Kunst“, 1911
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Das Manuskript Kandinskys „Über das Geistige in der Kunst“, 1911
MAROKKO_001_136_KORR 14.08.13 14:04 Seite 50 50 Das Manuskript Kandinskys „Über das Geistige in der Kunst“, 1911 fertiggestellt, wurde im Januar 1912 veröffentlicht. Es war das erste seiner Bücher, das sich mit der Theorie abstrakter Zeichen befasste. Max Bill schreibt dazu im Vorwort zur achten Auflage: „Die vollständige Loslösung vom Naturvorbild, wie sie ebenfalls schon 1911 von František Kupka, 1913 von Kasimir Malewitsch und von Piet Mondrian erreicht wurde, ist möglicherweise auf Kandinskys Buch zurückzuführen, denn sein Inhalt wurde damals viel diskutiert. Doch wenn diese drei Pioniere der Neuen Kunst das Buch nicht gekannt haben sollten, so ist es ebenso interessant, sich vorzustellen, dass fast gleichzeitig, an verschiedenen Stellen: in München, Paris und Moskau, ähnliche Ideen sich realisierten, wie sie Kandinsky in seiner Schrift vorbereitet und in seiner Malerei verwirklicht hat.“60 Wie wir heute sehen, haben sich offensichtlich ähnliche Ideen nahezu zeitgleich in der Welt von Wissenschaftlern und Künstlern Europas und später auch Amerikas verbreitet. Zu den wegweisenden Anregern, insbesondere der Münchner Kunstszene, gehörte Wilhelm Worringer, der 1906 die kunstwissenschaftliche Untersuchung „Abstraktion und Einfühlung“ als Dissertation vorgelegt hat. 1908 erschien sie als Buch. „Wilhelm Worringer setzt sich in dieser Schrift eingehend mit dem Ornament und seinem geistigen Hintergrund in der orientalischen Kunst auseinander. Er stellte die Abstraktion (...) als den generellen Ausgangspunkt menschlichen Kunstschaffens dar.“61 Er skizzierte die Autonomie der Kunst gegenüber der Natur, auch gegenüber der Abbildung, und distanzierte sich von bisherigen Kunsttheorien. • „Die banalen Nachahmungstheorien, von denen unsere Ästhetik dank der sklavischen Abhängigkeit unseres gesamten Bildungsinhaltes von aristotelischen Begriffen nie loskam, haben uns blind gemacht für die eigentlichen psychischen Werte, die Ausgangspunkt und Ziel aller künstlerischen Produktion sind. Im besten Falle sprechen wir von einer Metaphysik des Schönen mit Verzicht auf das Unschöne, das heißt des Nichtklassischen. Aber neben dieser Metaphysik des Schönen gibt es eine höhere Metaphysik, die die Kunst in ihrem gesamten Umfang umfasst und die über jede materialistische Deutung hinausweisend sich in allem Geschaffenen dokumentiert, sei es in der Schnitzerei der Maori oder im ersten besten assyrischen Relief. Diese metaphysische Auffassung lässt erkennen, dass alle künstlerische Produktion nichts anderes ist als eine fortlaufende Registrierung des großen Auseinandersetzungsprozesses in dem sich Mensch und Außenwelt seit Anbeginn der Schöpfung und in aller Zukunft befinden.“62 • August Macke wies Franz Marc auf „Abstraktion und Einfühlung“ hin. Er hatte Worringers Buch gelesen und fand es „teilweise recht fein“. Er stellte es auf eine Stufe mit Kandinskys „Über das Geistige in der Kunst“.63 • An den Beispielen von Wahrnehmungsphänomenen, dem Verzicht auf jegliche Perspektive, der Autonomie der Kunst gegenüber der Natur und ihrer Abbildung, dem Spirituellen, das sich hinter der Abstraktion oder dem Konkreten verbirgt, zeigt sich mit einem Male die viel beschworene Verwandtschaft mit den marokkanischen Textilien. Es ist, als hätten die Weberinnen die Veröffentlichungen von Mach, Schumann, Worringer und Kandinsky studiert, als hätten sie am Grundkurs des Bauhauses bei Johannes Itten, Paul Klee oder Wassily Kandinsky teilgenommen. • Davon kann natürlich nicht die Rede sein. Offensichtlich sind aber den Weberinnen Wahrnehmungsgesetze, die sich europäische Wissenschaftler, Künstler und die Schüler am Bauhaus erst mühsam erarbeiten mussten, vertraut. Die Autonomie der Darstellung gegenüber der Natur, die Abstraktion, das Spirituelle, das Mystische, die Magie waren, seit frühgeschichtlicher Zeit bis in unsere Tage, Selbstverständlichkeit, gelebte Wirklichkeit, praktizierte Realität in Marokko. MAROKKO_001_136_KORR 14.08.13 14:04 Seite 51 ZU DEN URSPRÜNGEN DER KUNST Blühende Mohnwiese im Mittleren Atlas Boujad, 1930–35 Wolle JAA 51 MAROKKO_001_136_KORR 14.08.13 14:04 Seite 52 52 Ausschnitte von farbigen Wänden in Marrakesch MAROKKO_001_136_KORR 14.08.13 14:04 Seite 53 ZU DEN URSPRÜNGEN DER KUNST 53 Das Verbindende hatte früher und hat bis jetzt Vorrang vor dem Differenzierenden in Marokko. Vielleicht als bewusster Gegensatz zu den abrupten Grenzen zwischen üppigen Oasen und vegetationslosen Wüsten, den harten Grenzen zwischen Licht und Schatten, dem Neben- und Gegeneinander von Sesshaften und Nomaden. Weite Teile des Landes werden bis heute davon geprägt. So ist auch zu verstehen, dass der verbindenden Abstraktion der Vorzug gegeben wurde gegenüber der differenzierenden Abbildung. Die sunnitische Glaubensrichtung des Islam ließ Abbildungen, wohl nicht zuletzt aus diesem Grunde, ohnehin nicht zu. Das Gemeinsame hatte im täglichen Leben durch das Tragen der Djellaba in der Öffentlichkeit, auch wenn sich darunter Unterschiedliches verbarg, Vorrang vor dem Differenzierenden. Die nahezu schmuck- und weitgehend fensterlosen Fassaden in Medina und Mellah waren kaum voneinander zu unterscheiden, auch wenn sie im Inneren Welten voneinander trennten. Die Perspektive stellte sich unter diesen Voraussetzungen nie als Thema der Darstellung. Abstrakte Zeichen, die Abstraktion, nicht zuletzt als Träger symbolischer und magischer Inhalte, war eine Selbstverständlichkeit – als geistiges Gut, ein von alters her überkommener, instinktsicher, geistig und sinnlich wahrgenommener Schatz. Die bilderreiche Natur Marokkos, wie auch die Vielfalt von Magie in der marokkanischen Vorstellungswelt, halten bis heute ein Füllhorn an Anregungen bereit. Bildergleich changierende Farben mancher Wände können die Verwandtschaft zu nahezu monochromen Teppichen so wenig verbergen, wie zu manchen Bildern von Mark Rothko, Günther Uecker oder Sean Scully. MAROKKO_137_440_KORR 14.08.13 14:14 Seite 148 148 7 | Smalla, Boujad MAROKKO_137_440_KORR 14.08.13 14:14 Seite 149 PUNKT 149 8 | Hoher Atlas MAROKKO_137_440_KORR 14.08.13 14:14 Seite 150 150 9 | Haouz de Marrakech MAROKKO_137_440_KORR 14.08.13 14:14 Seite 151 PUNKT 10 | Aït Sgougou 151 MAROKKO_137_440_KORR 14.08.13 14:15 Seite 162 LINIE „Die geometrische Linie ist ein unsichtbares Wesen. Sie ist die Spur des sich bewegenden Punktes, also sein Erzeugnis. Sie ist aus der Bewegung entstanden und zwar durch Vernichtung der höchsten in sich geschlossenen Ruhe des Punktes. Hier wird der Sprung aus dem Statischen in das Dynamische gemacht. Die Linie ist also der größte Gegensatz zum malerischen Urelement – zum Punkt. (...) Die von außen kommenden Kräfte, die den Punkt zur Linie verwandeln, können sehr verschieden sein. Die Verschiedenheit der Linien hängt von der Zahl dieser Kräfte ab und von ihren Kombinationen. Letzten Endes können aber alle Linienformen auf zwei Fälle zurückgeführt werden: 1. Anwendung von einer Kraft und 2. Anwendung von zwei Kräften a. ein oder mehrmalige, abwechselnde Wirkung der beiden Kräfte, b. gleichzeitige Wirkung der beiden Kräfte. (...) Während die Gerade eine volle Negierung der Fläche ist, trägt die Gebogene einen Kern der Fläche in sich.“ (Punkt und Linie zu Fläche, S. 57–58) Eine Linie oder mehrere Linien, vertikal oder horizontal, zeichnen sich ab auf dem gewebten oder geknüpften Untergrund, wobei die Frage, was horizontal und was vertikal ist, bei Textilien nicht eindeutig zu beantworten ist. Mehrere vertikale und horizontale Linien, als Quadrat- oder Rechtecknetz, diagonal in einer oder zwei Richtungen, sich kreuzend, ein Rautennetz erzeugend, Zickzack- oder frei geformte Linien, die in einer oder mehreren Kurven über die Grundfläche schwingen, bilden sich ab vor dem Hintergrund der Grundfläche. Eine große Vielfalt an unterschiedlichen Bildern entsteht. MAROKKO_137_440_KORR 14.08.13 14:15 Seite 163 MAROKKO_137_440_KORR 14.08.13 14:15 Seite 166 166 19 | Taroudant MAROKKO_137_440_KORR 14.08.13 14:15 Seite 167 167 20 | Mrirt MAROKKO_137_440_KORR 14.08.13 14:15 Seite 190 190 MAROKKO_137_440_KORR 14.08.13 14:15 Seite 191 LINIE 44 | Boujad 191 45 | Boujad MAROKKO_137_440_KORR 14.08.13 14:16 Seite 196 196 31 30 32 35 36 37 40 41 MAROKKO_137_440_KORR 14.08.13 14:16 Seite 197 LINIE 33 197 34 39 30 | Beni Ouarain 450 × 176 cm Wolle Mitte 20. Jh. 33 | Mittlerer Atlas 140 × 120 cm Wolle um 1970 31 | Boujad 233 × 104 cm Wolle 2. Drittel 20. Jh. 34 | Boujad 221 × 186 cm Wolle um 1970 32 | Aït Ouaouzguite, Télisse 356 × 141 cm Wolle 2. Drittel 20. Jh. 35 | Zaiane 210 × 147 cm Wolle um 1970 – 80 38 | Mrirt 280 × 200 cm Wolle 3. Drittel 20. Jh. 36 | Aït Sgougou 260 × 160 cm Wolle um 1960 – 70 39 | Aït Haddidou Kopftuch ca. 80 × 80 cm Wolle 3. Drittel 20. Jh. 37 | Mrirt 280 × 170 cm Wolle Mitte 20. Jh. 38 40 | Aït Haddidou Kopftuch ca. 75 × 70 cm Wolle 1950 – 60 41 | Foum Zguid Kopftuch ca. 70 × 35 cm Wolle 2. Drittel 20. Jh. MAROKKO_137_440_KORR 14.08.13 14:17 Seite 228 228 67 | Beni Ouarain 68 | Beni Ouarain MAROKKO_137_440_KORR 14.08.13 14:17 Seite 229 229 MAROKKO_137_440_KORR 14.08.13 14:17 Seite 244 244 84 | Aït Seghrouchène / Aït Youssi MAROKKO_137_440_KORR 14.08.13 14:17 Seite 245 245 85 | Azilal MAROKKO_137_440_KORR 14.08.13 14:22 Seite 276 276 108 | Boujad MAROKKO_137_440_KORR 14.08.13 14:22 Seite 277 PUNKT UND FLÄCHE 277 109 | El Hajeb MAROKKO_137_440_KORR 14.08.13 14:23 Seite 304 304 135 | Rehamena MAROKKO_137_440_KORR 14.08.13 14:23 Seite 305 LINIE UND FLÄCHE 136 | Boujad 305 MAROKKO_137_440_KORR 14.08.13 14:54 Seite 440 Chithaoua