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Zitierhinweis
Katja Happe: Rezension von: David Barnouw: Die Niederlande im
Zweiten Weltkrieg. Eine Einführung, Münster: agenda 2010, in
sehepunkte 11 (2011), Nr. 7 [15.07.2011],
URL:http://www.sehepunkte.de/2011/07/19315.html
First published: http://www.sehepunkte.de/2011/07/19315.html
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sehepunkte 11 (2011), Nr. 7
David Barnouw: Die Niederlande im Zweiten
Weltkrieg
Der Titel der Publikation von David Barnouw Die Niederlande im Zweiten
Weltkrieg lässt zunächst ein umfangreiches und hochwissenschaftliches
Buch erwarten, das im deutschen Sprachraum lange überfällig ist. Umso
größer ist die Verwunderung, wenn ein Buch im Umfang von gerade
einmal 129 Seiten und ohne Fußnoten vorliegt. Erst der Untertitel "Eine
Einführung" reduziert die Erwartungen auf ein dem Buch angemessenes
Maß. Diese neuen Erwartungen werden dann aber durch ein
informatives, gut geschriebenes und alle wichtigen Aspekte abdeckendes
Buch reichlich erfüllt.
David Barnouw, langjähriger Mitarbeiter des niederländischen
Dokumentationszentrums für Weltkriegs-, Holocaust- und
Genozidforschung (NIOD), bekannt unter anderem durch seine
Forschungen zu Anne Frank, hat sich der Aufgabe gewidmet, die
Geschichte der Besatzungszeit in den Niederlanden in einfacher, gut
verständlicher und dennoch wissenschaftlich fundierter Weise
zusammenzufassen. Das vorliegende Buch, dessen niederländischer Titel
Die Besatzung in einer Nussschale. Alles, was Du schon immer über den
Zweiten Weltkrieg in den Niederlanden wissen wolltest den Inhalt besser
wiedergibt, bietet einen ersten Zugang zu den Geschehnissen in den
Niederlanden und ordnet sie in größere Zusammenhänge ein. Nachdem
das Buch bereits 2005 in einer niederländischen Version erschien, ist es
dem Autor und dem agenda-Verlag zu verdanken, dass diese Einführung
nun auch im deutschen Sprachraum vorliegt. Auch wenn die
Besatzungszeit in den Niederlanden selbst gut erforscht ist, sind
deutschsprachige Publikationen zu den Jahren 1940 bis 1945
Mangelware. Dass die deutschen Besatzungsbehörden unter
Reichskommissar Seyß-Inquart eine gut funktionierende Zivilverwaltung
aufbauten, dass zehntausende Niederländer Zwangsarbeit in
Deutschland verrichten mussten und dass fast 75% der in den
Niederlanden lebenden Juden im Holocaust umkamen, mehr als in jedem
anderen westeuropäischen Land, ist außerhalb der Niederlande kaum
bekannt. Für all diese Themen bietet David Barnouw einen guten
Einstieg, bei dem er zugleich die aktuellen Diskussionen in der
Wissenschaft mit einbezieht.
Das Buch beginnt mit der Vorgeschichte der Besatzungszeit, der
gesellschaftlichen und politischen Situation in den Niederlanden und
dem Aufkommen des Nationalsozialismus in Deutschland. Aufgrund des
geringen Platzes bleiben die Aussagen David Barnouws eher allgemein
und beschränken sich auf die wichtigsten Punkte wie die Militarisierung
Deutschlands nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten und die
engen wirtschaftlichen Verbindungen der Niederlande zu Deutschland.
Er thematisiert das Aufkommen der nationalsozialistischen Bewegung
der Niederlande (NSB) und die Vorbereitungen für den Verteidigungsfall.
In den folgenden Kapiteln widmet er sich dem deutschen Angriff, der
schnellen Niederlage der niederländischen Armee nach nur fünf Tagen
und der Flucht von Königin und Regierung ins Exil nach London. In den
Kapiteln über die Besatzungszeit geht es um den durch die Deutschen
initiierten hohen Grad von Gleichschaltung der niederländischen
Gesellschaft und die Kollaborationsbereitschaft der niederländischen
Bevölkerung, die noch heute in der Forschung diskutiert wird. [ 1 ] Auch
die Darstellung der aus Sicht der deutschen Besatzer überaus effizienten
Vernichtung der jüdischen Bevölkerung und die Problematisierung des
zunächst nur geringen organisierten Widerstands in den Niederlanden
gelingt David Barnouw in prägnanter Manier. Über die Niederlande
hinausgehende Kapitel schildern den allgemeinen Kriegsverlauf, die
Rolle der niederländischen Exilregierung in London und die
Geschehnisse in der damaligen Kolonie Niederländisch-Indien (heute
Indonesien), die während des Krieges von den Japanern besetzt wurde
und sich im August 1945 für unabhängig erklärte. Die verschiedenen
Etappen der Befreiung (der befreite Süden der Niederlande, der
Hungerwinter 1944/45 im noch nicht befreiten Norden, in dem
Zehntausende an Hunger und Kälte starben, und schließlich die
Kapitulation der Deutschen) werden ebenso behandelt wie die Probleme
der Nachkriegszeit mit der Rückkehr der Zwangsarbeiter und der
überlebenden Juden, die zwiespältig bewertete strafrechtliche
Verfolgung und Verurteilung der Täter und Kollaborateure sowie die
Erinnerungskultur, die in den Niederlanden im Laufe der Jahre große
Veränderungen erfuhr.
Keines der insgesamt elf Kapitel umfasst mehr als 13 Seiten, so dass
Tiefe und Komplexität der Darstellung notwendigerweise darunter
leiden. Auch die fehlenden Fußnoten behindern eine weitergehende
Beschäftigung mit interessanten Themen und Fragestellungen, die im
Text zwar angerissen, aber nicht ausführlich behandelt werden können.
Dennoch merkt man dem Buch an, dass der Verfasser ein ausgewiesener
Kenner der Materie ist, der die neuesten Forschungen in den
Niederlanden rezipiert und in die Darstellung eingearbeitet hat. Das gilt
zum Beispiel für die Erwähnung der regionalen Unterschiede bei der
Verfolgung der jüdischen Bevölkerung und deren Überlebenschancen,
die in den letzten Jahren genauer erforscht worden sind. [ 2 ] Ergänzt
wird das Buch von einer Zeitleiste und deutschen
Literaturempfehlungen. Hier führt David Barnouw fast alle auf Deutsch
erschienenen wichtigen Monographien zum Thema auf (bis auf einige
ebenfalls veröffentlichte Tagebücher, wie das von Helga Deen oder Edith
Velmans-van Hessen). Dies macht jedoch das grundsätzliche Dilemma
des Buches deutlich: Auf Deutsch gibt es kaum ausreichende Literatur,
um sich wirklich intensiv mit dem Thema auseinanderzusetzen, während
die Nutzung der umfassenden niederländischen Literatur bei vielen
Lesern an den Sprachkenntnissen scheitern wird.
Dieses Dilemma ist jedoch weder dem Autor noch seiner Einführung in
die Geschichte der Niederlande im Zweiten Weltkrieg anzulasten. Ganz
im Gegenteil: Das Buch bietet einen guten und differenzierten Einstieg in
das Thema, in dem auch Wissenschaftler, die kein Niederländisch lesen
können und trotzdem eine erste Annäherung an das Geschehen und die
Strukturen in den Niederlanden 1940 bis1945 benötigen, einen
fundierten und den neuesten Forschungsstand widerspiegelnden Text
erhalten, der kurz und bündig die wesentlichsten Punkte zusammenfasst.
Dabei hat David Barnouw keine reine Ereignisabfolge geschrieben,
sondern reichert seine Schilderungen immer wieder mit kleinen
Seitenblicken an (siehe die Schenkung einer NSB-Glocke an Hermann
Göring), die die handelnden Personen in den Vordergrund rücken.
Anmerkungen :
[ 1 ] Krijn Thijs: Kontroversen in Grau. Revision und Moralisierung der
niederländischen Besatzungsgeschichte, in: Nicole Colin (Hg.): Täter und
Tabu. Grenzen der Toleranz in deutschen und niederländischen
Geschichtsdebatten, Essen 2011, 11-24.
[ 2 ] Marjolein J. Schenkel: De Twentse paradox: De lotgevallen van de
joodse bevolking van Hengelo en Enschede tijdens de Tweede
Wereldoorlog, Zutphen 2003 und Marnix Croes/ Pieter Tammes: 'Gif laten
wij niet voortbestaan'. Een onderzoek naar de overlevingskansen van
joden in de Nederlandse gemeenten 1940-1945, Amsterdam 2004.