Belletristik
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3 BelletristikLiteratur aus Österreich Anderle, Helga: A schene Leich. Mordgeschichten Wien: Milena 2008. 174 S., € 14,50 Helga Anderle, Wienerin, Redakteurin und Verfasserin zahlreicher Kurzkrimis, legt hier eine Sammlung von Mordgeschichten vor, die vor „schwarzem Humor“ nur so strotzen: 15 kurze Geschichten und drei wiederkehrende Gedichte – makaber, spannend und nahezu unglaublich. Die Erzählungen beginnen alle ganz harmlos und alltäglich, werden aber im Laufe des Geschehens „rabenschwarz“, bitterböse und enden tödlich. Es sind durchwegs Frauen die Protagonistinnen, alle haben mit dem anderen Geschlecht eine Rechnung zu begleichen, sie wollen sich für vielerlei rächen, wobei die Männer in Folge einer nach dem anderen zu „Schaden“ kommen, sprich: mehr oder weniger beabsichtigt oder „zufällig“ sterben oder ermordet werden. Ob nun im „Tod und das Mädchen“ der gehasste Partner bei Geigenmusik das Zeitliche segnet, ob der „Rosenkavalier“ über den Balkonkasten abstürzt oder ob eine unglückliche Ehe mit einem Schlag eine Frau wieder glücklich macht – alle Mordgeschichten vermitteln realistisch erzählte, spannende Unterhaltung. Die Männer stehen im Abseits und die Frauen entwickeln ungeahnte Kräfte und Ideen, um letztlich explosionsartig eine Beziehung zu Ende zu bringen. Anderles Geschichtensammlung hat durchaus das Niveau eines spannenden Romans, zumal die einzelnen Episoden perfekt aufgebaut sind und an jedem Klischee vorbei auf ein dramatisches Ende zusteuern. Gabriele Saul Grill, Evelyn: Das römische Licht St. Pölten: Residenz 2008. 240 S., € 19,90 Xenia ist Malerin und erhält ein Stipendium für Rom. Bald nach ihrer Ankunft erhält sie einen Anruf ihrer älteren Schwester Lisa aus Österreich mit der dringlichen Bitte um Rückkehr: Die Mutter, eine gefeierte und bekannte Schriftstellerin, sei bei einer Lesung zusammengebrochen und liege seither im Koma. Doch Xenia, die ihre Chance nutzen will, als Künstlerin aus dem Schatten ihrer Mutter zu treten und sich dieser gegenüber Geltung zu verschaffen, verweigert die Rückkehr ans Krankenbett der Mutter – hat diese doch selbst die Familie und Töchter der Kunst geopfert. Außerdem ist da noch ihre Schwärmerei für ihre Mitbewohnerin Alma, eine schöne Fotografin aus Wien, welche jedoch plötzlich verschwindet; Xenia wird abermals verlassen ... Das mütterliche Schweigen und die eigene Distanz zwingen die jüngere Schwester Xenia zu einer Auseinandersetzung mit dem mütterlichen Egoismus, ihrer eigenen Kunst und nicht zuletzt mit ihrem Egoismus. Während die ältere Tochter Lisa trotz eigener Familie die Mutter täglich im Krankenhaus besucht, möchte Xenia ihre Karriere als Malerin fördern, zumal sie ihrer Mutter das Zurückgelassen-Werden in der väterlichen Familie nie verziehen hat. Letztlich führt jedoch der Tod der Mutter zu einer teilweisen Aussöhnung, und Xenias Bedauern über die nicht gemeinsam verbrachte Zeit wird deutlich spürbar. In knappen, verstörenden Bildern entwirft die gebürtige Österreicherin Evelyn Grill ein Psychogramm einer komplizierten Mutter-Tochter-Beziehung, die nicht zuletzt an der Sprach- und Verständnislosigkeit der Protagonistinnen scheitert. Mit sachlichnüchternem Blick seziert Grill das Innenleben ihrer Figuren und zeigt in Rückblenden Xenias Unfähigkeit auf, selbst enge Beziehungen zu ihren Mitmenschen aufzubauen – einzig in ihren Bildern vermag sie anderen ihre Gefühle mitzuteilen. Dagmar Feltl Groschup, Sabine: Teufels Küche Wien: Czernin 2008. 247 S., € 20,40 Dem Krimierstling der Autorin merkt man nicht an, dass er erst die literarische Zweitgeburt der Filmemacherin und Installationskünstlerin Sabine Groschup ist. Spannend und mit überraschenden Wendungen werden Handlungsstränge verflochten. Die Geschichte ist in der Gegenwart angesetzt, mit Rückblenden werden Ereignisse aus dem nicht friktionsfreien Privatleben der Wiener Kriminalpolizistin Merle geschildert. Sie wäre beinahe selbst Mordopfer geworden, pikanterweise war der Täter auch ihr Liebhaber. Mit dem kurz vor der Pensionierung stehenden Arbeitskollegen Serenius verbindet sie ein freundschaftliches Vertrauensverhältnis, das wegen Merles Spontanität und Unkonventionalität bis zur Neige strapaziert wird. Der letzte Kriminalfall, in den er, Merles wegen, nicht ganz freiwillig einbezogen wird, gerät zu einer Belastungsprobe mit vielen Rätseln und Ungereimtheiten. Immer wieder führen Spuren in Merles Vergangenheit. Die Recherchen führen Merle nach Innsbruck. Auf dem Flug nach Innsbruck verliebt sie sich in den charmanten Flugpiloten Giorgio, dessen Schwester als psychiatrische Gutachterin noch eine Rolle spielen wird. Die Ermittlungsspuren weisen auf ein früheres, bisher nie geklärtes Verbrechen an einer Prostituierten hin. Aktuell gibt es immer wieder Hinweise auf Foltermethoden, die einem mittelalterlichen Rechtskodex folgen und wofür die erforderlichen Geräte gefertigt werden. Allmählich verdichten sich die Indizien, die zur Lösung des Falles führen. Die Geschichte ist bis zuletzt spannend erzählt und lange unklar ob ihres Ausgangs. Merle erlebt die erfolgreiche Auflösung des Falles, aber auch eine persönliche Niederlage ... Christa Mayer Literatur aus Österreich Belletristik 4 Lercher, Lisa: Besser tot als nie. 13 Mordgeschichten Wien: Milena 2008. 117 S., € 13,50 Dieser vom Milena Verlag herausgegebene Erzählband versammelt bereits in der Vergangenheit verstreut erschienene Erzählungen der in Österreich keineswegs unbekannten Krimi-Autorin Lisa Lercher. 13 Mordgeschichten, die sich teilweise im fiktionalen Erzählrahmen abspielen, teilweise nur im Kopf der Autorin und ihrer Figuren entfalten. Manchmal eindeutig, manchmal nur so angedeutet, dass viele Fragen offen bleiben. Alle 13 Geschichten haben als tragende Figuren Frauen, die im Netz der Alltäglichkeiten verstrickt und gefangen sind. Nicht, dass sie unbedingt ausbrechen wollten, aber irgendwann geht das Fass dann doch über, und so geschieht, was für eine Mordgeschichte unausweichlich ist. Auch wenn die eine und andere Episode einen gewissen Reiz versprüht, hier eine Bösartigkeit zu Tage fördert, die unterhaltend ist, dort einige Pointen überraschende Wendungen mit sich bringen, so leiden fast alle Geschichten daran, dass sie mit ihren alltäglichen Inhalten an die Kronenzeitung und deren Leserschaft erinnern. Nie rührt Lercher an irgendwelchen Grenzen herkömmlicher Moral. Sogar das Morden wirkt irgendwie nett und vertraut und so gar nicht abwegig, beinahe gewöhnlich. Wird es philosophisch, geht Lercher über Binsenweisheiten nicht hinaus, und wenn sie eingeflochten werden, dann immer mit erhobenem Zeigefinger. Der Stil wechselt zwischen handwerklicher Präzision und schnoddriger Beiläufigkeit. Letzteres lockert das Ganze durchaus auf, aber alles in allem bleibt das Buch Unterhaltung auf bescheidenem Niveau. Irene Minainyo Pluhar, Erika: Er Salzburg: Residenz 2008. 231 S., € 17,90 Erika Pluhar, die 40 Jahre lang ständiges Mitglied des Wiener Burgtheaters war, wurde als Schauspielerin berühmt. Mit dem Beginn der Direktion Peymann 1999 endete ihre Bühnenkarriere und ihre Laufbahn als Sängerin begann. Ihre Liedtexte schrieb sie bald selbst und dies war auch der Beginn ihrer Arbeit als erfolgrei- che Autorin. Seit ihrer Erstveröffentlichung im Jahr 1980 ist von Erika Pluhar eine erkleckliche Anzahl von Büchern – zumeist Romane – am Markt erschienen. Manche wurden von der Kritik ziemlich verrissen, was dem Verkaufserfolg aber keinen Abbruch tat. Erika Pluhar ist eine versierte Menschenbeobachterin. Die großen Lebensfragen wie Liebe, Tod, Krankheit und unser Umgang damit bestimmen ihre Romane. Auch in Er geht es um große Gefühle. „Er“ heißt Emil Windhacker und ist ein Mann in den „besten Jahren”: mittlerer Angestellter, gutaussehend, sportlich und ungebunden, jedoch mit schöner Freundin, die ihn in die besten Kreise der Gesellschaft einführt. Aus der Bahn wirft diesen Mann ein Laborbefund, der auf Blutkrebs lautet. Außer sich unternimmt er einen Spaziergang, bei dem er einer Frau begegnet, die ihm auffällt. Die zweite zufällige Begegnung mit dieser Unbekannten findet am selben Abend statt, nachdem er mit seiner Freundin einer Essenseinladung bei Bekannten nachgekommen ist. Die Unbekannte sitzt neben ihm und stellt sich als die Schauspielerin Marie Liebner vor. Emil ist fasziniert von der zurückgenommenen Herbheit dieser Frau. Bei Tisch überfällt ihn eine Ohnmacht. Als Marie ihn am nächsten Tag anruft, erzählt er ihr von seiner Krankheit. Er erfährt, dass auch Marie an Leukämie leidet. Zwischen den beiden beginnt ein Spiel von Anziehung und Abneigung. Als Emil seinen Arzt aufsucht, um mit diesem seine Diagnose zu besprechen, stellt sich heraus, dass der Befund vertauscht wurde. Emil ist gesund. Er verspürt ungeheure Erleichterung und eigentlich könnte nun sein Leben weitergehen wie bisher. Wieder begegnet er zufällig Marie und erlebt ihre stille Verzweiflung. Soll er gehen, soll er bleiben? Emil ist zutiefst verunsichert. Sein selbstzufriedener, egoistischer Panzer hat Sprünge bekommen. Erika Pluhar erzählt diese Beziehungsgeschichte in leichtem Ton, diesmal aus männlicher Sicht. Sensibel, poetisch und berührend in der Sprache wird ihr neues Buch die vor allem weibliche Leserschaft der Autorin wieder zufrieden stellen. Maria Hammerschmid Mühlbauer, Britta: Lebenslänglich Wien: Deuticke 2008. 412 S., € 22,10 Die Ärztin Inga Göth erfährt, das ihr Mann sie betrügt. Um sich von diesem Schock zu erholen, flüchet sie in eine nahe gelegene Therme. An diesem Tag zerstört ein Erdrutsch die Therme und das angrenzende Wellness-Hotel. Mit allen anderen, die bei der Katastrophe anwesend waren, findet sich Inga in einer Art Zwischenwelt wieder, aus der es kein Entkommen gibt. Was tun? Die Fitnesstrainer und Anti-Aging-Spezialisten empfehlen: Sport und gesunde Ernährung. Also trainieren sie hart, betreiben nordic walking und essen Müsli, doch nichts ändert sich. Jede Nacht erleben sie ihre Todesängste von Neuem und doch versammeln sich die Gäste immer wieder zu weiteren Übungen. Inga, die die Patientendaten führt, muss diese ständig neu anlegen: Über Nacht verschwinden die Aufzeichnungen ebenso wie die körperlichen Veränderungen bei den Kurgästen. Als ein Ernährungswissenschaftler mit besonders ungesunden kulinarischen Vorlieben aber anzusprechen wagt, dass sie wohl in einem seltsamen Zwischenreich gefangen sind, schlägt ihm blanker Hass entgegen. Nur Inga fühlt, dass er mehr verstanden hat als alle anderen. Erfrischend unbekümmert erhebt Britta Mühlbauer den Arztroman zur literarischen Gattung und beschert uns eine Satire über Gesundheitswahn und Jugendkult und eine melancholische Liebesgeschichte mit ungewissem Ausgang. Friederike Rittberg Belletristik Literatur aus Österreich Rossmann, Eva: Russen kommen Ein Mira-Valensky-Krimi Wien/Bozen: Folio 2008. 277 S., € 19,50 Auf einer Schihütte am Arlberg genießt Mira Valensky nach einem anstrengenden Schitag ihr wohlverdientes Glas Wein, als die am Nebentisch sitzenden russischen Urlauber plötzlich überstürzt das Lokal verlassen. Es wäre nicht Mira Valensky, wenn sie nicht beginnen würde, sich für die Angelegenheit zu interessieren, zumal sie für das „Magazin“ gerade eine Story über Russen in Österreich recherchiert. Zurück in Wien entdeckt sie auf der Dachterrasse eines entfernten Bekannten eine Leiche – gefoltert und an einen Liegestuhl gefesselt. Ist es der bekannte russische Oligarch Dolochow? Welche Zusammenhänge gibt es mit mysteriösen Investitionen, die nicht nur die Hoteliers vom Arlberg reihenweise in den finanziellen Ruin treiben? Und wohin ist die junge russische Dolmetscherin Sonja verschwunden, die vielleicht weiß, wer der Mörder ist? Obwohl ihr mannigfache Hindernisse in den Weg gelegt werden – ihr neuer Chefredakteur lehnt ihre Story ab, auf Vesnas Detektivbüro wird ein Sprengstoffanschlag verübt, und Mira selbst schlittert in eine ernsthafte Beziehungskrise – gibt die detektivisch veranlagte Journalistin nicht auf. Sie sucht und findet Sonja in Moskau, und langsam lichten sich die Nebel ... Der neue Roman von Eva Rossmann ist nach dem gleichen Muster geschrieben wie auch die anderen Mira-Valensky-Kri- 5 mis: Mira überwindet allerlei Hindernisse und gerät dabei auch selbst in Gefahr – diesmal, ihren Ehemann zu verlieren. Allen Fährnissen zum Trotz wird zwischendurch aber immer wieder gut gekocht und genussvoll gegessen. Natürlich klärt Mira Valensky auch dieses Verbrechen auf locker-amüsante Art, tatkräftig unterstützt von ihrer ehemaligen Putzfrau Vesna. Ein leicht lesbarer, turbulenter Krimi mit bewährten Zutaten. Karin Claudi Pucher Robert: Krokodilstränen Graz: Leykam 2008. 325 S., € 19,40 In der Donau schwimmt die Alligatorin Monja und entdeckt, dass Menschen gut schmecken und satt machen. Wie erfreulich, dass ab und zu ein Schwimmer vorbeikommt! Weniger erfreulich ist das für die Polizei, die das spurlose Verschwinden von Badegästen aufklären muss. Und das, wo gerade ein brutaler Serienmörder in Wien sein Unwesen treibt, der es offensichtlich ausschließlich auf Versicherungsvertreter abgesehen hat, die er auf bestialische Weise zu Tode bringt. Bis jetzt hat er schon drei davon auf dem Gewissen und das bewährte (schon aus früheren Pucher-Romanen bekannte) Ermittlertrio der Polizei alle Hände voll zu tun. Gerade als die Polizei einen ersten Verdächtigen findet, nämlich den Bruder des ersten Opfers, der nicht nur dessen Kundenstock, sondern auch dessen Frau nahtlos übernommen hat, wird Ermittler Kleist von dem Fall abgezogen. Währenddessen setzt der Mörder zum finalen Schlag an ... Ein flott geschriebener Krimi mit Klamauk-Elementen im Gefolge des legendären Inspektors Kottan, mit seinem originellen Dreiergespann, in dem jeder seine Eigenheiten kultiviert und deren Arbeitsmethoden an Originalität nichts zu wünschen übrig lassen. Der Krimi spielt an realen Orten in Wien und ist bevölkert von einem ganzen Universum typischer Wiener Gestalten und skurriler Typen. Alltägliches wird in satirischer Überspitzung aufs Korn genommen. Der dritte Roman von Robert Pucher bietet Vergnügliches für KrimileserInnen, denen das Lachen wichtiger ist als die Spannung. Karin Claudi Literarisches Binding,Tim: Cliffhanger Aus dem Englischen übers. Hamburg: Marebuch 2008. 350 S., € 20,50 Al Greenwood ist Taxifahrer in einer winzigen Ortschaft am Meer. Er liebt sein Auto, seinen Wohnwagen (sein Rückzugsort) und seine zwei Karpfen: Dean und Torvill. Weiters hat er eine außereheliche Tochter (welche er vor seiner Frau verheimlicht) als freundschaftlichen Ge sprächspartner – und er hat eine Frau, die er gerne los werden möchte. Dafür hat er auch schon einen Plan. An einem verregneten Tag provoziert er einen Streit, wohl wissend, dass Audrey, seine Frau, ihren Lieblingsplatz auf den Klippen (ihr Rückzugsort) aufsuchen wird. Dort erwartet er sie und stößt sie mit leichter Hand von hinten von den Klippen. Als Al wieder nach Hause kommt, lässt sich Audrey vor dem Kamin trocknen. Wen hat Al an ihrer Stelle von der Klippe geschubst? Wieso wird seine Tochter vermisst? Statt eines ruhigen und bequemen Lebens als Taxifahrer hat Al Greenwood plötzlich einen Schippel Probleme am Hals, nicht zuletzt einen Erpresser, wel- cher zur Unterstreichung seiner Forderung seine geliebten Karpfen ermordet. In lakonischem Erzählton spult Tim Binding gekonnt eine Geschichte ab, welche geradezu nach einer Verfilmung schreit, derart plakativ rollt sie vor dem inneren Auge des Lesers ab. Mehrere überraschende Wendungen, eine Reihe skurriler Charaktere und eine gut dosierte Portion schwarzen Humors machen den Roman des in Deutschland geborenen Erfolgsautors zu einem kurzweiligen, amüsanten Lesevergnügen. Hermann Gamauf Literarisches Belletristik 6 Hornby, Nick: Slam Aus dem Engl. übers. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2008. 300 S., € 18,40 Sam ist 15 und leidenschaftlicher Skater. Er lebt mit seiner Mutter in London, verbringt die Freizeit auf Skateboardbahnen und verehrt den Skateboardprofi Tony Hawk, dessen Poster die Kinderzimmerwand ziert. Da Sam nicht viele Freunde hat, unterhält er sich manchmal mit diesem Poster – und erfährt allerhand Wissenswertes. Im Grunde lebt Sam ein ganz normales Teenagerleben, bis er eines Tages Alicia kennen lernt. Trotz Alicias anfänglichem Desinteresse werden die beiden bald ein Liebespaar. Und nur wenig später kommt die Hiobsbotschaft: Alicia ist schwanger ... Das Skaten ist in Slam lediglich der Rahmen für Themen wie Jugendliebe und –schwangerschaft, die vom britischen Kultautor Nick Hornby auf gewohnt lockere und gut lesbare Art und Weise dargeboten werden. Sams Geschichte wirkt authentisch: Er ist ein typischer Vertreter seiner Generation am Beginn des 21. Jahrhunderts, mit allen Vor- und Nachteilen und Problemen, wie sie viele andere auch haben. Vieles muss er durchstehen: Nicht nur, dass er selbst Vater wird, auch seine Mutter hat einen neuen Freund und ist ebenfalls schwanger. Um der neuen Patchworkfamilie zu entkommen, zieht Sam zu Alicias Eltern, was auf Dauer auch nicht gut gehen kann ... Das alles wird mit Humor und viel Einfühlungsvermögen geschildert. Hornby versteht es ausgezeichnet, sich in die Welt der Teenager zu versetzen und aus deren Perspektive zu erzählen. Die Geschichte entwickelt bereits nach wenigen Seiten ein rasantes Tempo und bietet eine gelungene Melange aus Unterhaltung und Tiefgang. Thomas Geldner Iweala, Uzodinma: Du sollst Bestie sein! Zürich: Ammann 2008. 156 S., € 19,50 Du sollst Bestie sein ist der beeindruckende Erstlingsroman des 26-jährigen, aus Nigeria stammenden Uzodinma Iweala. Agu erzählt vom Krieg, der ihm seine Kindheit ge- raubt hat. Als er fliehen will, läuft er in die Arme des Kommandanten, der ihm befiehlt, Soldat zu sein und Bestie zu werden. Agu kann nicht anders – entweder er oder die anderen – so lernt er zu töten, zu schänden und zu plündern, um sein eigenes Leben zu retten. Er sieht Leichenberge, wird vom Kommandanten mehrmals vergewaltigt, erschießt Kinder und Frauen. Sein einziger Freund ist Strika, ein Junge, der nicht spricht, ihm jedoch immer zur Seite steht. Auch ihn muss er sterben sehen, nachdem die Soldaten den Kommandanten getötet haben, um vor dem Krieg zu fliehen. Nicht nur das Thema lässt den Leser atemlos zurück, es ist vor allem die Sprache, mit der Iweala Agu sein Schicksal in der Ich-Form erzählen lässt. Es ist die einfache und suggestive Sprache eines Kindes, die das Geschehen jedoch sehr bildhaft und zum Greifen nahe schildert. Für Du sollst Bestie sein erhielt der junge Autor bereits zahlreiche Preise. Will man Salman Rushdie glauben, so wird man von Iweala noch sehr viel hören und lesen – und man kann ihm glauben. Katharina M. Bergmayr Coetzee, J. M.: Tagebuch eines schlimmen Jahres Aus dem Engl. übers. Frankfurt a. M.: Fischer 2008. 233 S., € 20,50 Der Erzähler dieses Romans hat viel mit dem Autor selbst gemeinsam: Er ist ein in Australien lebender südafrikanischer Schriftsteller. Er ist Vegetarier. Er genießt einen „bescheidenem Ruhm“ (Coetzee selbst ist Nobelpreisträger), und er fungiert als ein „Kulturschaffender“, der bei „öffentlichen Kontroversen gelegentlich um seine Meinung gefragt und dann wieder im Regal verstaut wird“. Juan, wie er genannt wird – Coetzees Name ist John – wurde um Beiträge zu einem Buch, das “Strong Opinions” heißen soll, gefragt und schreibt pflichtschuldigst mehrere Polemiken über das ewig gespannte Verhältnis von Staat und Individuum. Juans Meinungen sind klarsichtig und wohlüberlegt, wie zum Beispiel über Tony Blair, den Idealisten, der sich blind zeigte gegenüber Folter und Mord, aber sie ähneln oft etwas zu sehr Leitartikeln. Vielfach ist es auch grantige Altherren-Prosa auf hohem Niveau, wenn Juan/Coetzee den Verfall der akademischen Sitten beklagt oder sich über den Musikgeschmack junger Leute entsetzt – durchaus berechtigt, wenn auch sehr didaktisch und ziemlich humorfrei. Für die im üblichen Sinn romanhafteren Passagen erschafft Coetzee die Gestalt von Anya, einer hübschen jungen Filipina, die der alternde, von seiner Parkinson-Erkrankung zunehmend geplagte Juan als Schreibkraft einstellt. Was ihr an Erfahrung und Qualitäten als Sekretärin fehlt, macht sie wett durch ihre Jugend und Schönheit, die ihn in ihren Bann ziehen, und durch ihren lakonischen Blick auf die Welt, der ihn dazu bringt, plötzlich im Vogelgesang mehr zu entdecken als ein biologisches Phänomen. Anyas Gedanken und Kommentare enthalten den Humor, der Coetzees bisherigem Werk abgeht; sie ist die erfrischende junge Frau, die nicht als ausgebeutete Immigrantin, sondern ironisch distanziert über ihren eigenen entzückenden Hintern, der es ihrem Arbeitgeber angetan hat, räsonieren kann. Als optische Konsequenz dieser Teilung der Stimmen ist auch jede Seite des Buches geteilt – man kann sie also abwechselnd linear lesen oder der jeweiligen Erzählstimme von Seite zu Seite folgen. Anya hat aber auch einen zwielichtigen Freund, der mit ihrer Hilfe versucht, Juans Vermögen an sich zu bringen – womit der Erzählung ein Spannungselement hinzugefügt wird. Aus diesen miteinander in Konflikt liegenden Perspektiven, der hohen Rhetorik und der niederen Absichten entsteht ein nicht immer leicht zu lesendes, aber doch brilliantes (und ausgezeichnet übersetztes!) Werk. Friederike Rittberg BelletristikLiterarisches Kaminer, Wladimir: Salve Papa! Ill. v. Vitali Konstantinov München: Manhattan 2008. 223 S., € 18,50 Das Familienleben, die Kinder und ihre Erfahrungen und Probleme in der Schule, das alltägliche Zusammenleben mit Haustieren oder auch mit den Nachbarn – mit solchen und ähnlichen Alltagsthemen beschäftigt sich Wladimir Kaminer in seinen 42 Kurzgeschichten. Peinliche Ereignisse in der Videothek ums Eck kommen ebenso zur Sprache wie kulturelle Missverständnisse in der Berliner „Multi-Kulti“-Gesellschaft. Daneben erinnert sich der in Moskau geborene Autor an die Zeit in der damaligen Sowjetunion. Die eigene Jugend bekommt durch die Gegenüberstellung zum Leben seiner Kinder in Berlin eine beinahe unglaubwürdige Aura. Während Kaminer als Kind auf der Müllhalde neben einem Sumpf Verstecken spielte, beschäftigen seine Kinder heute Fragen der Handy-Bedienung oder der Versteigerung von Süßigkeiten in der Schulpause. Wenn der Autor sein Erstaunen über allerlei fragwürdige Erscheinungen des gegenwärtigen Lebens ausdrückt, dann nie mit Verbitterung, Ärger oder Ablehnung, sondern mit einer großen Portion Humor. Kaminer schöpft aus der vollen Skurrilität des Alltags und regt dabei zum Lachen, aber auch zum Nachdenken an. Die Geschichten sind witzig, urban, kurzweilig und gut erzählt – kaum zu glauben, dass Kaminer nicht in seiner Muttersprache Russisch schreibt. Doch wie schreibt er selbst über „die sogenannten literarischen Qualitäten“: „Sie werden im Allgemeinen überschätzt. Egal, wie gut die Sprache ist, die literarischen Qualitäten allein können kein Buch retten, wenn die Geschichte nicht stimmt.“ Bei Kaminer stimmen auch die Geschichten. Katharina Zucker Lappert, Rolf: Nach Hause schwimmen München: Hanser 2008. 543 S., € 22,10 „Heute ist der Tag an dem ich sterbe“. Mit diesem Statement beginnt Rolf Lapperts umfangreicher Roman, dessen Hauptheld Wilbur in der Ich-Form erzählt. Einander abwechselnd folgen Szenen, die sich unmittelbar nach dem eben verübten Selbstmordversuch Wilburs (er wollte sich er- 7 tränken) im Krankenhaus abspielen und Rückblenden auf sein Leben, beginnend ebenfalls mit einem Tod, nämlich jenem der Mutter bei seiner Geburt. Nicht nur Wilburs gesamtes Leben wird im Rückblick erzählt, auch die Lebenswege seiner irischen Verwandten werden nachgezeichnet. Überhaupt gelingt es Lappert schon durch kurze Passagen, die verschiedenen Charaktere sehr anschaulich darzustellen – jeder und jede von ihnen trägt ihr eigenes „Paket“ an Sorgen und Nöten mit sich herum und das alles prägt auch den jungen Wilbur. Geboren wird er zwar in Amerika, doch schon bald holen ihn seine Großeltern mütterlicherseits in die ursprüngliche Heimat seiner Mutter, nach Irland, zurück. Nach anfänglichem Familienglück ist Wilbur aber erneut dem Verlust ausgesetzt und scheint ein Verlierer zu bleiben. Erst als abermals eine Frau, Aimee, in sein Leben tritt, scheint er in der Lage, sein Schicksal ändern zu können. Am Ende vereinen sich nicht nur die Gegenwart und die Rückblenden, sondern auch Wilbur selbst schafft es, sich doch noch in sein Leben zu integrieren. Symbolisch dafür steht die Überwindung seiner den Text immer wieder prägenden Aquaphobie, das titelgebende Schwimmen: „Ich schwimme wie ein Hund, eher schlechter. Aber ich schwimme.“ Sehr gut gelungen sind dem gebürtigen Schweizer Autor, der nun in Irland lebt und arbeitet, die Schilderungen der Handlungsorte. Lapperts lakonischer Stil passt zudem wunderbar zu dieser teils skurrilen Geschichte an den mehr oder weniger trostlosen Orten. Die über 500 Seiten lesen sich leicht, was nicht heißt, dass sich nicht doch einige eigentlich vermeidbare Längen darin finden. Lisa Kollmer Kureishi, Hanif: Das sag ich dir Aus dem Engl. übers. Frankfurt a. M.: Fischer 2008. 508 S., € 20,50 Jamal hat pakistanische Wurzeln und liebt das vielbevölkerte London. Es ist ihm gelungen, eine Nische im Umfeld der Neureichen zu finden, wo er sein Geld als Psychoanalytiker verdient. Einige Freunde mit den geeigneten Verbindungen verschaffen ihm Einladungen zu schicken Parties, wo es alles gibt, was Spaß macht und verboten oder wenigstens schräg ist. Hinter ihm liegt eine Ehe, noch weiter zurück eine unvergessene Jugendliebe und die Verantwortung für den Tod eines Menschen. Hauptsächlich ist er damit beschäftigt, auf dem Laufenden zu bleiben, was die richtigen sozialen Codes betrifft. Als akzeptierter, publizierender Intellektueller hat er kaum Berührungsängste, nicht einmal mit der eigenen Unterschichtsvergangenheit. Die Rituale von SM-Clubs sind ihm ebenso geläufig wie die kleinkriminelle Ökonomie einiger Stadtteile, der Smalltalk auf einem Empfang bei Mick Jagger oder die hipste Cover-Version mythologisch erhöhter Popsongs. Als Jamal schon glaubt, sein Lebensinhalt bestünde nur mehr darin, einem Zwangshedonisten beim Altwerden zuzusehen, holt ihn die Vergangenheit ein ... Kureishi ist ein geschickter Erzähler, dem etliche Wendungen und Metaphern gut gelingen und der seinen Figuren mit wenigen Strichen drehbuchtaugliche Profile gibt. Die Dialoge sind witzig, wenn auch sehr auf Gags konzentriert. Seine Kommentare geben sich intellektuell, wollen mit ihrem Namedropping und Seitenhieben auf die Blair-Administration aber hauptsächlich cool sein. Der Roman ist Mainstream für LeserInnen mit höherer Schulbildung und passt nahtlos in die Scheinwelt der Fernsehunterhaltung. Ernst Simanek LiterarischesBelletristik 8 Lahiri, Jhumpa: Einmal im Leben Aus dem Engl. übers. Reinbek: Rowohlt 2008. 174 S., € 17,40 Während Jhumpa Lahiri in den USA als literarischer Shootingstar gefeiert wird, ist die Autorin indischer Abstammung hierzulande noch eher ein Insidertipp. Dabei kann die Pulitzer-Preisträgerin bereits auf eine erstaunliche Karriere blicken. Unaccustomed Earth, so der Titel ihres letztens Romans im englischen Original, ist eine Sammlung von acht getrennt erschienenen Kurzgeschichten, von denen drei thematisch zusammenhängen. Diese drei Geschichten sind jetzt unter dem Titel Einmal im Leben zusammen aufgelegt worden. Sie kreisen um die Lebens- und Liebesgeschichte von Hema und Kaushnik, den Kindern von bengalischen Einwanderern, die sich in den 1970er-Jahren in Massachusetts kennen lernen. Die erste Geschichte wird aus der Sicht von Hema erzählt. Hema schwärmt auf kindliche Art für Kaushnik. Dieser kann jedoch nur wenig mit dem jungen Mädchen anfangen – zu sehr ist er mit dem Aufarbeiten der neuen Umgebung und des American Way of Life beschäftigt. In der zweiten Geschichte wird Kaushik zum Erzähler. Einige Jahre sind vergangen und Kaushik muss den Krebstod seiner Mutter und neue familiäre Herausforderungen verkraften. Erst im dritten Teil finden Hema und Kaushik zueinander. Nach 20 Jahren laufen sich die beiden in Italien über den Weg. Kaushik ist mittlerweile ein bekannter Fotojournalist, Hema ist Altphilologin und unterwegs nach Indien, um eine von den Eltern arrangierte Vernunftehe einzugehen. Sie beginnen eine leidenschaftliche Affäre, die ihr bisheriges Leben noch einmal gründlich durcheinanderwirbelt … Einmal im Leben ist eine wunderschöne Liebesgeschichte von zwei Menschen, die auf der Suche nach ihren eigenen Wurzeln sind. In einer klaren und präzisen Sprache, die sich durch eine besondere Beobachtungskunst auszeichnet, erzählt Jhumpa Lahiri von einem Leben in zwei Kulturen. Dabei wird deutlich, dass es trotz aller Schwierigkeiten nicht ein Nachteil sein muss, in zwei verschiedenen Welten aufzuwachsen, vorausgesetzt, der kulturelle Reichtum wird als solcher wahrgenommen und darf auch gelebt werden. Thomas Geldner Niemi, Mikael: Der Mann, der starb wie ein Lachs Aus dem Schwedischen übers. München: btb, 2008. 351 S., € 20,60 Wie sein Erstling Populärmusik aus Vittula, der Mikael Niemi schlagartig bekannt machte, spielt auch sein dritter Roman in Pajala in Nordschweden. Im Gegensatz zu den eher Genre sprengenden Vorgängern ist Der Mann, der starb wie ein Lachs ein dezidierter Kriminalroman. Als Basis des Plots dient auch hier Niemis bevorzugtes Thema der Bilingualität im Nordosten Schwedens und die damit verbundenen Konflikte. Ein alter Mann wird auf brutale, aber dennoch eigentümliche Weise ermordet. Er wird mit einer Fischgabel aufgespießt und ausgeweidet – wie ein Lachs. Ein seltener Ausbruch von Gewalt in einer ländlichen Region, in der offene Türen und Gast- freundlichkeit auch Fremden gegenüber die Regel sind. Die junge Stockholmer Polizistin Therese Fossnes ist nicht begeistert, als sie beauftragt wird, diesen Fall zu übernehmen. Obwohl sie selbst aus der Region stammt, kommen ihr die Menschen hier seltsam vor, deren Dialekt ihr seit ihrer Kindheit unverständlich geblieben ist. Sie beginnt eine Beziehung mit dem Hauptverdächtigen, einem kauzigen Eigenbrötler, der abgeschieden in der Einöde lebt. Fossnes selbst löst den Fall nicht; die LeserInnen erwartet ein überraschender Knalleffekt als krönender Abschluss des grotesken Falles. Niemis Bücher leben von eigensinnigen, skurrilen Gestalten vor karger Landschaft und schrägem Humor – in diesem Krimi ergänzt durch die originelle Sprache und gut dosierte Spannung bis zum Ende. Hermann Gamauf Schami, Rafik: Das Geheimnis des Kalligraphen München: Hanser 2008. 458 S., € 25,60 Thema des vorliegenden Buches ist die arabische Schrift und ihre lange, vielfältige Tradition. Meister dieser Kunst ist der in den 50er-Jahren in Damaskus lebende Kalligraph Hamid Farsi, der die Mitbürger begeistert, die sich von ihm Lobsprüche, Bittschriften oder auch Liebesbriefe verfassen lassen. Er kann in Verbindung mit Form und Inhalt dem Gelesenen den erwünschten Sinn verleihen, obwohl es ihm persönlich nur auf die Schönheit der Zeichen ankommt. Seine Ehe mit der Schneiderin Nura verliert sich in Gleichgültigkeit und Hass, da er mit der Planung einer Kalligraphenschule und der Reform der Schrift beschäftigt ist und Frauen in seinem Weltbild den untersten Platz einnehmen. Als diese mit dem christlichen Laufburschen ihres Mannes eine Liebesaffäre beginnt und mit ihm flüchtet, glaubt der Verlassene, dass Nassri Abbani, der stadtbekannte Frauenheld, hinter Nuras Verschwinden steckt. Er tötet ihn und wird zu einer lebenslänglichen Haftstrafe verurteilt. Sein Unglück aber verdankt er seinem Plan, die arabische Schrift zu reformieren und wird dadurch zum Mittelpunkt einer politischen Verschwörung. Am Beginn der Geschehnisse werden die handelnden Personen ausführlich dargestellt, ihre Vergangenheit, ihr soziales Umfeld und ihre Charaktereigenschaften werden detailliert abgehandelt, sodass viele Erzählebenen entstehen, die zu einem Gesamtbild der Ereignisse führen. Der Autor führt die LeserInnen in bildhafter Erzählweise durch seine Geburtsstadt Damaskus, die er als junger Mensch verlassen musste und die er bis heute nicht wiedergesehen hat. Er erzählt vom Alltagsleben der christlichen und muslimischen Einwohner, von ihren gegenseitigen Abneigungen und Vorlieben, von ihren Wünschen und Sehnsüchten und entwickelt ein fantasievolles Panorama orientalischer Lebenskunst. Renate Zeller BelletristikLiterarisches Sundaresan, Indu: Die Tochter des Rajas Aus dem Amerikanischen übers. Frankfurt a. M.: Krüger 2008. 460 S., € 19,90 Fünf Tage nach dem Tode ihres Vaters erhält die 21-jährige Olivia ein Paket aus Indien. Neben exotischem Schmuck, bunten Saris und vergilbten Fotos enthält es den Brief eines unbekannten Absenders, dessen Inhalt sie zuerst zutiefst verstört, aber dann in zunehmenden Maße fesselt: Parallel zum Schicksal jenes Teils ihrer Familie, über die ihr Vater stets Stillschweigen bewahrte, entfaltet sich wie ein bunter Bilderbogen ein Teil indischer Kolonialgeschichte. Olivia erfährt vom Leben ihrer Mutter Mila, der wohlbehüteten Tochter eines hohen Regierungsbeamten, deren sorgloses, glückliches Leben mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges abrupt endet. Mila verliebt sich unsterblich einen schönen, geheimnisvollen amerikanischen Offizier und muss sich zwischen Herz und Tradition entscheiden. Was sich nach der Inhaltsangabe wie ein kitschiges „Bollywood-Drama“ anhört, ist der ernsthafte Versuch, die Geschichte Indiens auf den Weg in die Unabhängigkeit in schillernden Farben zu schildern. Leider ist es ihr nicht allzu gut gelungen. Trotz einer interessanten, wenn auch nicht ungewöhnlichen Erzähltechnik (Handlung auf zwei Zeitebenen, literarische Betrachtungen von Zeitzeugen, die den einzelnen Kapiteln vorangestellt werden) bleiben die Gestalten seltsam blass und nicht wirklich 9 Nach einem beruflich bedingten Wohnortwechsel erlebt der 48-jährige Taura fernab von seiner Familie, die ihm ohnehin fremd geworden ist, eine ausgeprägte Midlifecrisis. Als er nach einem Beinbruch im Krankenhaus landet, kommt es zu einer Begegnung mit einer geheimnisvollen Frau namens Mutsuko. Er kann sie nicht sehen, denn mitten im Raum steht ein Paravent. Dennoch entwickelt sich ein Gespräch zwischen den beiden. Die anfangs zögerliche Unterhaltung wird zusehends intensiver und mündet schließlich in Verbalsex. Am nächsten Morgen dann das böse Erwachen: Die Schwester schiebt die Trennwand beiseite und Taura muss feststellen, dass neben ihm eine alte, grauhaarige Frau liegt, die so gar nicht seinen Vorstellungen von der leidenschaftlichen Gesprächspartnerin der letzten Nacht entspricht. Doch das ist erst der Beginn eines grotesken Alptraums: Mutsuko meldet sich nach einigen Monaten wieder und Taura ist nicht wenig verblüfft, als ihm plötzlich eine etwa 40-jährige Frau gegenüber steht. Zu- nächst glaubt er an eine Verwechslung – was ihn aber nicht daran hindert, sich Hals über Kopf in die äußerst attraktive Dame zu verlieben. Doch spätestens nach dem nächsten Treffen zweifelt Taura endgültig an seiner geistigen Gesundheit, denn Mutsuko wird von Mal zu Mal jünger. Lange habe ich nicht vom Fliegen geträumt ist eine surreale Liebesgeschichte, die neben tiefen Einblicken in die Abgründe der menschlichen Seele auch die Einsamkeit moderner GroßstadtbewohnerInnen thematisiert. Die ProtagonistInnen bewegen sich in einer kalten und feindseligen Umgebung mit kafkaesken Zügen; sie stehen mitten im Leben und verlieren auf unerklärliche Weise ihren sozialen und psychischen Halt. Alles scheint von einer unheimlichen Macht beherrscht, die Grenzen zwischen Realität und Wahnsinn verschwimmen. Taura erlebt eine emotionale Achterbahnfahrt: Sein anfangs harmloser Seitensprung wird zu einem obsessiven erotischen Verhältnis, das schließlich in eine bizarre Lolita-Beziehung mündet. Dabei ist bis zum Schluss nicht wirklich klar, ob die Verjüngung von Matsuko tatsächlich oder nur im kranken Gehirn von Taura stattfindet. Ein ungewöhnlicher und durchaus spannender (Schauer-)Roman, der an den Vorgänger Sommer mit Fremden zwar nicht heranreicht, aber dennoch seine Stärken hat. Thomas Geldner „Rashomon“ von Akira Kurosawa, lässt er die einzelnen ProtagonistInnen ihre subjektive Sichtweise auf die Ereignisse schildern. Da ist zunächst der Schüler Teng, der sich in die Geschichtslehrerin Shi, die vermeintliche Leiche, verliebt, später die Tat gesteht und hingerichtet wird. Er berichtet von seiner Besessenheit und der Ausdauer, mit der er die junge Frau verfolgt. Von Shis Mutter wiederum erfahren wir etwas über den Vater der jungen Frau, einen Europäer, mit dem sie ein kurzes Verhältnis hatte und der von der Existenz der Tochter keine Ahnung hatte – bis diese ihn aufspürt und von einem Tag auf den anderen mit nach Europa geht, von wo sie 20 Jahre später wieder nach Peking zurückkehrt. Weiters zu Wort kommen der ermittelnde Kriminalbeamte, der Richter und schließlich Shi selbst. Aber auch sie bringt nicht alles ans Tageslicht, was damals wirklich passiert ist und wer die eigentliche Leiche war. Zurück bleiben die LeserInnen mit unbefriedigender Ungewissheit. Zu angedeutet und nebulös sind die einzelnen Episoden, als dass man sich wirklich ein Bild von den Ereignissen machen könnte. Die einzelnen Personen bleiben blass und auch ein Spannungsaufbau geht diesem Buch ab. Liesbeth Mansbart fesselnd, im Gegensatz zu den farbenprächtigen Landschaftsschilderungen, die zu den ausgesprochenen Stärken des Romans zählen. Thomas Jürgens Yamada, Taichi: Lange habe ich nicht vom Fliegen geträumt Aus dem Japanischen übers. München: Goldmann 2008. 222 S., € 18,50 Spannung Amann, Jürg: Pekinger Passion Zürich: Arche 2008. 125 S., € 16,50 Nach 20 Jahren Abwesenheit taucht in Peking eine vermeintlich Ermordete wieder auf. Damals hat man in einem Park eine verstümmelte Leiche gefunden. Sie wurde von ihrer Mutter identifiziert und auch der Mörder hat gestanden und wurde hingerichtet. Rund um diesen mysteriösen Kriminalfall, obwohl recht zeitlos wirkend, dürfte er im ausgehenden 20. Jahrhundert spielen, hat der Schweizer Autor Jürg Amann seine „Kriminalnovelle“ angesiedelt. Er bedient sich dabei verschiedener Erzählstränge. Ganz wie im Filmklassiker SpannungBelletristik 10 Cotterill, Colin: Dr. Siri und seine Toten München: Goldmann 2008. 317 S., € 18,50 Doktor Siri Paiboun hat seine beste Zeit als Arzt schon hinter sich, doch nun wird er mit 72 Jahren zum einzigen Leichenbeschauer von ganz Laos ernannt. Ausgestattet mit zwei französischen Lehrbüchern aus den 50er-Jahren und unter der Mithilfe einer neugierigen Krankenschwester und eines an Down-Syndrom leidenden spitzfindigen Helfers beginnt er gemächlich seine neue Arbeit. Abgesehen vom fortwährenden Mangel an allem Notwendigen und einer liebeskranken Sandwich-Verkäuferin, die ihn ständig mit Köstlichkeiten versorgt, wäre sein Leben in der laotischen Hauptstadt durchaus zufriedenstellend, würde da nicht plötzlich eine Leiche auftauchen, die im wahrsten Sinne des Wortes nach großen Schwierigkeiten riecht. Denn auch im verschlafenen Laos vermag die Vergiftung einer Partei-Bonzin hektische Aktivitäten auszulösen. Als die Leiche auch noch spurlos verschwindet, ahnt Siri, dass er in größere Schwierigkeiten geraten könnte. Mit viel Geschick umschifft er jedoch alle von der überforderten kommunistischen Staatssicherheit gestellten Fallen und entdeckt seine Liebe zu forensischer Detailarbeit. Am Ende entlarvt er ein übles internationales Komplott und versucht sein altes Leben wieder aufzunehmen. Die Mischung aus apokalyptischem Chaos, Improvisationsgabe und kommunistischer Unflexibilität in Laos beschreibt Cotterill in lockerem Plauderton – und sie verleiht der Geschichte eine besondere Stimmungsdichte. Gewürzt wird das Ganze mit der Art von Humor, das das scheinbar Unabwendbare erträglich macht. Thomas Buraner Dahl, Arne: Ungeschoren Aus dem Schwedischen übers. München: Piper 2008. 413 S., € 20.50 Wer noch keinen von Arne Dahls Krimis rund um die sogenannte A-Gruppe gelesen hat, wird am Anfang dieses Romans wohl etwas ratlos ob des komplizierten Beziehungsgeflechts zwischen den einzelnen Mitgliedern der Ermittlungseinheit sein. Außerdem gibt es diverse personelle Umbesetzungen und Neustrukturierungen. Doch nach anfänglichen Schwierigkeiten sollten auch NeueinsteigerInnen Gefallen an Dahls eigenwilligem und unkonventionellem Stil finden. Nur langsam fügt sich alles zusammen – und die Verwirrung wird eingeläutet von vier Morden, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben. Eine junge kurdische Frau, die aus Angst vor Repressalien durch ihre Familie eine neue Identität angenommen hat, wird von ihrem Bruder enttarnt. Als sie sich mit ihm treffen will, findet sie ihn tot auf. Bald darauf wird ein Fernsehmacher, der für sogenanntes „Unterschichtenfernsehen“ in Form von menschenver- achtenden Realitysoaps zuständig ist, ermordet. Ähnlich wie beim Kurdenmord wird am Tatort eine bewaffnete Person angetroffen, womit zunächst alles klar zu sein scheint. Aber zwei weitere Morde folgen und es gibt eine Verbindung zwischen den vier Opfern: Jedes Opfer hat eine kleine Tätowierung ... Zugegebenermaßen ist Dahls sechster Roman rund um die A-Gruppe am Anfang etwas zäh, doch mit Fortlauf der Geschichte, die von scharfsinnigen Analysen und Betrachtungen der heutigen schwedischen Gesellschaft und ihren Brüchen durchzogen ist, kommt Spannung in die Geschichte. Peter Hörschelmann French, Nicci: Bis zum bitteren Ende Aus dem Englischen übers. München: Bertelsmann 2008. 414 S., € 20,60 Mit dem Thriller Bis zum bitteren Ende hat das Erfolgsduo Nicci Gerard und Sean French nun seinen zehnten Spannungs-Roman veröffentlicht. Astrid lebt in London und jobbt als Fahrradkurier. Was sie eigentlich vorhat in ihrem Leben weiß sie noch nicht so recht. Sie treibt locker und lässig dahin, wie die meisten ihrer sechs Mitbewohner in der Wohngemeinschaft, in der sie lebt. Als Fahrradbotin in einer Großstadt ist man extrem unfallgefährdet und auch Astrid erwischt es. Fast vor ihrer Haustür öffnet eine Nachbarin die Autotür und Astrid knallt in voller Fahrt dagegen. Für sie verläuft die Sache relativ glimpflich. Am nächsten Tag aber findet man die Nachbarin ermordet auf. Die Polizei ermittelt auch in Astrids WG. Kaum hat sich die Aufregung etwas gelegt, wird die nächste Tote gefunden – und wieder ist Astrid unmittelbar involviert. Sie ist es nämlich, die die Leiche findet. Nun beginnt es in der WG zu brodeln. Misstrauen und Angst breiten sich aus. Zudem will der Hauseigentümer, dass die Mieter ausziehen, da er vorhat, das Haus zusammen mit seiner Freundin zu sanieren. Der nächste Mord passiert in der WG selbst. Nun beginn sich die Lage zuzuspitzen ... Im zweiten Teil des Buches findet ein Perspektivenwechsel statt. Der vorerst noch unbekannte Täter erzählt die Geschichte aus seiner Sicht – eine psychologisch interessante Wendung, in der sich eine krankhafte Persönlichkeit selbst erklärt. Bereits der erste Teil des Buches – die Beschreibung eines WG-Lebens mit einer bunt zusammen gewürfelten Gruppe Individualisten – ist zügig und spannend zu lesen. Gut geschildert ist vor allem der Prozess, in dem Angst und Misstrauen die schrittweise Zersetzung der Gemeinschaft bewirken. Auch im übrigen gestaltet sich Bis zum bitteren Ende als kurzweiliger und spannender Thriller, der ganz nach dem Geschmack der ansehnlichen Fangemeinde von Nicci/French ausgefallen sein dürfte. Maria Hammerschmid BelletristikSpannung Grimes, Martha: Inspektor Jury lässt die Puppen tanzen Aus dem Englischen übers. München: Goldmann 2008. 381 S., € 20,60 Superintendent Jury ist verliebt, und zwar in die Polizeipathologin Phyllis Nancy. Mehr durch Zufall stolpert er in die Ermittlungen eines neuen Mordfalls: Bill Maples, ein exzentrischer Kunstsammler, wird in einem vornehmen Restaurant tot aufgefunden. Am Tatort erwartet Jury bereits eine neue Kollegin, die, wie könnte es anders sein, äußerst attraktive Brasilianerin Lu Aguilar. Die gemeinsamen Recherchen führen Jury und Aguilar nicht nur auf die richtige Fährte, sondern auch direkt in eine heiße Affäre, die auf alle Beteiligten ansteckend wirkt. Pikant sind auch die Entdeckungen, die der Inspektor macht: Billy Marple scheint ein Doppelleben geführt zu haben. Zum einen lebte er abgeschieden im Wohnhaus des Dichters Henry James, zum anderen tauchte er immer wieder in der Londoner Schickeria auf. Die Freundschaft zu einem dubiosen Deutschen, der als Privatsekretär Maples fungierte, und Maples Faszination für den Zweiten Weltkrieg bringen Jury und Aguilar schließlich auf die richtige Fährte – ins Berlin der 40er-Jahre ... Martha Grimes gilt als Meisterin des klassisch-britischen Kriminalromans – und 11 das als Amerikanerin. Sie hat mit Inspektor Jury einen mittlerweile legendären Ermittler geschaffen. Ihr neuer Roman zeigt den eingefleischten Junggesellen nun von einer neuen Seite: zwischen Liebe und Leidenschaft. Auch wenn der Schluss Fragen offenlässt, ist es ein Vergnügen, das von witzigen Dialogen und einem gelungenen Spannungsbogen getragene Buch zu lesen. Thomas Pöltl Hammesfahr, Petra: Erinnerung an einen Mörder Reinbek: Wunderlich 2008. 441 S., € 20,50 Eine wohlbehütete Kindheit gesteht Petra Hammesfahr ihrem Protagonisten Felix in ihrem neuesten Roman wirklich nicht zu. In Erinnerung an einen Mörder hat er es mit einer sadistischen Mutter und einem wahren Drachen von Großmutter zu tun. Die Mutter ist hochgradig frustriert über die ungewollte Schwangerschaft in jungen Jahren, die Großmutter voll des Hasses auf das Kind Felix und dessen Vater, welche ihrer Ansicht nach die alleinige Schuld daran tragen, dass die begabte Tochter, statt eine gute Ausbildung und eine ebensolche Partie zu machen, als Ehefrau eines Gelegenheitsarbeiters endet. Jahre der Vernachlässigung und der Misshandlungen machen Felix und seine beiden Schwestern durch, schikaniert und gedemütigt von der Großmutter, geprügelt von der Mutter – ohne Unterstützung des augenscheinlich ahnungslosen Vaters, der seiner zänkischen Ehefrau gegenüber ohnehin hilflos ist. Besonders schlimm trifft es das dritte Kind, Baby Annika, das von der Mutter täglich allein gelassen wird, sobald der Vater aus dem Haus ist. Als die mütterlichen Misshandlungen dem Baby schweren Schaden zufügen, rastet der Vater aus und richtet das an, was in den Zeitungen dann eine „blutige Familientragödie“ genannt wird. Der achtjährige Felix überlebt, war sogar noch im Haus, erinnert sich aber nicht daran, was er dort gesehen hat. Scheint sein von einer liebenden Tante umsorgtes Leben endlich friedlich zu werden, brechen während der Pubertät Erinnerungen auf. Sein Versuch, endlich Klarheit über das Schicksal seiner Familie zu erlangen, bringt – je nach Gesprächspartner – so viele verschiedene Geschichten zu Tage, dass es noch Jahre dauert, bis Felix Gewissheit über die Geschehnisse während der „blutigen Familientragödie“ hat. Fesselnd und mit tiefen Einblicken in seelische Abgründe, die Hammesfahr-Fans ahnen es schon, ist Erinnung an einen Mörder eine klare Empfehlung für LeserInnen mit Interesse an psychologischen Krimis. Isolde Grabner Evanovich, Janet: Kalt erwischt Aus dem Englischen übers. München: Manhattan 2008. 303 S., € 17,50 Sie ist frech, sexy, chaotisch und hat einen Hang zu prekären Situationen: Stephanie Plum, ihres Zeichens Kopfgeldjägerin und dank Bestsellerautorin Janet Evanovich bereits zum zwölften Mal im deutschsprachigen Serien-Einsatz. Chronisch pleite, versucht sich die ehemalige Dessousverkäuferin mit der Jagd auf Verbrecher über Wasser zu halten – ein Unterfangen, das zur Freude der zahlreichen Stephanie-Plum-Fans mehr schlecht als recht gelingt und beträchtlichen Unterhaltungswert bietet. Humoreske Verwicklungen und jede Menge erotisches Beiwerk machen sichtlich Lust auf einen Plot, der rasch umrissen ist: Stephanie Plum wird von einer Frau verfolgt, die sich als Gattin des bereits serienerprobten und unwiderstehlichen Rangers ausgibt. Dumm nur, dass eben jene Dame kurz nach dieser überraschenden Offenbahrung ermordet aufgefunden wird und Stephanies sexy Latino-Ranger nicht nur zum Hauptverdächtigen wird, sondern auch noch die Entführung seiner zehnjährigen Tochter verkraften muss. Bei so viel Leid kann nur eines helfen: Stephanie muss auf eigene Faust ermitteln – im Wettlauf gegen die Zeit und die Polizei, dafür aber mit umso erstaunlicheren Ergebnissen. Janet Evanovich zeigt mit dem Krimi Kalt erwischt einmal mehr ihr Talent für packende Geschichten mit jeder Menge Situationskomik. Witzige Dialoge und spannende Handlungsbögen treiben das Geschehen voran und garantieren leicht konsumierbares Lesefutter für Krimifans. Die ausführlichen Beschreibungen der durchtrainierten Männerkörper rund um die Protagonistin dürften allerdings auf ein vorwiegend weibliches Leserinnenpublikum abzielen. Martina Rényi SpannungBelletristik 12 Indridason, Arnaldur: Todesrosen Bergisch Gladbach: Lübbe 2008. 300 S., € 19,50 Ausgerechnet auf dem Ehrengrab des isländischen Freiheitskämpfers und Nationalhelden Jon Sigurdsson wird die Leiche eines jungen Mädchens gefunden. Ist es Zufall oder ein politisches Statement, das der Mörder abgeben wollte? Kommissar Erlendurs Recherchen führen in dubiose Wirtschaftsmachenschaften und in die schwierigen Lebensverhältnisse der isländischen Landbevölkerung in all ihrer hoffnungslosen Einsamkeit. Anhand eines Einzelschicksals versucht Indridason auch die soziale und gesellschaftspolitische Entwicklung Islands aufzuzeigen. Die isländische Autorin Arnaldur Indridason hat neben Hakan Nesser und Henning Mankell einen fixen Platz in der nordeuropäischen Krimi-Szene erobert. Ihre Romane zeichnen sich durch sorgfältig recherchierte Hintergründe und authentisch gezeichnetes Lokalkolorit aus: ungewohnt sonnige Sommernächte und Schlaflosigkeit, Reykjaviker Stadtleben, einsame Fjorde, karges Landleben. Neben den stimmig dichten Atmosphären bestechen die markaten, starken Charaktere. Besonders die Figur des grantigen Kommissars Erlendur, der nun bereits im siebten Fall ermittelt, ist vielschichtig und interessant gestaltet. Meist reichen die Wurzeln eines Verbrechens tief in die Vergangenheit zurück, akribisch gräbt Indridason Stück für Stück die Wahrheit aus, bis vor dem Publikum ein (meist tragisches) Schicksal bloß liegt. Kurz Susanne Khadra, Yasmina: Die Sirenen von Bagdad Aus dem Französischen übers. München: Nagel & Kimche 2008. 314 S., € 20,50 In Rückblenden erzählt der namenlose, 21jährige Ich-Erzähler seinen Werdegang vom friedlichen und sensiblen jungen Iraker zum hasserfüllten, potentiellen Vollstrecker des größten und zerstörerischsten Attentats in der Geschichte. Ein Virus, in jahrelanger Arbeit entwickelt, soll 9/11 bei weitem in den Schatten stellen. Bei einer Razzia amerikanischer GIs in seinem Heimatdorf wird die Beduinen- familie durch das brutale Vorgehen der Soldaten zutiefst gedemütigt. Seiner Ehre beraubt verlässt der junge Mann sein Dorf und begibt sich nach Bagdad, wo er in die Fänge radikaler Fundamentalisten gerät. Um die Ehre seiner Familie wiederherzustellen schließt er sich dem Widerstand im Irak an. Er kommt als Nachtwächter in einem Elektro-Laden unter, der aber nur Tarnung für Bomben bastelnde Extremisten ist. Weiters macht er die Bekanntschaft des Dr. Jalal, einem einst vom Westen geschätzten Kritiker der Extremisten, der aber längst die Seiten gewechselt hat und selbst an der Spirale des Hasses dreht. Yasmina Khadra ist das Pseudonym von Mohammed Moulesshoul, einem ehemaligen ranghohen Offizier der algerischen Armee, der 2000 ins französische Exil ging. Seine mehrfach ausgezeichneten Romane wurden in 17 Sprachen übersetzt und über drei Millionen mal verkauft. Mit Todesrosen präsentiert er einen hoch aktuellen Thriller mit manchen Längen in der Handlung und fallweise bemühten Dialogen. Günther Badstuber Mankell, Henning: Der Chinese Aus dem Schwedischen übers. Wien: Zsolnay 2008. 603 S., € 24,90 Henning Mankell legt mit Der Chinese ein weiteres Meisterstück seiner Erzählkunst mit Sogwirkung vor: Was als konventioneller Kriminalroman beginnt, entwickelt sich schnell zu einer vielschichtigen Story, die ihren Bogen von der Geschichte versklavter Chinesen im amerikanischen Eisenbahnbau bis in das heutige Peking spannt. In einem kleinen Dorf kommt es zu einem Massaker, fast die ganze Dorfbevölkerung, mehr oder weniger miteinander verwandt, wird abgeschlachtet. Die Polizei tappt im Dunkeln, die Richterin Roslin entdeckt ihre Adoptiveltern unter den Opfern und beginnt sich für den Fall zu interessieren. Bald gibt es einen Verdächtigen, der geständig ist und sich kurz danach selbst richtet. Rosalin ist die Lösung zu glatt, sie findet Parallelen zu einem Massenmord in den USA, bei dem auch entfernte Verwandte von ihr untern den Mordopfern waren ... Der Roman ist eine scharfsichtige Analyse des Umbruchs in der chinesischen Gesellschaft und ein unangenehmer Blick auf einen künftigen neuen Imperialismus am afrikanischen Kontinent. Mankell recherchiert sehr genau und das merkt man dem Buch auf jeder Seite an. Peter Hörschelmann Nabb, Magdalen: Vita Nuova Zürich: Diogenes 2008. 321 S., € 20,50 Als das toskanische Gegenstück zu Donna Leons Commissario Brunetti gilt seit langem der aus einfachen Verhältnissen stammende, in Florenz tätige Commissario Guarnaccia. In diesem vierzehnten, von der kürzlich verstorbenen Magdalen Nabb verfassten Roman, bekommt er es mit Menschenhandel und Sexsklaverei zu tun. Vorerst sieht alles nach einem Mordfall aus. Eine junge Frau wird in einem toskanischen Landgut erschossen aufgefunden. Der Hausherr und Vater der jungen Frau befindet sich gerade im Krankenhaus; es gibt noch eine Schwester und ein Kind der Ermordeten, von dem nicht bekannt ist, wer der Vater ist. Der naheliegenden Erklärung, dass es sich um einen Raubmord handle, kann Guarnaccia nichts abgewinnen. Junge osteuropäische Frauen betreuen den Haushalt in der Villa und es stellt sich heraus, dass der Hausherr Paoletti im früheren Leben seinen Reichtum mit Zuhälterei verdient hat. Der Commissario erfährt auf Umwegen, dass noch immer junge Frauen aus dem Osten nach Florenz geschleust werden, welche dann in einem Sex-Etablissement oder in besagtem Haushalt landen. Er muss sich auch persönlich in einen Nachtclub auf Recherche begeben, was schwerwiegende Folgen nach sich zieht. Dabei hätte er in diesen Tagen doch auf Wohnungssuche für sich und seine Familie gehen sollen. Erwartungsgemäß gelingt es ihm nach vielen Verwicklungen, den Fall zu lösen, eine neue Wohnung hat der im Privatleben eher ungeschickte Guarnaccia aber noch nicht gefunden. Die Autorin vermittelt ein ungeschminktes Gesicht der Touristenhochburg Florenz. Sie versteht es, die Probleme Italiens – Schattenwirtschaft, Korruption und Xenophobie – an einem konkreten Fall exemplarisch darzustellen und die LeserInnen zugleich durch eine spannende Handlung und einen menschelnden Kommissar bei der Stange zu halten. Johanna Mitterhofer BelletristikSpannung Mistretta, Roberto: Der kalte Blick der Rache Aus dem Italienischen übers. Bergisch Gladbach: Lübbe 2008. 347 S., € 19,50 Maresciallo Bonnanos Vergnügen an diffizilen intellektuellen Herausforderungen ist von Sherlock Holmes’ Spitzfindigkeit mindestens so weit entfernt wie Sizilien von Großbritannien. Dennoch – vormachen lässt sich der cholerische Carabiniere nichts, weder von spitzfindigen Anwälten noch von skrupellosen Menschenhändlern. Und wenn auch nicht mit der feinen Klinge, so löst er seine Fälle doch ... Roberto Mistretta beginnt seinen mittlerweile dritten Kriminalroman mit zwei Handlungssträngen, die zuerst nichts miteinander zu tun haben. Während sich Bonnano in Sizilien mit einem Eifersuchtsdrama, Korruption und vergifteten Hunden herumschlägt, beginnt die zweite Geschichte im Kosovo während der ethnischen Säuberungen, inmitten von Kriegsgräueln, Vergewaltigungen, Morden. Mistretta gibt seinem Maresciallo einen „volkstümlichen“ Charakter und eine archetypisch sizilianische Umgebung. Bonnano liebt gutes Essen und einen starken Espresso, er lebt mit Mutter und Tochter, wobei sich die Mutter mehr als es ihm lieb ist, immer wieder in seine Angelegenheiten einmischt. Dass zu Mistrettas Vorbildern Andrea Camilleri gehört, verwundert nicht und lässt sich auch nicht leugnen; er hat allerdings seinen eigenen Stil und vor allem seine eigenen Ideen, die Der kalte Blick der Rache aus dem Üblichen herausheben. Isolde Grabner Preston, Douglas: Credo. Das letzte Geheimnis Aus dem Amerikanischen übers. München: Droemer Knaur 2008. 586 S., € 17,50 In einem abgelegenen Labor irgendwo in einem Navajo-Reservat erforscht eine Gruppe von Wissenschaftlern eine neuartige Energiequelle: einen Teilchenbeschleuniger namens „Isabella“, der, „falls er funktioniert, den Urknall, die Entstehung der Welt, nachahmen soll“. Doch der Versuch misslingt und gerät außer Kontrolle: Ein schwarzes Loch, das rasant größer wird, 13 eröffnet sich und auf dem Bildschirm erscheint eine mysteriöse Grußbotschaft „Seid gegrüßt“. Wird „Isabella“, wie einige befürchten, die Erde in das schwarze Loch saugen? Oder läutet die spektakuläre Panne nur die Stunde des donnernden Fernsehpredigers Spates ein, der vermeint, dass der Versuch nur dazu diene, die Schöpfungsgeschichte zu widerlegen und Gott auf seinem Thron herauszufordern? Die Sache ist jedenfalls heikel genug, dass Wyman Ford, ein früherer Mönch und nun Sonderbeauftragter der US-Regierung eingeschleust wird, um den Dingen auf den Grund gehen. Das von Preston Douglas ersonnene Szenario ist durchwegs spannend und widmet sich neben den ungelösten Problemen der modernen Wissenschaft auch den Aktivitäten jener in Amerika sehr aktiven christlichen Rechten, die sich als religiöse Fundamentalisten im Namen des Herrn unangenehm stark in die Gesellschaft einmischen. Dabei werden Religion und Wissenschaft einander gegenüber gestellt, ohne eine davon ins Recht zu setzen: Die abgeschotteten Wissenschaftler und die bigotten Gläubigen sind gleichermaßen Spiegelbild einer erschreckenden Realität. Willi Saar Nesser, Håkan: Mensch ohne Hund Aus dem Schwedischen übers. München: btb 2007. 541 S., € 20,60 Es hätte ein pompöses Fest werden sollen, die Doppelpensionierung des Pädagogen-Ehepaares Hermansson und der gemeinsame runde Geburtstag von Vater und Tochter wenige Tage vor Weihnachten. Doch dann verursachte der einzige Sohn Walter einen TV-Skandal und die Veranstaltung schrumpft auf ein einfaches Familientreffen zusammen. Die Feier wird also im intimen Rahmen des bereits verkauften Elternhauses stattfinden. Der dominante Vater findet den Fehltritt seines Sohnes derart entwürdigend, dass er gemeinsam mit seiner Frau nach Spanien auswandern will. Was noch niemand ahnt: Es wird die letzte Zusammenkunft der gesamten Familie sein. Schon am Vorabend der Feier verschwindet Walter spurlos. Zunächst macht sich niemand ernsthafte Sorgen; war er doch von jeher das Problemkind der Familie. Als jedoch in der gleichen Woche auch der halbwüchsige Enkel Hendrik über Nacht verschwindet, wendet sich die verzweifelte Familie endlich an die Polizei. Inspektor Gunnar Barbarotti beginnt zu ermitteln. Die wenigen Ansatzpunkte verlaufen sehr schnell im Sand und monatelang scheint der Fall ungeklärt zu bleiben. Zufälle und Hartnäckigkeit führen letztlich zur Lösung der rätselhaften Vorkommnisse. Der bekannte schwedische Autor Håkan Nesser führt nach seinem Kommissar Van Veeteren einen neuen Protagonisten ein. Inspektor Gunnar Barbarotti ist geschieden, Vater von drei Kindern und steht in ständigem Zwiegespräch mit Gott. Wie in Nessers übrigen Romanen erweisen sich die Handelnden als Personen mit Ecken und Kanten. Die Fassade der nach außen hin so perfekten Familie zerbröselt sehr rasch und die Polizeiarbeit ist in erster Linie mühsame Alltagsroutine. Der Autor lässt die LeserInnen an der Gedankenwelt der ProtagonistInnen teilhaben. So ist man dem Inspektor im Wissen um Ungereimtheiten meist ein wenig voraus; maßgebliche Details bleiben jedoch geschickt verborgen. Die entscheidende Frage nach dem Täter beantwortet sich bald und man beobachtet vorwiegend, wie sich die einzelnen Familienmitglieder mit der neuen Situation arrangieren. Elisabeth Schögler SpannungBelletristik 14 Vlugt van der, Simone: Finsternis München: Diana 2008. 365 S., € 20,60 Der holländische Archäologe Bogaards macht im ägyptischen Karnak eine sensationelle Entdeckung. Er findet den Beweis, dass der Menschheit schon weit früher als angenommen Elektrizität zur Verfügung stand und diese in der sogenannten Bundeslade gespeichert wurde. Die ganze Geschichte des Abendlandes müsste daher neu geschrieben und interpretiert werden. Als er kurz darauf spurlos verschwindet, begibt sich sein Sohn auf die Suche nach ihm und lernt dabei eine Maklerin kennen, die ihn unterstützt. Gemeinsam reisen sie nach Ägypten, ohne zu ahnen, dass bereits ein Auftragskiller auf sie angesetzt wurde. Als wenig später eine Vertraute des Archäologen ermordet wird, erkennen sie erst, in welcher Gefahr sie tatsächlich schweben ... Van der Vlugt versuchte sich mit Finsternis auf den Spuren Dan Browns und scheiterte größtenteils. Neben einer sehr verworrenen Grundidee reiht sich eine obskure Theorie nach der anderen. Die Rahmenhandlung, eine mehr als klischeehafte Liebesgeschichte mit entsprechend schablonisierten Akteuren, rundet das Bild ab. Thomas Buraner Vandenberg, Philipp: Die achte Sünde Bergisch Gladbach: Lübbe 2008. 462 S., € 20,60 Lukas Malberg, ein Münchner Antiquar, trifft nach Jahren seine frühere Schulkollegin Marlene wieder und verliebt sich ein bisschen in die gutaussehende Frau. Sie verspricht, ihm ein Geschäft zu vermitteln, doch als Malberg in Rom ankommt und seine Freundin treffen will, findet er sie tot in der Badewanne und wird selbst zum Gejagten. Auf der Suche nach dem Schuldigen ereignen sich äußerst mysteriöse Dinge – so ist die Wohnung, in der Malberg die tote Marlene gefunden hat, nicht mehr auffindbar und am Begräbnis der jungen Frau nehmen auffallend viele in Schwarz gekleidete Männer teil, die äußerst fotoscheu sind ... In diesem routiniert geschriebenen Thriller mixt Vandenberg all seine Zutaten (wie geheimnisvolle Bruderschaften, Reliquien, wertvolle Bücher etc.) zu einem flotten Spannungsroman. Dass die Liebe nicht zu kurz kommt, ist einerseits kein Fehler, anderseits Anlass zu allerlei stereotypen Wendungen. Ein wirklicher Wermutstropfen ist schließlich das ziemlich abrupte, geradezu lieblos wirkende Ende. Elisabeth Ghanim Historisches Follett, Ken: Die Tore der Welt Bergisch Gladbach: Lübbe 2008. 1296 S., € 25,70 Nach 18 Jahren ist sie endlich da – die Fortsetzung von Die Säulen der Erde. Allerdings macht es sich Ken Follett nicht allzu leicht. Er knüpft nicht einfach dort an, wo die Geschichte des fiktiven Orts Kingsbridge, seiner Kathedrale und deren BewohnerInnen aufgehört hat. Nein, Follett „überspringt“ praktisch 200 Jahre, siedelt den Roman aber erneut in Kingsbridge an. Die Tore der Welt beginnt damit, dass sich die Kinder Merthin, dessen Bruder Ralf und die beiden Mädchen Caris und Gwenda in den nahen Wald schleichen, um dort den selbstgebastelten Bogen von Merthin auszuprobieren. Hier werden sie Zeugen eines brutalen Kampfes, bei dem ein Ritter zwei Männer der Königin tötet ... Grautöne in der Charakterzeichnung sind von Follet nicht vorgesehen. So tötet Ralph gleich auf den ersten Seiten des Romans das geliebte Hündchen von Gwenda – nur so zum Spaß. Damit ist den LeserInnen der Charakter von Ralph klar: Er ist und bleibt abgrundtief böse. Follets Figuren werden von einem Schicksalsschlag zum nächsten gepeitscht. Außerdem enthalten diese Schicksale so ziemlich alles, was das Mittelalter klischeehalber zu bieten hat: Hexenprozesse, Seuchen, handfeste Intrigen, brutale Vergewaltigungen, Mord und Verschwörung. Dennoch hält einen das umfangreiche Werk, das mit viel Liebe zum Detail geschrieben wurde und mit einer stets spannenden, wenngleich teilweise voraussehbaren Handlung aufwarten kann, schon nach wenigen Seiten gefangen. Elisabeth Ghanim Klee, Elisabeth: Die Ketzerbibel Reinbek: Wunderlich 2008. 478 S., € 17,40 Das Frauenleben im Mittelalter hatte im wesentlichen nur zwei Lebensformen zu bieten: entweder Ehe und Familie oder ein Dasein als Nonne bzw. Eintritt in ein Kloster. Die Beginengemeinschaft war dazu eine Alternative. Hier konnten Frauen außerhalb von patriarchalen Familiengemeinschaften und von Klostermauern ein Leben in Selbstständigkeit und wirtschaftlicher Unabhängigkeit führen. Sie waren dadurch imstande, die sozial auferlegten Rollen Ehe und Mutterschaft zu verweigern und ihre Gemeinschaften selbst zu organisieren. Durch ihr Nichteinordnen in hierarchische Strukturen wurden sie von der römisch-katholischen Kirche zum Teil als Häretikerinnen abgestempelt und von der Inquisition verfolgt. Der Roman von Elisabeth Klee spielt zu Beginn des 14. Jahrhunderts in einem Beginenkonvent in der Provence, als eine halbverhungerte Bettlerin im südfranzösischen Pertuis auftaucht und von den dort ansässigen Beginen aufgenommen wird. Danielle, so der Name der Frau, hat offenbar schreckliche Erlebnisse hinter sich und ihr Gedächtnis verloren. Nach und nach allerdings fügt sie sich in die Gemeinschaft ein und wird durch ihre Kenntnisse in der Heilkunde schnell anerkannt. Doch die Verfolgung durch die Inquisition sorgt für ständige Unsicherheit und Gefährdung – sodass Danielle wieder fliehen muss. Ihr Leben hängt in der Folge davon ab, ob sie das Geheimnis um ihre Vergangenheit lösen kann ... Die Protagonistin vereinigt in sich verschiedene Aspekte mittelalterlicher Medizingeschichte. Frauen waren an den medizinischen Fakultäten des Mittelalters und der Neuzeit nicht zugelassen, nur die Schule von Salerno war die einzige Lehranstalt, in der Frauen im Fach Medizin unterrichtet wurden. Die Autorin erzählt eine spannungsreich angelegte Geschichte vor dem Hintergrund historischer Geschehnisse, welche Einblick in die Lebensformen und das soziale Umfeld der Menschen im Mittelalter geben. Sie verbindet eine fiktive Handlung mit geschichtlichen Tatsachen, die einen großen LeserInnenkreis ansprechen dürfte. Renate Zeller BelletristikHistorisches Thomas, Charlotte: Die Lagune des Löwen Bergisch Gladbach: Lübbe 2008. 956 S., € 20,60. Charlotte Thomas ist eine vielseitige Autorin, die unter verschiedenen Pseudonymen veröffentlicht. Am bekanntesten sind ihre Beziehungskomödien, die sie unter dem Namen Eva Völler geschrieben hat und die teilweise auch verfilmt wurden. Den historischen Hintergrund von Die Lagune des Löwen bildet das 16. Jahrhundert, eine geschehnisreiche und faszinierende Epoche, in der die italienische Renaissance ihren kulturellen Höhepunkt erreicht und Venedig seine Stellung im europäischen Machtgefüge langsam verliert. Das Erstarken der neuen Kolonialmächte Spanien und Portugal, das Zusammenbre- 15 chen des Gewürzmonopols sowie die regelmäßig auftretende, durch die Pest ausgelöste Seuchengefahr tragen zur Schwächung der Lagunenstadt bei. Die vier ProtagonistInnen dieser Geschichte müssen ihr Leben als Straßenkinder fristen und sind vielen Gefahren ausgesetzt, die sie für immer verbinden. Die Handlung geschieht auf mehreren Erzählebenen, die den Lebensweg der Hauptfiguren schildert, ihr Streben nach Glück und Sicherheit, um nie wieder in Armut leben zu müssen und übermächtigen Gegnern ausgeliefert zu sein. Laura, die Diebin, wird Apothekerin und Antonio, ebenfalls Dieb, ein kompetenter Kaufmann und ihr Ehemann. Valeria, die spätere Kurtisane, findet in Carlo, dem ehemaligen afrikanischen Sklaven, dem die Lagunenstadt zur Heimat wird, Essex, Karen: Leonardo und die Principessa Aus dem Englischen übers. Bergisch Gladbach: Ehrenwirth 2008. 398 S., € 17,95 Mit dem historischen Roman Leonardo und die Principessa, der bereits mit dem Literaturpreis „Premio Roma“ ausgezeichnet wurde, gelang der jungen amerikanischen Autorin Karin Essex endgültig der literarische Durchbruch. Sie zeichnet ein durchaus akkurates und historisch stimmiges Bild der schwesterlichen Rivalität zwischen Isabella und Beatrice d’Este. Dabei ist der Autorin das Kunststück gelungen sowohl das gesellschaftliche Leben, als auch die unterschiedlichen politischen Entwicklungen im Italien der Renaissance eindringlich zu schildern, ohne jemals in Kitsch oder eine seichte Liebesgeschichte abzudriften. Eine der weiteren Hauptpersonen des Romans ist Leonardo da Vinci und dessen Beziehung zu seinem Auftraggeber Ludovico Sforza. Immer wieder streut die Autorin an passenden Stellen Auszüge aus den Tage- und Notizbüchern des großen Künstlers ein, was sicherlich nicht unwesentlich zum Reiz des Romans beiträgt. So schildert Essex unter anderem auf vergnügliche Weise den ewigen Kampf Ludovico Sforzas mit dem genialen Universalkünstler, der unbedingt die Bronzestatue eines Pferdes gießen möchte und dadurch einfach nicht und nicht dazu kommt die gewünschten Porträts von Beatrice und Isabella zu malen. Leonardo und die Principessa ist sicherlich kein Roman für LeserInnen, die nur seicht unterhalten werden und über erotische Verwicklungen im historischen Gewand lesen möchten. Wer aber einen historisch wirklich gut recherchierten Roman sucht, ist mit dem vorliegenden Buch außerordentlich gut bedient. Elisabeth Ghanim den ruhenden Pol ihres unsteten Lebens. Durch das ausgezeichnet recherchierte Material, das historische Ereignisse mit dem sozialen, geistigen und wirtschaftlichen Umfeld von Menschen mit fiktiven Schicksalen verbindet, ist der Autorin ein spannend zu lesender und einfallsreich gestalteter Roman gelungen, der trotz seines einschüchternden Umfangs einen größeren LeserInnenkreis ansprechen dürfte. Renate Zeller Seyfried, Gerhard: Gelber Wind oder Der Aufstand der Boxer Frankfurt a. M.: Eichborn 2008. 500 S., € 30,80 Peking im Jahr 1900. Im „verbotenen Palast“ herrscht die Kaiserinwitwe oder genauer: Sie lässt sich beherrschen. Mal von Prinzen, die die „weißen Teufel“ Europa und Japan hassen und diese mit Hilfe der aufständischen Boxer, einer stetig wachsenden Geheimgesellschaft, vertreiben wollen. Mal von ihrer Angst vor all jenen, die sich Stücke aus ihrem Reich herausgeschnitten haben und eigene Hoheitsrechte beanspruchen. Der technische Fortschritt des Westens gilt den Chinesen als Übergriff in ihre so viel ältere, aus ihrer Sicht höher stehende Kultur. Die „weißen Teufel“ sind jedoch überzeugt, dass sie den Fortschritt für sich gepachtet haben und Chinesen nur „gelbes Gesindel“ sind. Die Boxer bündeln den Zorn der Einheimischen, formen daraus eine mächtige Terrorgruppe. Ein Attentat gegen den deutschen Botschafter ist das Signal zum Aufstand, zur Eroberung Pekings – und zum Einmarsch der Marinesoldaten. Kirchen gehen in Flammen auf, Missionare, chinesische Christen und „fremde Teufel“ werden massakriert. Das chinesische Kaiserhaus gibt sich entsetzt, scheint aber im Geheimen mit den Aufständischen zu paktieren – und tut nichts. Unter den Belagerten befindet sich auch die gerade frisch in China eingetroffene Familie des deutschen Kaufmanns Lenck. Dessen Sohn ist vor wenigen Tagen bei einem Ausflug zur chinesischen Mauer verschwunden – wahrscheinlich entführt. 55 Tage müssen die Belagerten unter immer dramatischeren Umständen ausharren und um ihr Leben fürchten ... Herbert Spötta Belletristik Historisches 16 Weigand, Sabine: Die Seelen im Feuer Frankfurt a. M.: Krüger 2008. 528 S., € 20,50 Seit Jahren liegt der Schatten des großen Krieges um Herrschaft und Glaube über dem Land, den man später den 30-jährigen Krieg nennen wird. Die wohlhabende Bischofsstadt Bamberg wurde noch nicht von Söldnerheeren heimgesucht, zum Schauplatz eines nicht minder grausigen Gemetzels ist sie aber schon geworden – dem Kampf gegen Satan und seinen irdischen Helfershelfern, Hexen und Zauberern. Jeder kann verdächtigt werden – und fast jeder wird es auch. So wird irregeleiteter Aberglaube zum tödlichen politischen Werkzeug: Hexenwahn, Neid und Missgunst lassen willkürliche Denunziationen ins Absurde ansteigen, grausame Folter liefert die Geständnisse: Zu Hunderten werden Menschen gequält und ermordet, ganze Familien, von jenen der einfachen Bürger bis zu jenen der aufmüpfigen Stadthonoratioren, brennen auf den Scheiterhaufen vor der Stadt. Auch die junge Apothekerstochter Johanna gerät mit ihrer ganzen Familie in den Strudel aus Hexenwahn und machtpolitischer Ranküne. Ihr Schicksal verflicht sich mit jenem des Stadtschreibers, der im ehernen Glauben an die Unfehlbarkeit der Kirche die „Buchführung“ des Folterns und Brennens übernommen hat, als auch mit dem des jungen Arztes Cornelius, der mit Gleichgesinnten den aussichtslos scheinenden Kampf gegen die Willkürherrschaft aufnimmt. Der Historikerin und Ausstellungsmacherin Sabine Weigand gelingt es vortrefflich, Die Seelen im Feuer nicht in jenen klebrigen Kitsch abgleiten zu lassen, wo sich viele Hervorbringungen des Genres „historischer Roman“ so bequem räkeln. Die Autorin nutzt die Schicksalslinien ihrer ProtagonistInnen als verbindende Klammer für das, was sie an historisch Verbürgtem schonungslos offenlegt: einen wahrhaft bedrückenden Blick zurück in eine Welt, die auch einmal Europa war. Eine Welt, die ihre Menschen in grausame Abhängigkeit zwang – gleichermaßen gegenüber einer willkürlich herrschenden Obrigkeit und den Ängsten und Zwängen der eigenen, beschränkten Weltsicht zwischen Glaube und Aberglaube. Isolde Grabner Unterhaltung Adams, Carrie: Stieftöchter und andere Katastrophen Berlin: Ullstein 2008. 444 S., € 20,50 Carrie Adams erzählt in anrührender Weise vom „Zusammenraufen“ einer Patchworkfamilie: dem schwierigen Alltag und dem ständigen Drahtseilakt aller Familienmitglieder, ohne ständige gegenseitige Vorwürfe miteinander zu kommunizieren. Besonders authentisch und lebensnah wird die Geschichte durch die wechselnden Erzählperspektiven der beiden Hauptfiguren. Da ist Bea, perfekte Mutter dreier reizender Töchter, die nach der Scheidung erkennt, dass sie ihren Mann noch immer liebt, und die Karrierefrau Tessa, die sich mit Mitte 30 unsterblich in den charmanten James verliebt und nun alles versucht, um auch von dessen Töchtern akzeptiert zu werden. Die beiden kleineren Mädchen machen es Tessa leicht; doch Amber, wunderschön, talentiert und mit 14 Jahren gerade mitten in der Pubertät, versteht es wunderbar, ihren Vater zu manipulieren und seine neue Freundin stets als „böse Stiefmutter“ darzustellen. Während Tessa also verzweifelt um Anerkennung kämpft und teilweise an James zweifelt, gerät Bea in eine verhängnisvolle Spirale von Diätwahn und Alkoholsucht, die letztendlich in einem Zusammenbruch gipfelt. Der Autorin ist es gelungen, eine eindringliche Geschichte zu erzählen, teils recht witzig und doch niemals seicht, wie es Umschlag und Klappentext vermuten lassen könnten. Gabi Stolba Haran, Elizabeth: Im Schatten des Teebaums Aus dem austral. Englisch übers. Bergisch Gladbach: Lübbe 2008. 557 S., € 17,50 Auf den ersten Blick wirkt die Handlung verheißungsvoll: Die junge Reporterin Eliza ist um 1900 in Australien einer spannenden Story auf der Spur. Die Recherchen führen sie in einen Ort, wo angeblich ein Tiger gesichtet wurde, der wiederholt die Schafe der Farmer reißt. Eliza verstrickt sich im Zuge der Nachforschungen immer mehr in ihre eigene Familiengeschichte, denn in besagtem Ort wohnt auch ihre Tante Matilda, die jeden Kontakt zu Elizas Familie abgebrochen hat. Erst am Ende des mehr als 500-seitigen Romans wird das verhängnisvolle Geheimnis gelüftet, das die Familie entzweit hatte. Als junge Frau von ihrer eigenen Schwester vor eine Kutsche gestoßen, trug Matilda schwere Verletzungen und lebenslange Entstellungen davon. Aus Angst vor Zurückweisung hatte Matilda ihren Verlobten Richard verlassen, der später die Schwester heiratete. Auf diese „Entdeckung“ werden die LeserInnen allerdings von Beginn der Erzählung an vorbereitet. Wenig Überraschendes bieten auch die Pärchenkonstellationen, die das „happy end“ ausmachen: Matilda und ihr ehemaliger Verlobter Richard lieben einander noch immer; Richards Ehefrau Henrietta hat praktischerweise ohnehin seit jeher ein Verhältnis mit ihrem ehemaligen Jugendfreund. Die Hauptfigur Eliza schließlich entdeckt nach einigen recht konstruierten Verwicklungen und trotz ihrer Tierliebe ihre Gefühle für den Großwildjäger Brodie, der den Tiger hätte erschießen sollen. In der Aufregung all dieser Verliebtheiten verkommen die Ereignisse rund um den Tiger und die geheimnisvollen Schafdiebstähle zu Nebenhandlungen. Die schwarz-weiß gezeichneten Figuren agieren höchst berechenbar in einem vorhersehbaren Handlungsrahmen. Der Roman ist bestenfalls LeserInnen zu empfehlen, die gern an der Hand genommen und auf jede nachfolgende Wendung vorbereitet werden und eine Vorliebe für Romane mit australischem Flair haben. Katharina Zucker Belletristik Unterhaltung Jones, Kelly: Das Mysterium der Madonna Aus dem Amerikanischen übers. München: Page & Turner 2008. 415 S., € 20,60. Florenz, die Stadt der Renaissance, ist der wichtigste Ort im Leben von Suzanne Cunningham, einer Kunstprofessorin aus Idaho, die als junges Mädchen die Hochwasserkatastrophe von 1966 miterlebt, als der Arno weite Teile der Stadt überschwemmt. Viele junge Leute aus aller Welt, die sich zu diesem Zeitpunkt in der Stadt aufhalten, helfen mit, die schon beschädigten Kunstschätze in Sicherheit zu bringen. Die junge Amerikanerin verliebt sich in den Kunstrestaurateur Stefano, der aber verheiratet ist. Gemeinsam retten sie ein Madonnenbild aus den Uffizien. 30 Jahre später liest Suzanne in einem Artikel, dass dieses Gemälde damals zerstört wurde. Aufgeregt über diese Unwahrheit nimmt sie sofort das Angebot einer Professur in Florenz an, um sich auf Spurensuche zu begeben. Ihr geht es nicht nur um das verschollene Bild, sondern auch um ihren Sohn, den sie damals zur Adoption freigeben musste. Das neue Leben er- 17 möglicht ihr, mit den vergangenen Geschehnissen abzuschließen und sich zukünftigen Lebensperspektiven zu öffnen. Vor dem Hintergrund der beeindruckenden Sehenswürdigkeiten der toskanischen Metropole erzählt die Autorin von vergangenen und gegenwärtigen Ereignissen, die sie zu einer abenteuerlichen Geschichte vermengt. Ein umsichtig gestalteter und gut lesbarer Roman. Renate Zeller Trollope, Joanna: Immer freitagabends Berlin: Bloomsbury 2008. 349 S., € 20,50 Immer freitagabends treffen sich sechs Frauen in der Londoner Fulham Road in der Wohnung der ältesten von ihnen, Eleanor. Es sind Frauen von unterschiedlichem Alter, Charakter und Lebensstil. So verschieden sie sind, sie halten zusammen, und das Ritual der wöchentlichen Begegnung bestätigt und bestärkt ihre Freundschaft. Das stabile Gefüge gerät ins Wanken, als eine der Frauen, Paula, einen Mann kennen lernt. Die Treffen bei Eleanor wer- den seltener. Dennoch bleibt sie das Zentrum der Gruppe, denn die Frauen wissen, dass sie jederzeit bei ihr vorbeikommen können. Davon machen sie auch ausgiebig Gebrauch, als es im Leben einer jeden zu Veränderungen und Krisen kommt. Im Mittelpunkt des Romans steht die Bedeutung funktionierender Freundschaften für Frauen in jedem Lebensabschnitt, besonders, wenn sie mit Job und Kindern ziemlich viel um die Ohren haben. Der Mann, in den Paula sich verliebt, stellt eine existenzielle Bedrohung für dieses Gefüge dar, bleibt als Figur aber blass und verschwindet auf ebenso unauffällige Weise, wie er sich das ganze Buch hindurch verhalten hat. Auch die Geschehnisse, die für einige der Frauen kurzfristig dramatische Folgen haben, schildert Trollope relativ unaufgeregt. Die Geschichte plätschert geruhsam dahin, man folgt den Gedankenströmen und Dialogen der Frauen und ist mit ihnen erleichtert, wenn nach einer unsicheren Zeit wieder Stabilität und Ordnung einkehren. Wichtig ist der Autorin die Bedeutung weiblicher Berufstätigkeit als Grundlage ökonomischer Unabhängigkeit. Georgia Latzke Freud, Esther: Liebe fällt Aus dem Englischen übers. Berlin: Bloomsbury 2008. 286 S., € 20,50 Die Überraschung ist groß, als der englische Literaturprofessor seiner halbwüchsigen Tochter einen gemeinsamen Urlaub in der Toskana vorschlägt. Die fast 17-jährige Lara ist das Produkt einer kurzen leidenschaftlichen Beziehung mit einer ehemaligen Studentin. Bei ihrer Mutter aufgewachsen, ist ihr der meist ferne Vater fremd geblieben. Nun also reist sie drei lange Wochen mit ihm nach Italien. Es wird eine Zeit der Annäherung, des Reifens, des Abschiednehmens. Während sich London auf die bevorstehende „Hochzeit des Jahres“ von Kronprinz Charles und Lady Di vorbereitet, bemüht sich Lara, in der für sie ungewohnten Umgebung heimisch zu werden. Vaters Freunde sind eine mondäne Gesellschaft durch alle Altersgruppen. Das junge Mädchen versucht sich in der Gruppe zu behaupten und verliebt sich dabei prompt in den meistbegehrten Junggesellen der Region. Langsam erkennt sie auch dunkle familiäre Schatten der Vergangenheit, die weit in die Gegenwart zu reichen scheinen. In Rückblenden erschließt sich den LeserInnen Laras Kindheit und bruchstückhaft auch die Vergangenheit des Vaters. Schließlich aber verlässt die junge Engländerin Italien nach für sie und ihren Vater einschneidenden Erlebnissen als selbstbewusste junge Frau. Esther Freud, eine Urenkelin von Sigmund Freud, hat bereits mehrere Romane veröffentlicht. Die einzigartigen Erfahrungen des jungen Mädchens, die sie in Liebe fällt vor dem malerischen Hintergrund des italienischen Sommers und der weltweit stattfindenden Berichterstattung über die „Märchenhochzeit“ des englischen Thronfolgers beschreibt, gestalten sich als kurzweilige Lektüre. Die in einen stimmigen Handlungsrahmen gekleideten Gefühlsschwankungen der jugendlichen Protagonistin schließlich bleiben in jedem Moment nachvollziehbar. Elisabeth Schögler Belletristik 18 Schicksale Archer, Jeffrey: Der gefälschte König Dahl, Sophie: Die Spiele der Erwachsenen Aus dem Englischen übers. München: Scherz 2008. 239 S., € 18,40 Aus dem Englischen übers. Berlin: Bloomsbery 2008. 299 S., € 20,50 Jeffrey Archer, vom Beginn seiner Karriere an von der Literaturkritik verrissen, von seiner in die Millionen gehenden Fangemeinde nichtsdestotrotz unbeirrbar als einer der weltbesten Geschichtenschreiber verehrt, hat einmal mehr seine Steherqualitäten unter Beweis gestellt und einen zweijährigen Gefängnisaufenthalt zu einem neuerlich veritablen und wohl höchst einträglichen Erfolg umgemünzt. Die Kurzgeschichtensammlung basiert nach seiner eigenen Aussage auf Erzählungen von Mitgefangenen. Jede einzelne der insgesamt neun Geschichten soll, wenn auch frei ausgeschmückt, auf Fakten beruhen. Das zu glauben, fällt einem bei der einen oder anderen Story schwer, was aber daran liegen mag, dass es einem unbescholtenen Bürger für gewöhnlich an krimineller Fantasie mangelt. Gerade davon wiederum scheinen Archers Häfenbrüder mehr besessen zu haben, als die Polizei erlaubt. Daher dürfen sie sich nun über die literarische Würdigung ihrer Gerissenheit durch den Gerissensten unter ihnen freuen. Einige der solchermaßen Geadelten haben mit ihren ausgefeilten Plänen zumindest vorübergehend Erfolg, andere setzen von vornherein aufs falsche Pferd. Dass auch der genialste Mordplan schiefgehen kann, zeigt die Geschichte vom schlauen Manager, der seine Angetraute mit gesundheitlich bedenklichem St. Petersburger Leitungswasser ins Jenseits zu befördern trachtet. Seinem Ruf als weltbester lebender Kurzgeschichten-Schreiber wird Archer mit diesen Stories nicht gerecht. Sie sind originell, aber ihre literarische Qualität ist fragwürdig. Die treue LeserInnenschaft des bunten Hundes Jeffrey Archer wird dagegen wohl von einem weiteren großen Wurf des Meisters schwärmen. Und was Literaturkritik meint, ist Lord Archer sowieso egal. Er sieht sich als Neid-Opfer und beantwortet die zum Teil hämische Kritik an seinen literarischen Ambitionen mit großzügigen Spenden für wohltätige Zwecke. Ein Schelm, wer dahinter ein schlechtes Gewissen vermutet. Franz Plöckinger Marina, eine überaus schöne Frau, ist erst 16, als sie ihre Tochter Kitty zur Welt bringt. Kittys Vater, ein reicher, aber verheirateter Mann, versorgt Mutter und Tochter mit viel Geld. Kitty bekommt ihn nie zu sehen und wächst bei den Eltern ihrer Mutter auf, bis sie zwölf Jahre alt ist. Dann folgt eine Katastrophe der anderen: Marina verfällt einem Guru und gibt Kitty ins Internat. Später nimmt sie sie zu sich und dem Guru in die USA, der die beiden bald zurückschickt. In England entfremdet sich Kitty immer mehr von ihrer Mutter, gerät in Kontakt mit Alkohol und Rauschgift, nächtelange Besuche in Lokalen häufen sich. Mit 15 geht sie zum ersten Mal mit einem Jungen ins Bett. Marina verliert allen Einfluss auf Kitty, ist selbst drogensüchtig. Da begreift Kitty, dass sie weg muss ... Jahre später lebt sie verheiratet in New York und erwartet ein Baby. Da erfährt sie, Marina sei nach einem Selbstmordversuch in eine Nervenklinik eingeliefert worden. Kitty trifft die Mutter am Krankenbett, erkennt ihre Liebe und verzeiht ihr. Statt eigentlicher Handlung gibt es eher drastische Milieuschilderungen; kein angenehm zu lesendes Buch. Dorothea Schadauer Fatah, Sherko: Das dunkle Schiff Salzburg: Jung u. Jung 2008. 440 S., € 22 Das dunkle Schiff erzählt die Geschichte des jungen Kurden Kerim aus dem Nordirak, dessen alevitische Familie eine Gaststätte betreibt. Als sein Vater durch einen absichtlich herbeigeführten Verkehrsunfall getötet wird – die Kurden leiden nicht nur unter dem Regime von Saddam, sondern sind auch untereinander religiös zerstritten – muss er die Verantwortung für den Familienbetrieb übernehmen. Bei einer Versorgungsfahrt werden der junge Mann und sein Auto von einer militanten Gruppe entführt, bei der er sich vom Gefangenen zum Gefolgsmann wandelt. Er möchte aber weder zum brutalen Mörder noch zum Selbstmordattentäter werden. Daher flieht er und entkommt als blinder Passagier auf einem „dunklen Schiff“ zu seinem Onkel nach Deutschland. Dort muss sich Kerim in einer fremden Kultur zurechtfinden und sich mit seiner Vergangenheit auseinandersetzen, die als erlebtes Trauma schubweise wiederkehrt. Er driftet in eine Parallelgesellschaft ab, wo er seinem Schicksal nicht entkommen kann. Am Beispiel einer Lebensgeschichte zeigt der Autor verschiedenen Formen von Extremismus auf, wie er verführt und wie man ihm ausgeliefert bleibt. Ein fundiert politischer und mit abenteuerlichen Elementen gespickter Roman, der sich überzeugend auf die reflektierende Perspektive des Protagonisten stützt. Renate Zeller Rasker, Maya: Wenn du eine Landschaft wärst Aus dem Niederländischen übers. München: Luchterhand 2008. 283 S., € 20,60 Der Amsterdamer Geologe Abel lebt auf einem Berg in den spanischen Pyrenäen. Hier fühlt er sich frei und ungebunden. Seine wissenschaftliche Karriere hat er aufgegeben. Hin und wieder kommen Gruppen von Studenten, die er durch die Landschaft führt. In so einer Gruppe begegnet er der jungen Geologin Xenia. Abel fühlt sich von der herben Frau angezogen. Xenia bleibt bei ihm in seinem abgelegenen Haus auf dem Berg. Da überrascht die beiden ein Wetterumschwung. Mit knapper Not und schwer verletzt entkommen sie einer Lawine und erreichen getrennt das Tal. Jahre später begegnen sie sich in Amsterdam zufällig wieder. Ihre Beziehung flammt erneut auf. Abel erfährt von der Existenz seines Sohnes Max. Das stürzt ihn in eine tiefe Krise ... Wenn du eine Landschaft wärst ist ein vielschichtiger Roman mit sorgfältig gezeichneten Charakteren. Die Autorin erzählt in klarer, eindringlicher Sprache. Endgültige Antworten zu den großen Lebensthemen gibt es nicht. Hier steht am Ende ein schönes Zusammenfinden. Beeindruckend sind die Schilderungen der herben Landschaft der Pyrenäen und seiner Bewohner. Maria Hammerschmid Belletristik Schicksale Sendker, Jan-Philipp: Das Flüstern der Schatten München: Karl Blessing 2007. 446 S., € 20,60 Der 50-jährige Deutsch-Amerikaner Paul lebt seit mehr als 30 Jahren in China. Nach dem Tod seines Sohnes Justin und der nachfolgenden Scheidung von seiner Ehefrau zieht er sich aus der Gesellschaft zurück. Er vertauscht die schillernde Kulisse von Hongkong mit einer beschaulichen Insel, wo er sich dem Gärtnern, Meditieren und den Erinnerungen an Justin hingibt. Nur zwei Menschen gelingt es, sein Eremitendasein zu durchbrechen: Christine Wu, eine schöne und intelligente Frau, deren Annäherungsversuche er nur zögernd erwidert, und Kommissar David Zhang, ein scheuer Mann, der ein Bündel Erinnerungen aus seiner Jugendzeit in der Roten Armee mit sich schleppt. Pauls beschauliches Leben findet ein Ende, als eine reiche Amerikanerin ihn bittet, ihr bei der Suche nach ihrem verschwundenen Sohn zu helfen. Paul gerät so in einen scheinbar aussichtslosen Kampf gegen brutale Mafiabosse und korrupte Polizisten. Obgleich er den letzten Halt zu verlieren droht, öffnet sich ihm auch das Tor zu einem neuen, selbstbestimmten Leben. Dem Autor, der jahrelang als Asien- 19 korrespondent tätig war, gelingt es dank seiner Chinaerfahrung, das Alltagsleben Chinas und Hongkongs detailgetreu zu vermitteln. Daneben schildert er, eingebunden in einen Kriminalfall, das psychologisch feinsinnig dargelegte Schicksal dreier Menschen, die einander auf vielfältige Weise verbunden und an einem Wendepunkt ihres Lebens abgekommen sind. Irene Minainyo Winton, Tim: Atem Aus dem austral. Englisch übers. München: Luchterhand 2008. 235 S., € 17,50 Tim Winton gehört zu den erfolgreichsten und produktivsten Schriftstellern Australiens. Für seine Arbeit als Autor von Romanen, Kurzgeschichten und Essays, fürs Fernsehen und Bühne adaptierten Romanversionen sowie Kinderbüchern wurde er mehrfach ausgezeichnet. In Atem wählt er einen sehr offenen, nicht wertenden Zugang zu einem „Problem-Thema“. Die beiden Freunde Bruce und Loonie waren schon als Kinder die schwarzen Schafe ihres kleinen Ortes in Westaustralien. Das ändert sich auch nicht, als die beiden Halbwüchsigen das Surfen als Ventil für ihre überschüssigen Energien entdecken. Waren es zuerst nur kleine Wetten, zum Beispiel wer länger unter Wasser die Luft anhalten konnte, so kommt mit dem Wellenreiten ein neuer Faktor zum eh schon wetteifernden Jugendverhalten dazu – der Kick. Mit dem Surfen finden die beiden auch die Passion ihres Lebens; hier können sie ihre Sucht nach Grenzen erweiternden Gefahrensituationen und der süchtig machenden Hormonausschüttung des Kleinhirnes umfassend befriedigen. Der Sport bzw. ihr Konkurrenzverhalten macht die Freunde allerdings langsam zu erbitterten Feinden und das „off board“. Auslöser ist der Kampf um die Gunst eines älteren Surfers, welcher zuerst beide unter seine Fittiche nehmen will, dann aber nur einen der beiden fördert. Als nur Loonie protegiert wird und mit dem Surf-Guru um die Welt reist, beginnt Bruce mit dessen Frau ein Verhältnis, welches das Ende einer Ära für alle Beteiligten einläutet. Überzeugend schildert Winton, wie man als anfälliger Charakter in ein Abhängigkeitsverhältnis rutschen kann – und wie die „Coolness“ einer alternativen Lebensplanung irgendwann auch die Niederungen des betreffenden Lebensstils – Surftrips werden durch Drogenschmuggel finanziert – berührt. Hermann Gamauf Hansen, Erik Fosnes: Das Löwenmädchen Köln: Kiepenheuer & Witsch 2008. 395 S., € 20,60 Mit Das Löwenmädchen führt der in New York geborene Norweger Erik Fosnes Hansen auf drastische Weise vor Augen, wie unsere Gesellschaft mit Außenseitern umgeht. In einer kalten Dezembernacht im Jahre 1912 kommt in einem Dorf in Norwegen ein Kind zu Welt. Die Mutter stirbt bei der Geburt und der Vater möchte anfangs nichts mit dem Säugling zu tun haben, zumal das Mädchen über und über mit hellem, seidigem Haar bedeckt ist. Ein seltener Gendefekt ist Schuld an Evas Behaarung. Sie wird Zeit ihres Lebens damit leben müssen. Hausarzt und Apothekersgattin helfen dem verbitterten Witwer. Doch vor der Öffentlichkeit wird das Kind versteckt – was natürlich zu Spekulationen im Ort führt. Abgeschottet von der Außenwelt erschafft sich das kleine Mädchen seine eigene Phantasiewelt. Evas einziger Vertrauter ist ein Funker, der ihr das Morsen beibringt und sie dadurch aus der Enge ihres Zimmers befreit. Mit dem Eintritt in die Schule verändert sich Evas Leben, die anderen Kinder stoßen und verspotten sie, für die Wissenschaft ist sie ein interessantes Schauobjekt, das schamlos ausgenützt wird. Als heranwachsende junge Frau hat sie Gefühle wie jeder Teenager. Doch es kommt der Zeitpunkt, da muss sich Eva entscheiden, ob sie ihr Leben als Außenseiterin in der Dorfgemeinschaft weiter führen oder sich einer Truppe anschließen will, die „menschliche Kuriositäten“ zur Schau stellt ... Ein kluger und trauriger Roman über „Normalität“ und „Abartigkeit“ – in schönen Bildern erzählt. Gabi Stolba