Der Verfassungskonflikt des Jahres 1850 in Kurhessen
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Der Verfassungskonflikt des Jahres 1850 in Kurhessen
Der Verfassungskonflikt des Jahres 1850 in Kurhessen – der Kampf der Landstände für das Steuerbewilligungsrecht und die verfassungsmäßige Ordnung von Matthias H. Gehm Der Verfassungskonflikt in Kurhessen, der im Jahr 1850 entbrannte, entzündete sich daran, dass der Landtag der reaktionär gesonnenen Regierung unter Ludwig Hassenpflug, die das im Jahr 1848 an die Macht gekommene liberale „Märzministerium“ abgelöst hatte, die Steuerbewilligung verweigerte. Mittels Notverordnung versuchte die Regierung erfolglos, die Steuern dennoch zu erheben. Dem daraufhin vom Kurfürsten Friedrich Wilhelm (I.) verkündeten Befehl zur Herstellung des Kriegszustands leistete das Militär in seiner überwältigenden Mehrheit keine Folge. Auch die Beamtenschaft wie die Justiz versagtem dem Kurfürsten die Gefolgschaft, der sich sodann veranlasst sah, aus seiner Residenz in Kassel zu fliehen und im Zuge einer Bundesintervention mittels Einmarsches von österreichischen bzw. bayerischen und in Folge dessen auch preußischen Truppen seine Macht wieder herzustellen. Untersuchungsgegenstand und Ausgangslage Untersucht man den Verfassungskonflikt des Jahres 1850 in Kurhessen, stellt sich neben der vorzunehmenden Darstellung der Verfassungssituation die Frage, in welchem Kontext er zu den revolutionären Ereignissen in den Jahren unmittelbar zuvor stand. Dies ergibt sich aus dem Umstand, dass teilweise die These vertreten wird, erst mit Beendigung dieses Konfliktes mit Ausgang des Jahres 1850 habe die Revolution von 1848 in Kurhessen sowie in ganz Deutschland ihren Schlusspunkt gefunden.1 Sodann schließt sich sogleich die Frage an, warum erst im Jahr 1850 in Kurhessen die Situation derart eskalierte. Aus letzterer zeitlichen Verzögerung heraus begründet sich schließlich zudem die Frage, gab es überhaupt „die“ Revolution von 18482 oder ist dies nicht insofern zumindest von der Bezeichnung her falsch, da ja beispielsweise die größten Unruhen in der bayerischen Rheinpfalz und dem Großherzogtum Baden sowie den preußischen Rheinprovinzen im Frühjahr 1849 ausbrachen. In der Forschung wird daher auch die Meinung vertreten, dass es nicht „die“ Revolution von 1848 gab, sondern in verschiedenen Staaten verschiedene Ereignisse, die jeweils ihre autonomen –––––––––– 1 2 Winfried SPEITKAMP: Verfassung und Militär – Zum Konflikt um Recht und Macht in der deutschen und kurhessischen Revolution von 1848/49, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte, Bd. 48, Marburg 1998, S. 147-163, 147; Helmut SEIER: Revolution in Kurhessen, in: Klaus BÖHME und Bernhard HEIDENREICH (Hg.): Einigkeit und Recht und Freiheit – Die Revolution von 1848/49 im Bundesland Hessen, Wiesbaden 1999, S. 35-57, 51. Winfried SPEITKAMP: Revolution und Verfassungskrise: Hessen-Darmstadt, Kurhessen und Nassau 1848-1850 – https://kobra.bibliothek.uni-kassel.de/bitstream/urn:nbn:de:hebis:34200603227774/1/ra0004_UB.pd, S. 1. Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichte (ZHG) Band 115 (2010), S. 219-256 220 Matthias H. Gehm Ursachen hatten, unterschiedlichen Handlungssträngen folgten und sich nur in einer mehr oder weniger zeitlichen Nähe zu einander abspielten. Zudem wird in Abrede gestellt, dass es sich um eine „Revolution“ handelte, wenn man denn diesen Begriff als Gegenpart zur Evolution begreift und daher als im Regelfall gewaltsamen Umsturz der bestehenden politischen und/oder sozialen Gesellschaftsordnung definiert.3 Dies wird damit argumentativ untermauert, dass sich bis auf wenige Gebiete der Verlauf weitgehend unblutig gestaltete, mithin also eher von Reformbewegungen geredet werden könnte.4 Auch für Kurhessen sind entsprechende Ereignisse für das Jahr 1848 belegt, die sich unter dem Begriff „Revolution von 1848“ subsumieren lassen. Nachdem in Frankreich aufgrund der Februarrevolution vom 22. bis 24. Februar 1848, die sich an der Weigerung der Regierung hinsichtlich der Ausweitung des Wahlrechtes entzündete, König Louis Philippe gestürzt wurde und am 2. März 1848 ins englische Exil ging, so dass die 2. Republik ausgerufen werden konnte5, kam es aufgrund der Nachrichten aus Paris in Hanau und Marburg am 27. Februar 1848 zu bewaffneten Unruhen. Vorausgegangen war diesen durch europäische Ereignisse hervorgerufenen Erhebungen aber bereits am 5. Januar 1848, dem Jahrestag der kurhessischen Verfassung, eine Demonstration der Bürger Hanaus. Der Protest rührte daher, dass der 1847 an die Regierung gekommene Kurfürst Friedrich Wilhelm Ende des selben Jahres noch versucht hatte, die von seinem Vater bewilligte Verfassung von 1831 auszuhebeln, indem er auf den vorgeschriebenen Verfassungseid für Offiziere (§ 60 für alle Staatsdiener bzw. explizit bei Erwähnung des Militärs § 156 Verfassungsurkunde für das Kurfürstentum Hessen)6 verzichtete. Zuvor hatte er sogar in eigener Person als Kurprinz den entsprechenden –––––––––– 3 4 5 6 Konrad FUCHS und Heribert RAAB: Wörterbuch Geschichte, München 111998, S. 704 f. – Revolution; Der Grosse Brockhaus, Wiesbaden 1980, Bd. 9, S. 457 f. – Revolution; Konrad LOTTER, Reinhard MEINERS und Elmar TREPTOW (Hg.): Marx-Engels Begriffslexikon, München 1984, S. 312 ff. – Revolution; Wilfried FORSTMANN, Bernd SCHNEIDERMÜLLER, Gabriele SCHNEIDERMÜLLER und Gabriele THIELE (Hg.): Schülerduden Geschichte, Mannheim 31996, S. 401 f. – Revolution. Eva Maria WERNER: Kleine Geschichte der deutschen Revolution von 1848/49, Wien 2009, S. 12 ff.; Dieter HEIN: Die Revolution von 1848/49, München 32004, S. 7 ff.; Dieter LANGEWIESCHE: Liberalismus in Deutschland, Frankfurt a. M. 1988, S. 39 ff. – letztlich schreckten viele Liberale vor der Republik zurück und setzten daher auf einen konstitutionellen Reformkurs. Ernst HINRICHS (Hg.): Kleine Geschichte Frankreichs, Stuttgart 1997, S. 306-307. Gesetz- und Verordnungs-Sammlung 1831, S. 1. § 60 bestimmte: „Die Verpflichtung zur Beobachtung und Aufrechterhaltung der Landesverfassung soll in den Diensteid eines jeden Staatsdieners mit aufgenommen werden. Keine Dienst-Anweisung darf etwas enthalten, was den Gesetzen zuwider ist“. Aus letzterem Satz ergibt sich auch ein Vorrang des Gesetzes, wie er heute noch in Art. 20 Abs. 3 GG festgeschrieben ist – vgl. Christoph DEGENHART: Staatsrecht I – Staatsorganisationsrecht, Heidelberg 242008, Rn. 287; Franz-Joseph PEINE: Allgemeines Verwaltungsrecht, Heidelberg 92008, Rn. 136; Hartmut MAURER: Allgemeines Verwaltungsrecht, München 172009, § 6, Rn. 2; § 156 Abs. 1 der kurhessischen Landesverfassung legte fest: „Diese VerfassungsUrkunde tritt in ihrem ganzen Umfange sofort nach ihrer Verkündung in Kraft und Wirksamkeit, und muß ohne Verzug von allen Staatsdienern des geistlichen und weltlichen, sowohl des Militär- als Civil-Standes, sowie von allen Unterthanen männlichen Geschlechts, welch das achtzehnte Jahr erreicht haben, beschworen werden.“ Der Verfassungskonflikt des Jahres 1850 in Kurhessen 221 Eid verweigert.7 In diesem Zusammenhang sei bereits der Hinweis erlaubt, dass der Offizierseid im Kurfürstentum Hessen ein Novum in der Verfassungslandschaft des Vormärz darstellte. So waren denn auch entsprechende Versuche in Bayern (1819), in Baden und Sachsen seit 1831, diesen ebenfalls einzuführen, allesamt fehlgeschlagen.8 Am 9. Januar 1848 forderte auf einer Versammlung der Turnvereine, zu der auch Delegierte aus Hanau erschienen waren, der Sozialist Karl Blind die „Vorbereitung der Revolution“ und der Hanauer Gottfried Una rief offen zur Gewaltanwendung auf, „dass niemand, kein Alter, kein Stand, kein Geschlecht geschont werden dürfe, und zu allererst müsse man die Köpfe der Tyrannen holen“. Die Situation war damit im Kurstaat schon vor der französischen Februarrevolution explosiv. Hierzu trug nicht zuletzt der Kurfürst in eigener Person erheblich bei. Das Verhältnis von Kurfürst Friedrich Wilhelm zur Landesverfassung lässt sich in diesem Zusammenhang einem Brief an Fürst Metternich entnehmen, in dem er in Bezug auf diese schrieb, dass es sich um eine „(…) meinem hochseligen Vater abgenötigte Verfassung (…)“ handle. Als er jedoch kurz nach seinem Amtsantritt als Kurfürst sogar eine Kommission zur Revision der Verfassung einsetzte, ließ der preußische König Friedrich Wilhelm IV. wissen, dass er einen solchen Staatsstreich „als unrecht und unklug laut mißbilligen“ werde. Damit waren diese Pläne sofort wieder vom Tisch, aber wie zu sehen sein wird, nur vorläufig. Im Gegensatz zu Hessen-Darmstadt oder Nassau war Friedrich Wilhelm im Jahr 1848 auch anfangs nicht zum Einlenken bereit. Erst als in Hanau durch Akklamation am 8. März 1848 eine Volkskommission gewählt wurde, die einen Forderungskatalog an den Kurfürsten richtete (Besetzung aller Ministerien mit Männern, die das Vertrauen des Volkes genießen, Neuwahl des Landtages, echte Pressefreiheit, Amnestie für politische Gefangene, Gewährung vollständiger Religions- und Gewissensfreiheit, Beseitigung aller Hemmnisse in Bezug auf die von der Verfassung verbrieften Rechte wie Petitions-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit und Hinwirken auf ein gesamtdeutsches Parlament) und den Forderungen mit der Androhung von Waffengewalt massiv Nachdruck verliehen wurde, änderte sich die Haltung Friedrich Wilhelms. Der Kurfürst beugte sich dem Druck zumindest vorerst und erkannte bis auf die Neuwahl des Landtages die Forderungen an. Er ernannte den Hanauer Bürgermeister und einen der Väter der kurhessischen Verfassung von 1831 – Bernhard Eberhard – zum Innenminister und in der Folgezeit weitere liberale Minister. Im Jahr 1849 wurde zudem der Landtag im Sinne der liberalen Kräfte umgebildet, indem die §§ 63 bis 68 der Landesverfassung aufgehoben wurden, so dass alle Mitglieder des Landtages gewählt wurden und nicht mehr gewisse Abgeordnete wie die Prinzen des kurfürstlichen Hauses oder Vertreter des Adels aufgrund ihrer Abstammung einen entsprechenden Sitz im Parla–––––––––– 7 8 Hansjoachim KOCHHEIM: Die Haltung der kurhessischen Ritterschaft im Verfassungsstreit – Inaugural-Dissertation Marburg 1966, S. 76 f.; Marco ARNDT: Militär und Staat in Kurhessen 1813-1866 (QFHG 102), Darmstadt und Marburg 1996, S. 106; SPEITKAMP: Verfassung und Militär (wie Anm. 1), S. 158 f. – wobei darauf hinzuweisen ist, dass in einem geheimen Schlussprotokoll der führenden Minister des deutschen Bundes vom 12. Juni 1834 – so genannte Sechzig Artikel – ausdrücklich in Art. 24 geregelt wurde: „Die Regierungen werden einer Beeidigung des Militärs auf die Verfassung nirgends und zu keiner Zeit Statt geben.“ Militärhistorisches Forschungsamt (Hg.): Deutsche Militärgeschichte in sechs Bänden 16481939, München 1983, Bd. IV, S. 118 f. 222 Matthias H. Gehm ment inne hatten. Vor der eigentlichen diesbezüglichen gesetzlichen Neuregelung hatte bereits im Jahr 1848 der Verzicht einiger adliger Deputierter und weitere Mandatswechsel zur Stärkung der liberalen Kräfte im Landtag beigetragen. Die Liberalen stellten alsbald die Mehrheit im Landtag und konnten so die progressiven Kräfte in Bürokratie und Ministerien unterstützen. Zudem wurde das seit 1831 bestehende dreifach gestaffelte Zensuswahlrecht aufgehoben, so dass nunmehr jeder selbständige Staatsbürger uneingeschränkt berechtigt war, den Landtag zu wählen. Nach § 4 des Wahlgesetzes vom 5. April 18499 galt als selbständiger Staatsbürger derjenige, welcher einen eigenen Haushalt führte und nicht in Kost und Lohn eines anderen stand sowie derjenige, welcher seit Anfang des dem Wahljahr vorangehenden Jahres eine direkte Staatssteuer zahlte (wozu die Grund-, Gewerbe- und Klassensteuer zu zählen war). Allerdings gestand das neue Wahlrecht auch den Höchstbesteuerten eine privilegierte Vertretung im Landtag zu (§§ 2 Nr. 3, 6 Wahlgesetzes vom 5. April 1849). Letztlich erwies sich aber sehr schnell, dass Friedrich Wilhelm an seinen reaktionären Plänen weiter festhielt. Schon in den Jahren 1848/49 gestaltete sich daher das Verhältnis des Landtages zum Kurfürsten schwierig, da die demokratischen Kräfte im Parlament eine Kürzung der Hofdotation einforderten. Friedrich Wilhelm betrieb im Unterschied wiederum zu vielen anderen deutschen Fürsten deshalb auch sehr bald nach Abringung der Zugeständnisse wieder offene Obstruktion. Was die Rolle der kurhessischen Armee anbelangt, erwies sich im Frühjahr 1848 zudem, dass das Militär in Kurhessen zu dieser Zeit noch keinesfalls geneigt war, zu rebellieren. Vielmehr ging das Regiment Garde du Corps am 8. April 1848 sogar mit äußerster Härte gegen Demonstranten in Kassel vor. Folge hiervon war sogar, dass die Angehörigen dieser Eliteeinheit auf Druck der Bevölkerung Kassels verlegt und schließlich durch formelle Auflösung und Umbenennung in eine Husarenformation diszipliniert wurden. Diese Demütigung, für die das Regiment die antimonarchistischen Kräfte verantwortlich machte, führte dazu, dass es als einziger Truppenteil loyal hinter dem Kurfürsten im Verfassungskonflikt des Jahres 1850 stand.10 Auch war im Jahr 1849 das kurhessische Militär Bestandteil der Interventionsarmee unter preußischer Führung, die den badisch-pfälzischen Aufstand niederwarf, wobei die kurhessischen Streitkräfte zusammen mit bayerischen Regierungstruppen bei Hirschhorn am 14. und 15. Juni 1849 gegen aus Hanau und Fulda stammende Freischärler (Turnerwehr) unter dem Kommando von August Schärttner kämpften. Die Turnerwehr war der badisch-pfälzischen Revolutionsarmee zu Hilfe geeilt.11 In diesem –––––––––– 9 Abgedruckt bei Salamon HAHNDORF: Die Kurhessische Verfassungsurkunde vom 5. Januar 1831 nach den in den Jahren 1848 u. 1849 erlittenen Änderungen – Mit einem Anhange enthaltend das Wahlgesetz und das Gesetz die Besetzung des O.-A.-Gerichts betr., Kassel 1850, S. 29. 10 Die Garde du Corps hatte bereits am 7. Dezember 1831 durch ein brutales Vorgehen gegen Demonstranten in Kassel den Unmut der Bevölkerung auf sich gezogen, so genannte Garde du Corps-Nacht – Ewald GROTHE: Verfassungsgebung und Verfassungskonflikt – Das Kurfürstentum Hessen in der ersten Ära Hassenpflug 1830-1837, Berlin 1996, S. 171 ff.; ARNDT: Militär und Staat in Kurhessen (wie Anm. 7), S. 207 ff., 254. 11 Günter HOLLENBERG: Hessen 1848. Revolution für Freiheit und Einheit, Recht und Gerechtigkeit, Frankfurt a. M. 1989, S. 24 ff., 51, 66 f.; SEIER: Revolution in Kurhessen (wie Anm. 1), S. 35 ff.; Eckhart G. FRANZ: Das Haus Hessen, Stuttgart 2005, S. 145 ff.; DERS.: „Einigkeit und Recht und Freiheit“ – Forderungen und „Errungenschaften“ der 48er Revolution in Hessen, in: Der Verfassungskonflikt des Jahres 1850 in Kurhessen 223 Zusammenhang wird also auch die Frage zu klären sein, was sich in der Truppe bis zum Jahr 1850 veränderte, dass diese dann nicht mehr bereit war, ihrem Landesherren Gefolgschaft zu leisten oder ob sich gewisse äußere Umstände im Jahr 1850 gegenüber den Ereignissen von 1848/49 derart anders erwiesen, dass dem Militär gar nichts anderes übrig blieb, als sich gegen Friedrich Wilhelm zu stellen. Teilweise wird heute diskutiert, ob die Geschehnisse von 1848/49 nicht Elemente einer Jugendrevolte aufwiesen, vergleichbar mit den Studentenunruhen von 1968. Letzteres wird nicht zuletzt im Hinblick auch auf die Meuterei der badischen Armee im Frühjahr 1849 vertreten. Denn hier wurde die Erhebung von den sich in der Grundausbildungszeit befindenden Rekruten, vornehmlich aus den besser gestellten Familien des Großherzogtums, ausgelöst.12 Also schließt sich im Hinblick auf die Streitkräfte von Kurhessen auch die Frage an, ob es (nur) eine gewisse Altersgruppe bzw. Schicht war, die sich gegen den Kurfürsten wendete. Betrachtet man den europäischen Verlauf der Revolution – wenn man den Begriff denn verwenden will – die bis auf England und Russland alle europäischen Nationen mehr oder weniger stark erfasste, so hatte einige Wochen vor den Ereignissen in Paris der Sonderbundkrieg, der am 4. November 1847 in der Schweiz ausbrach und die am 8. Januar 1848 in Palermo ausgebrochene Revolution, in deren Zug Ferdinand II., König der beiden Sizilien, am 29. Januar 1848 gezwungen war, eine Verfassung zu gewähren, die Menschen schon sensibilisiert. Verstärkt wurden die Erwartungen der Bevölkerung in Europa überdies durch ähnlich verlaufende Handlungsstränge. So gestalteten sich die Ereignisse kurz darauf im Königreich Piemont sowie im Großherzogtum Toskana ähnlich wie im Reich von König Ferdinand II. Selbst Papst Pius IX., der bereits beim Beginn seine Pontifikats im Jahr 1846 die Hoffnungen in ganz Europa auf Reformen geweckt hatte, sah sich gezwungen, am 14. Februar 1848 eine Reformkommission einzusetzen und am 14. März 1848 für den Kirchenstaat eine Verfassung zu gewähren. Betrachtet man die Ereignisse in Bayern, wo es bereits im März 1847 zu Aufständen kam im Zusammenhang mit der Affäre Lola Montez und die Februarunruhen im Jahr 1848 bereits Tage vor der Abdankung Louis Phillipe ausbrachen und diese nur noch durch Bekanntwerden der Ereignisse in Paris an Heftigkeit zunahmen, so relativiert sich wie–––––––––– Klaus BÖHME und Bernd HEIDENREICH (Hg.): Einigkeit und Recht und Freiheit – Die Revolution von 1848/49 im Bundesland Hessen, Wiesbaden 1999, S. 9-34, 19 ff.; Ulrich VON NATHUSIUS: Kurfürst, Regierung und Landtag im Dauerkonflikt. Studien zur Verfassungsgeschichte Kurhessens in der Reaktionszeit (1850-1859) (Hess. Forsch. zur geschichtl. Landes- und Volkskunde 28, Kassel 1996, S. 20 ff.; E. GROTHE: Zwischen Vision und Revision – Parlament und Verfassung im Kurfürstentum Hessen 1831-1866, in: Anna Gianna MANCA und Luigi LACCHÈ (Hg.): Parlamento e Costituzione nei sistemi costituzionali europei ottocenteschi/Parlament und Verfassung in den konstitutionellen Verfassungen Europas, Bologna/Berlin 2000, S. 213-236, 230 ff.; SPEITKAMP: Revolution und Verfassungskrise (wie Anm. 2), S. 3 f.; vgl. Ewald GROTHE: Konstitutionalismus in der Dauerkrise. Die Verfassungsgeschichte des Kurfürstentums Hessen, in: Bernd HEIDENREICH und Klaus BÖHME (Hg.): Hessen Verfassung und Politik, Stuttgart 1997, S. 108-125, 117 ff. 12 Rüdiger HACHTMANN: Die Revolution von 1848/49 als Jugendrevolte, in: Pankower Vorträge, Heft 122, Berlin 2008, S. 45 ff. 224 Matthias H. Gehm derum die Fokussierung auf den März 1848 als Beginn der Revolution.13 Denn streng genommen ist damit Paris gar nicht der Ausgangspunkt, sondern die Revolution warf bereits in anderen europäischen und auch deutschen Staaten ihre Schatten voraus. Lediglich waren die Zeitgenossen, denen noch die französische Revolution von 1789 sowie die Julirevolution von 1830 gegenwärtig waren, geneigt, ihren Blick auf Paris zu verengen und der Sturz des französischen Königs hatte die Politik der Restauration augenscheinlich desavouiert.14 Insofern erweist sich, dass der Begriff der Revolution von 1848 als zeitlich beschränkter Vorgang ab dem März 1848 zu kurz gegriffen ist und es wird in Folgendem auch für den Kurstaat Hessen darzustellen sein, inwieweit sich der Verfassungskonflikt des Jahres 1850 als ein Mosaikstein in einen größeren historischen Kontext entsprechender (revolutionärer) Ereignisse, über den zeitlichen Komplex 1848/49 hinausgehend, einfügt – gewisse Ereignisse vor dem März 1848 in Kurhessen wurden ja bereits schon skizziert. Schlussendlich wird auch der Problemkreis zu erhellen sein, ob es sich nur um einen Steuerkonflikt in Kurhessen 1850 handelte oder die Steuervorlage der Regierung Hassenpflug allein der Anlass war für das Eskalieren eines Konflikts, dessen eigentliche Wurzeln tiefer lagen. So schrieb denn auch das Mitglied des kurhessischen Ständeausschusses Heinrich GRÄFE in seinem 1851 erschienenen Buch im Hinblick auf die Wiederberufung Hassenpflugs zum leitenden Minister: „Er wurde berufen, um die Fahne der Reaction im Kurstaate aufzupflanzen“15, woraus sich ableiten lässt, dass viele Zeitgenossen den Eindruck hatten, dass der Verfassungskonflikt im Zusammenhang mit der grundsätzlichen Frage stand, wie es der Kurfürst überhaupt mit dem Parlamentarismus bzw. der Landesverfassung von 1831 hielt. Hassenpflug selbst äußerte sich über die Verfassung von 1831 äußerst abschätzig, als ein Werk, das von Leuten verfasst worden sei, die noch in der Ideenwelt des Königreichs Westphalen verwurzelt waren, so dass es sich um ein Konstrukt handele, was nicht in der Tradition des Landes verankert und daher ein Fremdkörper sei.16 Bereits aus diesen Bemerkungen lässt sich mutmaßen, dass auch von Hassenpflug die Verfassung als solche in Frage gestellt wurde. Vergegenwärtigt man sich, dass das ständische Steuerbewilligungsrecht historisch betrachtet der Ausgangspunkt und das Rückgrat des Parlamentarismus ist und beispielsweise in England bereits in der Magna –––––––––– 13 Andreas KRAUS: Geschichte Bayerns, München 32003, S. 486 ff.; Wilhelm VOLKERT: Geschichte Bayerns, München 2001, S. 66 f.; Golo MANN: Ludwig I. von Bayern, Frankfurt a. M. 32002, S. 117 ff. 14 Frank Lorenz MÜLLER: Die Revolution von 1848/49, Darmstadt 22006, S. 38 f.; Imanuel GEISS: Geschichte griffbereit – Begriffe, Hamburg 1983, S. 46 ff.; WERNER: (wie Anm. 4), S. 10 f.; Hagen SCHULZE: Der Weg zum Nationalstaat – Die deutsche Nationalbewegung vom 18. Jahrhundert bis zur Reichsgründung, München 51997, S. 11 ff. 15 Heinrich GRÄFE: Der Verfassungskonflikt in Kurhessen nach Entstehung, Fortgang und Ende, Leipzig 1851, S. IV ff., 7, 22 vertritt die Meinung, dass Hassenpflug den Steuerkonflikt mit voller Absicht herbeiführte, um das Parlament entmachten zu können. 16 Ewald GROTHE: Hassenpflug und die Revolution – zu Weltanschauung und Politik eines kurhessischen Hochkonservativen, in: Winfried SPEITKAMP (Hg.): Staat, Gesellschaft, Wissenschaft – Beiträge zur modernen hessischen Geschichte (VHKH 50), Marburg 1994, S. 53-72, 64. Der Verfassungskonflikt des Jahres 1850 in Kurhessen 225 Charta des Jahres 1215 seine Wurzeln findet17 sowie sich in Deutschland seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhundert in den verschiedenen Territorien aus dem gemeinrechtlichen Grundsatz „quod omnes tangit ab omnibus approbari debet“ in unterschiedlichem Tempo herausbildete18, lässt sich schon erahnen, als welch fundamentalen Eingriff das Parlament von Kurhessen die Ereignisse des Jahres 1850 begreifen musste, zumal sich die Steuer- bzw. die Budgetbewilligungsrechte der Parlamente gerade im 19. Jahrhundert als wichtige Elemente der Absicherung rechtsstaatlicher Prinzipien und Ausdruck der Teilhabe des Einzelnen am Staatszweck verfestigten.19 Die Verfassungssituation in Kurhessen Art. 13 der Bundesakte vom 8. Juni 1815 legte fest: In allen Bundesstaaten wird eine landständische Verfassung statt finden. Diese Formulierung war allerdings so wenig konkret gehalten, dass sie denjenigen deutschen Fürsten, die ihr Volk von der politischen Mitbestimmung fernhalten wollten, genügend Interpretationsspielraum bot. So wurden in den größten deutschen Staaten Preußen und Österreich nur Provinziallandtage, aber keine Parlamente auf der Ebene des Gesamtstaates eingerichtet.20 Auch, wenn der nach dem Fall von Napoleon I. wieder hergestellte kurhessische Staat an die Verfassung des Königreichs Westphalen aus dem Jahr 1807 – der ersten schriftlichen Verfassungsurkunde auf deutschem Territorium – hätte anknüpfen können, verliefen entsprechende Versuche in den Jahren 1814 bis 1816 unter Kurfürst Wilhelm I. (reg. 1785 bis 1821, ab 1803 als Kurfürst, davor als Landgraf von HessenKassel) ergebnislos und anders etwa als die süddeutschen Staaten Baden (1819), Bayern (1818), Württemberg (1819) oder auch Hessen-Darmstadt (1820), die der vom französischen König Ludwig XVIII. erlassenen Charte constitutionelle folgend sich Verfassungen gaben21, verharrte das Land bis 1830 im Spätabsolutismus, wobei der –––––––––– 17 Hans-Christoph SCHRÖDER: Englische Geschichte, München 32000, S. 16 ff.; Karl-Friedrich KRIEGER: Geschichte Englands in drei Bänden, Bd. 1, Von den Anfängen bis zum 15. Jahrhundert, München 21996, S. 170 ff. 18 Andreas THIER: Steuergesetzgebung und Verfassung in der konstitutionellen Monarchie – Staatsreformen in Preußen 1871-1893, Frankfurt a. M. 1999, S. 658 ff. 19 Lutz RAPHAEL: Recht und Ordnung – Herrschaft durch Verwaltung im 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2000, S. 116 ff.; Michael STOLLEIS: Staat und Staatsräson in der frühen Neuzeit – Studien zur Geschichte der öffentlichen Verwaltung, Frankfurt a. M. 1990, S. 325. 20 WERNER: (wie Anm. 4), S. 17 ff.; Hans VORLÄNDER: Die Verfassung – Idee und Geschichte, München 32009, S. 64. 21 Wolfgang HARDTWIG: Vormärz – Der monarchische Staat und das Bürgertum, München 41998, S. 50 ff. bietet als Erklärungsansatz dafür, dass bis auf das singuläre Ereignis, dass das Großherzogtum Sachsen-Weimar bereits 1814 sich eine Verfassung gab, die Verfassungsgebungswelle in Süddeutschland mit darauf zurückzuführen ist, dass diese Ländern aufgrund der napoleonischen Kriege erhebliche territoriale Zugewinne zu verzeichnen hatten und daher vor dem Problem standen, diese oftmals in ganz unterschiedlicher Verwaltungs- und Wirtschaftstradition stehenden Landstriche zu einem gesamtstaatlichen Gebilde zu vereinigen. Um sich der Loyalität der Bürger zu versichern, musste man sie an den öffentlichen Belangen beteiligen. In Kurhessen stand jedoch der Landesherr – Kurfürst Wilhelm I. – unter keinem entsprechenden Integrationsdruck, 226 Matthias H. Gehm Kurfürst lediglich 1821 nach preußischem Muster ein Organisationsedikt erließ. Erst die Ausläufer der französischen Julirevolution von 1830 führten wie in Sachsen, Hannover und Braunschweig im September 1830 auch in Kurhessen zu so massivem Druck, dass sich Kurfürst Wilhelm II. (reg. 1821-1847) gezwungen sah, einen konstituierenden Landtag einzuberufen und am 5. Januar 1831 die Verfassungsurkunde zu unterschreiben. Ähnlich wie zuvor im Königreich Württemberg handelte es sich dabei um eine mit dem Parlament bzw. der Ständeversammlung vereinbarte Verfassung. Mitgeprägt wurde dieses Konstitut vom Vorsitzenden des Verfassungsausschusses Sylvester Jordan. Er war ein Vertreter eines Kompromissliberalismus, welcher unter Beachtung der gegebenen Umstände auf eine evolutionäre Umbildung des Staatswesens setzte und ein gleichwertiges Miteinander von Fürst und Volk anstrebte. Letzteres rührt auch daher, dass die Oppositionsbewegung gegen die kurfürstliche Willkürherrschaft im Land recht heterogen ausgebildet war. Ihr gehörten nämlich neben dem liberalen Bürgertum auch Teile des Adels und der bürokratischen und militärischen Elite an. Zudem waren auch die Interessen der ausländischen Mächte zu berücksichtigen. Insbesondere für das benachbarte Preußen waren die politischen Vorgänge im Kurstaat von Bedeutung. Dies begründete sich aus der besonderen Lage des Kurfürstentums in militärstrategischer und zollpolitischer Hinsicht, waren doch die westlichen und östlichen Provinzen Preußens nicht miteinander verbunden, so dass Kurhessen einen wichtigen Brückenkopf zwischen der preußischen Provinz Westfalen und der preußischen Provinz Sachsen darstellte. Insofern musste man bei einem weniger behutsamen auf Ausgleich ausgerichteten Reformkurs mit einer entsprechenden ausländischen Intervention rechnen.22 Zwar war die kurhessische Verfassung mit ihren süddeutschen Vorläufern in vielen Punkten vergleichbar; so enthielt sie ein Steuerbewilligungs- sowie ein Budgetrecht des Landtags (§§ 98, 143-147, 159-160), jedoch ging sie in einigen Punkten weit über diese, was den monarchisch-konstitutionellen Ansatz anbelangt, hinaus. So bestand ein parlamentarisches Gesetzesinitiativrecht (§§ 95, 97), eine Verpflichtung des Landtages zur Ministeranklage beim Oberappellationsgericht (§ 100)23, ein fünffacher Verfassungseid (Regenten- und Thronfolgereid gemäß §§ 6, 90, Staatsdienereid nach § 60, –––––––––– vgl. GROTHE: Konstitutionalismus in der Dauerkrise (wie Anm. 11), S. 110; Helmut SEIER: Modernisierung und Integration in Kurhessen 1803-1866, in: Walter HEINEMEYER (Hg.): Das Werden Hessens, Marburg 1986, S. 431-479, 449 ff.; VORLÄNDER: (wie Anm. 20), S. 63 f. 22 Eckhart G. FRANZ und Karl MURK: Verfassungen in Hessen 1807-1946, Darmstadt 1998, S. 221 ff. mit Wiedergabe des Verfassungsentwurfs vom Dezember 1815; Hans MEYER und Michael STOLLEIS (Hg.): Staats- und Verwaltungsrecht für Hessen, Baden-Baden 41996, S. 21 ff.; Louis BERGERON, Francois FURET und Reinhart KOSELLECK: Das Zeitalter der europäischen Revolutionen 1780-1848 (Weltbild Weltgeschichte 26), Augsburg 1998, S. 267. 23 Die Landstände sind befugt, aber auch verpflichtet, diejenigen Vorstände der Ministerien oder deren Stellvertreter, welche sich einer Verletzung der Verfassung schuldig gemacht haben würden, vor dem Ober-Appellations-Gericht anzuklagen, welches sodann ohne Verzug die Untersuchung einzuleiten, selbst zu führen und nach deren Beendigung in voller Versammlung (in pleno) zu erkennen hat. Die gegründet befunden Anklage ziehet, wenn nicht schon das Straf-Urtheil die Amts-Entsetzung des Angeklagten ausspricht, jedenfalls dessen Entfernung vom Amte nach sich. Nach gefälltem Urtheile findet unter den gesetzlichen Erfordernissen die Wiederaufnahme der Untersuchung sowie das Rechtsmittel der Restitution Statt.“ Der Verfassungskonflikt des Jahres 1850 in Kurhessen 227 Abgeordneteneid gemäß § 74, Huldigungseid der Staatsbürger nach § 21 und schließlich der Militäreid des § 156, der außerhalb Kurhessens viel Anstoß erregte), ein Beschwerderecht jedes Bürgers gegen verfassungsverletzende Exekutivmaßnahmen gemäß §§ 35, 99 i. V. m. § 113 (Rechtswegegarantie) – wobei das Oberappellationsgericht eine Klagemöglichkeit des einzelnen Bürgers restriktiv handhabte – und ein Einkammersystem. Staatsdiener konnten allerdings gemäß § 71 der Verfassung nur mit Genehmigung der vorgesetzten Behörde Landtagsabgeordnete werden; diese Bestimmung wurde jedoch durch Gesetz vom 26. Oktober 1848 aufgehoben.24 Der Landtag bzw. ein ständiger Landtagsausschuss hatte überdies über die Einhaltung der Verfassung zu wachen (§§ 89, 102). Letzterer Ausschuss, der aus der Mitte des Landtages gewählt wurde, hatte nach § 102 der Landesverfassung die Aufgabe, in Zeiten, in welchen der Landtag nicht zusammengetreten war – beispielsweise in Zeiten der Landtagsauflösung – die verfassungsmäßigen parlamentarischen Interessen insbesondere gegenüber der Regierung zu vertreten, was die Umsetzung der Entscheidungen des Landtages anbelangte, bis der nächste Landtag zusammengetreten war. Aus letzterem Umstand ergab sich auch, dass die Mehrzahl der Mitglieder dieses Ausschusses keine Staats- bzw. wirklichen Hof-Diener sein durften. Gegen verfassungsbrüchige Beamte konnte der Ausschuss bzw. der Landtag sogar nach §§ 61, 101 Klage erheben, d. h. man war insofern nicht nur auf die Person der Minister beschränkt. Karl Marx urteilte im Jahr 1851 denn auch, dass es sich um das liberalste Grundgesetz in ganz Europa handle. Auch wies die Verfassungsurkunde durch ihre Gesetzesvorbehalte auf einen weiteren rechtlichen Ausbau und Absicherung des Konstitutionalismus hin (so genannte organische Gesetze). Zu diesen Gesetzen zählt etwa das Gesetz über den Staats- und Hausschatz, über die Wahlen und die Geschäftsordnung des Landtages oder den Staatsdienst. Was die Kompetenzen des Landtages anbelangt, so zeigte sich bereits im Jahr 1831, als auf seinen Druck der Kriegsminister Friedrich Wilhelm von Loßberg gestürzt wurde, obwohl gemäß § 107 der Verfassung das Militärwesen in die Zuständigkeit des Kurfürsten fiel, seine Machtfülle. Dabei handelte es sich um den ersten parlamentarischen Ministersturz in Deutschland.25 Durch landesherrliche Proklamation vom 11. März 1848 wurde zudem bestimmt, dass der Kurfürst bei der Besetzung der Ministerpositionen darauf Rücksicht nehmen werde, ob diese Personen das Vertrauen des Volkes genießen.26 In den dreißiger Jahren wurden in der ersten Regierungsära Hassenpflug (1832-1837) gegen den unbeliebten Innen- und Justizminister mehrere Ministeranklageprozesse geführt, allerdings verliefen allesamt im Sande. Dies lag nicht daran, dass das Oberappel-lationsgericht etwa parteiisch gewesen wäre, sondern daran, dass Hassenpflug geschickt Verfassungslücken bzw. entsprechende Interpretationsmöglichkeiten der Verfassung zu seinen Zwecken nutzen konnte, so dass ihm formaljuristisch nichts vorgeworfen werden konnte. Umgekehrt wurde aber auch im Jahr 1832 –––––––––– 24 Abgedruckt bei HAHNDORF: (wie Anm. 9), S. 12; siehe auch SPEITKAMP: Revolution und Verfassungskrise (wie Anm. 2), S. 4; Michael KOTULLA: Deutsche Verfassungsgeschichte – Vom Alten Reich bis Weimar (1495-1934), Berlin 2008, Rn. 1404 ff. 25 KOCHHEIM (wie Anm. 7), S. 36. 26 V. NATHUSIUS (wie Anm. 11), S. 220; Gesetz- und Verordnungs-Sammlung 1848, S. 32; GRÄFE (wie Anm. 15), S. 290. 228 Matthias H. Gehm eine Anklage von 807 Bürgern von Hanau gegen die Staatsregierung und die Ständeversammlung vor dem Oberappellationsgericht erfolglos mangels Aktivlegitimation erhoben. Begründet wurde das Vorgehen gegen den Landtag damit, dass er seiner Verpflichtung zum Schutz der verfassungsmäßigen Rechte der Bürger nicht nachgekommen sei.27 Was die Rechte des Landtages beim Budget bzw. den Steuern anbelangt, ist die Bestandsaufnahme jedoch zwiespältig. Zwar erwähnte der kurhessische Oberappellationsrat Burkhard Wilhelm Pfeiffer in seinem 1834 erschienenen Werk über die Geschichte der landständischen Verfassung Kurhessens28, dass das Steuerbewilligungsrecht der Stände sich auf eine lange Tradition in Kurhessen begründete. Bereits beim Budgetkonflikt des Jahres 1834 hinsichtlich des Militäretats erwies sich allerdings, dass der Landtag zwar ein Steuerbewilligungs- bzw. Steuerverweigerungsrecht hatte und die Regierung ihm den Haushalt für die nächsten drei Jahre zur Prüfung vorzulegen und die „Nothwendigkeit oder Nützlichkeit der zu machenden Ausgaben“ nachzuweisen hatte. Jedoch bestand im Gegensatz zur Verfassung des Königreichs Sachsen vom 4. September 1831 (§§ 97 ff. der sächsischen Verfassung) keine Bindung der Regierung an die bewilligten Ausgabenposten, so dass nach überwiegender Meinung insofern auch kein nachträgliches Prüfungsrecht der Ständeversammlung bestand, wobei allerdings aus § 152 der Verfassungsurkunde29 auch die gegenteilige Meinung abgeleitet wurde.30 Letztere Meinung überzeugt allerdings nicht, da § 152 bei systematischer Auslegung sich nur auf das Jahr 1831 bezog, also die Regelung im Zusammenhang damit gesehen werden muss, dass im Jahr der Verfassungsgebung der Ständeversammlung eine vorherige Überprüfung nicht für das gesamte Jahr möglich war und daher die Prüfung zumindest im Nachhinein sichergestellt werden sollte. Insoweit befand sich Kurhessen noch in einem Art Entwicklungsstatus vom bloßen Steuerbewilligungs- zum ausgereiften Budgetrecht des Parlaments. Auch hatte im Jahr 1834 die Wiener Ministerialkonferenz der deutschen Bundesstaaten in einem geheimen Schlussprotokoll den Regierungen auf den Weg gegeben: Das Recht der Steuerbewilligung ist nicht gleich–––––––––– 27 KOCHHEIM (wie Anm. 7), S. 36 ff.; Wolf Erich KELLNER: Verfassungskämpfe und Staatsgerichtshof in Kurhessen, Marburg 1965, S. 49 ff.; GROTHE: Zwischen Vision und Revision (wie Anm. 11), S. 226 f.; KOTULLA (wie Anm. 24), Rn. 1662; GROTHE: Verfassungsgebung und Verfassungskonflikt (wie Anm. 10), S. 248 ff. 28 Burkhard Wilhelm PFEIFFER: Geschichte der landständischen Verfassung in Kurhessen. – Ein Beitrag zur Würdigung der neueren teutschen Verfassungen überhaupt, Kassel 1834, S. 202, 300 ff. 29 Bei der, im §. 144 erwähnten, Vorlegung des Voranschlages für die nächsten drei Jahre muß zugleich die Verwendung des Staats-Einkommens zu den bestimmten Zwecken für die seit Anfang des Jahres 1831 verflossenen einzelnen Rechnungsjahre, soweit sie noch nicht ihre volle Erledigung bei dem Landtage erhalten haben, nachgewiesen werden. 30 Ferdinand DÜMMLER (Hg.): Bemerkungen über die alte ständische Verfassung in Hessen und ihr Verhältniß zu der neuen Verfassungs-Urkunde dieses Landes. Mit besonderer Beziehung auf Pfeifferތs Geschichte der landständischen Verfassung in Kurhessen, Berlin 1836, S. 39. Der Finanzausschuss hatte selbst in seiner Stellungnahme vom 31. August 1850 nur die Meinung vertreten, dass der Landtag gemäß § 143 Landesverfassung vorab das Budget prüfen könne. Wäre ein solch nachträgliches Prüfungsrecht gegeben gewesen, wäre der Verfassungskonflikt wohl nicht in dieser Schärfe entstanden, weil das Parlament auch noch im Nachhinein entsprechende Prüfungskompetenz hätte geltend machen können – vgl. Kurhessische Landtags-Verhandlungen, August 1850/Nr. 6, Sp. 2, Beilage 6, Sp. 3. Der Verfassungskonflikt des Jahres 1850 in Kurhessen 229 bedeutend mit dem Recht das Staatsausgabenbudget zu regeln. Die Regierungen werden diesen Unterschied bei den Verhandlungen über das Budget im Auge behalten. Über § 1 Abs. 1 der Landesverfassung, der regelte, dass Kurhessen ein Bestandtheil des deutschen Bundes sei und Art. 53 sowie 58 der Wiener Schlussakte vom 15. Mai 1820 bzw. Art. 3 der deutschen Bundesakte vom 8. Juni 1815, ergab sich zudem für Kurhessen die Bindung an das Recht des deutschen Bundes. Dies führte zu einem konfliktträchtigen Neben- bzw. Gegeneinander von Bundes- und Landesverfassungsrecht mit entsprechender Fragestellung nach dem Anwendungsvorrang. Weiterhin legte Art. 57 der Wiener Schlussakte fest, dass auch in den Verfassungsstaaten gewährleistet sein müsse – sofern es sich um keine freien Städte handelte – dass die gesammte Staatsgewalt in dem Oberhaupte des Staates vereinigt bleiben und der Souverain kann durch eine landständische Verfassung nur in der Ausübung bestimmter Rechte an die Mitwirkung der Stände gebunden werden. Im Bundesbeschluss vom 28. Juni 1832 über Maßregeln zur Aufrechterhaltung der Gesetzlichen Ordnung und Ruhe in Deutschland – so genannte sechs Artikel31 – wurde aufbauend hierauf in Art. 1 und 2 festgelegt, dass die Ständeversammlung nicht berechtigt sei, dem Landesfürst die Steuern zu verweigern. Dies würde den Anwendungsbereich der Bundesintervention gemäß Art. 57 und 58 Wiener Schlussakte eröffnen. Hierauf stützte sich, wie noch darzustellen sein wird, die Bundesversammlung, als sie im Oktober 1850 die Bundesintervention im Verfassungskonflikt von Kurhessen beschloss.32 Das Problem war hierbei jedoch einmal, dass diese Sechs Artikel durch die Bundesversammlung selbst am 2. April 1848 aufgehoben worden waren und sie zudem nur den Fall der unberechtigten Steuerverweigerung betrafen.33 Andererseits wurde aus der Formulierung von § 143 sogar eine Verpflichtung des Landtages, für die Deckung des Staatshaushaltes durch Steuern zu sorgen, hergeleitet.34 War doch in § 143 expressis verbis festgelegt: Die Stände haben für die Aufbringung des ordentlichen und außerordentlichen Staatsbedarfs, soweit die übrigen Hülfsmittel zu dessen Deckung nicht ausreichen, durch Verwilligung von Abgaben zu sorgen (…). Insofern wurde § 146 der Landesverfassung wieder relativiert, der ausdrücklich festlegte, dass ohne die Steuerbewilligung durch den Landtag weder die Erheber zur Einforderung berechtigt, noch die Pflichtigen zur Entrichtung schuldig sind und dass in den entsprechenden Steuergesetzen die Bewilligung durch den Landtag ausdrücklich erwähnt sein muss. Aus § 147 ergab sich zudem die Möglichkeit, für eine Übergangsfrist von sechs Monaten nach Ablauf des Steuerbewilligungszeitraums Steuern weiter zu erheben, obwohl sich aus § 144 der Landesverfassung ergab, dass die Steuerbewilligung nur für einen Zeitraum von drei Jahren galt und sodann die Regierung eine neue Bewilligung des Landtages einzuholen hatte. Aus den haushaltsrechtlichen Bestimmungen der Landesverfassung ergab sich zugleich, dass der Haushalt im Unterschied zu früheren Zeiten nicht aus den landesherrlichen Einkünften zu bestreiten war, inso–––––––––– 31 Abgedruckt bei Ernst Rudolf HUBER: Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 1, Stuttgart 1961, S. 119. 32 Ewald GROTHE: Ludwig Hassenpflug. – Denkwürdigkeiten aus der Zeit des zweiten Ministeriums 1850-1855, Marburg 2008, S. 96. 33 V. NATHUSIUS (wie Anm. 11), S. 232. 34 DÜMMLER (wie Anm. 30), S. 38. 230 Matthias H. Gehm fern war – trotz der skizzierten Unzulänglichkeiten – ein Schritt zum modernen Steuerstaat gemacht.35 Auch wenn somit die Verfassung viele moderne Ansätze enthielt, so verblieb es neben dem eingeschränkten Budgetrecht dabei, dass der Kurfürst als Oberhaupt des Staates alle Staatsgewalt in sich vereinigte (§ 10), was ihm die Möglichkeit der Landtagsauflösung eröffnete (§ 83). Allerdings legte § 10 auch fest, dass der Kurfürst seine Befugnisse auf verfassungsmäßige Weise auszuüben habe. Insofern war er an die Verfassung gebunden. Zudem leitete der Kurfürst aus § 95 Abs. 236 das Recht ab, Notverordnungen zu erlassen. Bereits im Juli 1832 betrieb Kurprinz Friedrich Wilhelm, der neben seinem Vater Kurfürst Wilhelm II. seit 1831 als Mitregent fungierte, anlässlich der Ablehnung der Höhe des Militärbudgets durch das Parlament eine Landtagsauflösung. Er ließ den preußischen Gesandten Ludwig von Hähnlein in diesem Zusammenhang wissen: Er habe die ungezogene Vormundschaft der Stände nicht länger ertragen können und wolle endlich Ruhe haben. Auch der Landtagsauflösung vom 2. September 1850, die den Verfassungskonflikt auslöste, ging bereits eine solche am 12. Juni 1850 voraus, sie war also kein singuläres Vorkommnis.37 Insofern erstaunt es nicht, dass Jordan selbst bereits wenige Jahre nach der Verfassungsgebung resigniert in dem von Karl v. Rotteck und Karl Theodor Welcker herausgegebenen Staatslexikon in Bezug auf die kurhessische Verfassungsentwicklung schrieb, dass sie sich nicht „von dem antikonstitutionellen Elemente loszuwinden vermochte, welches vielmehr die ganze Verfassung durchdringt und sich allenthalben kettenartig an das Konstitutionelle anschließt, diesem die Kraft zur freien und selbständigen Fortbildung entziehend“.38 Eine weitere offene Flanke der Verfassung war, was sich im Jahr 1850 in dramatischer Weise darstellen sollte, dass es nicht gelang, die in § 157 vorgesehene Bundesgarantie für die Landesverfassung zugesprochen zu bekommen, vielmehr unterblieb diese, da nach Ansicht des Deutschen Bundes zu viele liberale Passagen der Verfassung gegen das in Art. 57 der Wiener Schlussakte niedergelegte monarchische Prinzip verstießen.39 –––––––––– 35 DÜMMLER (wie Anm. 30), S. 37. 36 Verordnungen, welche die Handhabung oder Vollziehung bestehender Gesetze bezwecken, werden von der Staatsregierung allein erlassen. Auch kann, wenn die Landstände nicht versammelt sind, zu solchen ausnahmsweise erforderlichen Maasregeln, welche bei außerordentlichen Begebenheiten, wofür die vorhandenen Gesetze unzulänglich sind, von dem Staatsministerium unter Zuziehung des landständischen Auschusses (s. §. 102) auf den Antrag der betreffenden Ministerial-Vorstände für wesentlich und unaufschieblich zur Sicherheit des Staates oder zur Erhaltung der ernstlich bedrohten öffentlichen Ordnung erklärt werden sollten, ungesäumt geschritten werden. Hierauf aber wird nach dem Antrage jenes Ausschusses sobald, als möglich, die Einberufung der Landstände Statt finden, um deren Beistimmung zu den, in gedachten Fällen erlassenen, Anordnungen zu erwirken. 37 HUBER (wie Anm. 31) Bd. 1, S. 474. 38 GROTHE: Zwischen Vision und Revision (wie Anm. 11), S. 215 ff.; DERS.: Verfassungsgebung und Verfassungskonflikt (wie Anm. 10), S. 78 ff., 217 ff., 483 ff.; Elisabeth FEHRENBACH: Verfassungsstaat und Nationsbildung 1815-1871, München 1992, S. 16 f.; KOCHHEIM (wie Anm. 7), S. 40 ff.; KOTULLA (wie Anm. 24), Rn. 1659 ff.; SEIER: Modernisierung und Integration in Kurhessen (wie Anm. 21), S. 453 ff.; Christian STARCK: Die kurhessische Verfassung von 1831 im Rahmen des deutschen Konstitutionalismus, in: ZGH 111, 2006, S. 181-194; KELLNER (wie Anm. 27), S. 31 ff. 39 GROTHE: Zwischen Vision und Revision (wie Anm. 11), S. 228 f. Der Verfassungskonflikt des Jahres 1850 in Kurhessen 231 Die Ereignisse von 1848/49 bewirkten neben der Änderung des Wahlgesetzes und der Zusammensetzung des Landtages auch durch Gesetz vom 17. Juni 184840 ein Mitspracherecht des Landtages bei der Besetzung der Richterschaft des Oberappellationsgerichtes.41 Art. 107 wurde durch Gesetz vom 26. Oktober 1848 dahin gehend geändert, dass die unumschränkte Kommandogewalt des Kurfürsten bezüglich des Militärs aufgehoben wurde.42 Das Ende der Märzregierung In Kurhessen ging das Märzministerium – wenn auch mit einer gewissen Verzögerung gegenüber anderen Staaten wie etwa Nassau – seinem Ende im Jahr 1850 entgegen. Vorausgegangen war, dass die Nationalversammlung in der Paulskirche gescheitert war bzw. König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen die deutsche Kaiserkrone abgelehnt hatte.43 So wurde auch am 2. Februar 1850 der bei der Bevölkerung sehr unbeliebte Hassenpflug, der im Volksmund als „Hessen-Fluch“ verspottet wurde44, vom Kurfürsten zurückberufen. Hassenpflug, der noch in den dreißiger Jahren sich in der Umgehung der Verfassung hervorgetan hatte, bezeichnete sich selbst in Bezug auf sein Verhältnis zum Parlament denn auch viel sagend als „eine spanische Fliege auf offner Wunde“.45 Zum Kriegsminister wurde der illegitime Vetter des Kurfürsten, Major Eduard von Haynau ernannt. Neuer Oberbefehlshaber der Armee wurde im Oktober 1850 der greise Onkel des Kurfürsten, General Karl von Haynau, der Generalleutnant Johann Philipp Bauer ablöste. Sogleich ging Hassenpflug daran, die vom Märzministerium vorgenommenen Reformen bzw. durchgesetzten Normen zu kassieren.46 Damit zeigte sich in Kurhessen wie auch in anderen deutschen Staaten die Tendenz, nach den Ereignissen von 1848/49 einen rückwärtsgewandten politischen Kurs einzuschlagen. Dies lässt sich beispielsweise auch für Bayern, insbesondere was die Steuerpolitik anbelangt, belegen.47 Interessant und bezeichnend ist in diesem Zusammenhang das Vorwort vom 17. Oktober 1850 von Salamon Hahndorf zu seiner Publikation der Kurhessischen Verfassung. Dort legt er seine Motivation für den Abdruck der Verfassung samt Staatsgesetzen in der speziellen historischen Situation folgendermaßen dar: „In der gegenwärtigen Zeit, wo der kurhessische Volksstamm im Kampfe für seine Verfassung steht, da fehlt es noch manchem rüstigen Kämpfer an einer guten Waffe, womit er dem –––––––––– 40 Abgedruckt bei HAHNDORF (wie Anm. 9), S. 38. 41 SPEITKAMP: Revolution und Verfassungskrise (wie Anm. 2), S. 4. 42 Abgedruckt bei HAHNDORF (wie Anm. 9), S. 18, siehe auch ARNDT: Militär und Staat in Kurhessen (wie Anm. 7), S. 195; SPEITKAMP: Revolution und Verfassungskrise (wie Anm. 2), S. 4; DERS: Verfassung und Militär (wie Anm. 1), S. 157. 43 VORLÄNDER (wie Anm. 20), S. 69. 44 GRÄFE (wie Anm. 15), S. 5. 45 GROTHE: Konstitutionalismus in der Dauerkrise (wie Anm. 11), S. 119. 46 FRANZ: Das Haus Hessen (wie Anm. 11), S. 147 f. 47 Matthias GEHM: Das Einkommensteuergesetz von 1848. – Ein frühes Zeugnis für das Bemühen um Steuergerechtigkeit im Königreich Bayern, in: Zs. für bayerische LG 70, 2007, S. 793-852, 838; Horst HESSE: Gesetzgeber und Gesetzgebung in Bayern 1848-1870, Weilheim 1984, S. 127. 232 Matthias H. Gehm Feinde gegenüber streiten kann. (…) Mit der Verfassung in der Hand, muß jeder Bürger sein gutes Recht vertheidigen und das Unrecht zurückweisen können und hierin darf er auch nicht im Zweifel sein.“ Im Hinblick auf die Änderungen der Verfassung durch die Ereignisse von 1848 führt er weiter aus: „Die Änderungen, welche unsere Verfassung erlitten hat, sind nicht aus Neuerungssucht oder aus der Lust das Bestehende umzustürzen entstanden. Noch weniger hat sich eine Ständeversammlung auf den Boden der Revolution gestellt und ihre Beschlüsse decretirt. Nein, die Änderungen in den Bestimmungen der Verfassung und die wichtigsten Gesetze zur Verwirklichung derselben, sind von der Ständeversammlung berathen und mit dem Fürsten vereinbart worden, welche auf den Grund des alten, wahrlich nicht freisinnigen, Wahlgesetzes zusammengesetzt war. Die Prinzen des kurfürstlichen Hauses, der Erbmarschall, die Obervorsteher der adeligen Stifter Kaufungen und Wetter, der Abgeordnete der Landesuniversität, die Abgeordneten der Ritterschaft und des ehemals reichsunmittelbaren Adels, die der Städte und der Landgemeinden, haben diese Gesetze geschaffen, ja meist einstimmig beschlossen. (…) So verkündete Se. Königl. Hoheit selbst dem Volke das, was Sie demselben gegeben und was es sein nennen soll, in dem Landtags-Abschied vom 31. October 1848 und jetzt wo wir unser gutes und verbrieftes Recht behalten wollen, sollen wir Rebellen sein? – Sollte denn aller gesunder Menschenverstand und Alles was nur einen Schatten von Recht heißt, aus Deutschlands Gauen gewichen sein?“48 Hieraus ergibt sich, dass einmal in der Bevölkerung der Verfassungsbruch beim Monarchen gesehen wurde und sodann es insbesondere auch darum beim Verfassungskonflikt ging, die Errungenschaften der Jahre 1848/49 zu verteidigen. Zwar taucht hier der Begriff der Revolution auf, jedoch wird dieser durch die näheren Ausführungen zur gemeinsamen Vereinbarung zwischen Volk und Kurfürsten in Richtung Reform modifiziert bzw. wieder relativiert. Das kurhessische Militär und seine Rolle in den Jahren kurz vor dem Verfassungskonflikt und im Verfassungskonflikt sowie seine Einstellung gegenüber der Regierungspolitik unter besonderer Berücksichtigung des Ablaufs der Verfassungskrise Was die Rolle des Militärs insbesondere im Verfassungskonflikt anbelangt, so ist dieser Punkt der Darstellung eng mit dem Verlauf der Geschehnisse verwoben, so dass entsprechend auch auf diese hier zum näheren Verständnis einzugehen sein wird. Das Offizierskorps der kurhessischen Armee zeichnet sich dadurch aus, dass – anders als in anderen Staaten – es keine ausgeprägte großgrundbesitzende Adelsschicht gab, die im Militär den Ton angab und folglich zu einer Abhebung des Soldaten- vom Zivilistenstand sorgte.49 Das Offizierskorps erwartete sich vom Parlament, nachdem die Verfas–––––––––– 48 HAHNDORF: (wie Anm. 9), S. III ff. 49 ARNDT: Militär und Staat in Kurhessen (wie Anm. 7), S. 260, 264; DERS.: Die Abschiednahme des kurhessischen Offizierkorps im Verfassungskonflikt von 1850, in: Winfried SPEITKAMP (Hg.): Staat, Gesellschaft, Wissenschaft – Beiträge zur modernen hessischen Geschichte (VHKH 50), Marburg 1994, S. 84. Der Verfassungskonflikt des Jahres 1850 in Kurhessen 233 sung gegeben war, eine Verbesserung seiner Situation insbesondere in finanzieller Hinsicht. Insofern wünschte man keine Entwicklung zurück zum Stand vor 1831. Daher stellte sich das Militär schon gegen die Staatsstreichpläne von Friedrich Wilhelm im Jahr 1847. Auch muss man bedenken, dass die Person Hassenpflug auch bei der Armee sehr verhasst war. Zudem stieß sein pro-österreichischer Kurs auf Ablehnung, da man sich unter den Offizieren von Preußen eine Durchsetzung zumindest der kleindeutschen Lösung im Zuge der Erfurter Union erhoffte. Dem vorausgegangen Dreikönigsbündnis vom 26. Mai 1849 zwischen Preußen, Hannover und Sachsen50 war Kurhessen auf Drängen von Minister Eberhard beigetreten. Kurfürst Friedrich Wilhelm gab diesem Drängen jedoch nur widerwillig nach. Hassenpflug seinerseits sagte sich bereits im Mai 1850 von der Unionspolitik los, während die Liberalen im Landtag für einen Verbleib Kurhessens in der Erfurter Union eintraten. Letztlich erhoffte Hassenpflug sich von Österreich und der Restauration des deutschen Bundes eher eine Unterstützung bei seiner reaktionären Politik als von Preußen, das eine an der revolutionären Paulskirchenverfassung ausgerichtete Verfassung der Erfurter Union geben sollte. Die erneute Berufung Hassenpflugs durch den Kurfürsten wurde auch in diesem Zusammenhang als ein Ausdruck des Wunsches von Friedrich Wilhelm nach einer Loslösung von der Erfurter Union gesehen. Insofern war Hassenpflug insbesondere bemüht, das Zustandekommen der Unionsverfassung zu vereiteln, auf die sich zwar die Parteien des Dreikönigsbündnisses am 28. Mai 1849 geeinigt hatten, die jedoch erst nach entsprechenden Verhandlungen am 13. April 1850 im Volkshaus und am 17. April 1850 im Staatenhaus angenommen wurde. Auch entsandte er entgegen der politischen Linie Preußens einen Gesandten zu der von Österreich reaktivierten Bundesversammlung nach Frankfurt a. M.51 Des Weiteren war man insbesondere in der militärischen Spitze das oft willkürhafte Vorgehen des Kurfürsten leid, der die Armee als sein persönliches Instrument betrachtete, so dass zu Beginn des Verfassungskonfliktes Friedrich Wilhelm keinen willfährigen Militärapparat mehr vorfand. Im Besonderen befürwortete der Großteil der militärischen Führung im Gegensatz zum Kurfürsten in den Jahren 1848/49 die Schaffung einer Reichszentralgewalt mit einem entsprechenden Reichskriegsministerium.52 In den Jahren 1848/49 waren in der Armee Kurhessens, wie bereits erwähnt, noch keine offenen Widerstände wie etwa im Großherzogtum Baden im Jahr 1849 festzustellen. Die Einsätze gegen die Freischärler um Friedrich Hecker im April 1848 in Baden sowie gegen die Aufstände in Frankfurt a. M. im gleichen Jahr und die Niederwerfung des pfälzischbadischen Aufstandes im Zuge der Reichsverfassungskampagne im Jahr 1849 wurden diszipliniert ausgeführt. Andererseits gelang es im März/April 1848 durch eine Strategie der Deeskalation der kurhessischen Militärführung, insbesondere die hochexplosive Situation in Hanau, wo sich radikaldemokratische Turnerwehren massiv organisierten, weitgehend –––––––––– 50 Abgedruckt bei HUBER (wie Anm. 31) Bd. 1, S. 426. 51 GRÄFE (wie Anm. 15), S. 8 ff.; HUBER (wie Anm. 31) Bd. 1, S. 474; Werner FROTSCHER und Bodo PIEROTH: Verfassungsgeschichte, München 21999, Rn. 329 f.; Theodor SCHIEDER: Vom Deutschen Bund zum Deutschen Reich (Gebhardt Handbuch der deutschen Geschichte Bd. 15), München 21976, S. 100; Frank ENGEHAUSEN: Die Revolution von 1848/49 – Seminarbuch Geschichte, Paderborn 2007, S. 255. 52 ARNDT: Militär und Staat in Kurhessen (wie Anm. 7), S. 191 f., 197, 220, 229, 259, 261 f., 267 ff. 234 Matthias H. Gehm friedlich zu meistern. Insofern erweist sich, dass in Kurhessen die „Revolution“ von 1848/49 trotz einer gewissen Unzufriedenheit auch im Militär eine Systemreform getragen von der bürgerlichen Mitte und den Staatsdienern war. Der Umstand, dass auch die kurhessische Märzregierung sich gegen die radikaldemokratischen Kräfte in Baden und der bayerischen Pfalz gewandt hatte, bewirkte zudem, dass den liberalen und konstitutionellen Kräften im Verfassungskonflikt des Jahres 1850 ein Bündnis mit diesen politischen Gruppierungen auch im eigenen Land unmöglich war. Insoweit ist auch ein Stück politischer Isolation der tonangebenden oppositionellen politischen Kräfte in Kurhessen, die auf eine evolutionäre Entwicklung weiterhin setzten, feststellbar.53 Die Situation hinsichtlich der Einstellung des Militärs wandelte sich aber von einer gewissen Unzufriedenheit hin zu offenem Widerstand, als Hassenpflug am 2. September 1850 den Landtag auflösen ließ, da dieser seinem Finanzgesetz nicht zustimmen wollte. Hassenpflug sah hierin einen „Verfassungsbruch durch die Ständeversammlung (…) und den ersten Schritt zur Rebellion“, da er die Meinung vertrat, dass sich aus § 143 der Landesverfassung die Verpflichtung der Ständeversammlung ergebe, Steuern zu bewilligen. Somit erachtete er, dass ein Anwendungsfall für das Notverordnungsrecht des Kurfürsten gegeben sei. Auf § 95 der Landesverfassung sich stützend, verfügte er deshalb durch Notverordnung vom 4. September 1850, dass die Steuern zu erheben seien „bis mit den, sobald als thunlich einzuberufenden, Landständen anderweitige Vereinbarungen getroffen sind“. Im Unterschied zum bisherigen Vorgehen waren die Steuereinnahmen – wie noch im Folgenden dazustellen sein wird – aber nicht einzufrieren, bis sich die Regierung diesbezüglich mit dem Landtag geeinigt habe. Allerdings wurde gleichzeitig verfügt: „Unsere Ministerien haben bei der Verwendung der Staats-Einnahmen auf die nothwendigen Ausgaben sich zu beschränken und den nach Bestreitung solcher Ausgaben etwa sich ergebenden Ueberschuß als einen Fonds, über welchen durch das demnächstige Finanzgesetz Verfügung getroffen werden soll, zu asserviren.“ In der Veröffentlichung der Verordnung wurde skizziert, welche Vorgehensweise die Regierung dem Landtag in der Steuerfrage angeboten hatte und auf welche Gesetzesformulierung sich das Parlament nur einlassen wollte.54 Der Regierung war mithin sehr wichtig, in der öffentlichen Meinung die Schuld an der Krise dem Parlament zuzuweisen. Andererseits sah der landständische Ausschuss, der die Geschäfte des Landtages insofern bis zu dessen Zusammentritt führte, gerade in der Steuernotverordnung einen Verfassungsbruch, da keine „außerordentlichen Begebenheiten“ vorlägen bzw. die Steuererhebung nicht „wesentlich und unaufschiebbar zur Sicherheit des Staates oder zur Erhaltung der ernstlich bedrohten öffentlichen Ordnung“ sei. Als der Ausschuss die Steuerbeamten aufrief, die Steuererhebung auszusetzen und diese der Aufforderung weitgehend Folge leisteten, verhängte Hassenpflug mit Verordnung vom 7. September 1850 den Kriegszustand über Kurhessen. Mit dieser Verordnung wurde auch der Art. 2 des Bundesbeschlusses vom 28. Juni 1832, wonach es den Ständeversammlungen untersagt sei, dem Landesfürsten die Steuern zu verweigern, veröffentlicht. Zusätzlich stütze man sich auf Art. 25 der Wiener Schlussakte, wobei man letztlich § 1 Abs. 1 der Landesverfassung heranzog, wonach Kurhessen als Teil des deutschen Bundes sich nach dessen –––––––––– 53 ARNDT: Militär und Staat in Kurhessen (wie Anm. 7), S. 195, 198 ff., 212 f.; SPEITKAMP: Revolution und Verfassungskrise (wie Anm. 2), S. 4; V. NATHUSIUS (wie Anm. 11), S. 245. 54 Verordnung, die Forterhebung der Steuern und Abgaben betreffend, Gesetz- und VerordnungsSammlung 1850, S. 41; abgedruckt bei HUBER (wie Anm. 31) Bd. 1, S. 474; KOCHHEIM (wie Anm. 7), S. 88 ff. Der Verfassungskonflikt des Jahres 1850 in Kurhessen 235 Bestimmungen zu verhalten bzw. an diesen auszurichten habe. Darauf aufbauen vertrat die Regierung die Meinung, dass das Bundesrecht ihr „unabweislich die Pflicht“ auferlege „die gefährdete Sicherheit des Staates und die bedrohte öffentliche Ordnung mit einem solchen Schutze zu umgeben, welcher es unmöglich macht, anarchische Zustände zur thatsächlichen Erscheinung kommen zu lassen, wie solche sowohl die fort und fort sich steigernde verbrecherische Frechheit der Tagespresse anzubahnen, als das Verhalten des verbleibenden landständischen Ausschusses hervorzurufen unternimmt, dessen verblendende Anmaßung ihn dazu getrieben, an Unsere Behörden und Unsere Unterthanen Aufforderungen zum Widerstande gegen unsere obrige Verordnung zu erlassen, deren Vollziehbarkeit nach dem Schlußsatze des §. 108 der Verfassungs-Urkunde so wenig einem Zweifel unterliegen, als dieselbe in ihrer Grundlage einer anderen als der, den Landständen durch §. 95 der Verfassungs-Urkunde überwiesenen, Beurtheilung ausgesetzt seyn kann.“55 Die Justiz war allerdings gemäß § 1 der Verordnung ausdrücklich von der Verhängung des Kriegszustandes ausgenommen. Die Presse wurde durch die Verhängung des Kriegszustandes unter Zensur gestellt (§ 4 der Verordnung). Letzteres verstieß gegen § 37 der Landesverfassung i. V. m. dem Pressegesetz vom 26. August 1848. Indes musste die Regierung selbst auf eine Eingabe des Stadtrates von Kassel am 10. September eingestehen, dass keine Gewalttätigkeiten verübt worden waren, was allein gemäß § 20 der kurfürstlichen Verordnung vom 22. Oktober 1830 die Verhängung des Kriegszustandes gerechtfertigt hätte.56 Da bei den Behörden die Verordnungen vom 4. und 7. September 1850 „eine so wenig eindringende Aufnahme“ fanden, sah sich die Regierung zusätzlich am 11. September 1850 veranlasst, eine diesbezügliche Belehrung vorzunehmen.57 Neben der Begründung in den benannten Verordnungen wurde von der Regierung hervorgehoben, dass der Eid gemäß § 60 der Landesverfassung nicht isoliert auf einzelne Bestimmungen der Verfassung zu sehen sei, sondern auch unter Berücksichtigung der Regelungen des Deutschen Bundes in einen Gesamtzusammenhang zu stellen sei, wonach die Ständeversammlung entgegen ihrer sich auch aus § 143 der Landesverfassung ergebenden Verpflichtung die Steuerbewilligung verweigert habe. Insofern könne nicht allein auf § 146 der Landesverfassung abgestellt werden. Auf Druck übernahm zwar Generalleutnant Bauer am 7. September 185058, den man bedeutete, dass er ansonsten zwangspensioniert würde, den Oberbefehl. Bauer aber war weiterhin nicht bereit, den Kriegszustand zu exekutieren. Da § 104 des Dienstreglements bestimmte, „kein Offizier darf sich unterstehen, einem Oberen zu widersprechen. Er soll (…) alles, wozu er im Dienst kommandirt wird, auf der Stelle (…) verrichten. Keine Art von Entschuldigung kann angenommen werden, nur wirkliche Krankheit ausgenommen, wodurch die Unmöglichkeit des Gehorsams begründet werden könnte“, meldet er sich krank, um sich der ungeliebten Aufgabe zu entziehen.59 –––––––––– 55 Verordnung, die Erklärung des Kriegszustandes betreffend, Gesetz- und Verordnungs-Sammlung 1850, S. 45; abgedruckt bei HUBER (wie Anm. 31) Bd. 1, S. 475; V. NATHUSIUS: (wie Anm. 11), S. 228 f., 239. 56 KOCHHEIM (wie Anm. 7), S. 92 ff. 57 Abgedruckt bei HUBER (wie Anm. 31) Bd. 1, S. 476. 58 Verordnung, die Ernennung des militärischen Ober-Befehlshabers betreffend, Gesetz- und Verordnungs-Sammlung 1850, S. 47. 59 ARNDT: Militär und Staat in Kurhessen (wie Anm. 7), S. 222 f., 230, 235; GROTHE: Ludwig Hassenpflug (wie Anm. 32), S. 84 ff.; DERS.: Die Abschiednahme des kurhessischen Offizierskorps (wie Anm. 49), S.73-90, 75 f.; FROTSCHER/PIEROTH (wie Anm. 51), Rn. 333. 236 Matthias H. Gehm Als der ständische Parlamentsausschuss Hassenpflug und die Minister, die die Anordnung des Kriegszustandes mitunterschrieben hatten, wegen Amtsmissbrauchs anzeigten, wurde das Oberappellationsgericht tätig. Dieses Gericht entschied auch mit Beschluss vom 12. September 1850 aufgrund einer inzidenten Normenkontrolle, dass die Steuernotverordnung verfassungswidrig sei. Das höchste Militärgericht im Staat – das Generalauditoriat – schloss sich dieser Meinung an. Für Deutschland handelte es sich bei der Normenkontrolle um ein juristisches Novum. Zwar hatte in den USA im Jahr 1803 der Supreme Court in Sachen Marbury v. Madison sich dieses prozessualen Rechtsinstruments bedient, in der Deutschen Rechtswissenschaft wie Gerichtspraxis war ein solches Vorgehen in jener Zeit jedoch nicht unumstritten.60 Folge letzterer Entscheidung des Oberappellationsgerichts war auch, dass sich bei den Militärs die Befürchtung breit machte, dass sie bestraft würden, wenn sie Hassenpflug bzw. dem Kurfürsten bei ihrem Verfassungsbruch Folge leisten. Sie glaubten nicht, dass der Kurfürst und die Regierung sie insofern schützen könnten, vielmehr sahen sie die eigentliche Macht beim Parlament und dem bürokratischen Beamtenapparat. So wurde aufgrund Beschlusses des ständischen Ständeausschusses vom 12. September 1850 auch Generalleutnant Bauer vom Generalauditoriat wegen Beteiligung am Staatsstreich angeklagt. Vorgeworfen wurde ihm Missbrauch der Amtsgewalt und Teilnahme am Hochverrat.61 Der Kurfürst verließ, da sein Staatsstreich nicht so reibungslos, wie geplant, verlief, am 13. September Kassel und bezog in Wilhelmsbad Quartier. Offiziell wurde auch durch Verordnung vom 17. September 1850 der Regierungssitz dorthin verlegt, „da es sich mit der Würde Unserer Regierung nicht vereinbaren lässt, daß dieselbe mit widerstrebenden untergeordneten Behörden an ein und demselben Orte verweile“.62 Erst am 18. Dezember 1850 wurde der Regierungssitz wieder nach Kassel zurückverlegt.63 Grundsätzlich war nach § 11 der Landesverfassung eine Verlegung des Regierungssitzes innerhalb des Kurfürstentums möglich. Ein Versuch, König Ernst August von Hannover im September 1850 zur militärischen Intervention zu Gunsten von Friedrich Wilhelm zu bewegen, scheiterte jedoch und verstärkte nur die Kluft zwischen Kurfürst und Offizierskorps.64 Kurfürst Friedrich Wilhelm und Hassenpflug begaben sich sodann nach Frankfurt a. M. zum Rumpf-Bundestag, um dort am 17. September 1850 Beistand zu erbitten.65 Die Bundesversammlung rief am 21. September 1850 die Regierung Hassenpflug auf, alle Mittel einzusetzen, um die Autorität im Lande wieder herzustellen. Gleichzeitig hielt sich die Bundesversammlung weitere eigene Schritte –––––––––– 60 Nadine E. HERRMANN: Der kurhessische Verfassungskonflikt – Die Normenkontrollentscheidung des Oberappellationsgerichts Kassel aus dem Jahr 1850, in: Juristische Arbeitsblätter 2001, S. 208-214, 210; FROTSCHER/PIEROTH (wie Anm. 41), Rn. 331; Ulrich EISENHARDT: Deutsche Verfassungsgeschichte, München 31999, Rn. 493; Klaus SCHLAICH und Stefan KORIOTH: Das Bundesverfassungsgericht – Stellung, Verfahren, Entscheidungen, München 52001, Rn. 106 f.; VORLÄNDER (wie Anm. 20), S. 63 ff. 61 GRÄFE (wie Anm. 15), S. 91; ARNDT: Militär und Staat in Kurhessen (wie Anm. 7), S. 224 ff. 62 Verordnung, die Verlegung des Sitzes der Regierung nach Wilhelmsbad betreffend, Gesetz- und Verordnungs-Sammlung 1850, S. 49. 63 Gesetz- und Verordnungs-Sammlung 1850, S. 67. 64 KOCHHEIM (wie Anm. 7), S. 102 f.; ARNDT: Militär und Staat in Kurhessen (wie Anm. 7) S. 228. 65 GROTHE: Ludwig Hassenpflug (wie Anm. 32), S. 94 ff.; KOTULLA: (wie Anm. 24), Rn. 1560. Die Bundesintervention setzte gemäß Art. 26 S. 1 Wiener Schlussakte ein entsprechendes Hilfegesuch der Landesregierung an die Bundesversammlung voraus. Der Verfassungskonflikt des Jahres 1850 in Kurhessen 237 offen.66 Dieser Bundesbeschluss wurde in Kurhessen am 23. September 1850 amtlich veröffentlicht.67 Um den Kriegszustand nunmehr zu exekutieren, wurde der unwillige Generalleutnant Bauer durch Verordnung vom 28. September 185068, wie bereits erwähnt, durch General Karl v. Haynau ersetzt.69 Am 28.70 und 30. September71 erließ Hassenpflug Verordnungen, die eine Überprüfung der Notstandsverordnungen durch Gerichte verboten. Man begründete dies mit dem in den § 2 und 10 der Landesverfassung verankerten Prinzip der Monarchie, so dass Verordnungen des Landesherrn einer gerichtlichen Überprüfung entzogen seien und die entsprechenden Entscheidungen für ungültig erklärt wurden (§ 1 der Verordnung vom 28. September 1850). Nach § 2 der Verordnung vom 28. September 1850 wurde die Militärgerichtsbarkeit im Fall der Widersetzung gegen die Notverordnungen auch auf Zivilisten erstreckt.72 Insofern war dies eine Verschärfung des Kriegszustandes, da insbesondere ursprünglich in Beachtung von § 114 Abs. 2 der Landesverfassung73 die Gerichte, wie erwähnt, nicht hiervon betroffen waren.74 Die Verordnung vom 28. September 1850 war die so genannte dritte Septemberverordnung neben der Steuernotverordnung und der Verhängung des Kriegszustandes. Es erfolgte noch eine Erläuterung der Verordnung vom 28. September 185075 am gleichen Tag, in welchem die Regierung darauf hinwies, dass die Beamten nicht zu befürchten bräuchten, zur Verantwortung gezogen zu werden, wenn sie die Notverordnungen befolgten, da eine entsprechende Verfolgung nach § 61 der Landesverfassung nur denjenigen treffe, der eine nicht in verfassungsgemäßer Form ergangene Anordnung befolge, was aber gerade nicht der Fall sei. Damit sei jede Befehlsverweigerung verboten und die Regierung verbat sich ausdrücklich eine Umkehrung der Befehlskette derart, dass die unteren Dienstränge sich anmaßten, die Anordnungen ihrer Vorgesetzten zu überprüfen bzw. in Frage zu stellen. Das Oberappellationsgericht sah sich an das Verbot, die Notverordnungen auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin zu überprüfen, jedoch nicht gebunden und berief sich mit Entscheidung vom 3. Oktober 1850 auf die Unabhän- –––––––––– 66 HUBER (wie Anm. 31) Bd. 1, S. 481 f. 67 Verordnung, wodurch der Bundesbeschluss vom 21ten September 1850, den in Kurhessen vorliegenden Fall der Steuerverweigerung betreffend, zur allgemeinen Kenntniß gebracht wird, Gesetz- und Verordnungs-Sammlung 1850, S. 51. 68 Gesetz- und Verordnungssammlung 1850, S. 57. 69 SPEITKAMP: Verfassung und Militär (wie Anm. 1), S. 162. 70 Verordnung, die weitere Handhabung und Ergänzung der Verordnung vom 7ten d. M., über die Erklärung des Kriegszustandes, betreffend, Gesetz- und Verordnungs-Sammlung 1850, S. 53; abgedruckt bei HUBER (wie Anm. 31) Bd. 1, S. 482. 71 Verordnung, das vom Ober-Befehlshaber einzusetzende Kriegsgericht betreffend, Gesetz- und Verordnungs-Sammlung 1850, S. 59. 72 FROTSCHER/PIEROTH (wie Anm. 51), Rn. 332. 73 Niemand darf seinem gesetzlichen Richter, sey es in bürgerlichen oder peinlichen Fällen, entzogen werden, es sey denn auf dem regelmäßigen Wege nach den Grundsätzen des bestehenden Rechtes durch das zuständige obere Gericht. Es dürfen demnach auserordentliche Kommissionen oder Gerichtshöfe, unter welcher Benennung es sey, nie eingeführt werden. Gegen CivilPersonen findet die Militär-Gerichtsbarkeit nur in dem Falle, wenn der Kriegszustand erklärt ist, und zwar nur innerhalb der gesetzlich bestimmten Grenzen, Statt. (…) 74 KOCHHEIM (wie Anm. 7), S. 98 ff. 75 Verordnung, die weitere Handhabung und Ergänzung der Verordnung vom 7ten d. M., über die Erklärung des Kriegszustandes, betreffend, Gesetz- und Verordnungs-Sammlung 1850, S. 53; abgedruckt bei HUBER (wie Anm. 31) Bd. 1, S. 484. 238 Matthias H. Gehm gigkeit der Justiz gemäß §§ 112, 123 der Landesverfassung.76 Am 4. Oktober 1850 machte das Oberappellationsgericht zudem eine Eingabe beim Kurfürsten, worin es sich gegen die Beseitigung der Unabhängigkeit der Rechtspflege zur Wehr setzte. Friedrich Wilhelm vertrat jedoch die Meinung, dass keine Beeinträchtigung der Rechtspflege vorliege durch den Erlass einer Verordnung aufgrund § 95 der Landesverfassung, da es sich hierbei um ein provisorisches Gesetz handle und die Gesetze auch die Justiz binden würden.77 General v. Haynau befahl nunmehr die Bildung von Kriegsgerichten aufgrund der Verordnung vom 30. September 1850. Die Offiziere, die in diese Gerichte als Richter kommandiert wurden, sowie diejenigen Offiziere, die sonstige Befehle im Hinblick auf die Umsetzung des Kriegszustandes bekamen, folgten jedoch dem Beispiel Generalleutnants Bauers und meldeten sich ebenfalls krank. Selbst von den neun kurhessischen Generalen meldeten sich sechs krank. Bei den Polizeiverbänden sah es nicht anders aus. Bei den Kriegsgerichten bestand nämlich insbesondere das Problem, dass § 114 der Landesverfassung die Einrichtung von Sondergerichten verbot.78 Am 3. Oktober 1850 sah sich General v. Haynau deshalb veranlasst, dem Kurfürsten zu melden, dass der Kriegszustand nicht durchzusetzen sei. Er versucht zwar auch noch am 9. Oktober 1850, die Offiziere zu überzeugen, dass sich aus ihrem Diensteid für sie nicht die Konsequenz ergäbe, jeden Befehl auf seine materielle Verfassungsmäßigkeit hin zu überprüfen. Vielmehr sei durch die Unterzeichnung der entsprechenden Verordnungen durch die Fachminister gemäß § 10879 der Landesverfassung die formelle Verfassungsmäßigkeit gegeben bzw. würde letztere die Verantwortung treffen, so dass die Angst vor einer späteren Bestrafung der nur ausführenden Militärs unbegründet sei. Auf § 108 hatte sich bereits, wie erwähnt, die Verordnung über die Erklärung des Kriegszustandes selbst bezogen. Dieser Argumentation lässt sich jedoch letztlich entgegenhalten, dass in § 60 der Landesverfassung ausdrücklich enthalten ist, dass keine Dienstanweisung dem Staatsdiener etwas Gesetzeswidriges abverlangen dürfe. In Verbindung mit der in dem gleichen Paragrafen formulierten Verpflichtung zur Aufrechterhaltung der verfassungsmäßigen Ordnung, was durch Diensteid zu versichern war, lässt sich somit auch durchaus die Meinung vertreten, dass den ausführenden Beamten bzw. Soldaten sehr wohl eine Verpflichtung traf, auch in materieller Hinsicht die Dienstanweisungen zu überprüfen, denn nur legale Anweisungen waren insofern für ihn verbindlich. Allein die entsprechende Unterschrift der zeichnungsbefugten Minister war ein formelles Erfordernis für das Wirksamwerden der Verordnungen, begründete aber nicht deren mate- –––––––––– 76 HUBER (wie Anm. 31) Bd. 1, S. 485; KOCHHEIM (wie Anm. 7), S. 100 ff.; KELLNER (wie Anm. 27), S. 62; ARNDT Militär und Staat in Kurhessen (wie Anm. 7), S. 229 f., 231. 77 V. NATHUSIUS: (wie Anm. 11), S. 233 f. 78 KOCHHEIM: (wie Anm. 7), S. 104 f. 79 Der Vorstand eines jeden Ministerial-Departements hat die vom Regenten in Bezug auf die Regierung und Verwaltung des Staates ausgehenden Anordnungen und Verfügungen, welche in sein Departement einschlagen, zu zeichnen, daß die betreffende Angelegenheit auf verfassungsmäßige Weise behandelt worden sey, zu kontrasigniren, und ist für die Verfassungs- und Gesetzmäßigkeit ihres Inhaltes persönlich verantwortlich. Hinsichtlich derjenigen Angelegenheiten, welche mehrere oder sämmtliche Departements betreffen, haben deren Vorstände gemeinschaftlich zu kontrasigniren, und zwar mit persönlicher Verantwortlichkeit eines Jeden für die Gegenstände seines Departements. Durch die gedachte Kontrasignatur erhalten solche Anordnungen und Verfügungen allgemeine Glaubwürdigkeit und Vollziehbarkeit. Der Verfassungskonflikt des Jahres 1850 in Kurhessen 239 rielle Verfassungsmäßigkeit.80 Interessant ist in diesem Zusammenhang der Wortlaut der Eidesformel, welche die Offiziere von 1831 bis 1850 leisten mussten – natürlich abgewandelt entsprechend den äußeren Umständen, nachdem Kurfürst Wilhelm II. gestorben war. Sie lautet: Ich gelobe und schwöre zu Gott dem Allermächtigsten einen leiblichen Eid, daß ich dem allerdurchlauchtigsten Landesfürsten Wilhelm II., Kurfürsten von Heßen und Friedrich Wilhelm, Kurprinzen und Mitregenten, in allen und jeden Vorfällen, zu Kriegsund Friedenszeiten getreu und redlich dienen, die Verfassung beobachten, die Befehle meiner Vorgesetzten genau befolgen und den Offiziersartikeln überall nachkommen wolle. So wahr mir Gott helfe und sein heiliges Wort. Amen.81 Aus dieser Eidesformel, die sich auf die Artillerie-Brigade bezog, aber von allen Truppenteilen mehr oder weniger ähnlich benutzt wurde82, ergibt sich bereits das Dilemma, auf das sich die Offiziere in ihren Abschiedsgesuchen teilweise bezogen, nämlich dass sie sowohl an die Verfassung wie an die Person des Kurfürsten durch Eid gebunden waren. Vom Kurfürsten bekam General v. Haynau die Vollmacht, renitente Offiziere zu entlassen. General v. Haynau rechnete dabei damit, dass rund 50 Prozent des gesamten Offizierskorps zu entfernen sei. Am 9. Oktober verlangte er auch von den Offizieren ultimativ, sich zu entscheiden, ob sie getreu ihrem Fahneneid zum Kurfürsten stünden oder nicht. Er selbst wurde bereits auf Betreiben des ständischen Landtagsausschusses am 4. Oktober 1850 vom Generalauditoriat wegen Verfassungsbruchs angeklagt.83 Anlass war die Entlassung des Kommandeurs der Bürgergarde Heinrich Seidler, der sich gegen General v. Haynau gestellt hatte. Begründet wurde das Vorgehen gegen v. Haynau damit, dass der Anordnung des Kriegszustandes gar keine solche Maßnahme rechtfertigende Situation zugrunde liege, da Kurhessen sich nicht im Kriege mit einem Feinde befinde, sondern nur die innere Landesverwaltung geregelt werden solle. § 95 Abs. 2 der Landesverfassung könne als Rechtsgrundlage für diese Verordnung überdies nicht dienen, da die Zustimmung des ständigen Ständeausschusses hierfür nicht vorliege.84 General v. Haynau vermochte es aber nicht mehr, die Offiziere auf Linie zu bringen. Im Gegenteil, seine Beharrlichkeit, den Kriegszustand mit dem Ultimatum vom 9. Oktober durchzusetzen, führte dazu, dass am 10. Oktober 1850 79 Prozent des Offizierskorps ihren Abschied einreichten, mithin 233 von insgesamt 296 Offizieren. Darunter befanden sich auch rund 30 Prozent der Generalität (insgesamt 4 Generale, unter ihnen Generalleutnant Bauer) und 73 Prozent der Stabsoffiziere (allein 7 Obristen). Bei den niedrigeren Offiziersdienstgeraden waren es rund 82 Prozent. Hierbei ist festzustellen, dass auch 75 Prozent der adeligen Offiziere ihren Abschied einreichten. Nur die sehr alten Offiziere, die befürchteten, ihre Pensionsansprüche zu verlieren und keinen neuen Dienstherren zu finden, verhielten sich vorsichtiger. So blieben insbesondere die Angehörigen des Invalidenkorps regierungstreu. Die Abschiedsgesuche wurden wohl, wie ihre oftmals übereinstimmenden Formulierungen schließen lassen, regelmäßig von ganzen Einheiten gemeinschaftlich abgegeben. Regelmäßig wurden als Gründe der Verfassungseid, der moralische Zwang, nichts –––––––––– 80 81 82 83 GRÄFE (wie Anm. 15), S. 89. HUBER (wie Anm. 31) Bd. 1, S. 490; FROTSCHER/PIEROTH (wie Anm. 51), Rn. 334. HUBER (wie Anm. 31) Bd. 1, S. 490; SPEITKAMP: Verfassung und Militär (wie Anm. 1), S. 159. ARNDT: Militär und Staat in Kurhessen (wie Anm. 7), S. 231 ff., 241 ff.; DERS.: Die Abschiednahme des kurhessischen Offizierkorps (wie Anm. 49), S. 79 ff.; SPEITKAMP: Revolution und Verfassungskrise (wie Anm. 2), S. 16. 84 GRÄFE (wie Anm. 15), S. 296 ff. 240 Matthias H. Gehm Ungesetzliches tun zu wollen, die Gerichtsentscheidungen sowie der Konflikt zwischen der Unvereinbarkeit von Fahnen- und Verfassungseid angegeben. 52 der Gesuche waren ohne Vorbehalt eingereicht und 181 unter dem Vorbehalt, dass man nach Beendigung des Kriegszustandes und Wiederherstellung der ordentlichen Gerichte sein Recht als Staatsdiener einklagen wolle. General v. Haynau gab am 12. Oktober 1850 den Offizieren bis zum 24. Oktober Bedenkzeit hinsichtlich ihrer Gesuche, weil man zumindest die jungen Offiziere halten wollte, während man auf die älteren höheren Offiziere, die sich als unzuverlässig erwiesen hatten, glaubte, gut verzichten zu können. Jedoch nahm nur ein Offizier hieraufhin sein Gesuch in dieser Zeit zurück.85 Aber nicht nur das Militärpersonal wurde unter Druck gesetzt von der Regierung. Mit Verordnung vom 11. Oktober 1850 wurde eine Zentralisierung der Finanzverwaltung derart verfügt, dass die direkte Einflussnahme des Finanzministeriums gestärkt wurde.86 Es folgte ein entsprechender Erlass des Finanzministeriums vom 14. Oktober 185087, wonach die Erhebung der Grund-, Gewerbe- und Klassensteuer, die Erhebung der Wege- und Brückengelder sowie die Erhebung der indirekten Abgaben einschließlich der Stempelabgabe in die unmittelbare Kompetenz des Finanzministeriums übergingen. Zusätzlich wurde aufgrund Erlasses vom 17. Oktober 185088 eine einstweilige Kommission für die Finanzverwaltung gebildet, um den Kompetenzübergang auf das Finanzministerium umzusetzen. Der Kampf um die Steuerbewilligung in der Ständeversammlung Nachdem der Verfassungskonflikt in seinen Grundzüge bereits geschildert wurde, soll aber der Blick doch noch einmal auf den näheren Verlauf im Ringen zwischen Landtag und Regierung, welches bis ins Jahr 1849 zurückreichte, gelenkt werden. Der Verfassungskonflikt entzündete sich, auch wenn die eigentlichen Gründe – wie schon angesprochen – tiefer lagen, am Steuerbewilligungs- bzw. Budgetrecht der Ständeversammlung. Dem bereits erwähnten Buch von Gräfe über den Verfassungskonflikt lassen sich wertvolle Hinweise über den Ablauf der Debatten im Landtag entnehmen. Da die Wiederberufung Hassenpflugs in der Bevölkerung wie im Parlament Entsetzen auslöste, tat bereits am 26. Februar 1850 die Ständeversammlung, dem Tag, an welchem Hassenpflug sein Regierungsprogramm im Parlament verlesen hatte, ihre diesbezügliche Besorgnis kund und machte deutlich, dass Hassenpflug nicht das Vertrauen des Landtages genieße.89 –––––––––– 85 ARNDT: Militär und Staat in Kurhessen (wie Anm. 7), S. 248 ff., 279 ff.; DERS.: Die Abschiednahme des kurhessischen Offizierkorps (wie Anm. 49), S. 87; SPEITKAMP: Verfassung und Militär (wie Anm. 1), S. 162; KOCHHEIM (wie Anm. 7), S. 105 ff.; Karl KROESCHELL: Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 3: Seit 1650, Wiesbaden 32001, S. 136; FROTSCHER/ PIEROTH (wie Anm. 51), Rn. 335. 86 Gesetz- und Verordnungs-Sammlung 1850, S. 61. 87 Ebd., S. 62. 88 Ebd., S. 63. 89 KOCHHEIM (wie Anm. 7), S. 79 f.; V. NATHUSIUS (wie Anm. 11), S. 220; GRÄFE (wie Anm. 15), S. 5 f.; GROTHE: Ludwig Hassenpflug (wie Anm. 32), S. 38 – wobei Hassenpflug selbst angab, dass das Programm gar nicht von ihm verfasst worden und letztlich keine inhaltliche, sondern eine persönliche Auseinandersetzung vom Parlament geführt worden sei. Der Verfassungskonflikt des Jahres 1850 in Kurhessen 241 Am 31. Dezember 1849 war das Finanzgesetz für das Jahr 1849 abgelaufen. Steuern und Abgaben wurden gemäß § 147 der Landesverfassung noch für sechs Monate weiter erhoben, also bis einschließlich Juni 1850. Am 14. Dezember legte der Finanzminister Carl Wilhelm Wippermann das neue Finanzgesetz nebst Haushaltsplan für die Jahre 1850 und 1851 vor. Die Ständeversammlung leitete die Entwürfe dem Finanzausschuss zur Beratung weiter. Zu den aufgeführten Staatseinnahmen gehörte das Aufkommen aus den Forsten, der Grundsteuer sowie den Verbrauchsteuern betreffend Brandwein und Bier. Die entsprechenden Gesetzesentwürfe konnten allerdings nicht umgehend abschließend beraten werden, so dass sich die Prüfung des Budgets durch den Finanzausschuss weiter verzögerte und noch am 12. März 1850 nicht beendet war. An diesem Tag teilte der neue Finanzminister Johann Carl Lometsch mit, dass sich die veranschlagten Staatseinnahmen als unrealistisch hoch erwiesen hätten, insbesondere sei das Aufkommen aus den Zöllen, den Verbrauchsteuern für Brandwein, aus den Wege- und Brückengeldern und den Forstnutzungen sowie aus dem Betrieb der Main-WeserEisenbahn um 430.000 Taler zu mindern. Auch andere aktive Haushaltsposten seien zu reduzieren, so dass die Einnahmenseite sich sowohl im Jahr 1850 als auch im Jahr 1851 um je 600.000 Taler reduziere. Zur Deckung der außerordentlichen Ausgaben der Kriegskasse und des sonstigen Staatsdefizits sollte die Ständeversammlung bewilligen, dass 644.000 Taler aus den Laudemial-90, Kauf- und Ablösungskapitalien entnommen werden könnten. Der Finanzausschuss bzw. das Parlament vertrat aber die Meinung, dass es beim derzeitigen Informationsstand die angekündigten Rückgänge in den Staatseinnahmen noch nicht abschließend beurteilen könne. Auch war in § 142 der Landesverfassung festgelegt, dass das Staatsvermögen zu erhalten sei. Hinzu kam das allgemeine Misstrauen gegenüber dem Ministerium Hassenpflug, was die Ständeversammlung am 15. März 1850 veranlasste, die Zustimmung zur vorgeschlagenen Mittelaufbringung zu verweigern, woraufhin die Ständeversammlung gemäß § 83 der Landesverfassung auf den 15. Mai 1850 vertagt wurde.91 Am 22. Mai 1850 wurde sodann dem Landtag vom Ministerium ein Gesetzesentwurf über die Ausgabe verzinslicher Staatsschuldscheine und unverzinslicher Kassenscheine von insgesamt 760.000 Talern vorgelegt. Begründet wurde dies mit einem Ausfall der Staatseinnahmen in Höhe von 405.850 Talern. Diese neue Angabe des Staatsdefizits war aber dem Finanzausschuss wiederum nicht nachvollziehbar, insbesondere war die Frage für ihn ungeklärt, in welchem Verhältnis die neuen Angaben zum Staatsdefizit zu dem früher vorgelegten Staatsgrundetat für 1850 und 1851 standen. Das Ministerium hatte insofern nach Ansicht der Abgeordneten auch nicht die Zeit seit der Vertagung des Landtages genutzt, um den Haushaltsplan transparent zu machen. Auch ging nicht hinreichend aus dem Gesetzesentwurf für die Parlamentarier hervor, wie das Ministerium gedachte, die solchermaßen aufgenommenen Staatsschulden wieder zurückzuführen. Entsprechende Nachbesserungen lehnte jedoch das Finanzministerium ab, so dass der Finanzausschuss dem Landtag die Empfehlung aussprach, die Schuldenaufnahme durch die Regierung nicht zu genehmigen, bevor nicht der Budgetausschuss den Staatshaushalt hinreichend –––––––––– 90 Laudemium = Abgabe an den Lehnsherren, gemeint sind die Einnahmen aus der Ablösung der Grundherrschaft. 91 GRÄFE (wie Anm. 15), S. 20 ff. 242 Matthias H. Gehm hätte überprüfen können. Dem Ansinnen des Finanzausschusses folgte das Parlament mit Beschluss vom 7. Juni 1850. Am gleichen Tag legte die Regierung dem Landtag einen Gesetzesentwurf wegen einstweiliger Forterhebung der Steuern und Abgaben bis 31. Dezember 1850 vor. Das Parlament wollte dem aber nicht zustimmen, bevor nicht Klarheit hinsichtlich der Haushaltslage bestand. Zudem ließ sich aus § 147 der Landesverfassung, der nur eine entsprechende Weitererhebungsfrist von sechs Monaten vorsah, keine Erhebung bis zum Jahresende 1850 rechtfertigen.92 Bei den Abgeordneten stellte sich die Vermutung ein, dass Hassenpflug seinerseits bei Offenlegung der Finanzlage des Kurfürstentums befürchtete, vom Landtag zu Einsparungen gezwungen zu werden und deshalb mit einer Verzögerungstaktik arbeitete. Am 10. Juni 1850 eröffnete die Regierung, dass sie die Absicht hätte, den Landtag aufzulösen. Der Finanzausschuss verwarf daraufhin einen Kompromissvorschlag der Regierung am 12. Juni 1850, dass eine Steuerweitererhebung zumindest für zwei Monate genehmigt werden solle. Hieraufhin verlangte Hassenpflug, dass das Parlament seiner in der Landesverfassung verankerten Verpflichtung zur Steuerbewilligung nachkommen solle. Da das Parlament jedoch jegliche Beratung hierüber ablehnte, bevor nicht der Bericht des Finanzausschusses in gedruckter Form vorliege, erfolgte die Auflösung der Ständeversammlung.93 Der nach der Landtagsauflösung nunmehr tagende ständige Ständeausschuss wurde von der Regierung gebeten, zumindest seine Zustimmung dazu zu geben, dass aufgrund § 95 der Landesverfassung die indirekten Steuern und Abgaben noch für den Monat Juli weiter erhoben werden dürften, wobei die hieraus resultierenden Einnahmen aber eingefroren werden sollten, bis der neue Landtag über das Budget entschieden habe. Insofern griff man auf eine Vorgehensweise zurück, die Hassenpflug bereits im Jahr 1834 eingeschlagen hatte. Diesem Vorschlag folgte der Ausschuss und später wurde auch für die Monate Juli und August 1850 eine entsprechende Handhabung genehmigt, obwohl man auf Seiten der Abgeordneten Zweifel hatte, ob dem nicht §§ 98, 143 und 146 der Landesverfassung entgegenstünden, da nur das gesamte Parlament im Hinblick auf Entscheidungen der Steuerbewilligung zuständig war.94 Im sich aufgrund der Neuwahlen neu konstituierenden Landtag hatten nunmehr die Demokraten gegenüber der konstitutionellen Partei eine leichte Stimmenmehrheit von 1 bis 2 Mandaten.95 Die Ständeversammlung wurde auf den 22. August 1850 zusammengerufen und am 23. August wurde zu ihrem Präsidenten der Republikaner Prof. Carl Theodor Bayrhoffer und zum Vizepräsidenten der Advokat Eduard Cöster berufen. Hassenpflug sah hierin, wie auch in der gesamten Zusammensetzung des neuen Landtags, eine Formierung der Opposition gegen seine Person.96 In der Eröffnungssitzung des Landtages wurde am 26. August 1850 ein Gesetzesentwurf97 vom Finanzminister vorge–––––––––– 92 KOCHHEIM (wie Anm. 7), S. 83. 93 GRÄFE (wie Anm. 15), S. 23 ff.; GROTHE: Ludwig Hassenpflug (wie Anm. 32), S. 67; Kurhessische Landtags-Verhandlungen, August 1850/Nr. 1, Sp. 1, Beilage 1. 94 KOCHHEIM (wie Anm. 7), S. 84 f.; GRÄFE (wie Anm. 15), S. 34 f. 95 V. NATHUSIUS (wie Anm. 11), S. 28, 218 f. 96 GROTHE: Ludwig Hassenpflug (wie Anm. 32), S. 80 f. 97 Kurhessische Landtags-Verhandlungen, August 1850/Nr. 2, Sp. 11, Beilage 2. Der Verfassungskonflikt des Jahres 1850 in Kurhessen 243 legt, wonach für den Monat September 1850 die Steuern weiter erhoben werden sollten. Zugleich sollte der Landtag dann auf Mitte September 1850 vertagt werden, wobei sodann ein neues Budget ihm zur Beratung vorgelegt werde. Da der Landtag sich solchermaßen damit konfrontiert sah, dass die Regierung wiederum die Zeit hatte verstreichen lassen, ohne ihm als Entscheidungsgrundlage für die Steuerbewilligung einen aus seiner Sicht tragfähigen Haushaltsplan vorzulegen, wurde am 28. August 185098 ein entsprechendes Misstrauensvotum gegen das Ministerium Hassenpflug formuliert.99 Am 30. August 1850 wurde über eine Unterstützung für Schleswig-Holstein beraten. Die beiden Herzogtümer führten nach dem Rückzug Preußens zu jener Zeit auf sich allein gestellt den Krieg gegen Dänemark weiter. Eberhard vertrat die Meinung, dass man diese Unterstützung nicht bis zur Bewilligung des Budgets verschieben könne und war insofern bereit, schon vorher sozusagen diesen einzelnen Punkt des Haushalts zu genehmigen.100 Insofern bahnte sich schon ein moderaterer Kurs an, der mit der Regierung den Konsens suchte. Ansonsten wurde in der Debatte aber der Regierung bewusste Verzögerungstaktik bei der Vorlage des Budgets vorgeworfen sowie die Person von Hassenpflug scharf kritisiert, insbesondere auch in Bezug auf seine Hinwendung zur Bundesversammlung. Der Abgeordnete und ehemalige Finanzminister Wippermann vertrat hinsichtlich der Steuerfrage zudem die Ansicht, dass der ständige Landtagsausschuss seine Kompetenzen überschritten habe, als er der Regierung die Weitererhebung der Steuern genehmigt habe. Denn § 95 der Landesverfassung wäre dafür keine Rechtsgrundlage, weshalb man eine solche Verfahrensweise zukünftig unterbinden müsse. Die Abgeordneten Heinrich Henkel und Eberhard, die dem Ausschuss angehört hatten, rechtfertigten diese Vorgehensweise damit, dass die Zolleinnahmen nicht hätten unerhoben bleiben können, weil diese zum überwiegenden Teil nicht Kurhessen, sondern den anderen Zollvereinsstaaten zugestanden hätten, so dass Regressforderungen von rund 100.000 Talern monatlich auf das Land zugekommen wären und sich zudem die Gefahr ergeben hätte, dass ausländische Produkte ungehemmt den inländischen Markt überschwemmt und das einheimische Gewerbe geschädigt hätten.101 Ein entsprechender Untersuchungsbericht vom 29. August 1850 kam allerdings zu dem Ergebnis, dass der ständige Parlamentsausschuss seine verfassungsmäßigen Kompetenzen überschritten habe.102 Der Finanzausschuss beriet den Gesetzesentwurf der Regierung und empfahl in seiner Mehrheit dem Landtag, dass der Forterhebung der direkten Steuern, nicht aber der indirekten Steuern, schon zuzustimmen sei, allerdings unter der Bedingung, dass die entsprechenden Einnahmen eingefroren würden.103 Letztlich wurde dies damit begründet, dass eine Aufschiebung der Erhebung von indirekten im Unterschied zu den direkten Steuern schon vollziehungstechnisch nicht möglich sei. Die endgültige Entscheidung in der Steuerfrage könne aber erst nach Vorlage des Budgets erfolgen. Der Vertreter des Finanzministeriums Geheimer Oberfinanzrat Wilhelm Duysing versuchte den Landtag an seine Verpflichtung zur Steuerbewilligung –––––––––– 98 99 100 101 102 103 Kurhessische Landtags-Verhandlungen, August 1850/Nr. 3, Sp. 1, Beilage 3. KOCHHEIM: (wie Anm. 7), S. 86; GRÄFE: (wie Anm. 15), S. 35 f. Kurhessische Landtags-Verhandlungen, August 1850/Nr. 5, Sp. 6. Ebd., Sp. 7 ff., Beilage 1. Ebd., Nr. 4, Sp. 3, Beilage 4. Ebd., Nr. 6, Sp. 2 f., Beilage 6 und 7. 244 Matthias H. Gehm zu erinnern und gab zudem zu bedenken, dass es sich ja nur um eine provisorische Bewilligung handle, bis das Finanzministerium das Finanzgesetz vorgelegt habe. Zudem würde ein Einfrieren der Steuergelder nichts bringen, weil die Gläubiger des Fiskus ohnehin in die hinterlegten Finanzmittel vollstrecken könnten und bei den Zoll- und gemeinschaftlichen Übergangsabgaben Kurhessen des Weiteren nur ein Anteil von 1/24 zustünde.104 Insbesondere bei letzterem Punkt konterte Wippermann, dass natürlich nur entsprechend dem eigenen Anteil die indirekten Steuern deponiert werden sollten.105 Der Abgeordnete Gottlieb Theodor Kellner stellte die Frage der Steuerbewilligung jedoch in einen größeren Zusammenhang: In diesem Augenblicke ist die kurhessische Ständekammer die einzige Kammer, welche versammelt ist, während in Frankfurt das Werk des Bundestags seine geheimnisvollen Fäden webt, während in Frankfurt bereits jene dunkelen Entwürfe vorbereitet werden, eine Wiederholung jener Ausnahmebeschlüsse, sei es ganz oder theilweise, welche wir in den dreißiger Jahren ebenfalls über uns hereinbrechen sahen. Es ist die einzige Kammerversammlung, außer vielleicht binnen kurzer Zeit die Kammern in Hessen-Darmstadt, welche durch ein offenes und entschiedenes Entgegentreten für ganz Deutschland gegen das alte System der Unterdrückung Protest ablegen kann, der in anderen Ländern unmöglich ist. (…) Es frisst sich das Uebel weiter fort und fort, bis zuletzt das ganze Volk in einem Sumpf von Gleichgültigkeit oder von Unmoralität versunken ist. Dahin vor allem will es jene Macht bringen, welche man mit dem Namen Absolutismus bezeichnet. (…) Wir werden also, wenn wir entschieden mit dem Ministerium brechen, insofern als wir auf keine Vorlage von demselben eingehen, ein Bekenntniß vor dem Volke ablegen, was in der hereinbrechenden dunkelen Nacht als ein leuchtender Stern dient, nach welchem man aus den Sternen der Zukunft sich zurecht finden kann. (…) Die Kämpfe in den dreißiger Jahren sind von unserer Seite, von Seite der Ständeversammlung fortwährend auf den einzigen Punkt gerichtet gewesen, die Regierung des Landes, das Ministerium unter den Willen der Ständeversammlung zu beugen. Das ist der einzige Punkt, der in der Verfassungsurkunde fehlt, das ist die organische Spitze, die in der Verfassungsurkunde hätte enthalten sein müssen.106 Der Landtag war sich aber in seiner Ablehnung des Regierungsgesetzesentwurfs keinesfalls einig. Der Abgeordnete Henkel trat weitergehend dafür ein, dass auch die direkten Steuern weiter erhoben werden sollten, da eine entsprechende Steuerpause dazu führen könnte, dass die Bürger im Glauben, endgültig von der Steuer verschont zu sein, entsprechend disponierten und eine Nacherhebung zu einem späterem Zeitpunkt nicht mehr auf die nötige Akzeptanz beim Steuerzahler stieße.107 Auch der Landtagspräsident warnte davor, der Forderung der Regierung nicht Folge zu leisten, da hierin ein revolutionärer Akt gesehen werden könne – zumal die Regierung ja angekündigt habe, ein ordnungsgemäßes Finanzgesetz bis September 1850 vorzulegen – und dies den reaktionären Kräften nur den gewünschten Anlass zum Losschlagen geben würde, abgesehen davon, dass man Friedrich Wilhelm die nötige Zeit geben müsse, sich mit dem Misstrauensvotum auseinander zu setzen und man –––––––––– 104 105 106 107 Ebd., Nr. 6, Sp. 4, 31, 40. Ebd., Sp. 47. Ebd., Sp. 6 f. Ebd., Sp. 18. Der Verfassungskonflikt des Jahres 1850 in Kurhessen 245 den Staat nicht ins finanzielle Desaster laufen lassen könne.108 Am 31. August 1850 beschloss entsprechend dem Vorschlag des Finanzausschusses die Mehrheit des Parlaments jedoch nach kontroverser Diskussion diese Handhabung für die Steuern der Monate Juli bis September 1850. Letztlich machte das Parlament klar, dass es sich nicht um eine Steuerverweigerung, sondern eine Ausgabenverweigerung aufgrund des Umstandes, dass insoweit keine Prüfung des Haushaltsplanes gemäß § 144 bzw. § 145 der Landesverfassung erfolgen konnte, handelte bzw. nur eine Steuersuspension vorliege. Daraufhin ließ die Regierung am 2. September 1850 den Landtag auflösen, wobei die entsprechende Verordnung hierzu bereits am 1. September erlassen wurde.109 In der Folgezeit bemühte sich wiederum die Regierung, den ständigen Ständeausschuss zu bewegen, einer entsprechenden Notverordnung in Hinblick auf die Steuererhebung gemäß § 95 Landesverfassung zuzustimmen. Gemäß § 95 Abs. 2 S. 2 der Landesverfassung war die Zuziehung des ständigen Landtagsausschusses hierfür notwendig. Dieser vertrat jedoch unter dem Eindruck des entsprechenden Untersuchungsberichts vom 29. August 1850 die Auffassung, dass man sich bei der Steuererhebung nicht auf § 95 beziehen und eine solchermaßen hierfür notwendige Verfassungsänderung nach § 153 der Landesverfassung nicht durch den Ausschuss, sondern nur den Landtag selbst herbeigeführt werden könne. Als die Verständigung der Regierung mit dem Ausschuss solchermaßen gescheitert war, wurde die bereits erwähnte Notverordnung der Regierung vom 4. September 1850 über die Steuererhebung erlassen und der ständige Ständeausschuss kündigte sofort hierauf an, Anklage nach § 61 Landesverfassung erheben zu wollen.110 Hassenpflug vertrat in dieser Beziehung die Rechtsauffassung, dass § 95 Abs. 2 S. 2 ausdrücklich nur von der Zuziehung des Ausschusses, nicht aber von dessen Zustimmung spreche, weshalb die Regierung dieser Bestimmung Genüge geleistet habe durch die entsprechende Einladung zum Gespräch. Dass diese ausgeschlagen worden sei, eröffne nunmehr der Regierung die Möglichkeit, in eigner Kompetenz tätig zu werden.111 Zugegebener Maßen wird man bei dem Konflikt in der Steuerfrage Hassenpflug nicht die Alleinschuld zuweisen können, was die Eskalation anbelangt, vielmehr ging es dem Landtag – wie die Rede von Abgeordneten Kellner zeigt – wenn vielleicht auch nicht in seiner Mehrheit nur, so zumindest aber auch darum, sein Ministerium zu stürzen, so dass auch insoweit der Steuerkonflikt mangels eines entsprechenden wirksamen verfassungsrechtlichen Instrumentariums zur Durchsetzung dieses eigentlichen Zieles ein Stück weit missbraucht wurde, wobei aber wiederum andererseits Hassenpflug auch seinerseits diesen Konflikt missbrauchte, um das Parlament auszuschalten.112 –––––––––– 108 Ebd., Sp. 23. 109 Verordnung, die Auflösung der gegenwärtigen Ständeversammlung betreffend, Gesetz- und Verordnungs-Sammlung 1850, S. 39; V. NATHUSIUS (wie Anm. 11), S. 229; GRÄFE (wie Anm. 15), S. 37 ff.; Kurhessische Landtags-Verhandlungen, August 1850/Nr. 7, Sp. 1 ff., August 1850/Nr. 8, Sp. 1 ff. 110 KOCHHEIM (wie Anm. 7), S. 87 ff.; GRÄFE (wie Anm. 15), S. 44 ff. 111 GROTHE (wie Anm. 32), S. 82; V. NATHUSIUS (wie Anm. 11), S. 232 f. 112 V. NATHUSIUS (wie Anm. 11), S. 221 ff.; HERRMANN (wie Anm. 60), 209. 246 Matthias H. Gehm Die Rolle des Oberappellationsgerichts im kurhessischen Verfassungskonflikt Soweit noch nicht in den vorherigen Abschnitten behandelt, soll sowohl die Rolle des Oberappellationsgerichts im Verfassungskonflikt als auch dessen rechtliche Legitimation und den juristischen Weg hin zur Verwerfung der Steuernotverordnung beleuchtet werden. § 154 der Landesverfassung sah ein Schiedsverfahren bei Streitigkeiten zwischen der Staatsregierung und der Ständeversammlung bezüglich der Auslegung von Verfassungsnormen vor. Obwohl hier in Bezug auf § 95 der Landesverfassung gerade ein solcher Streit vorlag, haben die Kontrahenten diesen Weg gerade nicht eingeschlagen.113 Die Verfassungsnorm, die das Oberappellationsgericht zum Staatsgerichtshof machte, war jedoch nicht § 95, sondern § 100 der Landesverfassung.114 Wie bereits erwähnt, hatte das Oberappellationsgericht am 12. September 1850115 im Zuge einer Normenkontrolle entschieden, dass die Steuernotverordnung vom 4. September 1850 verfassungswidrig und daher nichtig sei. Dies wurde mit Anzeige vom 13. September 1850 an das Justizministerium116 damit begründet, dass § 95 der Landesverfassung auf Steuergesetze keine Anwendung finden könne, da gerade § 146 der Landesverfassung festlegte, dass Steuergesetze nur mit der Zustimmung der Landstände ihre Wirksamkeit erhielten.117 Diese Argumentation entsprach auch der Lesart der Mehrheit der Ständeversammlung, die zusätzlich noch auf § 143 S. 2 der Landesverfassung abstellte, der besagte: „Ohne landständische Bewilligung kann vom Jahre 1831 an weder in Kriegsnoch in Friedens-Zeiten eine direkte oder indirekte Steuer, so wenig, als irgend eine sonstige Landes-Abgabe, sie habe Namen, welchen sie wolle, ausgeschrieben oder erhoben werden (…).“118 Zudem ergab sich aus § 95 Abs. 2 S. 1 der Landesverfassung, dass die Verordnungskompetenz, wenn nicht eine Zuziehung des landständischen Ausschusses erfolgte, auf gesetzesabhängige, nämlich handhabende und vollziehende Verordnungen beschränkt war und nicht den Weg zum Erlass gesetzesersetzender Verordnungen der Regierung eröffnete.119 Weiterhin vertrat das Oberappellationsgericht die Meinung, dass die Regierung sich hinsichtlich der Notverordnung nicht auf Bundesrecht derart berufen könne, dass dieses das Landesverfassungsrecht ausheble.120 Interessant ist, wie es überhaupt zu dieser Entscheidung kam. Das Oberappellationsgericht hatte nicht etwa in einem Verfahren, welches direkt mit dem Verfassungskonflikt etwas zu tun hatte, diese Entscheidung gefällt. Der Weg hin zu dieser Entscheidung führte vielmehr über den Umweg, dass die Steuernotverordnung – wie auch schon die Diskussion im Landtag – sich auf Steuern und Abgaben bezog. Da jedes Gericht eine Stempelabgabe auf seine Urteile zu erheben hatte, musste das Ober–––––––––– 113 114 115 116 117 118 119 120 V. NATHUSIUS (wie Anm. 11), S. 233. KOTULLA: (wie Anm. 24), Rn. 1453; KELLNER: (wie Anm. 27), S. 37 Abgedruckt bei HUBER (wie Anm. 31) Bd. 1, S. 479. Abgedruckt bei HUBER (wie Anm. 31) Bd. 1, S. 480. KOCHHEIM: (wie Anm. 7), S. 94 ff.; KELLNER: (wie Anm. 27), S. 61. GRÄFE (wie Anm. 15), S. 34, 45. KELLNER (wie Anm. 27), S. 58. V. NATHUSIUS (wie Anm. 11), S. 231. ff., 55. Der Verfassungskonflikt des Jahres 1850 in Kurhessen 247 appellationsgericht in einem Zivilverfahren – Gerhold gegen Gerhold wegen Abtretung von Grundstücken – darüber entscheiden, ob es überhaupt berechtigt war, aufgrund der Verordnung vom 4. September 1850 diese Abgabe einzufordern. Mithin handelte es sich um keine abstrakte, sondern eine konkrete sowie keine prinzipale, sondern inzidente Normenkontrolle.121 Was die Kompetenz des Oberappellationsgerichts zu dieser Entscheidung anbelangt, so hatte dieses Gericht die Funktion eines Staatsgerichtshofs schon vor der Verfassungsgebung im Jahre 1831 inne. Da der Landgraf von Hessen bereits 1742 von Kaiser Karl VII. das unbeschränkte privilegium de non appellando erhalten hatte, war der Rechtsweg zum Reichskammergericht nicht mehr gegeben.122 Insofern wurde durch landesherrliches Edikt vom 26. November 1743 die Errichtung des Oberappellationsgerichts in Kassel angeordnet und mithin der Grundstein für den kurhessischen Staatsgerichtshof gelegt, wobei nicht unerwähnt bleiben soll, dass bereits aufgrund entsprechender beschränkter Appellationsprivilegien im Jahr 1567 in Marburg ein Samtrevisions- und Oberappellationsgericht für die gesamte Landgrafschaft Hessen errichtet wurde und 1656 ein solches für Hessen-Kassel. Diese Gerichte verloren aber alsbald wieder ihre Bedeutung bzw. wurden wieder aufgelöst. Zu der Entscheidungskompetenz des 1743 eingerichteten Oberappellationsgerichts gehörten schon damals Streitigkeiten zwischen dem Landesherren und seinen Untertanen. In dem Edikt vom 26. November 1743 war auch für diese Streitigkeiten die Unabhängigkeit der Richter des Oberappellationsgerichts verbürgt. Insofern betrachtete sich das Oberappellationsgericht im Verfassungskonflikt sodann auch von seinem Selbstverständnis her und aufgrund dieser längeren Tradition mit entsprechendem Selbstbewusstsein ausgestattet als Bewahrer ständischer Mitwirkungsrechte.123 Jedoch wird man in der Landesverfassung von 1831 vergeblich eine Norm suchen, die expressis verbis dem Oberappellationsgericht das Recht zur Normenkontrolle einräumt – auch dem § 100 der Landesverfassung ist hierzu nichts Näheres zu entnehmen. Vielmehr ist über die Person des Kurfürsten in § 10 der –––––––––– 121 KELLNER (wie Anm. 27), S. 61; HUBER (wie Anm. 31) Bd. 1, S. 479; HERRMANN (wie Anm. 60), S. 209; SEIER Revolution in Kurhessen (wie Anm. 1), S. 53. Von einer konkreten Normenkontrolle spricht man, wenn diese im Zuge eines konkreten anderen Verfahrens notwendig wird, sich also hier die Frage ergibt, ob der anzuwendende Rechtssatz mit höherrangigem Recht in Einklang steht und folglich Rechtsverbindlichkeit für sich beanspruchen kann. Eine abstrakte Normenkontrolle ist demgegenüber eine solche, die losgelöst von einem konkreten Rechtsstreit angestrengt wird, etwa auf Antrag von Parlamentsabgeordneten, die die entsprechende Norm überprüft wissen möchten. Prinzipal ist eine Normenkontrolle, die sich direkt gegen das entsprechende Gesetz wendet, während sie inzident ist, wenn die Gültigkeit der Norm vorfrageweise zu entscheiden ist, ohne dass diese den unmittelbaren Anfechtungsgegenstand bildet – vgl. Klaus WEBER (Hg.): Creifelds Rechtswörterbuch, München 182004, S. 935 f. – Normenkontrolle; Hubertus GERSDORF: Verfassungsprozeßrecht und Verfassungsmäßigkeitsprüfung, Heidelberg 2000, Rn. 22 f.; DEGENHART (wie Anm. 6), Rn. 762 ff., Gerhard ROBBERS: Einführung in das deutsche Recht, Baden-Baden 42006, S. 73. 122 Ulrich EISENHARDT: Deutsche Rechtsgeschichte, München 31999, Rn. 369 ff.; Rudolf GMÜRR: Grundrisse der deutschen Rechtsgeschichte, Frankfurt a. M. 41987, Rn. 227; Friedrich EBEL und Georg THIELMANN: Rechtsgeschichte – Von der Römischen Antike bis zur Neuzeit, Heidelberg 3 2003, Rn. 254. 123 HERRMANN (wie Anm. 60), S. 212; KELLNER (wie Anm. 27), S. 29 f. 248 Matthias H. Gehm Landesverfassung ausgesagt: „Der Kurfürst ist das Oberhaupt des Staates, vereinigt in sich alle Rechte der Staatsgewalt.“ Er hat lediglich diese Gewalt in verfassungsmäßiger Weise auszuüben, die Verfassung stand aber nicht über seiner Person.124 Demgegenüber stellte § 84 der Paulskirchenverfassung vom 28. März 1849 die Reichsverfassung insofern über die Person des Kaisers, als dieser nur „die Regierungsgewalt in allen Angelegenheiten des Reiches nach Maßgabe der Reichsverfassung“ innehatte, also seine Position gerade aus der Verfassung selbst ableitete, während der Kurfürst von Hessen per se die Staatsgewalt genuin inne hatte. Entsprechend wie die Paulskirchenverfassung war auch der Erfurter Unionsvertrag vom 28. Mai 1849 – § 82 – in Bezug auf die Person des Reichsvorstandes formuliert. Insofern war die Beanspruchung des Rechts auf (inzidente) Normenkontrolle durch das Oberappellationsgericht und hiermit die Beanspruchung des Rechts, kurfürstliche Verordnungen für nichtig zu erklären, über die bestehende kurhessische Verfassungssituation zumindest dem Wortlaut nach hinausgegangen, beschnitt also die Kompetenz des Kurfürsten im bisher nicht bekanntem Ausmaß und orientierte sich mithin an dem moderneren Verfassungsrecht der Zentralgewalt. Denn die Paulskirchenverfassung hatte dem Verfassungsrecht volle Geltung und Vorrang vor anderen Rechtsnormen beigelegt und dem Bürger einen Rechtsschutz wegen Verletzung der Reichsverfassung zugesprochen.125 Insoweit lag hier unter Berücksichtigung der Wertungen der Reichsverfassung richterliche Rechtsfortbildung vor.126 In der Verfassungskrise des Jahres 1850 wurde denn auch von Zeitgenossen dem Oberappellationsgericht unter Zurückziehung allein auf die landesrechtliche Verfassungslage der Vorwurf gemacht, sich (nur) von dem Gedanken leiten gelassen zu haben, durch seine Vorgehensweise ein neues Ministerium bilden zu können.127 Der Rechtsauffassung des Oberappellationsgerichts in Bezug auf die Nichtigkeit der Steuernotverordnung schlossen sich in der Folgezeit fünf der insgesamt sechs kurhessischen Obergerichte an, nur das Obergericht in Marburg vertrat die Ansicht, dass das Vorgehen der Regierung in Bezug auf die Erhebung der indirekten Steuern nicht zu beanstanden sei, da man sich insofern mit dem Landtag geeinigt hatte und diesbezüglich nur noch Dissens in der Frage der Einnahmenverwendung bestünde.128 Das Oberappellationsgericht hatte demgegenüber ausdrücklich entschieden, dass die Steuernotverordnung auch in Bezug auf die indirekten Abgaben keine Wirksamkeit beanspruchen könne. Der Anklage des ständigen landständischen Ausschusses gegen Hassenpflug und andere Minister wegen Verfassungsverletzung und Hochverrats vom 10. September 1850 sowie am 27. September 1850 wegen Amtsmissbrauchs respektive am 1. Oktober 1850 im Hinblick auf die Verordnung vom 28. September 1850 gegenüber dem Oberappellationsgericht blieb demgegenüber der Erfolg versagt, weil der Ausschuss selbst –––––––––– 124 125 126 127 VORLÄNDER (wie Anm. 20), S. 64 f. SCHLAICH/KORIOTH (wie Anm. 60), Rn. 107. HERRMANN (wie Anm. 60), S. 212 f. Leopold Friedrich ILSE: Die geheimen Bundes-Protokolle in der Kurhessischen Verfassungsangelegenheit, Hamburg 1854, S. 6. 128 KOCHHEIM (wie Anm. 7), S. 96. Der Verfassungskonflikt des Jahres 1850 in Kurhessen 249 nicht aktiv legitimiert war, sondern die Klagebefugnis gemäß § 100 Landesverfassung nur dem Landtag selbst zukam.129 Durch letzteren Umstand erweist sich, dass das Oberappellationsgericht nicht geneigt war, sich um jeden Preis zu einem Instrument einer Seite im Verfassungskampf zu machen, sondern sich prinzipiell an der bestehenden Rechtslage orientierte, auch wenn hinsichtlich der Beanspruchung der Normenkontrollkompetenz es eine über den Verfassungstext hinausgehende Interpretation vornahm. Der Kurhessische Verfassungskonflikt und seine außenpolitischen Folgen Der kurhessische Verfassungskonflikt trug durchaus Sprengstoff in sich, aus welchem sich eine gesamtdeutsche Eskalation hätte ergeben können. Denn es bestand die Gefahr, dass sich ein ernsthafter bewaffneter Konflikt zwischen Preußen und Österreich hieraus entwickelt hätte. Hintergrund des Konflikts war, dass Kurhessen nach Meinung Preußens das Bundesschiedsgericht der Erfurter Union hätte anrufen müssen.130 Tatsächlich wandte sich die kurhessische Regierung aber an den auf Initiative Österreichs wiedereröffneten deutschen Bundestag in Frankfurt a. M. Offen war in diesem Zusammenhang nach der Selbstauflösung des Bundestages im Jahr 1848 zudem die Frage, was für eine Rolle dieser nunmehr überhaupt noch spielen konnte und ob noch das alte Bundesrecht galt, insbesondere, ob die Steuerverweigerung in einem Bundesstaat Anlass für eine Bundesintervention gemäß Art. 25 und 26 sowie 31 der Wiener Schlussakte vom 15. Mai 1820 sein konnte.131 Preußen besaß zudem aus dem Jahr 1834 ein Durchmarschrecht für das kurhessische Territorium und Österreich und die anderen dem Bundestag angehörigen Staaten strebten ihrerseits die Bundesintervention in Bezug auf Kurhessen an. Preußen fürchtete durch diese Intervention in seinen militärischen und politischen Interessen in Bezug auf Kurhessen verletzt zu werden und wandte sich deshalb hiergegen. Insbesondere lag Preußen an einem Sturz von Hassenpflug, der mit seinem proösterreichischen Kurs preußische Interessen zu verletzen drohte. Insoweit war Preußen –––––––––– 129 KELLNER (wie Anm. 27), S. 63; KOCHHEIM (wie Anm. 7), S. 106 ff. 130 Vgl. auch § 124 lit. e des Erfurter Unionsvertrages vom 28. Mai 1849 – abgedruckt bei HUBER (wie Anm. 31) Bd. 1, S. 435 sowie speziell § 4 lit. a Nr. 3 und 4 bzw. lit. b der Übereinkunft über das Erfurter Schiedsgericht vom 26. Mai 1849 – abgedruckt bei HUBER (wie Anm. 31) Bd. 1, S. 429. 131 KOCHHEIM (wie Anm. 7), S. 109 f.; Hans-Ulrich WEHLER: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, 3. Bd. Von der „Deutschen Doppelrevolution“ bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 18491914, München 22006, S. 207; KOTULLA (wie Anm. 24), Rn. 1559 ff., 1568 ff. Von der Bundesintervention unterschied sich die Bundesexekution, die in Art. 31 bis 34 der Wiener Schlussakte geregelt war. Die Exekution wurde gegen Regierungen vollzogen, die Bundesrecht verletzten. So bestand im Jahr 1832 für Großherzog Leopold die Gefahr einer Bundesexekution, weil Baden ein zu liberales Presserecht eingeführt hatte. Allerdings wird fälschlicher Weise oftmals in der Literatur – bereits bei Zeitgenossen – von einer Bundesexekution gegen Kurhessen gesprochen; dies mag sich daraus begründen, dass der Bundesbeschluss vom 16. Oktober 1850 auch auf Art. 31 der Wiener Schlussakte Bezug nahm und von „Executionsmaaßregeln“ sprach – vgl. SCHIEDER (wie Anm. 51), S. 101; KELLNER (wie Anm. 27), S. 25 f.; GRÄFE (wie Anm. 15), S. 240 ff. 250 Matthias H. Gehm bereit, die Opposition gegen Hassenpflug in Kurhessen zu unterstützen. Daher schickte man auch in geheimer Mission einen Stabsoffizier nach Kurhessen, der das kurhessische Offizierskorps in seiner Ablehnung der Vorgehensweise Hassenpflugs bestärken sollte.132 Österreich schloss mit Bayern und Württemberg am 12. Oktober 1850 in Bregenz ein Bündnis ab, wobei sich die vertragsschließenden Parteien verpflichteten, den Bundestag weiterhin anzuerkennen und die Intervention in Kurhessen zu starten. Durch Bundesbeschluss vom 16. Oktober 1850 wurde schließlich die Bundesintervention auf den Weg gebracht.133 Mit Bekanntmachung vom 28. Dezember 1850134 informierte die kurhessische Regierung die Bevölkerung über die bevorstehende Bundesintervention und rechtfertigte diese Maßnahme. Auch wurden die Notverordnungen nochmals verteidigt und als zusätzliches Argument ihrer Verfassungsmäßigkeit angeführt, dass diese ja sowieso nur vorübergehende Maßnahmen gewesen seien. Am 1. November 1850 marschierte im Auftrag Österreichs der bayerische General Karl Theodor Fürst Thurn und Taxis mit seinen Truppen von Süden her in Kurhessen ein, während Hannover aufgrund des Bundesbeschlusses vom 16. Oktober 1850 verpflichtet wurde, mit Truppen die Grenzen zu Hessen-Kassel hin abzusichern. Am 2. November 1850 erfolgte der preußische Einmarsch unter General Carl von der Gröben von Norden her. Infolge dessen kam es bei Bronzell am 8. November 1850 zu einem Zusammentreffen zwischen preußischen und bayerischen Truppen mit Schusswechsel. Dass der Krieg zwischen Österreich und Preußen sich nicht schon 1850 entzündete, sondern erst 1866, lag einmal an dem Umstand, dass sich Preußen nicht gerüstet für eine solche Konfrontation betrachtete – insbesondere die Mobilmachung erwies sich schon in Preußen als Fiasko, wo man Probleme hatte, die über Baden, den Raum Schleswig-Holstein und Posen verteilten Verbände überhaupt zu einem Aufmarsch zu koordinieren135 – und andererseits am Berliner Hof einflussreiche Kreise jegliche nationale Einigungspläne zu hintertreiben versuchten. Auch international wurde Preußen unter Druck gesetzt; so unterstützte der russische Zar Nikolaus I., der nach der Niederwerfung des ungarischen Aufstandes in Mitteleuropa beherrschend geworden war und König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen bereits gezwungen hatte, am 2. Juli 1850 mit Dänemark Frieden zu schließen, die Position des Kurfürsten, so dass Preußen seinerseits von einer weiteren Unterstützung der kurhessischen Opposition absehen musste. Schließlich musste Preußen in der Olmützer Punktation vom 29. November 1850136 der Auflösung der Erfurter Union zustimmen. Am 22. Dezember 1850 besetzen Bundestruppen Kassel in einer Gesamtstärke von rund 5.000 bayerischen und österreichischen Soldaten, nachdem zuvor der preußische General Wilhelm Ferdinand Joseph v. Tietzen in die Stadt einmarschiert war. Bis auf wenige Einheiten verließen die Preußen alsbald Kassel wieder.137 –––––––––– 132 133 134 135 136 137 ARNDT: Die Abschiednahme des kurhessischen Offizierkorps (wie Anm. 49), S. 85. Abgedruckt bei HUBER (wie Anm. 31) Bd. 1, S. 487. Gesetz- und Verordnungs-Sammlung 1850, S. 65. Militärhistorisches Forschungsamt (wie Anm. 8), S. 172. Abgedruckt bei HUBER (wie Anm. 31) Bd. 1, S. 449. KOCHHEIM: (wie Anm. 7), S. 120; Reinhold ZIPPELIUS: Kleine deutsche Verfassungsgeschichte, München 51999, S. 112; SCHIEDER (wie Anm. 51), S. 100 f.; ENGEHAUSEN (wie Anm. 51), Der Verfassungskonflikt des Jahres 1850 in Kurhessen 251 Die Folgen des Verfassungskonflikts Als am 1. November 1850 bayerische Truppen die kurhessische Grenze überschritten hatten, wurde den 52 Abschiedsgesuchen entsprochen, die vorbehaltslos von kurhessischen Offizieren gestellt worden waren. Die mit entsprechendem Vorbehalt versehenen wurden zurückgewiesen und den Antragsstellern aufgegeben, sich zu entscheiden, ob sie in der Armee verbleiben oder ausscheiden wollten. Die verbleibenden Offiziere mussten daraufhin entsprechende Verpflichtungserklärungen unterschreiben, dass sie den Regierungsverordnungen zukünftig Folge leisten würden. Durch diesbezügliche Anordnungen vom 10. bzw. 11. Dezember 1850138 wurde eine verbindliche Auslegung des Verfassungseides dergestalt vorgenommen, dass er nicht zur Befehlsverweigerung berechtige. Schließlich wurde am 8. Februar 1851139 durch Entscheidung des Kurfürsten der Verfassungseid der Unteroffiziere und Mannschaften, welcher am 6. Juni 1848 durch die Ständeversammlung veranlasst eingeführt worden war, aufgehoben. Gleiches erfolgte durch Anordnungen vom 26. Juni 1851140 in Bezug auf den Offiziersverfassungseid. Da mit der Niederlage Preußens sich die Opposition jeder Unterstützung beraubt sah, war der Widerstand des Offizierskorps ohnehin bereits zuvor zusammengebrochen. Viele Entlassene, nämlich 44 der insgesamt 52, versuchten wieder in Dienst zu kommen, zumindest viele der höheren Ränge wurden allerdings abgelehnt.141 Auch das Oberappellationsgericht geriet zunehmend unter Druck und erklärte schließlich am 18. Dezember 1850142 die Steuernotverordnung für vorläufig vollziehbar, da es sich nunmehr bei Fragen der Steuererhebung weisungsgebunden erachtete, nachdem es noch in seinen Sitzungen vom 9. und 12. Dezember 1850 die gegenteilige Meinung vertreten hatte. In der Folgezeit wurde das Oberappellationsgericht weiter entmachtet. Am 19. Dezember 1850143 unterwarf sich das Oberappellationsgericht schließlich endgültig der Steuerverordnung vom 4. September 1850. Eine Untersuchungskommission aus österreichischen und bayerischen Offizieren kam zu dem Ergebnis, dass Kern des Boykotts die kurhessische Generalität gewesen sei, Generalleutnant Bauer wurde insbesondere kritisiert und General v Haynau als durchsetzungsschwach beurteilt. Bundeskommissare überwachten die Verhältnisse in –––––––––– 138 139 140 141 142 143 S. 255 ff.; ARNDT: Militär und Staat in Kurhessen (wie Anm. 7), S. 229, 267 ff., 273 f., Dietmar WILLOWEIT: Deutsche Verfassungsgeschichte – Vom Frankenreich bis zur Wiedervereinigung Deutschlands, München 31997, § 32, I.1; LANGEWIESCHE (wie Anm. 4), S. 67 – die preußische Unterwerfung galt vielen Liberalen damals als Verrat an der preußischen Mission, eine kleindeutsche Lösung herbeizuführen. Abgedruckt bei HUBER (wie Anm. 31) Bd. 1, S. 491. Abgedruckt bei HUBER (wie Anm. 31) Bd. 1, S. 492. Gesetz und Verordnungs-Sammlung 1851, S. 17 abgedruckt bei HUBER (wie Anm. 31) Bd. 1, S. 493. SPEITKAMP: Verfassung und Militär (wie Anm. 1), S. 162; v. NATHUSIUS (wie Anm. 11), S. 254 ff. Abgedruckt bei HUBER (wie Anm. 31) Bd. 1, S. 488; KELLNER (wie Anm. 27), S. 62; KOCHHEIM (wie Anm. 7), S. 118 ff. Abgedruckt bei HUBER (wie Anm. 31) Bd. 1, S. 489. 252 Matthias H. Gehm Kurhessen und die Durchsetzung eines reaktionären Regierungskurses.144 Am 26. Dezember 1850 wurden dann weitere Zusammenkünfte des ständischen Landtagsausschusses durch den österreichischen Bundeskommissar Christian Graf von NeuLeiningen-Westerburg verboten.145 Die Grundrechte der Paulskirchenverfassung wurden überdies durch Bundesbeschluss vom 23. August 1851 in allen Staaten aufgehoben.146 Am gleichen Tag erging auch der so genannte Bundesreaktionsbeschluss, auf Grund dessen ein „Bundesreaktionsausschuss“ gebildet wurde, der als Kontrollorgan darüber wachte, dass in den Einzelstaaten keine zu liberalen Verfassungszustände herrschten.147 Als weitere Folge des Verfassungskonflikts wurden viele rebellierende Offiziere und Beamte von einem Bundeskriegsgericht verurteilt. Auch die Abgeordneten wurden zum Teil mit Gerichtsverfahren überzogen bzw. mit Zwangseinquartierungen (Strafbayern) belegt. Letzteres traf auch die Richter, die sich mit ihren Entscheidungen gegen die Regierung gestellt hatten. Viele der Richter nahmen daraufhin ihren Abschied.148 Der Konflikt war damit aber nicht ausgestanden. Der Kurfürst konnte immerhin am 13. April 1852 eine neue Verfassung oktroyieren, die ein Zweikammersystem mit plutokratischem Wahlrecht einführte und die Befugnisse des Landtags insbesondere bei der Steuerbewilligung bzw. dessen Budgetrecht beschnitt und das parlamentarische Gesetzesinitiativrecht abschaffte sowie den Verfassungseid und die Ministeranklage beseitigte bei Wiederherstellung der uneingeschränkten Kommandogewalt des Kurfürsten über die Streitkräfte.149 Vorausgegangen war ein entsprechender Beschluss der Bundesversammlung vom 27. März 1852150, vorbereitet durch die in Kurhessen befindlichen Bundeskommissare151, wonach dieser die kurhessische Verfassung nebst den in den Jahren 1848/49 durchgeführten Änderungen und dem Wahlgesetz nicht mit Bundesrecht verein–––––––––– 144 Ausschreibung des Gesammt-Staatsministeriums vom 28. Oktober 1850, Gesetz- und VerordnungsSammlung 1850, S. 66: Bestellung des österreichischen Kommissars Johann Bernhard Graf von Rechberg und Rothenlöwen; Ausschreibung des Gesammt-Staatsministeriums vom 18. Dezember 1850, Gesetz- und Verordnungs-Sammlung 1850, S. 67: Bestellung des österreichischen Kommissars Feldmarschall-Leutnant Graf Christian von Neu-Leiningen- Westerburg. 145 V. NATHUSIUS (wie Anm. 11), S. 256 f. 146 Abgedruckt bei Ernst Rudolf HUBER: Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 2, Stuttgart 31986, S. 2. 147 Abgedruckt bei HUBER (wie Anm. 146) Bd. 2, S. 1; HOLLENBERG (wie Anm. 11), S. 69; ARNDT: Militär und Staat in Kurhessen (wie Anm. 7), S. 281 ff.; KOTULLA: (wie Anm. 24), Rn. 1528 ff., 1548 ff. 148 KOCHHEIM (wie Anm. 7), S. 111 ff.; V. NATHUSIUS (wie Anm. 11), S. 240 ff. 149 V. NATHUSIUS: (wie Anm. 11), S. 31 f., 300 ff.; HUBER: (wie Anm. 31) Bd. 1, S. 496; Manfred BOTZENHART: Deutsche Verfassungsgeschichte 1806-1949, Stuttgart, 1993, S. 127; KOTULLA (wie Anm. 24), Rn. 1542, 1840; SPEITKAMP: Verfassung und Militär (wie Anm. 1), S. 163; FROTSCHER/PIEROTH (wie Anm. 51), Rn. 337; Hans BOLDT: Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 2 Von 1806 bis zur Gegenwart, München 21993, S. 107; GROTHE: Konstitutionalismus in der Dauerkrise (wie Anm. 11), S. 120; SEIER: Modernisierung und Integration in Kurhessen (wie Anm. 21), S. 460. 150 Im Kurfürstentum durch Verordnung vom 13. April 1852 publiziert. Abgedruckt bei HUBER (wie Anm. 31) Bd. 1, S. 495. 151 ILSE (wie Anm. 127), S. 10 f. Der Verfassungskonflikt des Jahres 1850 in Kurhessen 253 bar erklärte und daher vorgeblich auf Art. 61 und 27 der Wiener Schlussakte begründet außer Wirksamkeit setzte. Insbesondere wurde der Offizierseid, das Gesetzesinitiativrecht des Landtages gemäß § 97 sowie § 144 der Landesverfassung, wonach Steuern zeitlich begrenzt auf drei Jahre bewilligt wurden, kritisiert. Allerdings verlangte der Bundestag eine nachträgliche Zustimmung der Stände und unterstrich damit, dass gemäß Art. 13 der Bundesakte dem Volk eine hinreichende Teilhabe an der öffentlichen Gewalt zu geben ist. Die Einmischung der Bundesversammlung dergestalt, dass einer Landesregierung die Schaffung neuen Verfassungsrechts aufgegeben wurde, war aber eine klare Überschreitung der Befugnisse und nicht durch die Bundesintervention abgedeckt.152 Außerdem war das Vorgehen von Friedrich Wilhelm auch unter Beachtung des Art. 16 der Wiener Schlussakte nicht unproblematisch, da dieser bestimmte, dass grundsätzlich landständische Verfassungen nur auf verfassungsmäßigem Wege wieder abgeändert werden könnten. Der Hader mit dem Parlament setzte sich fort und in Folge dessen wurde Hassenpflug im Jahr 1855 abermals entlassen. Auch nachdem die Zweite Kammer im Jahr 1857 der oktroyierten Verfassung zugestimmt hatte, gab es weitere Querelen, da eine Revision eingefordert wurde. Schließlich wurde 1858 die Zustimmung widerrufen. Auch Landtagsauflösungen halfen hier dem Kurfürsten nicht weiter. Es kam in der Folgezeit zu Wahlboykott und Steuerverweigerung. Als die Situation zunehmend eskalierte, übten Preußen und Österreich Druck auf den Kurfürsten aus. Die Sanktionen Preußens gingen so weit, dass die diplomatischen Beziehungen im Mai 1862 zu Kurhessen abgebrochen und zwei Armeekorps gegen das Land in Marschbereitschaft versetzt wurden. Daraufhin beugte sich schließlich der Kurfürst und verfügte am 21. Juni 1862 die Wiederherstellung der Verfassungssituation von 1831. Allerdings war auch dies noch nicht der Endpunkt der Auseinandersetzung des Kurfürsten mit dem Parlament. So musste der preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck im November 1862 abermals entsprechend beim Kurfürsten vorstellig werden und der Konflikt zog sich bis zum Jahr 1866 hin, dem Jahr, in welchem Kurhessen von Preußen aufgrund des Ausgangs des preußischösterreichischen Krieges annektiert wurde.153 Das Zerwürfnis zwischen Volk und der politischen wie militärischen Führungsschicht auf der einen und dem Kurfürst auf der anderen Seite blieb mithin bis zum Jahr 1866 bestehen und manifestierte sich nochmals darin, dass der Landtag gegen die Mobilmachung Einspruch beim Kurfürsten erhob, der jedoch hieran festhielt und somit den Untergang seines Staates verursachte.154 In diesem Zusammenhang sei auch betont, dass das Militär in Kurhessen über das Jahr 1850 hinaus oppositionell blieb und weiterhin sich nach Preußen ausrichtete. Daraus begründet sich auch, dass sich die kurhessischen Streitkräfte 1866 kampflos den Preußen ergaben und in der Folgezeit problemlos im preußischen Militär aufgingen.155 –––––––––– 152 KOTULLA (wie Anm. 24), Rn. 1566; ILSE (wie Anm. 127), S. 10 ff., 28 ff. 153 FRANZ: Das Haus Hessen (wie Anm. 11), S. 148 f., 152 ff.; MEYER/STOLLEIS (wie Anm. 22), S. 23 f.; FRANZ/MURK (wie Anm. 22), S. 225 f.; GROTHE: Zwischen Vision und Revision (wie Anm. 11), S. 232 ff.; SEIER: Modernisierung und Integration in Kurhessen (wie Anm. 21), S. 460 ff.; SPEITKAMP: Revolution und Verfassungskrise (wie Anm. 2), S. 16. 154 SEIER: Modernisierung und Integration in Kurhessen (wie Anm. 21), S. 463. 155 ARNDT: Die Abschiednahme des kurhessischen Offizierkorps (wie Anm. 49), S. 89 f. 254 Matthias H. Gehm Resümee Aus diesem historischen Ablauf wird ersichtlich, dass der Verfassungskonflikt von 1850 kein singuläres Ereignis in Kurhessen war, sondern sich in ein Kontinuum einbetten lässt, was den Kampf zwischen Monarch und Parlament anbelangt. So sprachen die Zeitgenossen seit den dreißiger Jahren des 19. Jahrhundert auch sprichwörtlich von „kurhessischen Zuständen“.156 Insofern ist es zutreffend, wenn Nipperdey Kurhessen als das „Land des permanenten Verfassungskonflikts“ bezeichnet.157 Zugestehen muss man aber in diesem Zusammenhang, dass auch in vielen anderen Staaten die Revolution von 1848/49 kein Ereignis war, das nicht einen entsprechenden Vorlauf hätte aufweisen können, indes ein solch durchgehend roter Faden des Handlungsablaufs – weit vor dem Jahr beginnend – ist ein gewisses Spezifikum. Damit war die Frage der Steuerbewilligung im Jahr 1850 letztlich nur der Anlass für die Eskalation einer tiefer sitzenden Entfremdung zwischen Krone und Parlament. Aber dieses Recht war eben in traditioneller europäischer Verfassungstradition das Kernstück des Parlamentarismus, an dem Hassenpflug die Entmachtung des Landtages vorexerzieren wollte und umgekehrt die Ständeversammlung ihrerseits ihr vergleichsweise stärkstes Recht in der Landesverfassung zu instrumentalisieren suchte, um Hassenpflug zu Fall zu bringen. Zugegebener Maßen war – wenn auch teilweise in milderer Form – doch in ganz Deutschland feststellbar, dass sich Parlament und Monarch nicht vorbehaltlos gegenüber standen und nach den Ereignissen von 1848/49 die Monarchie trotz eines in den ersten Jahren hiernach zumindest in vielen deutschen Staaten einsetzenden Reaktionskurses angeschlagen blieb, auch wenn ihr Ende auf gesamtdeutscher Bühne erst im Jahre 1918 eintrat.158 Anders als Bismarck im preußischen Verfassungskonflikt – jenem weiteren historischen Beispiel einer zugespitzten Auseinandersetzung in Bezug auf das Budgetbzw. Steuerbewilligungsrecht zwischen Monarchie und Parlamentarismus – der in den Nationalliberalen Bündnispartner fand159, gelang es den Protagonisten des kurhessischen Verfassungskonflikts auf Seite der Reaktion – Kurfürst Friedrich Wilhelm und Hassenpflug – nicht, diesen zu überwinden und schließlich eine Mehrheit im Parlament für sich zu gewinnen. Insbesondere die Persönlichkeit von Kurfürst Friedrich Wilhelm hat viel zur Eskalation der Lage beigetragen. Dass eine solchermaßen verhasste Person wie Hassenpflug abermals zum leitenden Minister berufen wurde, war kein Zufall, sondern entsprach den reaktionären Tendenzen des Kurfürsten. Friedrich Wilhelm war eben nicht mit einem „Bürgerkönig“ wie Großherzog Leopold von Baden vergleichbar, dem eher noch von den anderen Bundesfürsten der Vorwurf gemacht wurde, zu liberal –––––––––– 156 GROTHE: Zwischen Vision und Revision (wie Anm. 11), S. 232. 157 Thomas NIPPERDEY: Deutsche Geschichte 1800-1866, Bürgerwelt und starker Staat, München 1998, S. 375; ebenso GROTHE: Konstitutionalismus in der Dauerkrise (wie Anm. 11), S. 120. 158 Michael STOLLEIS: Konstitution und Intervention – Studien zur Geschichte des öffentlichen Rechts im 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2001, S. 164, 167 ff. 159 THIER (wie Anm. 18), S. 647 ff.; Michael STÜRMER: Das ruhelose Reich – Deutschland 18661918, München 2004, S. 146; Helmut M. MÜLLER: Schlaglichter der deutschen Geschichte, Bonn 1996, S. 172; NIPPERDEY (wie Anm. 157), S. 749 ff.; Sebastian HAFFNER: Preußen ohne Legende, Hamburg 21981, S. 348 ff. Der Verfassungskonflikt des Jahres 1850 in Kurhessen 255 und nachgiebig gegenüber seinem Landtag zu agieren –. Letzteres erwies sich auch dadurch, dass Preußen dem badischen Großherzog quasi die Zügel aus der Hand nahm und unerbittlich gegen die Revolution in Baden vorging.160 Zuzugestehen ist auch, dass der Verfassungskonflikt entbrannte, weil sich anders als in Hessen-Darmstadt oder Nassau die Bevölkerung Kurhessens nicht ohne Gegenwehr einen Kurs der Reaktion gefallen ließ, der die Zugeständnisse der Jahre 1848/49 zu revidieren suchte.161 Insofern wird man, wenn man denn die Ereignisse des Jahres 1848/49 als „Revolution“ bezeichnen will, den Verfassungskonflikt als Appendix dieser Revolution betrachten können. Allerdings erachtet der Verfasser den Begriff der Revolution singulär auf Kurhessen bezogen nicht für angemessen, wenn auch die Reformära der Jahre 1848/49 in Kurhessen nur möglich war, weil eben der Landesherr unter dem Eindruck der zeitgleich sich abspielenden revolutionären Ereignisse in Europa stand. Auch ging es dem Kurfürsten nicht nur darum, die Zugeständnisse der Jahre 1848/49 rückgängig zu machen, sondern sein Trachten zielte seit vielen Jahren darauf ab, den Zustand vor 1831, dem Jahr der Verfassungsgebung in Kurhessen, wiederherzustellen. Schließlich hat die Untersuchung gezeigt, dass es sich bei den Vorgängen in Kurhessen nicht um eine Jugendrevolte handelte, wie etwa noch bei der Erhebung der badischen Truppen im Jahr 1849. Waren es dort gerade die jungen Soldaten, von denen die Meuterei ausging und blieb das Offizierkorps gegenüber der badischen Revolutionsregierung unter Lorenz Brentano großteils ablehnend eingestellt, so war es in Kurhessen das militärische Establishment, das sich auflehnte.162 Dass die Garde du Corps gegenüber dem Landesherrn loyal blieb, ist allerdings vergleichbar der Rolle, die die badischen Dragoner im Jahr 1849 spielten. Dies mag darin begründet sein, dass diese Waffengattung noch sehr in ihrem Selbstverständnis als Kavallerie von dem Nimbus der früheren aristokratischen Ritterheere geprägt war, was beim Garde du Corps als Kürassiereinheit und Leibgarde des Kurfürsten um so ausgeprägter erscheint. Auch mag es eine gewisse Trotzreaktion dieser Formation gewesen sein, die sich durch die liberalen Kräfte gedemütigt sah, indem ihre Herabstufung zu einer Husareneinheit erfolgte. Zudem wird man konstatieren müssen, dass in Kurhessen es der Landesherr war, der das Recht brach, während dies in Baden gerade nicht der Fall war. Insofern versuchte hier wie dort das Offizierskorps nur, sich rechtstreu zu verhalten. Daraus ergibt sich zugleich, dass es in der kurhessischen Armee keine tief greifende Veränderung im Vergleich zu den Verhältnissen der Jahre 1848 und 1849 gab. Wurde in jener Zeit die Truppe sogar auf Geheiß des Märzministeriums gegen revolutionäre Umsturzversuche in ganz Deutschland eingesetzt, befand sie sich auf legalem Boden, was eben beim Staatsstreich des Jahres 1850 nicht mehr der Fall gewesen ist und hier die kurhessische Regierung sich selbst ins –––––––––– 160 Harm-Hinrich BRANDT: Badens Beitrag zur Bismarckތschen Reichsgründung, S. 163-185, 166, in: Paul-Ludwig WEINACHT (Hg.): Baden 200 Jahre Großherzogtum – Vom Fürstenstaat zur Demokratie, Freiburg i. B. 2008; Uwe A. OSTER: Die Großherzöge von Baden 1806-1918, Regensburg 2007, S. 124 ff., 148 ff. 161 SPEITKAMP: Revolution und Verfassungskrise (wie Anm. 2), S. 15; Hansmartin SCHWARZMAIER: Baden, Dynastie – Land – Staat, Stuttgart 2005, S. 215 ff. 162 Sabina HERMES und Joachim NIEMEYER: Unter dem Greifen – altbadisches Militär von der Vereinigung der Markgrafenschaft bis zur Reichsgründung 1771-1871, Rastatt 1984, S. 111 ff. 256 Matthias H. Gehm Unrecht setzte. Ein naives Verhalten, wie dies Speitkamp den kurhessischen Offizieren durch ihr Festhalten am Verfassungseid bescheinigt, vermag der Verfasser nicht zu erkennen. Auch der Umstand, dass sich viele der entlassenen Offiziere wegen finanzieller Not veranlasst sahen, nach Beendigung des Konflikts wieder in Dienst zu treten, kann nicht eine Relativierung dergestalt begründen, dass die opponierenden Militärs letztlich doch der Mut verlassen hatte und ihr Widerstand wirkungslos verhallte. Des Weiteren vermag auch die Motivation einiger Offiziere, bei Beteiligung am Rechtsbruch der Regierung Hassenpflug ggf. juristische Konsequenzen hinnehmen zu müssen, angesichts der sich abzeichnenden Intervention der anderen Staaten zu Gunsten Friedrich Wilhelms, ihr Aufbegehren nicht zu banalisieren. Allein dass viele kurhessische Offiziere den Schritt trotz zu erwartender harter persönlicher Konsequenzen getan haben und sich damit der Willkür von Hassenpflug und Friedrich Wilhelm widersetzten, stellt, wie SEIER163 sagt, einen avantgardistischen Vorgang dar und macht die Tat dieser Offiziere auch aus heutiger Sicht noch zu einem bewundernswerten Beweis von Courage.164 –––––––––– 163 SEIER: Modernisierung und Integration in Kurhessen (wie Anm. 21), S. 460. 164 SPEITKAMP: Verfassung und Militär (wie Anm. 1), S. 163.