PISA – Medienspektakel oder wissenschaftliche Studie im Dienste

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PISA – Medienspektakel oder wissenschaftliche Studie im Dienste
PISA – Medienspektakel oder wissenschaftliche Studie
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im Dienste der Bildungspolitik?
Urs Moser
Kompetenzzentrum für Bildungsevaluation und Leistungsmessung
an der Universität Zürich
Sehr geehrte Damen und Herren
«PISA zeigte unerbittlich, dass die Schweizer und gerade die Zürcher Schulen nicht mehr
Spitze sind» (Schulmanifest der SP der Stadt Zürich, Seite 3).
… steht in Ihrem Schulmanifest geschrieben. Kein bildungspolitisches Programm scheint
gegenwärtig ohne PISA auszukommen. Worauf beruht der Erfolg dieser Studie? Weshalb
nimmt sie in den Medien einen so grossen Raum ein? Weshalb werden die Ergebnisse
weitgehend kritiklos rezipiert? Welchen Nutzen hat eine Studie, wenn sie Grundlage jeglichen politischen Handelns sein kann? Und welche Bedeutung haben die Pisa-Ergebnisse
für die Gestaltung des Schulmodells für die Zukunft?
Die Beantwortung dieser Fragen werde ich mit Bezug zum Tagungsthema in fünf Schritten
vornehmen.
I.
Sechs Gründe für den Erfolg von PISA
II. Kulturimperialismus oder die Schwierigkeit der Methodenkritik
III. Selektive Wahrnehmung oder die Schwierigkeit im Umgang mit Daten
IV. Heterogenität der Schülerschaft: Ausrede oder Herausforderung für die Schule?
V. Folgerungen für das Schulmodell der Zukunft
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Referat an der Tagung der SP Kanton und Stadt Zürich zum Thema «Integration oder
Selektion? Das Schulmodell der Zukunft» vom 1. Oktober 2005.
I.
Sechs Gründe für den Erfolg von PISA
PISA ist ein Programm für internationale Schulleistungsvergleiche, dessen Erfolg auf sechs
elementaren Grundsätzen beruht.
1. PISA testet jene Grundbildung, die einen hohen Voraussagewert für den erfolgreichen
Übertritt in den Arbeitsmarkt hat. Gegenstand der Leistungsmessung sind daher nicht
Kompetenzen, die direkt dem Lehrplan der Volksschule entsprechen. Die Ausrichtung
des Kompetenzbegriffs auf das künftige Leben ist das grundlegende Merkmal von PISA und nimmt zugleich allfälligen Kritikern den Wind aus den Segeln. Auf Nutzen orientierte Bildung ist für alle Länder ein erstrebenswertes Ziel.
2. Pro Land werden mindestens 4500 15-Jährige aus 150 Schulen zufällig ausgewählt. In
der Schweiz werden jeweils mehr als 20'000 Schülerinnen und Schüler getestet, damit
auch ein Vergleich zwischen Kantonen zuverlässig angestellt werden kann. Bei PISA
wird nichts dem Zufall überlassen, ausser die Auswahl der Schülerinnen und Schüler.
3. Die ausgewählten Jugendlichen bearbeiten die PISA-Tests an einem Vormittag. Die
Tests werden von neutralen und externen Personen in den Schulen durchgeführt, und
zwar nach standardisierten Anweisungen, mit der gleichen Begrüssung in allen Ländern, mit gleichen Anweisungen, mit Stoppuhr – das Mogeln im Feld wird auf ein Minimum beschränkt.
4. Die Tests werden nach einem standardisierten Verfahren korrigiert, elektronisch erfasst
und ausgewertet. Die Ergebnisse werden in einem internationalen Bericht publiziert.
Und zwar so, dass alle den Bericht verstehen und er auch ohne Statistikkenntnisse und
ohne Aufputschmittel zu Ende gelesen werden kann, weil er weitgehend Ranglisten
und Grafiken enthält, wie sie uns aus dem Sport- und Wirtschaftsteil unserer Tageszeitung vertraut sind.
5. Es wird nicht einfach ein Bericht veröffentlicht, sondern die OECD kommuniziert das
Produkt PISA und betreibt ein Marketing mit der impliziten Botschaft: «Wenn sie eine
Frage über die Qualität der Schule haben, dann liefert ihnen PISA die Antwort.» Die
Politik erhält so die lang ersehnte wissenschaftliche Grundlage, mit der sie sowohl die
geplanten als auch die unterlassenen Reformen legitimieren kann: «Anything goes».
6. Als Absender des Programms zeichnet die OECD, eine Organisation mit hoher Reputation, weil sie sich um die wirtschaftliche Entwicklung und die soziale Wohlfahrt kümmert. Somit sind nicht nur einige wenige Pädagogen oder Bildungsdirektorinnen angesprochen, sondern sämtliche Mitglieder einer Gesellschaft.
Ich erachte die drei letzten Punkte – sportliche Berichterstattung, Marketing des Produkts
PISA und Label des Absenders – als entscheidend dafür, dass die Ergebnisse der Studie von
den Medien wie von der Politik wahrgenommen werden. PISA ist ein Medienereignis mit
besonderer Ausstrahlung und dadurch auch eine Bereicherung der öffentlichen wie politischen Diskussion über die Schule der Zukunft, über die Zukunft der Schweiz.
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II.
Kulturimperialismus oder die Schwierigkeit der Methodenkritik
Die Tatsache, dass in der Schweiz rund 20 Prozent der Jugendlichen Schwierigkeiten haben, nach neun Jahren obligatorischer Schulbildung einen einfachen Text zu verstehen,
hat dann aber doch vereinzelt zu kritischen Stimmen gegenüber dem ökonomisch motivierten Schulleistungsvergleich geführt. Lässt sich der Sonderfall Schweiz mit 26 kantonalen Schulsystemen überhaupt international vergleichen? Sind wir da nicht etwa in eine
gewaltige Falle getappt, wie ein bekannter Zürcher Psychologe vermutet?
«Unsere Schulen sind besser als ihr Ruf; die PISA-Befunde lenken von ihren eigentlichen
Qualitäten ab. Zur Lesekompetenz: Die Art, in der sie erhoben wurde, entspricht angelsächsischen und skandinavischen Testmethoden. Wir sind hier Opfer eines Kulturimperialismus».
Zitat A.G., Psychologe Zürich, «Brückenbauer», (10. 12. 2002)
Ich stimme in einem überein: Die Schulen sind besser als ihr Ruf. Der Vorwurf des Kulturimperialismus bedarf aber einer näheren Betrachtung der Methodik von PISA, weshalb ich
zunächst auf zwei Aufgabenbeispiele eingehe.
Für die Aufgabe «Geschwindigkeit eines Rennwagens» scheint der Vorwurf des Kulturimperialismus in der Tat eine gewisse Berechtigung zu haben. Seit 1954 hat in der Schweiz
kein Formel-1-Grand-Prix mehr stattgefunden, und auch kleinere Autorennen geniessen in
der Öffentlichkeit eher wenig Aufmerksamkeit. Einzig die Verkehrskommission des Nationalrats hat den Ernst der Lage erkannt und unterstützt die Initiative, dass in der Schweiz
wieder Formel-1-Grand-Prixs zugelassen werden sollen. Ein Bezug zu PISA wurde von der
Kommission nicht hergestellt, ist auch nicht zwingend, handelt es sich beim gezeigten
Beispiel doch um eine Mathematikaufgabe. Und in der Mathematik können sich die
Schweizer Jugendlichen ja noch sehen lassen.
Die PISA-Aufgabe «Plan International» zeigt nun aber ein typisches Beispiel, wie die angelsächsischen Länder ihre Vormachtstellung zu verteidigen pflegen. Eine Tabelle muss interpretiert werden. Eine Leseaufgabe, die wenig Rücksicht auf den Deutschunterricht in
Schweizer Schulstuben nimmt, der ja vor allem auf Textanalyse und Textinterpretation
ausgerichtet ist und in dem das literarisch-ästhetische Textverständnis über der ökonomisch-technokratischen Nutzung von Tabellen steht. Zudem müssen die Fragen zum «Plan
International» teilweise anhand von Multiple-Choice-Aufgaben beantwortet werden, ein
Aufgabenformat, das nicht nur der problemorientierten, konstruktivistischen Didaktik
hierzulande widerspricht, sondern nur bedingt etwas mit dem Schweizer Alltag zu tun hat.
Aus den Abstimmungs- und Wahlvorlagen sind wir uns gewohnt, entweder mit «ja» oder
«nein», allenfalls mit einem Namen zu reagieren.
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Ich kann Ihnen versichern, die Kritik an der Methode von PISA ist nicht stichhaltig. Ein vertiefter Blick auf die Schweizer Ergebnisse zeigt allerdings, dass das Lesen von mehrseitigen
Texten, von Tabellen und Grafiken, von Gebrauchsanleitungen und Packungsbeilagen,
aber auch das Lösen von alltagsbezogenen Mathematikaufgaben in einer grossen Anzahl
der Schweizer Schulen nicht zur Kultur im Unterricht gehört (Moser & Berweger, 2003). So
verstanden ist die Schweiz zweifellos in eine Falle getappt, allerdings mehr oder weniger
bewusst. Von diesem Missstand besonders betroffen sind die Schulen mit Grundansprüchen, also die Realschulen oder im Kanton Zürich die Abteilungen B und C, die auf die
alltagsbezogenen Aufgabestenllungen schlecht vorbereitet waren. Anpassungen der Lehrpläne und des Unterrichts könnten durchaus das Ergebnis der Schweiz in PISA verbessern.
III.
Selektive Wahrnehmung oder die Schwierigkeit im Umgang mit Daten
Die angelsächsischen und skandinavischen Testmethoden erklären in PISA also herzlich
wenig. Die Spitzenränge Finnlands, Australiens und Kanadas, die sich alle durch ein integratives Schulsystem mit zum Teil spätem Selektionszeitpunkt auszeichnen, verlocken aber
zur Forderung einer gemeinsamen Schulung bis zum 9. Schuljahr. Die SP konnte dieser
Verlockung nicht widerstehen, hat vermutlich den Blick auf PISA-Ergebnisse innerhalb von
Deutschland und innerhalb der Schweiz bewusst ausgeblendet. Denn in Deutschland sind
es Bayern und Baden-Württemberg mit dem klassischen dreiteiligen Schulsystem auf der
Sekundarstufe I (Hauptschule, Realschule und Gymnasium), die merklich besser abschneiden als Hessen, Niedersachsen und das Schlusslicht Bremen, die integrative Schulmodelle
oder gar Gesamtschulen auf der Sekundarstufe I realisieren. Diese frohe Botschaft durfte
von der CSU nicht ungenutzt bleiben.
«In allen getesteten Bereichen liegen sozialdemokratisch regierte Länder abgeschlagen
am Schluss der Tabelle. Unionsregierte Länder bilden die Spitzengruppe. Spitzenreiter ist
durchwegs Bayern vor Baden-Württemberg. Die Ergebnisse der PISA-Studie zeigen
auch: das gegliederte Schulsystem in Bayern ist sozial gerechter als das Schulsystem in
SPD-regierten Ländern, in denen die Gesamtschule eine dominante Rolle spielt.»
CSU, www.csu.de/home/Display/Politik/Themen/Bildung/pisastudie
Auch die Ergebnisse innerhalb der Schweiz lassen sich ähnlich nutzen. Die Kantone Freiburg und St. Gallen erreichen mit starrem dreiteiligem Schulmodell auf der Sekundarstufe
I die besten Ergebnisse in PISA. Tessin und Genf liegen hingegen mit integrativen Schulmodellen abgeschlagen am Ende der Rangliste.
Nun, beide Folgerungen – jene der SP der Stadt Zürich als auch jene der CSU – drängen
sich auf Grund der PISA-Ergebnisse nicht zwingend auf. Die Ursachen für die schlechten
Lesekompetenzen sind kaum beim Schulsystem auf der Sekundarstufe I zu finden. Bereits
unsere gross angelegte Studie zu den Schulmodellen im Kanton Zürich hat gezeigt, dass
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die Selektion ohne Verluste entschärft werden kann, weil sich die Schülerinnen und Schüler weitgehend systemresistent verhalten (Moser & Rhyn, 1999). Ob dreiteilige oder gegliederte Sekundarschule spielt für die Entwicklung der Schulleistungen kaum eine Rolle.
Allerdings hilft diese Erkenntnis zur Lösung der anstehenden Probleme im Kanton Zürich
nicht weiter. Und diese können zum Teil anhand von PISA-Daten sichtbar gemacht werden.
IV.
Heterogenität der Schülerschaft: Ausrede oder Herausforderung für die Schule?
Wie eingangs erwähnt, hat die Präsentation der PISA-Ergebnisse in Form von Ranglisten
durchaus gewisse Vorteile. Ein Nachteil ist allerdings, dass bei mehr als dreissig teilnehmenden Ländern und vier Kompetenzen – vor allem in den Medien – schnell einmal der
Platz für eine fundierte Berichterstattung fehlt. Bildungsrelevante Kontextinformationen
werden deshalb bei der Interpretation der Ergebnisse kaum beachtet. Die Position der
Schweiz im internationalen Vergleich kann beispielsweise zum Teil durch den hohen Anteil
Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund, zum Teil auch durch den späten
Schuleintritt erklärt werden. Bei einem Vergleich der Leistungen ausschliesslich von Schülerinnen und Schülern ohne Migrationshintergrund verbessert sich das Ergebnis der Schweiz
im internationalen Vergleich signifikant. Allerdings gelingt es Ländern wie Australien und
Kanada trotz hohem Anteil an Migranten in allen Kompetenzbereichen sehr gute Leistungen zu erreichen. Entsprechend häufig wird diesen Ländern Vorbildfunktion für die Förderung von fremdsprachigen Kindern unterstellt. Sobald aber der soziale Hintergrund der
Migrantenpopulationen dieser Länder aufgeschlüsselt wird, zeigt sich, dass auch diese
Interpretation auf Grund der PISA-Daten nicht gerechtfertigt ist.
Die Abbildung zeigt die Leistungsunterschiede in der Mathematik und die Unterschiede im
sozioökonomischen Hintergrund zwischen Schülerinnen und Schülern mit und ohne
Migrationshintergrund. Die Position der Länder und des Kantons Zürich wird durch die
Differenzen in der Mathematikleistung (Vertikale) und durch die Differenzen im sozioökonomischen Hintergrund (Horizontale) dargestellt. Je grösser die Differenzen zwischen einheimischen und immigrierten Jugendlichen in Bezug auf ihren sozioökonomischen Hintergrund sind, desto grösser sind auch die Differenzen in den Mathematikleistungen.
Bei der Interpretation von Leistungsdifferenzen zwischen Jugendlichen mit und ohne
Migrationshintergrund gilt es, Unterschiede bezüglich der für die Leistungen relevanten
sozialen Herkunft dieser Population zu berücksichtigen. Dies ist insbesondere im Rahmen
des internationalen Vergleichs von Bedeutung, weil die Zusammensetzung der Migrantenpopulation direkt von der Einwanderungspolitik eines Landes beeinflusst wird und die
Kriterien für die Aufnahme von Migranten je nach Land verschieden sind.
Die Heterogenität der Schülerinnen und Schüler ist im Kanton Zürich besonders hoch und
verdeutlicht die grosse Herausforderung für das Schulsystem, zumindest für die Schulen in
der Stadt und in Teilen der Agglomeration. Heterogenität bedeutet, dass die Leistungsunterschiede zwischen den Schülerinnen und Schülern, aber auch zwischen den Klassen im
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Kanton Zürich besonders gross sind. Die Gründe dafür sind für die Schule der Zukunft
nicht ohne Bedeutung:
1. Auch nach der statistischen Berücksichtigung der sozialen und kulturellen Herkunft bei
der Berechnung der schulischen Leistungen zeigt sich, dass es Klassen mit sehr guten
und solche mit weniger guten Leistungen gibt. Kerngeschäft der Schule ist und bleibt
der Unterricht, der auch im Kanton Zürich in unterschiedlicher Qualität angeboten
wird.
2. Die grossen Leistungsunterschiede am Ende der obligatorischen Schulbildung werden
zum Teil in der Sekundarstufe I institutionell erzeugt oder zumindest verstärkt. Durch
die Einteilung der Schülerinnen und Schüler in verschieden anspruchsvolle Schultypen
oder Leistungsniveaus wird zwar die Heterogenität der Schülerschaft durchbrochen.
Dies mag für die Schulen mit erweiterten oder hohen Ansprüchen eine gute Lösung
sein. Für Schulen mit Grundansprüchen verschlechtern sich hingegen die Lehr-LernBedingungen. Denn homogene Lerngruppen werden genau dann zu einem Problem
für ein Bildungssystem, wenn sich die Lerngruppen nur noch aus Leistungsschwachen
und sozioökonomisch Benachteiligten zusammensetzen. Ein klassisches Beispiel sind die
Sonderklassen, die auf dem Prinzip beruhen, durch homogene Lerngruppen den Unterricht optimal auf die Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler abzustimmen und sie
besser zu fördern – eine Täuschung, wie die Forschung zeigt. Die Schulen mit Grundansprüchen laufen Gefahr, zu Restschulen zu verkommen, denen das gleiche Schicksal
widerfährt: Gemessen am Lernerfolg sind sie wenig effektiv und führen zu einer Stigmatisierung.
3. Das Schulsystem ist für die grossen Leistungsunterschiede allerdings nur teilweise verantwortlich. Die Aufteilung in leistungsstarke und leistungsschwache Schulen ist nämlich durch demographische Entwicklungen vorprogrammiert. Die Segregation der Schülerpopulation nach bildungsrelevanten Merkmalen ist vor allem in städtischen Gebieten, aber auch in der Agglomeration so weit fortgeschritten, dass Lehrpersonen auf
Grund der sozialen und kulturellen Zusammensetzung ihrer Klassen je nach Schulort
bereits zu Beginn der Primarschule völlig unterschiedliche Aufgaben zu erfüllen haben
(Moser, 2005). Was als Folge der Einführung von mehr Wettbewerb und freier Schulwahl befürchtet wird, nämlich die zunehmende Segregation der Schülerpopulation
nach bildungsrelevanten Merkmalen, entspricht längst der Wirklichkeit. Die grösste Gefahr für unsere Gesellschaft, das Prinzip der Chancengleichheit nicht einzuhalten, liegt
deshalb nicht bei den Selektionsentscheiden beziehungsweise bei den Schnittstellen
des Bildungssystems. Der enge Zusammenhang zwischen Herkunft und Leistung ist eine Realität, aber nicht ausschliesslich auf die Schule zurückzuführen, wie manchmal auf
Grund der PISA-Ergebnisse der Eindruck entstehen könnte.
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V.
Folgerungen für das Schulmodell der Zukunft
Das Schulmodell der Zukunft muss sich unter anderem auf vier Parameter ausrichten, die
vermutlich zu widersprüchlichen Folgerungen führen: (1) Die historische Entwicklung des
Zürcher Schulsystems, (2) die Datenlage zur Wirkung von Schulmodellen, (3) die Heterogenität der Bevölkerung und (4) die je nach Wohnort verschieden günstigen Lehr-LernBedingungen.
Die gemeinsame Schulung aller Schülerinnen und Schüler bis zum 9. Schuljahr und die
Abschaffung der heute praktizierten Selektion verkennt, dass im Kanton Zürich während
Jahrzehnten eine unfruchtbare Debatte über Schulmodelle stattgefunden hat. Eine erneute Diskussion über Schulmodelle läuft Gefahr, dass vergleichsweise einfach realisierbare
Reformen verzögert werden und der Blick auf das Wesentliche, die Verbesserung des Unterrichts, verloren geht. Die Datenlage zeigt zudem, dass die Schulmodelle für die Leistungsentwicklung von sekundärer Bedeutung sind. Auch Gesamtschulen führen nicht a
priori zu besseren Leistungen. Zudem lässt sich die Selektion nicht aus der Welt schaffen,
sie lässt sich höchstens verschieben, besser gestalten und durch die Möglichkeit der Reversibilität von Entscheiden entschärfen.
Diese Folgerungen stehen im Widerspruch zur Tatsache, dass die Selektion am Ende der
Primarschule zu ungünstigen Lehr-Lern-Bedingungen in den Klassen mit Grundansprüchen
und dadurch zu einer schlechten Ausschöpfung der Ressourcen der betroffenen Jugendlichen führt. Die demographisch bedingte Segregation wird durch das Schulsystem verstärkt. Im Kanton Zürich lassen sich die Leistungsunterschiede zwischen den Schulklassen
der Sekundarstufe I durch die Herkunft der Schülerinnen und Schüler gleich gut erklären
wie durch die Zugehörigkeit zu einem Schultyp nach dem Motto: Sag mir, wo Du herkommst und ich sage Dir, welchen Schultyp du zu besuchen hast.
Auf Grund der vier Parameter führt eine Gesamtschule bis zur 9. Klasse zu keiner Lösung
des Problems, strukturelle Anpassungen der bestehenden Schulmodelle auf der Sekundarstufe I könnten hingegen zu einer signifikanten Verbesserung des Status Quo führen.
1. Grundlage der Volksschule muss ein Lehrplan sein, der in Bezug auf das zeitliche und
inhaltliche Angebot für alle Schülerinnen und Schüler gleiche Lehr-Lern-Bedingungen
sicherstellt. Den aktuellen Lehrplan gilt es zu entrümpeln und im Hinblick auf die Nützlichkeit der Inhalte zu überprüfen.
2. Der Lehrplan wird durch einen Referenzrahmen ergänzt, in dem die Lehr-LernErgebnisse im Sinne von Anforderungen beziehungsweise von klar definierten Kompetenzen für die verschiedenen Lehrplanbereiche umschrieben sind. Vorbild ist der europäische Referenzrahmen für Sprachen.
3. Die durch die Grundstufe intendierte Flexibilisierung der Schullaufbahn wird bis ans
Ende der Volksschule fortgesetzt. Der Unterricht wird auf der Sekundarstufe I zumindest für die Kernbereiche Mathematik und Naturwissenschaften sowie für die Erstund Fremdsprachen im Rahmen eines Kurssystems angeboten. Die Lehrplanbereiche
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«fachübergreifende Projekte, Sport, Gestaltung und Musik» werden in heterogenen
Gruppen unterrichtet.
4. Die Kurse sind thematisch gebunden, zeitlich begrenzt und beziehen sich auf den Referenzrahmen. Entsprechend dem hierarchischen und kumulativen Aufbau von Kompetenzen werden Niveaukurse angeboten, die nicht an Klassenstufen gebunden sind.
Die Niveaukurse werden deshalb von altersdurchmischten Gruppen besucht.
5. Den Schülerinnen und Schülern wird die Möglichkeit gegeben, einen Niveaukurs mit
einem Zertifikat abzuschliessen und dadurch die Berechtigung zu erlangen, einen Kurs
auf nächst höherem Niveau zu besuchen. Niveaukurse können wiederholt werden,
wenn das Zertifikat nicht wunschgemäss erreicht wird. Allen Schülerinnen und Schülern steht es offen, ihren Leistungen entsprechende Kurse zu besuchen.
6. Das Kurssystem ersetzt die Zugehörigkeit zu einem Schultyp in den Kernfächern. Abschlusszeugnis und Schultyp werden entkoppelt. Im Zeugnis ist einzig aufgeführt, welche Kompetenzen die Schülerin und Schüler erreicht haben. Die Beurteilung der Kompetenzen muss zudem zu einem Teil durch objektivierte Testverfahren erfolgen.
7. Die strukturellen Anpassungen werden vor allem dann erfolgreich sein, wenn es gelingt – vielleicht mit Hilfe eines Anreizsystems –, dass die besten Lehrpersonen die tiefsten Niveaukurse unterrichten. Unabhängig dessen ist aber die Grundlage aller strukturellen Anpassungen, dass sowohl der Lernerfolg als auch die Unterrichtsqualität regelmässig ausgewiesen werden.
Ein differenzierter und nach Kompetenzen ausgerichteter Unterricht stärkt die Jugendlichen in der Verantwortung für das Lernen, erhöht die Transparenz über die Leistungen
der Schülerinnen und Schüler, verhindert Restschulen, entspricht der nationalen bildungspolitischen Ausrichtung und lässt sich durch organisatorische Anpassung der bestehenden
Schulmodelle realisieren. Wie heisst es doch in ihrem Manifest: «Aber auch ohne PISA: Zu
viele Schülerinnen und Schüler verlassen die Schule ohne halbwegs befriedigende Kenntnisse in Sprache und Mathematik.» Achten Sie darauf, dass dies den Betroffenen nicht
erst dann vor Augen geführt wird, wenn sie sich für eine Lehrstelle interessieren.
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Literatur
Moser, U. & Berweger, S. (2003). Lehrplan und Leistung. Thematischer Bericht der Erhebung PISA 2000. Neuchâtel: Bundesamt für Statistik.
Moser, U. & Rhyn, H. (1999). Schulmodelle im Vergleich. Eine Evaluation der Leistungen in
zwei Schulmodellen der Sekundarstufe I. Aarau: Sauerländer.
Moser, U., Stamm, M. & Hollenweger, J (2005). Für die Schule bereit? Lesen, Wortschatz,
Mathematik und soziale Kompetenz beim Schuleintritt. Aarau: Sauerländer.
OECD (2004). Lernen für die Welt von morgen. Erste Ergebnisse von PISA 2003. Paris:
OECD.
OECD (2001). Lernen für das Leben. Erste Ergebnisse von PISA 2000. Paris: OECD.
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