Einsichten und Perspektiven
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Einsichten und Perspektiven
Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit 4|08 Einsichten und Perspektiven Bayerische Zeitschrift für Politik und Geschichte Europäische Sicherheit nach dem Georgien-Krieg • Ideen einer Pax Germanica nach 1990 • Bevölkerungs- und Wirtschaftsentwicklung im vereinten Deutschland • Das Reichskristallnachtpogrom und seine juristische Aufarbeitung • Die Signifikanz der Nürnberger Prozesse Einsichten und Perspektiven Autorinnen und Autoren dieses Heftes Impressum Prof. Dr. Alexander Gallus ist seit 2006 Juniorprofessor für Einsichten Zeitgeschichte am Historischen Institut der Universität Rostock. und Perspektiven Prof. Dr. Günther Heydemann hat seit 1993 den Lehrstuhl für Verantwortlich: Neuere und Zeitgeschichte an der Universität Leipzig inne und Werner Karg, ist u.a. Mitglied des wissenschaftlichen Fachbeirats der Bundes- Praterinsel 2, stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur in Berlin. 80538 München Prof. Dr. Carlo Masala ist Professor für Internationale Politik Redaktion: am Institut für Politikwissenschaft der Universität der Bundes- Monika Franz, Werner Karg wehr München. Gestaltung: Dr. Edith Raim arbeitet am Institut für Zeitgeschichte in Mün- Griesbeckdesign chen, derzeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt „Die www.griesbeckdesign.de Verfolgung der NS-Verbrechen durch deutsche Justizbehörden seit 1945“. Druck: creo Druck & Prof. Dr. Christoph J. M. Safferling, LL.M. (LSE) hat die Pro- Medienservice GmbH, fessur für Strafrecht, Strafprozessrecht, Internationales Strafrecht Gutenbergstraße 1, und Völkerrecht am Institut für Kriminalwissenschaften und In- 96050 Bamberg stitut für Rechtsvergleichung an der Philipps-Universität in Marburg inne. Er leitet hier auch das Forschungs- und Dokumentati- Titelbild: Altersspezifisches onszentrum für Kriegsverbrecherprozesse. Wandervolumen in Deutschland in Gegenwart und Zukunft, vgl. S. 266. Die Landeszentrale konnte die Urheberrechte nicht bei allen Bildern dieser Ausgabe ermitteln. Sie ist aber bereit, glaubhaft gemachte Ansprüche nachträglich zu honorieren. 238 Einsichten und Perspektiven 4 | 08 Einsichten und Perspektiven Inhalt 240 250 262 Alexander Gallus Ideen einer Pax Germanica nach 1990. Betrachtungen zum Erbe des deutschlandpolitischen „dritten Wegs“ Günther Heydemann Bevölkerungs- und Wirtschaftsentwicklung im vereinten Deutschland zwischen Wachstumsund Schrumpfungsprozessen 277 Veranstaltungshinweis Bilanz und Vorausschau Große Koalition und Bundestagswahl 2009 278 Edith Raim Das Reichskristallnachtpogrom und seine juristische Aufarbeitung 288 Einsichten und Perspektiven 4 | 08 Carlo Masala Europäische Sicherheit nach dem Georgien-Krieg Christoph Safferling Die Signifikanz der Nürnberger Prozesse 239 Europäische Sicherheit nach dem Georgien-Krieg Europäische Sicherheit nach dem Georgien-Krieg Von Carlo Masala Gori, August 2008 240 Foto: ullstein bild Einsichten und Perspektiven 4 | 08 Europäische Sicherheit nach dem Georgien-Krieg Der folgende Beitrag geht der Frage nach, welche Veränderungen sich für Sicherheit und Stabilität in und für Europa infolge des Georgien-Krieges erkennen lassen und wie sich diese möglicherweise auf die europäische Sicherheit auswirken bzw. auswirken werden. Es bedarf wohl keiner näheren Erläuterung, dass der russisch-georgische Krieg im Sommer 2008 für Europa eine Zäsur darstellte. Wie sich diese auf die Kooperation der Staaten des europäischen Kontinentes konkret auswirken wird, ist heutzutage nur schwer einzuschätzen. Dazu sind viele Entwicklungen entweder noch im Embryonalstadium oder sie befinden sich in flux. Deshalb muss jedes Spekulieren über die Auswirkungen der GeorgienKrise auf die europäische Sicherheit von einem festen theoretischen Fundament ausgehen, damit aus Spekulationen begründete Spekulationen werden, die für den Leser nachvollziehbar und somit auch diskutierbar respektive kritisierbar werden. Dies will der vorliegende Beitrag dadurch leisten, dass er zunächst – in gebotener Kürze – darlegt, von welchen theoretischen Prämissen die Überlegungen des Verfassers geleitet werden, um sich danach der Frage zuzuwenden, was durch den Georgien-Krieg verändert wurde und was nicht. In einem dritten Schritt wird die Frage gestellt, welche Auswirkungen sich durch die Veränderungen möglicherweise für die europäische Sicherheit ergeben werden bzw. bereits in nuce zu erkennen sind. Theoretische Vorüberlegungen Der vorliegende Beitrag geht von den neorealistischen Prämissen1 aus, wonach Außen- und Sicherheitspolitik sich in einem dezentralisierten anarchischen Selbsthilfesystem vollziehen, in dem Staaten unter den Bedingungen eines Macht- und Sicherheitsdilemmas agieren und interagieren.2 Aus dieser Grundkonstellation resultiert ein kompetitiver Charakter in den zwischenstaatlichen Beziehungen. Da keine effektive übergeordnete Instanz existiert, die für Ordnung und Sicherheit im internationalen System Sorge tragen kann, stellen staatliche Existenzerhaltung und ggf. Exis- tenzentfaltung Probleme ersten Ranges dar. In ihren zwischenstaatlichen Beziehungen sind Staaten stets mit dem Problem der Macht konfrontiert bzw. ihr ausgesetzt, sodass Kooperation zwar nicht unmöglich, aber schwierig ist, da eine übergeordnete Instanz fehlt, die den an der Kooperation beteiligten Staaten Erwartungssicherheit hinsichtlich der voraussichtlichen Kosten/Nutzen bietet bzw. einen Ausgleich zwischen Vor- und Nachteilen gewähren kann. In dieser Perspektive ist Außen- und Sicherheitspolitik immer Machtpolitik. Ausgehend von dieser – zugegebenermaßen – sehr holzschnittartigen Skizzierung der theoretischen Grundannahmen stellt sich nunmehr die Frage, welche Veränderungen sich im Internationalen System des 21. Jahrhunderts abzeichnen und wie diese auf die internationale Politik wirken. Veränderungen Das Ende des Ost-West-Konflikts hat eine entscheidende und einschneidende Veränderung mit Blick auf die Machtverteilung zwischen den Großmächten im internationalen System nach sich gezogen, die fälschlicherweise von einigen Wissenschaftlern3 und vor allem von der öffentlichen Meinung als Unipolarität charakterisiert wird. Ein genauer Blick auf die gegenwärtig zwischen den Großmächten existierende Machtverteilung, die an dieser Stelle nicht ausführlich beschrieben werden kann, offenbart, dass es sich bei der gegenwärtigen internationalen Konstellation um ein multipolares System mit unipolarem sicherheitspolitischem Kern handelt,4 in dem die USA auf Grund ihrer militärischen Stärke eine besondere, jedoch nicht die herausragende Stellung einnehmen. 1 Vgl. Carlo Masala, Kenneth Waltz, Eine Einführung und Auseinandersetzung mit seinen Kritikern, Baden-Baden 2005. 2 Vgl. John H. Herz, Weltpolitik im Atomzeitalter, Stuttgart 1961, S. 130–131. 3 William Wohlforth/Stephen G. Books, International Relations Theory and the Case Against Unilateralism, in: Perspectives on Politics, Bd. 3, Nr. 3, September 2005, S. 509–524. 4 Vgl. ausführlicher dazu: Carlo Masala, Den Blick nach Süden. Die NATO im Mittelmeerraum (1990–2003), Baden-Baden 2005, Kapitel II. Einsichten und Perspektiven 4 | 08 241 Europäische Sicherheit nach dem Georgien-Krieg Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen tagt in einer außerordentlichen Sitzung zum Georgien-Krieg, New York, August 2008. Foto: ullstein bild Ziel jeder amerikanischen Administration war es bislang, die herausgehobene Position der USA im internationalen System beizubehalten und sie sogar noch auszubauen. Auch der zukünftige Präsident der USA, Barack Obama, hat sich in seinen bisherigen Wahlkampfreden in diese Tradition eingeordnet und die Stärkung der amerikanischen Machtposition als Ziel seiner Administration hervorgehoben.5 Konsequenzen Welches sind nunmehr die Konsequenzen, die aus der Grundstruktur des internationalen Systems für die Außenund Sicherheitspolitik Europas resultieren? Im Folgenden werden vier Auswirkungen näher zu betrachten sein. Dies sind im Einzelnen der Aufstieg von Großmächten, die Schwächung multilateraler Institutionen, das Ende des politischen Westens und die Rückkehr des zwischenstaatlichen Krieges nach Europa. Der Aufstieg von Großmächten. Nicht erst seit dem russisch-georgischen Krieg vom Sommer 2008 ist die Tendenz zu beobachten, dass regionale Mächte mit zunehmendem Selbstbewusstsein und ordnungspolitischem Anspruch auf die Bühne der internationalen Politik zurückgekehrt sind. Insbesondere Russland und China machen aus ihrem Anspruch, regionale Ordnungsmächte zu sein, keinen Hehl und betreiben, teils offen, teils verdeckt eine „strategy-of-denial“-Politik, die darauf abzielt, den militärischen, politischen und ökonomischen Einfluss der USA in ihren jeweiligen Regionen zurückzudrängen.6 Aber auch Brasilien und Indien entwickeln sich zu selbstbewussten regionalen Großmächten, die zunehmend die institutionellen Strukturen der in Zeiten des Ost-WestKonfliktes aufgebauten Weltordnung in Frage stellen.7 All diesen aufsteigenden Mächten ist gemein, dass sie (noch?) keine offen revisionistische Politik betreiben, die 5 Vgl. Barack Obama: Renewing American Leadership, in: Foreign Affairs Juli/August 2007, unter: http://www.foreignaffairs.org/20070701faessay86401/barack-obama/renewing-american-leadership.html (Stand: 4. 12. 2008). 6 Zu Russland siehe Monica Duffy Toft, Russia’s Recipe for Empire, unter: http://www.foreignpolicy.com/story/cms.php?story_id=4462 (Stand: 4. 12. 2008); zu China vgl. Thomas Christensen, Fostering Stability or Creating a Monster? The Rise of China and U.S. Policy toward East Asia, in: International Security 31 (2006) 1, S. 81–126. 7 Vgl. Sarah Sewall, A Strategy of Conservation: American Power and the International System, Harvard Kennedy School (Faculty Research Papers) Mai 2008 (RWP08-028), S. 8. 242 Einsichten und Perspektiven 4 | 08 Europäische Sicherheit nach dem Georgien-Krieg auf eine revolutionäre Umgestaltung der gegenwärtigen internationalen Ordnung abzielt. Jedoch gibt es bereits Anzeichen dafür, dass einige dieser Staaten neben der machtpolitischen Konkurrenz zu den Vereinigten Staaten auch einen ordnungspolitischen Dissens bei der Interpretation staatlicher Souveränität zu westlichen Staaten suchen. Die von europäischen Staaten sowie den USA in der letzten Dekade zusehends aufgeweichte Souveränitätsnorm, wonach interne Angelegenheiten eines Staates unter gewissen Umständen (Genozid, ethnische Vertreibungen) das Eingreifen anderer Staaten zur Pflicht machen (responsability to protect8) wird von diesen aufsteigenden Mächten abgelehnt. An die Stelle einer Aufweichung der Souveränitätsnorm betonen diese Staaten (insbesondere Russland und China) die fortdauernde Relevanz des Nichteinmischungsprinzips.9 Wie sich der Aufstieg neuer Großmächte in Zukunft in concreto vollziehen wird, ob kooperativ oder konfrontativ, ist eine Frage, die aus der heutigen Sicht nicht beantwortet werden kann. Gleichwohl ist es jedoch bereits jetzt absehbar, dass das zukünftige internationale System ein multipolares sein wird. Die Frage, ob diese Multipolarität eine stabile oder instabile10 sein wird, hängt maßgeblich davon ab, ob die aufsteigenden Mächte die neue Ordnung als eine legitime, somit ihren Interessen dienlich, oder illegitime perzipieren werden. Sollte letzteres der Fall sein, so ist eine Rückkehr zu einer globalen Politik der Konfrontation nicht auszuschließen. Die Schwächung multilateraler Institutionen. Es ist bereits angedeutet worden, dass die neuen aufstrebenden Großmächte die multilaterale Ordnung der Zeit des Ost-WestKonflikts zunehmend in Frage stellen. Doch auch seitens der Staaten, die maßgeblich am Aufbau dieser Ordnung beteiligt waren (allen voran die USA), wird die etablierte multilaterale Ordnung zunehmendem Druck ausgesetzt. Denn seit dem Ende des Ost-West-Konflikts lehnen die USA zwar nicht den Multilateralismus als System der zwischenstaatlichen Beziehungen ab, torpedieren jedoch einen vertragsbasierten Multilateralismus, der ihre eigene Handlungsfreiheit (aus amerikanischer Perspektive) unnötig einschränkt.11 An die Stelle vertraglich basierter und damit handlungseinschränkend wirkender multilateraler Institutionen setzen die Vereinigten Staaten zunehmend auf informelle Gremien (wie z.B. die Proliferation-Security-Initiative), die aus ihrer Perspektive flexibler und effektiver sind und die die reale Machtverteilung zwischen den USA und den anderen an solchen Initiativen beteiligten Staaten widerspiegeln. Die zunehmende Abkehr der USA von tradierten Institutionen (insbesondere im sicherheitspolitischen Bereich) wirkt darüber hinaus unmittelbar auf die europäische Sicherheitspolitik, auf Grund der Tatsache, dass eine Reihe von europäischen Staaten Mitglied der NATO ist. Aus amerikanischer Sicht ist die Allianz ein zu vernachlässigendes Instrument ihrer politischen und militärischen Machtprojektion gewor- 8 Vgl. Allen Buchanan/Robert O.Keohane, The Legitimacy of Global Governance Institutions, in: Ethics and International Affairs, 20 (2006) 4, S. 405–437. 9 Vgl. Joint statement on a new world order in the 21st century issued by China and Russia on 04/07/2005, unter http://au.china-embassy.org/eng/xw/t202227.htm (Stand: 4. 12. 2008). 10 Zu der Unterscheidung zwischen stabiler und instabiler Multipolarität siehe John J. Mearsheimer, The Tragedy of Great Power Politics, New York 2001, Chapter 8. 11 Vgl. G. John Ikenberry, Is American Multilateralism in Decline?, in: Perspectives on Politics, 1 (2003) 3, S. 533–550. Einsichten und Perspektiven 4 | 08 243 Europäische Sicherheit nach dem Georgien-Krieg Karikatur: Götz Wiedenroth den, wenn sie nicht zur Durchsetzung amerikanischer Interessen genutzt werden kann. Da nach dem Ende des OstWest-Konfliktes Interessendivergenzen zwischen den USA und insbesondere den „alten europäischen“ NATO-Mitgliedern in nahezu allen politischen und militärischen Fragen vorherrschen,12 ist seitens der amerikanischen Administration, aber auch der außenpolitischen Eliten am Potomac13 ein zunehmendes Desinteresse an der Allianz zu konstatieren. An die Stelle von Politik im Rahmen von Institutionen tritt zunehmend Politik außerhalb von Institutionen, in Direktoraten oder sogenannten Koalitionen „der Willigen“ und Fähigen. Die Schwächung multilateraler Institutionen ist jedoch nicht nur auf der globalen Ebene zu konstatieren und nicht nur durch die USA verursacht, sondern vollzieht sich auch regional. Durch ihre Erweiterung nach Osten bei gleichzeitig ausbleibender Vertiefung ist auch der europäische Handlungsrahmen der Bundesrepublik Deutschland in eine schwere Krise geraten, und zwar nicht nur hinsichtlich der institutionellen Weiterentwicklung der EU, sondern auch ihre Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik betreffend. Insbesondere die Fragen, wie die Beziehungen zu den USA und zu Russland zukünftig gestaltet werden sollen, spaltet die Unionsmitglieder. Die meisten osteuropäischen Staaten würden eine Konzeption befürworten, in der Europa unter amerikanischer Hegemonie eine konfrontative Politik gegenüber der Russischen Föderation betreibt, was von den meisten Gründungsmitgliedern der EU abgelehnt wird. Dieser konzeptionelle Dissens lähmt die konsequente Wei- 12 Vgl. Helga Haftendorn, Das Ende der alten NATO, in: Internationale Politik 4/2002, S. 49–54. 13 So haben sich beide Kandidaten im aktuellen Präsidentschaftswahlkampf kaum zur Allianz und ihrer Bedeutung für die Außen- und Sicherheitspolitik der USA geäußert. 244 Einsichten und Perspektiven 4 | 08 Europäische Sicherheit nach dem Georgien-Krieg Karte: www.welt-atlas.de terentwicklung der GASP (Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik) und vor allem der ESVP (Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik) hin zu Instrumenten politischer und militärischer Machtprojektion der EU.14 Das Ende des politischen Westens. Die skizzierte Schwächung der beiden – für die Außen- und Sicherheitspolitik Europas zentralen multilateralen Institutionen – fördert eine Einsicht zu Tage, der sich die meisten führenden Politiker der Bundesrepublik Deutschland bis heute verwehren: nämlich die Tatsache, dass der Westen als politische Handlungseinheit nicht mehr existiert. Zwar werden die europäischen Staaten und die USA auch weiterhin durch ihre gemeinsame Geschichte und Kultur aufs Engste verbunden bleiben. Daraus aber zu folgern, dass sie auch zukünftig eine stabile politische Handlungseinheit bilden werden, ist verfehlt.15 Nach dem Wegfall des gemeinsamen Feindes werden die USA und Europa nur noch auf einer Ad-hoc-Basis, wenn Interessenidentität besteht, gemeinsam handeln, bei Interessendivergenzen zwischen den USA und den Europäern, aber auch unter den Europäern selbst wird Außen- und Sicherheitspolitik im transatlantischen und europäischen Rahmen durch Koalitionen der Willigen und Fähigen dominiert sein. Diese werden sich teils der vorhandenen Institutionen bedienen, wenn dies jedoch nicht möglich sein sollte, auch außerhalb dieser handeln. Die Rückkehr des zwischenstaatlichen Krieges nach Europa. Die militärische Auseinandersetzung zwischen Russland und Georgien im Sommer dieses Jahres hat deutlich gemacht, dass ein längst vergangen geglaubtes Szenario die Bühne europäischer Politik wieder betreten hat: der zwischenstaatliche Krieg. Kriege zwischen Staaten in Europa, so die bislang gängige Meinung, waren theoretisch zwar nicht auszuschließen, wurden jedoch von sicherheitspolitischen Planern als Residualkategorie betrachtet, deren Wahrscheinlichkeit eher gering war. Die militärische Auseinandersetzung zwischen Russland und Georgien hat jedoch deutlich gemacht, dass der zwischenstaatliche Krieg zwischen europäischen Staaten beileibe kein 14 Daniela Kietz/ Volker Perthes (Hg.): Handlungsspielräume einer EU-Präsidentschaft. Eine Funktionsanalyse des deutschen Vorsitzes im ersten Halbjahr 2007, Berlin 2007. 15 Anders als Angelo Bolaffi und auch Werner Link sehe ich auch nicht die Aufteilung in den amerikanischen und den europäischen Westen, da die Interessendivergenzen unter den Mitgliedstaaten der EU ebenso groß sind wie die zwischen der EU und den USA. Vgl. Angelo Bolaffi in der FAZ vom 19. 05. 2003. Allerdings würde ich in Anknüpfung an beide Autoren auch argumentieren, dass die Rekonstruktion des europäischen Westens eher wahrscheinlich ist als die des transatlantischen Westens. Einsichten und Perspektiven 4 | 08 245 Europäische Sicherheit nach dem Georgien-Krieg Russische Panzer in Georgien, August 2008 Foto: ullstein bild Relikt der Vergangenheit ist, sondern möglicherweise europäische Sicherheit zukünftig stärker bestimmen wird, als dies bislang angenommen wurde. Einschränkend sollte jedoch darauf hingewiesen werden, dass der zwischenstaatliche Krieg nicht die Charakteristika des voll industrialisierten Krieges des 20. Jahrhunderts aufweisen wird,16 sondern eher ein begrenzter sein wird, in dem kriegerische Handlungen dazu eingesetzt werden, Regierungen zu erpressen bzw. sie zu einer Veränderung existierender Politiken zu bewegen. Darüber hinaus wird der zwischenstaatliche Krieg des 21. Jahrhunderts keiner sein, in dem Staaten Truppen über weite Entfernungen verlegen werden, sondern es wird sich eher um Kriege zwischen Nachbarstaaten handeln, die ohnehin schon große Truppenkontingente an ihren Grenzen massiert haben. Auswirkungen auf die europäische Sicherheitspolitik Welches sind nunmehr die Auswirkungen, die die skizzierten Veränderungen auf die Sicherheit und Stabilität in und für Europa haben werden? Es lassen sich bereits heute drei Auswirkungen identifizieren: die Flexibilisierung europäischer Kooperation, die Flexibilisierung transatlantischer Kooperation, die Herausbildung eines neuen Verhältnisses zur russischen Föderation. Die Flexibilisierung europäischer Kooperation. Die Veränderungen in den Rahmenbedingungen haben bereits in der Vergangenheit dazu geführt, dass sich Kooperation innerhalb EU-Europas flexibilisiert hat. Dieser Trend wird sich mit hoher Wahrscheinlichkeit auch in Zukunft fortsetzen. Angesichts der Blockade, in der sich die Union seit geraumer Zeit befindet, könnte eine Pioniergruppe von Staaten (im Idealfall die Unterzeichnerstaaten der Römischen Verträge) vorangehen und dem Konzept der differenzierten Integration endlich konkrete Gestalt verleihen. Staaten, die politisch willens und fähig sind, sollten in einzelnen Politikbereichen ihre Verbindungen stärken, ohne dass sie von integrationswilligen Staaten daran gehindert werden können. Über ein solches Europa der variablen Geometrie würde sich dann (im besten Falle) ein Kern europäischer Staaten 16 John Keegan: The First World War, London 1999. 246 Einsichten und Perspektiven 4 | 08 Europäische Sicherheit nach dem Georgien-Krieg herausschälen, der in allen Politikbereichen der EU eine Vertiefung ihrer Beziehungen anstrebt.17 Dieser Kern, der potentiell für andere Staaten offen sein muss, würde insbesondere im Bereich der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik die EU nach außen (d.h. in der Internationalen Politik) repräsentieren. Er würde die EU global handlungsfähig und zu einem verlässlichen Partner für andere Großmächte (und auch für die USA) machen. Zugleich würde damit auch die Voraussetzung geschaffen, an der der deutschen Bundeskanzlerin so viel liegt: eine „Stärkung [der] transatlantischen Sicherheitspartnerschaft“.18 Die Stärkung der EU über die differenzierte Integration würde es Deutschland und Frankreich als europäische Führungsmächte erlauben, als Mitgestalter der zukünftigen multipolaren Ordnung auf der internationalen Bühne aufzutreten, ohne dass bei den europäischen Staaten Ängste hinsichtlich einer deutsch-französischen Dominanz über dem europäischen Kontinent geweckt werden würden, da diese, qua ihrer integrativen Verflechtung mit Deutschland und Frankreich, Mitspracherechte19 bei deren Politik (sofern sie im europäischen Rahmen erfolgt) hätten. Die Flexibilisierung transatlantischer Kooperation. So wie sich europäische Politik flexibilisieren wird, wird dies auch im transatlantischen Verhältnis erfolgen. Die Zeiten, in denen die USA und die europäischen Staaten eine politische Einheit gebildet haben, sind passé. An die Stelle starrer Handlungseinheiten werden flexible Koalitionen (je nach politischer Interessenlage und machtpolitischer Fähigkeiten) treten. Dieses Szenario ist die Fortschreibung einer bereits existierenden Tendenz. Betrachtet man sich einmal die Art und Weise, wie im Rahmen der NATO Kooperation über die letzten Jahre erfolgt ist, so stellt man fest, dass sich allerorten Koalitionen der Willigen und Fähigen zusammenfinden, wenn – was meist der Fall ist – gemeinsames Handeln nicht möglich ist. Diese Koalitionen gehen im Rahmen der NATO – wie dies mit Blick auf die Afghanistan-Operation bereits der Fall ist – sogar so weit, dass sie sich separat voneinander treffen, um ihr Vorgehen zu beraten.20 Die Herausbildung eines neuen Verhältnisses zur russischen Föderation. Zu den weitaus unklareren Perspektiven für die Stabilität europäischer Sicherheit gehört die Frage, wie das zukünftige Verhältnis zu Russland ausgestaltet werden soll. Idealtypischerweise gibt es zwei denkbare Möglichkeiten. Die erste ist eine Verlängerung der Entwicklungen, die seit dem Ende des Ost-West-Konfliktes zu beobachten sind und die unter dem Schlagwort „Versailles-Komplex“ zusammengefasst werden können. Diese Entwicklung würde bedeuten, dass der Westen bei der Gestaltung seiner Politik weiterhin keine Rücksicht auf russische Interessen nimmt. Die NATO würde sich in diesem Szenario – wie von allen amerikanischen Administrationen gewünscht – um Georgien und die Ukraine erweitern und würde auch den Bestrebungen der baltischen Staaten entsprechen, deren Sicherheit über Vorwärtsstationierungen zu erhöhen.21 Russland würde dies als eine Einkreisung betrachten und mit einer forcierten Politik der Drohgebärden reagieren. Gegenwärtig könnte Russland, als Antwort auf eine solche Politik, auch noch seine energiepolitischen Muskeln spielen lassen und westeuropäischen Staaten mit einer Reduzierung von Erdgaslieferungen drohen. Aber auch nach 2014, dem Zeitpunkt, zu dem die meisten Analysten eine Erschöpfung russischer Erdgasreserven erwarten, hätte Russland noch genügend Macht, um die Stabilität des europäischen Kontinentes (negativ) zu beeinträchtigen.22 Von der Öffentlichkeit, aber auch von der Wissenschaft kaum beachtet, existiert zudem die Möglichkeit, die aus der Suspendierung des KSE-II-Vertrages resultierenden Möglichkeiten zur Dislozierung von konventionellen Streitkräften in den europäischen Teil des Landes zu vollziehen. Dies würde zu einer erheblichen Verschlechterung der konventionellen Sicherheitslage in Eurasien führen. Will man ein solch negatives Szenario verhindern, scheint es unumgänglich, zu einem politischen Ausgleich mit Russland zu gelangen. Die Tatsache, dass sich Russland von der NATO und ihrer fortschreitenden Erweiterung in seinen 17 Aus der Fülle der Literatur, die zu diesem Konzept existiert, sei nur eine neuere Studie genannt. Janis Emmanouilidis, Conceptualizing a Differentiated Europe, Athen 2008. 18 Rede von Bundeskanzlerin Angela Merkel anlässlich der Eröffnung der neuen US-Botschaft, 4. 07. 2008 Berlin, abrufbar unter: http://www.bundeskanzlerin.de/Content/DE/Rede/2008/07/2008-07-04-eroeffnung-amerikanische-botschaft.html (Stand 4. 12. 2008). 19 Vgl. Joseph M. Grieco, State Interests and Institutional Rule Trajectories: a Neorealist Interpretation of the Maastricht Treaty and European Economic and Monetary Union, in: Benjamin Frankel (Hg.), Realism. Restatements and Renewal, London 1996, S. 261–306. 20 So die Auskunft eines hohen NATO-Beamten. 21 Vgl. www.guardian.co.uk/commentisfree/2008/oct/28/nato-georgia. (Stand 4. 12. 2008). 22 Dieter Senghaas, Konfliktformationen im internationalen System, Frankfurt/M. 1988. Einsichten und Perspektiven 4 | 08 247 Europäische Sicherheit nach dem Georgien-Krieg Der russische Präsident Medwedew spricht zur Lage der Nation, Moskau, November 2008. Foto: action press Generalsekretär der NATO, de Hoop Scheffer, kündigt die Wiederaufnahme der Gespräche mit Russland an, Brüssel, 3. 12. 2008. Foto: Reuters 248 Einsichten und Perspektiven 4 | 08 Europäische Sicherheit nach dem Georgien-Krieg vitalen nationalen Interessen bedroht fühlt, muss akzeptiert werden. Wie aus der Forschung zu den Internationalen Beziehungen bereits seit langem be- und anerkannt ist, beruht staatliches Handeln weniger auf objektiven Gegebenheiten, sondern stark auf der Wahrnehmung und Perzeption äußerer Entwicklungen.23 Die russische Perzeption sollte, auch wenn man sie seitens des Westens nicht grundsätzlich teilt, ernst genommen werden. Sie sollte die Basis sein, um in einen politischen Dialog mit der Russischen Föderation zu treten. An dessen Ende sollte die Schaffung einer möglicherweise neuen paneuropäischen Sicherheitsstruktur stehen. Dabei kann es selbstredend seitens der europäischen Staaten nicht hingenommen werden, dass Russland einen solchen Dialog ohne die Vereinigten Staaten führen will.24 Dass Russland inakzeptable Vorbedingungen an einen solchen Dialog geknüpft hat,25 kann nicht automatisch bedeuten, dass man sich einem solchen Dialog verweigert. Der Westen hat in den fünfziger und sechziger Jahren die Sowjetunion beständig in einen politischen Dialog eingebunden, der in den siebziger Jahren zum Helsinki-Prozess (KSZE) geführt hat, obgleich es auch damals die Intention der Sowjetunion gewesen war, die USA aus Europa herauszuhalten. Akzeptiert man die Einsicht, dass politische Dialoge insbesondere in den Zeiten von Bedeutung sind, in denen politische Beziehungen schwierig oder kompliziert sind, ergibt die (mittlerweile partiell revidierte) Reaktion der NATO, auf die Georgien-Krise die politische Dimension des NATO-Russland-Rates auszusetzen, keinen Sinn. Gegenwärtig ist es noch offen, in welche Richtung sich die westlich-russischen Beziehungen entwickeln werden. Eins ist jedoch deutlich geworden. Eine Politik, die auch weiterhin auf Abgrenzung und Ausgrenzung zielt, wird von Russland als Provokation aufgefasst und mit einer konfrontativen Politik beantwortet werden. Eine solche Konstellation hätte jedoch für beide Seiten nur Nachteile. Sie würde die Sicherheitslage in Europa erheblich verschlechtern. Fazit Der vorliegende Beitrag ist der Frage nachgegangen, welche Auswirkungen der russisch-georgische Konflikt auf die europäische Sicherheit haben wird. Um diese Frage zu beantworten, wurden Entwicklungen in der internationalen Politik seit dem Ende des Ost-West-Konflikts nachgezeichnet und analysiert. Anknüpfend daran, wurden verschiedene Optionen der Entwicklung europäischer Sicherheit skizziert (die europäische, die transatlantische und die russische Dimension). Dabei wurde deutlich, dass der Ausgestaltung der westlich-russischen Beziehungen ein zentraler Stellenwert für die Sicherheit und Stabilität des europäischen und eurasischen Kontinents zukommt. Ohne Russland, so die Argumentation, ist Stabilität in und für Europa nicht zu erzielen. Aus dieser Perspektive scheinen eine An- und Einbindung des problematischen Partners Russland unerlässlich. Eine Strategie der Ausgrenzung würde für alle Seiten nur Nachteile nach sich ziehen und den europäischen Kontinent instabiler machen. Die Errungenschaften jahrzehntelanger kluger Politik des Westens gegenüber der Sowjetunion und ihres Nachfolgestaates droht verloren zu gehen. ❙ 23 Robert Jervis, Perception and Misperception in International Relations, Princeton 1976. 24 Vgl. Reinhard Krumm, Das doppelte Russland. Zum Aufbruch bereit, in der Tradition gefangen, Berlin 2008. 25 Anlässlich des EU-Russland-Gipfels vom 14. November 2008 rückte Medwedew von dieser Vorbedingung ab. Einsichten und Perspektiven 4 | 08 249 Ideen einer Pax Germanica nach 1990 Ideen einer Pax Germanica nach 1990 Betrachtungen zum Erbe des deutschlandpolitischen „dritten Wegs“ Von Alexander Gallus Abbildung: Titelblatt 1981 250 Einsichten und Perspektiven 4 | 08 Ideen einer Pax Germanica nach 1990 Am 10. März 1952 schlug die Sowjetregierung den Westmächten in einer Note den Abschluss eines Friedensvertrags mit Deutschland vor. Es sollte seine Einheit und Souveränität wiedererlangen, demokratisch verfasst sein und eine Nationalarmee besitzen dürfen. Als Gegenleistung schwebten dem Kreml eine strikte Bündnisfreiheit des Landes in der Mitte Europas und die Festschreibung der Oder-Neiße-Grenze vor. Es folgte ein Notenaustausch, der bis Ende September desselben Jahres anhielt und ergebnislos verlief. Denn für die Westalliierten und Adenauer stand von Anfang an die Ablehnung eines neutralisierten Gesamtdeutschland fest. Schon bald nach der Stalinschen Offerte setzte der Streit darüber ein, ob im Frühjahr 1952 mit dem Festhalten am Westintegrationskurs der Bundesrepublik eine Chance zur Wiedervereinigung verpasst wurde. Aus einer zunächst politisch-publizistischen hat sich bald eine Historikerdebatte entwickelt, die seit vielen Jahren stets von Neuem auflebt und um die Frage kreist, ob es sich bei der Stalin-Note um ein seriöses Angebot für ein wiedervereinigtes Deutschland oder lediglich um ein propagandistisches Manöver handelte, um die westliche Integrationspolitik zu stören. Nach dem Ende des Ost-WestKonflikts hat die Diskussion ein neues Stadium erreicht, da nun erstmals – auch interne – sowjetische Regierungsakten zugänglich geworden sind. Zu einem Konsens zwischen den Streitparteien hat dies indes nicht geführt. Die Auseinandersetzung hält auch noch mehr als ein halbes Jahrhundert nach der sowjetischen Notenoffensive an.1 Insofern lebt das Thema eines deutschlandpolitischen dritten Weges in dieser Debatte fort, die ihre Brisanz seit jeher aus der Frage bezog, „ob 1989/90 die erste oder die zweite Chance zur Wiedervereinigung ergriffen worden ist“.2 Mindestens in symbolischer Hinsicht besaß das Jahr 1952 eine große, weit ausstrahlende Bedeutung, spiegelte die Ablehnung der Stalin-Note doch die „Entscheidung für den Westen“ in komprimierter Form wider.3 Es mochte so scheinen, als sei die Option der deutschen Blockfreiheit bereits 1952, spätestens aber mit dem west- deutschen NATO-Beitritt 1955 endgültig vom Tisch gewesen. Sie war vor allem deshalb kein Thema mehr, weil die deutsche Einheit bis zum Fall der Mauer nicht wirklich auf der Tagesordnung der internationalen Politik stand. Nach 1959 fanden für fast genau dreißig Jahre keine Viermächte-Verhandlungen über die Friedensregelung mit Deutschland statt.5 Wer aber in den deutschlandpolitischen Akten des Bundeskanzleramts der Jahre 1989/90 liest, dem begegnet häufig ein Schlagwort, das über Jahrzehnte hinweg nicht mehr in regierungsoffiziellen Unterlagen aufgetaucht war. Die Rede war da von deutscher Neutralität, Neutralisierung oder gar von Neutralismus.6 Der folgende Beitrag widmet sich zunächst der Diskussion im Schlüsseljahr 1990, skizziert dann in „gegenchronologischer“ Weise die Bestrebungen eines dritten Weges in der deutschen Frage bis dahin und würdigt dieses historisch im Grunde klar begrenzbare Phänomen, bevor er – ungeachtet dieser Tatsache – einen Ausblick vornimmt und nach Traditionsbeständen oder Überresten dieser Ideen nach der Wiedervereinigung sucht. Die Diskussion im Wendejahr 1990 Gleichsam über Nacht kehrte die deutsche Frage auf das diplomatische Parkett zurück und mit ihr die Idee eines neutralen Gesamtdeutschland zwischen den Blöcken, wie es Stalin 1952 vorgeschlagen hatte. Knapp vierzig Jahre später 1 Vgl. die neuesten Studien von Jürgen Zarusky (Hg.), Die Stalin-Note vom 10. März 1952. Neue Quellen und Analysen, München 2002; Peter Ruggenthaler (Hg.), Stalins großer Bluff. Die Geschichte der Stalin-Note in Dokumenten der sowjetischen Führung, München 2007. Gerade die kommentierte Quellenedition Ruggenthalers liefert überzeugende Indizienbeweise für die „Propagandathese“. Siehe aber auch die Kritik von Bernd Bonwetsch, Die Stalin-Note 1952 – kein Ende der Debatte, in: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 2008, S. 106-113. 2 So Jürgen Zarusky: Einführung, in: ders. (wie Anm. 1), S. 10. 3 Erwin Wickert, Entscheidung für den Westen. Das Jahr 1952, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 2. Januar 2002. 4 So pointiert Gregor Schöllgen, Die Macht des Mythos. Der Kalte Krieg, der Fall der Mauer und der Spielraum der deutschen Politik, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30. Oktober 1997. 5 Vgl. die grundlegende Studie von Hanns Jürgen Küsters, Der Integrationsfriede. Viermächte-Verhandlungen über die Friedensregelung mit Deutschland 1945–1990, München 2000. 6 Vgl. Dokumente zur Deutschlandpolitik. Deutsche Einheit. Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/90, hg. vom Bundesministerium des Innern unter Mitwirkung des Bundesarchivs, bearb. von Hanns Jürgen Küsters und Daniel Hofmann, München 1998. Einsichten und Perspektiven 4 | 08 251 Ideen einer Pax Germanica nach 1990 Unterzeichnung der „Zwei-Plus-Vier“-Dokumente durch die Außenminister (sitzend v. li. n. re.: James Baker (USA), Douglas Hurd (GB), Eduard Schewardnadse (UdSSR), Roland Dumas (F), Lothar de Maizière (DDR), Hans Dietrich Genscher (Bundesrepublik), Moskau, 12. September 1990 Foto: ullstein bild drohte der Neutralitätsstatus als sowjetische Bedingung für ein wiedervereinigtes Deutschland zu einem ernstgemeinten Angebot zu werden, das sich nicht leicht würde ausschlagen lassen angesichts des Wunsches der Deutschen nach staatlicher Einheit. Die sowjetische Führung gab zwar schon frühzeitig im Februar 1990 ihr grundsätzliches Einverständnis zur Wiedervereinigung. Sie beharrte aber hartnäckig auf dem Standpunkt, dass ein vereintes Deutschland nicht der NATO angehören dürfe. Michail Gorbatschows Deutschlandexperte Valentin Falin schloss in jenen Monaten eine solche Kombination kategorisch aus: „Wer dafür ist, dass ganz Deutschland an die NATO fällt, ist nicht für die deutsche Einheit.“7 Anders als bei diesem Hardliner und der unnachgiebigen Deutschlandabteilung des sowjetischen Außenministeriums verspürten Kanzler Helmut Kohl und Präsident George Bush in der Absage von Kremlchef Gorbatschow gegenüber der NATO-Lösung indes eine gewisse Unsicherheit, ein Schwanken. Die Amerikaner setzten dem bereits Ende November 1989 eine entschlossene Ablehnung jeder Neu- tralisierung als ein „essential“ für die Wiedervereinigung entgegen. Sie suchten nach anderen Gegenleistungen, um die Zustimmung der Sowjetunion zur Einheit unter westlichen Vorzeichen zu erhalten. Dabei hatten sie den Vorteil, aus einer Position der Stärke heraus agieren zu können, ganz im Unterschied zum außen- wie innenpolitisch angeschlagenen, ja in Auflösung begriffenen Sowjetreich. Unter dieser Grundbedingung der sowjetischen Schwäche gelang es einer überaus geschickten amerikanischen Verhandlungsführung, Gorbatschow bei seinem Besuch in Washington Ende Mai 1990 das Zugeständnis abzuringen, dass ein vereintes Deutschland selbst entscheiden dürfe, welchem Bündnis es angehören wolle. Am 12. September 1990 schließlich unterzeichneten die sechs Außenminister der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen in Moskau den „Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland“, der die freie Bündniswahl der Deutschen festschrieb.8 Alle Hindernisse für eine NATO-Mitgliedschaft Gesamtdeutschlands waren aus dem Weg geräumt. Dass dies, was uns heute so selbstverständlich erscheint, 7 „Für militärische Neutralität“. Gorbatschows Deutschland-Experte Valentin Falin über die deutsche Einheit, in: Der Spiegel vom 19. Februar 1990, S. 169. 8 Zum diplomatischen Prozess siehe die Darstellung von Philip Zelikow/Condoleeza Rice, Sternstunde der Diplomatie. Die deutsche Einheit und das Ende der Spaltung Europas, Berlin 1997; die Rolle der Bundesregierung bei der Aushandlung der NATO-Mitgliedschaft relativiert in pointierter Weise Andreas Rödder, „Durchbruch im Kaukasus“? Die deutsche Wiedervereinigung und die Zeitgeschichtsschreibung, in: Jahrbuch des Historischen Kollegs 2002, München 2003, S. 113–140. 252 Einsichten und Perspektiven 4 | 08 Ideen einer Pax Germanica nach 1990 gelingen sollte, war zu Beginn der Sondierungen alles andere als gewiss. Eine solche Lösung kam erst in Betracht, nachdem mit der kranken, bald dahingerafften Sowjetunion die gesamte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs geschaffene bipolare Ordnung ins Straucheln geraten war. Der Ost-West-Konflikt prägte die internationalen Beziehungen fast der gesamten zweiten Hälfte des „kurzen“ 20. Jahrhunderts, das der britische Historiker Eric Hobsbawm bezeichnenderweise Anfang der neunziger Jahre enden sieht. Das in das atlantische Bündnis fest integrierte Gesamtdeutschland ist deutlichstes Symbol für das Ende des Kalten Krieges, aus dem der „Westen“ als Sieger hervorgegangen ist, ohne dass damit das bald viel beschworene „Ende der Geschichte“ erreicht worden wäre. Bis zu Gorbatschows „Kapitulation“ im Frühsommer 1990 stand die deutsche Neutralität allerdings noch auf der Tagesordnung, und diese Tatsache nährte nicht zuletzt bei Helmut Kohl die Befürchtung, eine solche alternative Konzeption zur Westbindung könnte bei der deutschen Linken und bei der Bevölkerung an Einfluss und so auch innenpolitisch an Stoßkraft gewinnen. Hätte Gorbatschow schon bald nach dem Fall der Mauer das Angebot einer raschen Wiedervereinigung gegen Neutralität unterbreitet, meinte Kohl einmal in seiner Schilderung des bündnispolitischen Einigungsprozesses, so wäre ein solcher Vorschlag in der Öffentlichkeit beider deutscher Staaten wohl auf Zustimmung gestoßen und hätte die Verhandlungsposition von Bundesregierung und Westalliierten entscheidend schwächen können. Das Institut für Demoskopie Allensbach fragte die Bundesbürger während der gesamten achtziger Jahre regelmäßig danach, wie sie zur Wiedervereinigung unter folgenden drei Bedingungen stünden: Erstens sollten beide deutsche Staaten aus den entgegengesetzten Militärbündnissen austreten, zweitens würde das vereinte Deutschland eine internationale Garantie für seinen neutralen Status erhalten, drittens schließlich dürften die Deutschen ihr Gesellschaftssystem selbst bestimmen. Diesen Vorschlag begrüßten stets jeweils rund fünfzig Prozent der Befragten. Es fand sich eine Mehrheit für ein neutrales wiedervereinigtes Deutschland, insofern das Ziel der Einheit mit Frieden und Sicherheit wie mit Freiheit vereinbar wäre. Kohl mag diese und andere Umfrageergebnisse, die ein schlummerndes neutralistisches Potenzial in der Bevölkerung belegten, gekannt haben. Die Aussicht, es könnte durch die Opposition zu neuem Leben erweckt werden, bereitete ihm Sorge. In einem Gespräch mit dem französischen Präsidenten François Mitterrand äußerte er Anfang März 1990 die Befürchtung, „dass die gleichen Leute, die sich 1983 gegen die Stationierung der Pershing II eingesetzt hätten, heute versuchten, eine Politik der Neutralität für ein vereinigtes Deutschland durchzusetzen“.9 Rückblick auf ein historisches Phänomen Ideen eines dritten Weges von der Nachrüstungsdebatte bis zur Wiedervereinigung Helmut Kohl erinnerte an die Nachrüstungsdebatte Anfang der achtziger Jahre, die damals im In- und Ausland den Eindruck erwecken konnte, Deutschland wolle sich vom Westen „abkoppeln“ und befände sich in einer „Akzeptanzkrise“. Der Historiker Michael Stürmer warnte fast beschwörend vor einem „Niedergang der Pax Americana“, mit dem der „Aufstieg eines neuen Nationalismus neutralistischer Observanz“ einhergehe. In dieser Entwicklung lägen „Gefahren, die die Nachricht vom Ende des deutschen Sonderwegs durch die Realität bald dementieren könnten“.10 Intellektuelle verschiedener Couleur waren in jenen Jahren aufgeschreckt: Hans-Ulrich Wehler sah schon die Auferstehung der „Chimäre eines neutralisierten Gesamtdeutschland“,11 Arnulf Baring wunderte sich über „unseren neuen Größenwahn“ und wies auf die Gefahr einer zumindest „inneren Neutralisierung bei Aufrechterhaltung der formalen Westbindungen“ hin.12 Und der französische Beobachter Pierre Hassner fragte alarmiert: „Was geht bloß in Deutschland vor?“13 Angesichts der vermeintlichen Drohkulisse und des möglichen internationalen Vertrauensverlusts wurden führende Politiker der Union, der Liberalen, aber auch der Sozialdemokraten nicht müde, ihre Abneigung gegenüber jeglichen „neutralistischen Sonderwegen“ zum Ausdruck zu bringen. Im historischen Rückblick erscheint die Aufregung überzogen, zumindest was die „Nationalneutralisten“ 9 In einem Telefongespräch vom 5. März 1990, in: Dokumente zur Deutschlandpolitik (wie Anm. 6), S. 911. 10 Michael Stürmer, in: Deutscher Sonderweg – Mythos oder Realität? Kolloquien des Instituts für Zeitgeschichte, München/Wien 1982, S. 45. 11 Hans-Ulrich Wehler: Wohlbehagen im Wolkenkuckucksheim. Die Chimäre eines neutralisierten Gesamtdeutschland, in: ders., Preußen ist wieder chic… Politik und Polemik in zwanzig Essays, Frankfurt/M. 1983, S. 47–52. 12 Arnulf Baring, Unser neuer Größenwahn. Deutschland zwischen Ost und West, Stuttgart 1988, S. 61. 13 Pierre Hassner, Was geht in Deutschland vor? Wiederbelebung der deutschen Frage durch Friedensbewegung und alternative Gruppe, in: Europa-Archiv, 37 (1982), S. 517–527. Einsichten und Perspektiven 4 | 08 253 Ideen einer Pax Germanica nach 1990 Broschüre der Berlin-Arbeitsgemeinschaft in der Alternativen Liste aus dem Jahr 1981 Abbildung: Privatbesitz Titelblatt 1983 betrifft, die ein blockfreies Gesamtdeutschland propagierten.14 Wohl zeigten sich in der SPD während des Stationierungsstreits und der Phase der „zweiten Ostpolitik“ Tendenzen einer gewachsenen Distanz zu Amerika und der Äquidistanz. So tat Oskar Lafontaine in einem Aufsehen erregenden Buch seine „Angst vor den Freunden“ kund.15 Die Forderung des sozialdemokratischen Völkerrechtlers Theodor Schweisfurth nach einer „‚Deutschen Eidgenossenschaft‘ immerwährender Neutralität“16 blieb indes die Ausnahme in seiner Partei. Auch die Grünen waren ganz überwiegend NATO-Gegner und von einem antiamerikanischen oder wenigstens amerikakritischen Ressentiment geprägt. Aber für ein vereintes Deutschland machten sie sich deswegen noch lange nicht stark. In ihren Reihen dominierten „Euroneutralisten“, NATO-Befürworter waren ebenso wie nationale Neutralisten in der Minderheit. Entgegen der zeitweise großen Aufmerksamkeit, die ihm entgegengebracht wurde, blieb der „Nationalneutralismus“ eine Randerscheinung, die allerdings im gesamten politischen Spektrum von weit links bis rechts außen anzutreffen war. Neben Einzelkämpfern in den etablierten Parteien zählten die Mitglieder der „Arbeitsgruppe Berlin- und Deutschlandpolitik“ der Berliner Alternativen Liste (mit Herbert Ammon und Peter Brandt als Ideengebern17) ebenso dazu wie Rolf Stolz’ „Initiativkreis Linke Deutschland-Diskussion“, aber auch Nationaldemokraten wie Neonationalsozialisten, Nationalrevolutionäre wie Neue Rechte. Zu unterschiedlich jedoch waren ihre Motive und Ziele, zu mächtig ihre Einbindung in die traditionellen Lager der Linken und Rechten, zu fundamental die Differenzen zwischen Demokraten und Extremisten, als dass 14 Vgl. die Gesamtdarstellung von Alexander Gallus, Die Neutralisten. Verfechter eines vereinten Deutschland zwischen Ost und West 1945– 1990, Düsseldorf 2006; siehe auch ders., Von Heinemann bis Havemann. Dritte Wege in Zeiten des Kalten Krieges, in: Deutschland Archiv, 41 (2007), S. 422–430; ders., Neutralistische Bestrebungen in Westdeutschland im ersten Nachkriegsjahrzehnt. Relevanz – Varianten – Vertreter, in: Detlef Bald/Wolfram Wette (Hg.), Alternativen zur Wiederbewaffnung. Friedenskonzeptionen in Westdeutschland 1945–1955, Essen 2008, S. 37–51; weiterführend auch Dominik Geppert/Udo Wengst (Hg.), Neutralität – Chance oder Chimäre? Konzepte des Dritten Weges für Deutschland und die Welt 1945–1990, München 2005. 15 Oskar Lafontaine, Angst vor den Freunden. Die Atomwaffenstrategie der Supermächte zerstört die Bündnisse, Reinbek bei Hamburg 1983. 16 Theodor Schweisfurth, Neutral – sicher – frei: Eine deutsche Eidgenossenschaft?, in: Wolfgang Heisenberg/Dieter S. Lutz (Hg.), Sicherheitspolitik kontrovers. Auf dem Weg in die neunziger Jahre, Baden-Baden 1987, S. 659. 17 Einen guten Eindruck von der Position eines „linken Patriotismus“ vermittelt der Band von Peter Brandt: Schwieriges Vaterland. Deutsche Einheit. Nationales Selbstverständnis. Soziale Emanzipation. Texte von 1980 bis heute, Berlin 2001; auch schon ders./Herbert Ammon (Hg.), Die Linke und die nationale Frage. Dokumente zur deutschen Einheit seit 1945, Reinbek bei Hamburg 1981. 254 Einsichten und Perspektiven 4 | 08 Ideen einer Pax Germanica nach 1990 Flugblatt der Gesamtdeutschen Volkspartei, o.J. Abbildung: Deutsches Historisches Museum, Berlin sich auch nur im Ansatz eine einflussreiche Neutralitätsbewegung hätte herausbilden können. Die gemeinsame neutralistische Idee vermochte diese stärkeren Bande nicht zu sprengen, auch wenn es an Versuchen dazu nicht gefehlt hat. Verschiedene Aufrufe, Initiativen und Unterschriftensammlungen, am bekanntesten die Havemann-Brief-Initiative Ende 1981, dienten diesem Zweck. Auch der umtriebige Berliner Journalist Wolfgang Venohr, der seit den fünfziger Jahren für ein neutrales Deutschland focht, setzte sich unermüdlich mit publizistischen Mitteln für einen dritten Weg als Pax Germanica, jenseits von links und rechts, ein. Doch das öffentliche Echo, das solche Aktionen hervorriefen, verhallte rasch.18 Rückgriff auf Ladenhüter aus den fünfziger Jahren Als der CDU-Bundestagsabgeordnete Bernhard Friedmann 1987 „Einheit statt Raketen“19 forderte, wunderte sich Wilhelm Grewe, der alte außenpolitische Mitstreiter und Gedankengeber Konrad Adenauers, dass es „keinen Ladenhüter vergangener Konferenz- und Notenschlachten“ gebe, „der hier nicht in aller Unschuld wieder hervorgebracht würde“. Er meinte, „dass alles, aber auch alles“, was Friedmann vorschlug, „im Laufe der letzten vierzig Jahre schon unzählige Male gesagt, geschrieben, verkündet, bezweifelt, beantwortet“ worden war.20 Das Thema der deutschen Neutralität war in Grewes Augen von gestern, ein historisches Phänomen des ersten Nachkriegsjahrzehnts, das schon damals seine Untauglichkeit erwiesen habe. Er dürfte hier insbesondere an Gustav Heinemanns Gesamtdeutsche Volkspartei (GVP) gedacht haben, die bei den Bundestagswahlen 1953 lediglich knapp 1,2 Prozent der Stimmen erlangen konnte. Ungeachtet dieser elektoralen Schlappe waren die Jahre bis zum NATO-Beitritt der Bundesrepublik 1955 aber ähnlich wie die achtziger Jahre von einer Vielzahl neutralistischer Vorstöße geprägt.21 Dabei unterschieden sich die zwei „Blütezeiten“ des Nationalneutralismus’ dadurch, dass die erste deutlich mehr diplomatische Relevanz besaß als die zweite, die – abgesehen vom Jahr 1990 – nie über eine Standortdebatte zur deutschen Frage in engen publizistischen Bahnen hinausgelangte.22 Adenauer, der die neue Tradition der Westbindung begründete und zu seinem Herzensanliegen machte, sorgte sich ähnlich wie sein Enkel Kohl Jahrzehnte später, dass die deutsche Neutralität zum Gegenstand von Vier-Mächte-Verhandlungen werden könnte. 18 Siehe dazu auch Lutz Haarmann, „Die deutsche Einheit kommt bestimmt“. Zum Spannungsverhältnis von Deutscher Frage, Geschichtspolitik und westdeutscher Dissidenz in den 1980er Jahren, Berlin 2005 19 Vgl. Bernhard Friedmann, Einheit statt Raketen. Thesen zur Wiedervereinigung als Sicherheitskonzept, Herford 1987. 20 Zit. nach Baring (wie Anm. 12), S. 183, 310. 21 Vgl. Gallus, Neutralisten (wie Anm. 14), S. 57–264; sowie die ältere Studie von Rainer Dohse, Der Dritte Weg. Neutralitätsbestrebungen in Westdeutschland zwischen 1945 und 1955, Hamburg 1974; zusätzlich Michael Werner, Die „Ohne-mich“-Bewegung. Die bundesdeutsche Friedensbewegung im deutsch-deutschen Kalten Krieg (1949–1955), Münster 2006. 22 Vgl. Karl-Rudolf Korte, Der Standort der Deutschen. Akzentverlagerungen der deutschen Frage in der Bundesrepublik Deutschland seit den siebziger Jahren, Köln 1990. Einsichten und Perspektiven 4 | 08 255 Ideen einer Pax Germanica nach 1990 Titelblatt 1983 Titelblatt 1949 Denn bis in die fünfziger Jahre hinein tauchte im Vorfeld von internationalen Konferenzen das Gespenst einer Neutralisierung hin und wieder auf. Und solche Pläne waren nicht nur sowjetischen, sondern gelegentlich auch westalliierten Ursprungs.23 So durchlebte der erste Bundeskanzler, dem Neutralisierung gleichbedeutend mit Sowjetisierung war, vor Beginn der Pariser Vier-Mächte-Konferenz im Frühjahr 1951 angstvolle Monate, als ihn die Nachricht erreichte, so einflussreiche Persönlichkeiten wie der ehemalige amerikanische Präsident Herbert Hoover und der Publizist Walter Lippmann träten für einen Rückzug der Vereinigten Staaten aus Europa ein.24 Fast zur gleichen Zeit bemühten sich verschiedene neutralistische Gruppen in Deutschland um eine Vereinigung. Auf Einladung des Hamburger Journalisten Wolf Schenke versammelten sich in Frankfurt 130 Personen aus 35 Gruppierungen, um den „Deutschen Kongress“ zu gründen, der für eine aktive deutsche Neutralitätspolitik eintrat. Dies war der ehrgeizigste Versuch der Neutralisten während der fünfziger Jahre, sich öffentlich Gehör zu verschaffen und politisch an Kraft zu gewinnen. Doch stattdessen endete er nach wenigen Treffen in einem Eklat und symbolisierte damit das Scheitern der Neutralitätsanhänger überhaupt. Den Protagonisten des Kongresses – neben Schenke und seiner „Dritten Front“ der Würzburger Geschichtsprofessor Ulrich Noack und sein „Nauheimer Kreis“ sowie der ehemalige schleswig-holsteinische Landwirtschaftsminister Erich Arp und seine „Oppositionellen Sozialdemokraten“ – gelang es nicht, einen Kompromiss zu finden. Das gemeinsame nationalneutralistische Fundament war wenig tragfähig und brach rasch ein. Schenke fluchte angesichts dieser Tatsache einmal, er gedenke „in Zukunft keine Minute Zeit mehr daran zu verschwenden, irgendeine Sammlung heterogener Kräfte zusammenzubringen oder zu fördern, die sich lediglich in der Frage der deutschen Außenpolitik einig sind“.25 Ende und Bedeutung der Bestrebungen nach einem deutschlandpolitischen dritten Weg Der „Deutsche Kongress“ repräsentierte den Zustand des Nationalneutralismus, der ein wenig einheitliches Phänomen war. Denn über den von Schenke benannten Minimalkonsens hinaus wichen die Positionen der einzelnen Neutralistenzirkel in vielfältiger Weise voneinander ab. Waren für die einen nationale Beweggründe entscheidend, so überwog bei den anderen eine pazifistische Grundhaltung. War die Neutralität für manche nur ein pragmatisches Mittel, um die Einheit zu erlangen, so galt sie anderen als Voraussetzung für einen weitergehenden dritten Weg einer gesellschaftlich-politischen Neuordnung. 23 Vgl. Andreas Hillgruber, Alliierte Pläne für eine „Neutralisierung“ Deutschlands 1945–1955, Opladen 1987. 24 Siehe hierzu Thomas Reuther, Die ambivalente Normalisierung. Deutschlanddiskurs und Deutschlandbilder in den USA, 1941–1955, Stuttgart 2000, S. 307–339. 25 Wolf Schenke, in: Informationsbrief der Dritten Front, Nr. III/27 vom 12. Oktober 1953. 256 Einsichten und Perspektiven 4 | 08 Ideen einer Pax Germanica nach 1990 In letzterem lag der entscheidende Unterschied zwischen den verschiedenen Neutralisten: Die einen fühlten sich dem politischen System der Bundesrepublik und ihrer Gesellschaftsordnung verpflichtet, während die anderen über den außen- und sicherheitspolitischen dritten Weg hinaus einen gesellschaftlich-ideologischen Neutralismus befürworteten, gar den deutschen Eigenoder „Sonderweg“ fortsetzen wollten. Da beide Richtungen Außenseiterpositionen blieben und mit ihrem Anliegen eines neutralen Gesamtdeutschlands in einer Zeit scheiterten, die keine Zwischenpositionen zuließ, stellt sich die Frage, worin dann die Bedeutung der Neutralisten besteht. Sie liegt in zweierlei begründet: • Erstens gab es keine zweite Strömung, die während der gesamten deutschen Teilungsgeschichte von 1945 bis 1990 derart anhaltend für die deutsche Einheit als Ziel einer handelnden Politik eingetreten ist, so unausgegoren und inakzeptabel ihre Vorstellungen im Einzelnen auch gewesen sein mögen. Unaufhörlich haben sie auf die „Wunde namens Deutschland“ (Martin Walser) hingewiesen. • Zweitens ist die Tatsache des Scheiterns selbst von Bedeutung. Die Schwäche der Nationalneutralisten, die keineswegs von vornherein zu erwarten war, standen sie doch stärker als die Anhänger der Westbindung in der Tradition der deutschen Geschichte, spiegelt nämlich in besonders deutlicher Weise den Bruch der Bundesrepublik mit dem viel beschworenen antiliberalen, antiwestlichen und antidemokratischen „Sonderweg“, ja mit der deutschen Geschichte selbst wider. Eine deutsche Schaukelpolitik zwischen Ost und West sollte es nach 1945 nicht mehr geben. Im Epochenjahr 1990 flackerte die deutsche Neutralitätsidee nochmals kurzzeitig auf, bevor sie in das Reich der Vergangenheit verwiesen wurde. Das Erbe und die Tradition des „deutschen Weges“ nach 1990 Die Neutralisten haben uns wenig hinterlassen. Gemeinsam mit ihnen, diese Grundthese dürfte kaum von der Hand zu weisen sein, ist der „Sonderweg“ begraben worden und Deutschland endgültig im Westen angekommen. Aber genauso wie inzwischen wiederholt Kritik an den allzu schnörkellosen Narrativen einer reinen westdeutschen Er- folgs- und Ankunftshistorie geübt worden ist,26 soll die Frage nach dem neutralistischen Erbe und Traditionsbeständen eines „deutschen Weges“ wenigstens aufgeworfen werden. In der Tat favorisierte auch nach 1990 manch eingefleischter Neutralist aus der Zeit des Ost-WestKonflikts einen außenpolitischen dritten Weg für Deutschland.27 So war der Fernsehjournalist Michael Vogt, in den achtziger Jahren ein Verfechter der gesamtdeutschen Neutralität an der Seite Wolfgang Venohrs und aktiv im burschenschaftlichen Milieu, noch 1992 von folgendem Grundgedanken überzeugt: „Über die militärische Neutralität führt der Weg […] zu einer Sicherheits-Partnerschaft mit Russland. Die geopolitischen Gesetze bleiben auch im ausgehenden 20. Jahrhundert gültig.“ Weiter hieß es: „Das wiedergeborene Deutschland wird den Weg im 21. Jahrhundert in der Sicherheitspartnerschaft mit Russland gehen, oder es wird auf die nächste, diesmal vielleicht letzte, weil endgültige Katastrophe seiner Geschichte zusteuern.“ Vogt, der dem neurechten Milieu zuzurechnen ist, zeichnete Zerrbilder der in seinen Augen antideutschen Organisationen des „NATOMilitärpakts“ und „EG-Wirtschaftsblocks“. Schließlich hätten sie niemals ein ernsthaftes Interesse an der deutschen Einheit besessen. Deshalb sei es an der Zeit, dass aus diesen angeblichen „‚Partnern’ wieder Konkurrenten, Gegner, Feinde“ würden. Stattdessen werde die neue „deutsch-russische Freundschaft“ die nötige Sicherheit gegen „westliche Begehrlichkeiten und latente Aggressionen“ gewährleisten.28 Nicht ganz so ungestüm wie sein früherer Kollege bekundete auch Venohr seine Anti-NATO-Haltung. Im Jahr 1991 plädierte er dafür, nach der Auflösung der Warschauer Vertragsorganisation bis spätestens 1999 die NATO aus Europa zu entfernen und durch das historische Modell einer europäischen „Pentarchie“ zu ersetzen. Die „fünf europäischen Verantwortungs-Großmächte“ Deutschland, Frankreich, Italien, Großbritannien und „Großrussland“, wie es bei Venohr hieß, sollten Europa in steter Kooperation außen- und sicherheitspolitisch neu ordnen. Dies werde ihnen dann am besten gelingen, wenn sie „bei den beiden großen Staatsmännern des 19. Jahrhunderts, bei Metternich und Bismarck, in die Schule“ gin- 26 Vgl. Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen, 2 Bände, München 2000; Axel Schildt, Ankunft im Westen. Ein Essay zur Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik, Frankfurt/M. 1999; zur Kritik an der „Ankunftshistorie“ vgl. Klaus Naumann: Reden wir endlich vom Ende!, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30. August 2001. 27 Vgl. Eckhard Jesse, Der „dritte Weg“ vor und nach der Wiedervereinigung, in: Rainer Zitelmann u. a. (Hg.): Westbindung. Chancen und Risiken für Deutschland, Berlin/Frankfurt/M. 1993, S. 215–241; dieser Teil stützt sich wesentlich auf Gallus: Neutralisten (wie Anm. 14), S. 479–485. 28 Michael Vogt, Von der Rückkehr zur Normalität. Deutschlands Weg in die Völkergemeinschaft, in: Handbuch zur Deutschen Nation, Band 4: Deutschlands Einigung und Europas Zukunft, hg. von Hellmut Diwald, Tübingen u. a. 1992, S. 38, 47 (Hervorhebungen im Original). Einsichten und Perspektiven 4 | 08 257 Ideen einer Pax Germanica nach 1990 Titelblatt 1982 Titelblatt 1993 gen.29 Auch diese hanebüchene Stellungnahme aus dem Jahr 1991 erschien in einem Organ der radikalen intellektuellen Rechten, in der „Jungen Freiheit“. „Deutschland gehört dem Osten.“32 Der sich selbst als Nationalpazifist bezeichnende Alfred Mechtersheimer, der eine ähnlich wechselvolle politische Karriere, zwischen rechts und links schwankend, wie Eichberg hinter sich hatte und nach 1990 als Kopf des so genannten Starnberger Friedenskomitees 2000 sowie der „Deutschland-Bewegung“ fungierte, hoffte im Jahr 1993 ebenfalls auf eine Entlegitimierung der NATO. Damit verband er einen deutschen „Friedenspatriotismus“. Deutschland sei zur Friedensmacht prädestiniert, weil es – wie es in einer Äußerung, die nur Kopfschütteln hervorrufen konnte, hieß – „die am wenigsten kriegerische Vergangenheit in Europa“ vorzuweisen habe. Dies war in Mechtersheimers höchst abenteuerlicher Geschichtssicht ein „historischer Besitzstand, der auch durch die deutsche Mitschuld am Ersten und die Schuld am Zweiten Weltkrieg nicht zerstört wurde“. Die deutsche Zukunft erkannte er in der Bündelung der eigenen, der nationalen Kräfte.33 Rolf Stolz, 1990 bis 1998 stellvertretender Vorsitzender des Friedenskomitees 2000, übte 1997 – wie schon vor der Wiedervereinigung – heftige Kritik an der Integration Deutschlands in europäische und atlantische Strukturen. Das „Diktat der Zwei-plus-vier-Verträge“ von 1990 erinnerte ihn an die Versailler Bestimmungen vom Ende des Ersten Weltkriegs. Die neuen Regelungen würden „Deutschland auf unabsehbare Zeit den amerikanischen Be- Überhaupt schrieben nach 1990 rechtsextreme und nationalrevolutionäre Kräfte das Ausscheiden Deutschlands aus der NATO auf ihre Fahnen. Zu wünschen sei – so war während des Golfkrieges von 1991 im NPDParteiorgan „Deutsche Stimme“ zu lesen – „nach dem Ausscheiden Mitteldeutschlands, der ehemaligen DDR, aus dem Warschauer Pakt nun endlich auch der Austritt der Bundesrepublik aus der NATO“.30 Der europäischen Integration begegneten die Rechtsextremisten ohnehin ablehnend und interpretierten neben der NATO die EG/EU als „Instrumente der internationalen Disziplinierung und Fremdbestimmung der Deutschen“.31 Der nationalrevolutionäre Vordenker Henning Eichberg verwarf aus ähnlichen Beweggründen die Westbindung in einem weit über sicherheitspolitische Aspekte hinausreichenden Verständnis. Er hielt eine äquidistante oder neutrale Haltung für unzureichend. Es sei zu bedenken, dass Deutschland „immer wesentliche Teile seines Erbes und seiner Inspiration aus dem Osten bezogen“ habe, „aus seinem eigenen Osten und aus dem weiteren europäischen Osten“. Eichberg bündelte dies in einem regelrechten Schlachtruf: 29 30 31 32 33 Wolfgang Venohr, Europa braucht eine neue Statur, in: Junge Freiheit vom April 1991, S. 7. Deutsche Stimme, Nr. 3/1991, zit. nach: Verfassungsschutzbericht 1991, hg. vom Bundesminister des Innern, Bonn 1992, S. 111. Zit. nach: Verfassungsschutzbericht 1993, hg. vom Bundesminister des Innern, Bonn 1994, S. 132. Henning Eichberg, Der Fall der Mauer. Fragen und Fragmente, Sonderdruck aus: Wir selbst, Nr. 1/1990, S. 2. Alfred Mechtersheimer, Friedensmacht Deutschland. Plädoyer für einen neuen Patriotismus, Berlin-Frankfurt/M. 1993, S. 376, 380. 258 Einsichten und Perspektiven 4 | 08 Ideen einer Pax Germanica nach 1990 satzungstruppen und anderen Okkupanten ausliefern und es an den amerikanisch dominierten NATO-Block ketten“. Stolz’ Polemik richtete sich aber nicht nur gegen äußere „Gegner“, sondern auch gegen die politische Ordnung der Bundesrepublik sowie der Europäischen Union: Heute sei „das staatlich vereinigte Restdeutschland von seinen eigenen Herrschern, von einer Allparteienkoalition aus Landesverrätern und Polit-Profiteuren, zur Liquidation zugunsten der schon bei ihrer Gründung bankrotten Brüsseler Schwindelfirma ‚EUROPA AG‘ freigegeben. In ihrem grenzenlosen Hass gegen das deutsche Volk, gegen seine Geschichte, seine Kultur und seine Sprache“, trieb Stolz seinen verbalen Feldzug auf die Spitze, „streben diese Leute ein freiwilliges Super-Versailles an, die Endlösung für die deutsche Nation, die Auslöschung Deutschlands durch Beseitigung der teils durch Zuwanderer ersetzten, teils zu multikulturellen und multifunktionalen Euro-Zombies umfunktionierten Ex-Deutschen.“34 Die Übereinstimmungen in Rhetorik und Ideologie mit rechtsextremistischen Stellungnahmen waren im Falle Stolz’, der sich selbst stets als Linken bezeichnete, augenfällig. Zumal in dieser Radikalität repräsentieren Vogt, Venohr, Eichberg, Mechtersheimer und Stolz – wenn überhaupt – eine denkbar kleine Anzahl von einstigen Nationalneutralisten, die den alten Ideenbestand hochhielten oder sogar in manch steile neue These transformierten. Sie machten sich damit selbst zum Teil einer kaum ernst zu nehmenden „lunatic fringe“. Eine explorative Umfrage unter weniger exzentrischen Anhängern des Neutralitätsgedankens aus den achtziger Jahren zu den Themen der Neutralität und Westbindung nach 1990 zeitigte weniger dramatische – oder besser: skurrile – Antworten. Gefragt – „Wenn in den Jahren 1989/ 90 die uneingeschränkte Wahl zwischen einem neutralen auf der einen Seite und einem der NATO angehörenden Gesamtdeutschland auf der anderen Seite bestanden hätte, welchen Weg hätten Sie für wünschenswerter gehalten? (Oder hätten Sie einen von diesen beiden Möglichkeiten abweichenden Weg bevorzugt?)“ –, stimmte Bernhard Friedmann, in den achtziger Jahren CDU-Bundestagsabgeord- neter und von 1996 bis 1999 Präsident des Europäischen Rechnungshofes in Luxemburg, ohne Wenn und Aber für die NATO-Zugehörigkeit.35 Der einstige Begründer des Initiativkreises Friedensvertrag, Richard Sperber, wünschte sich für Deutschland innerhalb der NATO einen Frankreich vergleichbaren Status,36 der „linke Patriot“ Herbert Ammon ein stärkeres Eigengewicht des Landes innerhalb des Verteidigungsbündnisses.37 Sein Mitstreiter im Kampf um ein „unverkrampfteres“ linkes Nationsverständnis, Peter Brandt, schwebte „langfristig eine Verschmelzung der Strukturen von OSZE und NATO“ vor, wobei er auf eine besonders enge und weiter zu vertiefende deutsch-französische Kooperation hoffte. „Das Ziel wäre aber nicht eine imperiale Supermacht Westeuropa, sondern die sicherheitspolitische Absicherung einer gegenüber Nordamerika und Ostasien alternativen zivilisatorischen Entwicklung im alten Kontinent (mit den bekannten demokratisch-sozialen und ökologischen Elementen).“38 Auch der der SPD nahestehende Theodor Schweisfurth wünschte sich die „Umwandlung der KSZE in ein kollektives Sicherheitssystem“, seien NATO und Warschauer Pakt doch die „organisatorischen Formen der Spaltung des Kontinents und der Konfrontation seiner Teile gewesen“.39 Die Befragten begrüßten insgesamt die außenpolitische Westbindung, mahnten allerdings durchweg eine Öffnung nach Osten an. Außer Sperber, der von einem „verhängnisvollen Irrweg“40 sprach, begegneten sie der voranschreitenden europäischen Integration mit Wohlwollen, sofern damit keine fortschreitende Distanzierung zu Ost(mittel)europa einhergehe. Für Peter Brandt sollte Deutschland in dieser Hinsicht eine „Brückenfunktion in Gesamteuropa“41 erfüllen. In den Antworten auf die Frage – „Wenn Sie die innen-, gesellschafts- und wirtschaftspolitische Entwicklung Deutschlands seit Beginn des Vereinigungsprozesses betrachten, begrüßen Sie diesen Vorgang oder hätten Sie sich einen anderen Ablauf gewünscht, für richtiger gehalten?“ – beschränkte sich die Kritik auf einzelne Aspekte; eine grundstürzende Alternative oder gesellschaftspolitischen dritten Weg präsentierte keiner der Befragten. 34 Rolf Stolz, 1967 bis heute: Blicke zurück auf einige Bewegungen, in: Claus-M. Wolfschlag (Hg.), Bye-Bye ’68... Renegaten der Linken, APO-Abweichler und allerlei Querdenker berichten, Graz/Stuttgart 1998, S. 217. 35 Vgl. den von Bernhard Friedmann beantworteten Fragebogen an den Autor vom 16. Juli 1998. 36 Vgl. Brief Richard Sperbers an den Autor vom 3. Juli 1998. 37 Vgl. Brief Herbert Ammons an den Autor vom 9. Juli 1998. 38 Brief von Peter Brandt an den Autor vom 31. August 1998; vgl. auch Peter Brandt, Deutsche Identität, in: Die Neue Gesellschaft, 41 (1994), S. 838–843; ders., Warum nicht Katalysator für einen besseren Kontinent?, in: Neues Deutschland vom 30. August 1990; als das Verbleiben Deutschlands in der NATO Anfang 1990 noch nicht feststand, plädierte er für die Auflösung der beiden Militärblöcke: vgl. ders., Nach der Zukunft der Blöcke wird man jetzt wohl fragen dürfen, in: Frankfurter Rundschau vom 20. Januar 1990. 39 Ausgefüllter Fragebogen von Theodor Schweisfurth an den Autor vom 21. August 1998. 40 Sperber (wie Anm. 36), S. 2. 41 Peter Brandt: Demokratische Nation oder Viertes Reich? Der historische Ort des neu vereinigten Deutschland. Vortrag in Gelsenkirchen am 28. Oktober 1993 (Manuskript), S. 16. Einsichten und Perspektiven 4 | 08 259 Ideen einer Pax Germanica nach 1990 Das Thema des Nationalneutralismus im engeren Sinne geriet nach 1990 selbst für einst führende Vertreter dieses deutschland- und sicherheitspolitischen Politikansatzes an ein unwiederbringliches Ende. Das weitere Problem, das Spannungsfeld von Integration und Nation, blieb freilich ein wichtiges Thema bei der Ausrichtung der deutschen Außenpolitik nach der Wiedervereinigung. Es spielte beispielsweise in den außenpolitischen Überlegungen Egon Bahrs eine große Rolle. Der einstige „Architekt der Ostpolitik“, der bis heute als wichtiger Politikberater und Ideengeber der SPD (zumal in außen- und sicherheitspolitischen Fragen) gelten darf, lehnte für sich die Bezeichnung eines Neutralisten stets vehement ab. Ungeachtet dieses Selbstbildes wiesen seine deutschlandpolitischen Überlegungen im Zeitalter des Kalten Krieges aber manche Parallele zu Ideen eines dritten Weges in der deutschen Frage auf.42 Bahr bekannte sich indes wiederholt zu einer von nationalen Motiven angetriebenen Politik. Im Jahr 1967 mit dem Vorwurf konfrontiert, ein unsicherer Kantonist in Sachen Wiedervereinigung zu sein, soll er gegenüber dem Staatssekretär im Bundeskanzleramt Karl Theodor Freiherr von und zu Guttenberg einmal geäußert haben, er sei „eigentlich ein Nationalist“.43 Als „deutschen Nationalisten“, der „kein überzeugter Anhänger der westlichen Gemeinschaft“ und „frei von allen gefühlsmäßigen Bindungen an die Vereinigten Staaten“ sei, bezeichnete ihn Henry Kissinger in seinen „Memoiren“.44 Gesine Schwan schließlich warf Bahr 1988 vor, einen deutsch-nationalen Alleingang zurück zu Bismarck zu betreiben.45 Zehn Jahre nach dieser Kritik plädierte Egon Bahr in einer fulminanten Rede für den Fortbestand nationalstaatlicher Strukturen, gerade im Angesicht der Globalisierung.46 Außerdem trumpfte er ebenfalls im Jahr 1998 mit einer Streitschrift unter dem selbstbewussten Titel „Deutsche Interessen“ auf. Darin machte er – ähnlich wie Peter Brandt oder Theodor Schweisfurth – keinen Hehl aus seinem Wunsch, ein sicherheitspolitisch eigenständiges Europa zwischen den Vereinigten Staaten und Russland zu schaffen. Von seinem sicherheitspolitischen Standpunkt – und Titelblatt 1998 nur von diesem aus – liege ihm der Osten nämlich näher als die atlantische Weltmacht; schließlich sei die „geopolitische Realität“ von der Zeitenwende zwischen 1989 und 1991 unberührt geblieben. Weiterhin müsse der „Raum zwischen Lissabon und Wladiwostok“ in sicherheitspolitischen Belangen als eine „Einheit betrachtet werden“. Die Vereinigten Staaten indes hätten in dieser Hinsicht ihre Schuldigkeit getan. Ohne Umschweife heißt es, Europa brauche „Amerika nicht mehr zu seinem Schutz vor einem Gegner, den es nicht mehr gibt“. Die NATO sei ein von den Ereignissen überholtes Zweckbündnis, ja ein reines „Kind des Kalten Krieges“: „Sie sollte die alte Bundesrepublik schützen, bis die Einheit erlangt sein würde. Für uns hat das Bündnis erreicht, wozu es gebraucht und gedacht war.“ Der OSZEProzess sei soweit fortzuführen, bis eine tragfähige europäische Sicherheitsstruktur entstehe, wodurch die NATO in Europa endgültig überflüssig werde.47 Im Jahr 2002 schließlich sorgte Bundeskanzler Gerhard Schröder im Vorfeld der Bundestagswahlen für einige Verblüffung, als er seine Friedens- und Sicherheitspoli- 42 Vgl. zu diesem „Antineutralisten in neutralistischer Tradition“ Gallus: Neutralisten (wie Anm. 14), S. 296–308; allgemein Andreas Vogtmeier, Egon Bahr und die deutsche Frage. Zur Entwicklung der sozialdemokratischen Ost- und Deutschlandpolitik vom Kriegsende bis zur Vereinigung, Bonn 1996. 43 Zit. nach Andreas Wilkens, Der unstete Nachbar. Frankreich, die deutsche Ostpolitik und die Berliner Vier-Mächte-Verhandlungen 1969–1974, München 1990, S. 62. 44 Henry Kissinger, Memoiren 1968–1973, Bd. 1, München 1979, S. 443. 45 Gesine Schwan, Souveräner Alleingang zurück zu Bismarck. Das Deutsch-Nationale in der SPD, in: Rheinischer Merkur/Christ und Welt vom 6. Mai 1988. 46 Egon Bahr, Der Nationalstaat: überlebt und unentbehrlich, Göttingen 1998. 47 Ders., Deutsche Interessen. Streitschrift zu Macht, Sicherheit und Außenpolitik, München 1998, S. 43, 49, 70, 103. 260 Einsichten und Perspektiven 4 | 08 Ideen einer Pax Germanica nach 1990 tik unter den normativ höchst aufgeladenen Begriff eines „deutschen Weges“ stellte.48 Diesen Impuls aufgreifend, war es erneut Bahr, der öffentlichkeitswirksam und offensiv für einen „deutschen Weg“ stritt.49 Der außenpolitische Vordenker der SPD wetterte gegen allzu viel „Amerika-Beflissenheit“50 und forderte mehr Mut bei der Formulierung und Verfolgung genuin deutscher Interessen. Bahr favorisierte eine eigenständige deutsche Politik oder sogar Führungsrolle im Rahmen europäischer Sicherheitsstrukturen. Solchermaßen müsse Deutschland zur Normalität finden und sich von einer übertriebenen Vergangenheitsfixiertheit emanzipieren: „Die Deutschen“, formulierte Bahr mit Nachdruck, „müssen endlich die Abnormalität abschütteln, bei vielen Problemen von heute auf gestern zurückzuschauen und damit Lösungen für morgen zu erschweren.“ In der Normalisierung ihres Nationsverständnisses bestehe eine wesentliche „Bringschuld der Deutschen“.51 Das waren ohne Zweifel starke und provozierende Thesen. „Hätte ein CDU-Vordenker solche Sätze publiziert“, kommentierte Patrick Bahners damals in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, „hätten die Jusos früher Mahnwachen vor dem Konrad-Adenauer-Haus aufgestellt.“52 Mit seinen Überlegungen zu einem forcierten Aufbau europäischer Sicherheits- und Verteidigungsstrukturen, auch als Korrektiv zu hegemonialen Neigungen der atlantischen Supermacht,53 stand Bahr angesichts einer am Beginn des neuen Jahrtausends wieder gewachsenen deutschen Amerika-, oder besser Bush-Kritik indes nicht alleine. Seine zu Streitschriften gebündelten Gedanken dürfen als konzentrierte Impulse im außenpolitischen Selbstfindungsprozess Deutschlands nach 1990 gelten und als solche durchaus begrüßt werden. Schon wegen der offensiven Wortwahl eines „deutschen Weges“ mag man hierin eine ältere Tradition Deutschlands als Mittelmacht zwischen Ost und West und damit auch einen Erbbestandteil des Nationalneutralismus erkennen. Titelblatt 2003 Wenn das transatlantische Bündnis aber in eine Krise geraten sein sollte54 und Gedanken einer „Europäisierung Europas“ zwischenzeitlich eine Renaissance erfuhren, dann jedoch gewiss nicht aufgrund solcher Gedankenexperimente von deutschlandpolitischen Veteranen aus den Zeiten des Ost-West-Konflikts. Das hieße ihre Rolle zu überschätzen. Im Übrigen hofft auch Egon Bahr nach der Wahl Barack Obamas zum US-Präsidenten auf eine Wiederbelebung der europäisch-amerikanischen Beziehungen in kooperativer Weise.55 Auf eine erfolgreiche Erneuerung der Zusammenarbeit darf man in der Tat schon deswegen hoffen, weil das westliche Bündnis und die weit umfassendere westliche Wertegemeinschaft nie statische Gebilde waren. Vielmehr gleichen sie seit jeher einem recht offenen System, das innere Spannungen gemäß dem Leitsatz „we agree that we may disagree“ noch stets aufgefangen hat. ❙ 48 Vgl. auch im Bezug zu einer neutralistischen Traditionslinie innerhalb der SPD Alexander Gallus, Die Tradition des „deutschen Weges“. Neutralistische Bestrebungen bei SPD und Grünen, in: Günther Heydemann/Eckhard Jesse (Hg.), 15 Jahre deutsche Einheit. Deutschdeutsche Begegnungen, deutsch-deutsche Beziehungen, Berlin 2006, S. 107–127. 49 Egon Bahr, Der deutsche Weg. Selbstverständlich und normal, München 2003. 50 Ebd., S. 149. 51 Ebd., S. 137. 52 Patrick Bahners: Deutsche Wege. Wir sind wir, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13. September 2003. 53 Werner Link: Das antiimperiale Europa, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27. August 2003. 54 Dazu aufschlussreich Jeffrey Anderson/John Ikenberry/Thomas Risse (Hg.), The end of the West? Crisis and change in the Atlantic order, Ithaca 2008. 55 Vgl. „Demokratie ist kein Exportartikel“. Egon Bahr nennt seine Erwartungen an den neugewählten amerikanischen Präsidenten – und fordert mehr Selbstbestimmung der Europäer, in: Die Zeit vom 13. November 2008. Einsichten und Perspektiven 4 | 08 261 Bevölkerungs- und Wirtschaftsentwicklung im vereinten Deutschland Bevölkerungs- und Wirtschaftsentwicklung im vereinten Deutschland zwischen Wachstums- und Schrumpfungsprozessen Von Günther Heydemann I. Wäre ein Satellit in der Lage, die Wanderungsströme von Menschen aufzuzeichnen und im Zeitraffer wiederzugeben, so würde das vereinte Deutschland in der Mitte Europas sofort auffallen. In der Tat weist kein anderes europäisches Land in den letzten zwanzig Jahren „großflächig so starke regionale demographische und wirtschaftliche Verwerfungen auf wie Deutschland“.1 Aber auch die Mikroperspektive ergibt ein ähnliches Bild, insbesondere, wenn der Fokus auf einige Städte in den neuen Ländern gerichtet wird: Seit der Wiedervereinigung hat z. B. Dessau, das noch zu DDR-Zeiten über 100.000 Einwohner zählte, mehr als 23.000 Bürger verloren. Allein zwischen 2000 und 2004 haben Stadt und Region 6,4 Prozent der Bevölkerung eingebüßt. Noch in den zwanziger Jahren eine aufstrebende Stadt mit hoch entwickelter Industrie (Chemie; Flugzeugbau) und weltweit führend in Architektur und Design, gelten Stadt und Region inzwischen als Negativbeispiele für den massiven demographisch-ökonomischen Wandel, der sich seit der „Wende“ in Ostdeutschland vollzogen hat.2 Doch die drittgrößte Stadt Sachsen-Anhalts und ihre z. T. desaströse Entwicklung stellt noch nicht einmal das schlimmste Beispiel jüngster ostdeutscher Stadtgeschichte dar. Noch stärker als Dessau wurde das sächsische Weißwasser vom fundamentalen sozioökonomischen Wandel betroffen, der nach 1990 erfolgte. Zählte der ehemalige industrielle Vorzeigestandort der DDR im Jahre 1987 noch mehr als 37.000 Einwohner, so wies die ostsächsische Stadt 2003 nur noch 23.000 Menschen auf. Ist dieser Aderlass schon rein quantitativ kaum mehr kommunalpolitisch verkraftbar, so schlägt weiter erschwerend zu Buche, dass es in soziologischer und demographischer Hinsicht vor allem die jüngeren Personengruppen sind, welche die Stadt inzwischen zu Tausenden verlassen haben und weiter verlassen. Jährlich verliert Weißwasser rund vier Prozent seiner Einwohner, wobei diese hohe Durchschnittszahl zu vier Fünftel durch Abwanderung bedingt ist.3 Eine Folge ist die sukzessive Überalterung der Stadt, sodass immer mehr Rentner in ihr leben; ebenso bleiben aber auch 1 Vgl. Steffen Kröhnert/Iris Hoßmann/Reiner Klingholz, Die demografische Zukunft von Europa, Wie sich die Regionen verändern, München 2008, Artikel: Deutschland. Vorreiter in Sachen demografischer Wandel, S. 156–171, hier S. 157. 2 Vgl. ebd., S. 156. 3 Matthias Bernt/Andreas Peter, Bevölkerungsrückgang und Alterung als maßgebliche Entwicklungsdeterminanten: der Fall Weißwasser, in: Raumforschung und Raumordnung 3 (2005), S. 216–222, hier S. 217 f. Vgl. dazu auch Ulrike Biehounek, Schrumpfen statt sterben, in: Bild der Wissenschaft 8 (2006), S. 72–76. 262 Einsichten und Perspektiven 4 | 08 Bevölkerungs- und Wirtschaftsentwicklung im vereinten Deutschland Aktuelle Bevölkerungsentwicklung Quelle: BBR (2005): Raumordnungsbericht 2005. Berichte Bd. 21, Bonn, Seite 31 Einsichten und Perspektiven 4 | 08 263 Bevölkerungs- und Wirtschaftsentwicklung im vereinten Deutschland eine hohe Zahl von Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern zurück. Daher hat man im Verwaltungsdeutsch inzwischen den Begriff „A-Gruppe“ eingeführt, nämlich für „Arbeitslose, Arme und Ausländer“.4 Inzwischen hat der Abriss von mehr als 4000 Wohnungen in Plattenbausiedlungen begonnen und soll bis 2010 fortgeführt werden, weil sie z. T. schon seit Jahren leer stehen.5 Doch die hohe Abwanderung zeitigt auch in technisch-infrastruktureller Hinsicht ganz unvorhergesehene, bislang unbekannte Folgen: Durch den geringeren Verbrauch von Abwasser, z.B. aufgrund der schrumpfenden Einwohnerzahl, verringert(e) sich auch dessen Abflussgeschwindigkeit in den Röhren, was wiederum zu Ablagerungen im bestehenden Leitungssystem und Verstopfungen führt, die kostenaufwändig beseitigt werden müssen. Wird die einstige Energiehochburg wieder zum Heidedorf?6 Diese (Rück-)Entwicklung ist nicht völlig ausgeschlossen. In anderen, ehemaligen Industriezentren des Arbeiter- und Bauernstaates, die zu DDR-Zeiten mit hohem Aufwand zu solchen ausgebaut wurden, wie Eisenhüttenstadt, Hoyerswerda, Wolfen, aber auch in Guben und Wittenberge ist die Situation kaum anders.7 Doch nicht nur dort. Bis 2020 werden den Prognosen zufolge zahlreiche ostdeutsche Landkreise gegenüber 1990 über die Hälfte ihrer Einwohner verloren haben.8 Was sind die Ursachen für diesen dramatischen demographischen und sozioökonomischen Wandel in den neuen Ländern, von dem indes nicht nur die Kommunen, sondern vor allem auch ländliche Regionen betroffen sind? Sind hier seit dem „annus mirabilis“ 1989 neue Ungleichheiten entstanden? Wie zumeist, liegt dem ein ganzes Bündel von Faktoren zugrunde, die keineswegs nur auf den seit der Wiedervereinigung einsetzenden Transformationsprozess zurückgeführt werden können. 4 5 6 7 8 9 10 11 12 II. In der Tat hat sich die demographische Situation in Westund Ostdeutschland schon seit dem Kriegsende 1945 unterschiedlich entwickelt.9 Insgesamt waren es im Jahr 1949 68 Millionen Menschen, welche in den beiden neu gegründeten deutschen Staaten lebten, davon 19 Millionen in der DDR. Schon bei der Zuwanderung von Vertriebenen aus den ehemaligen Ostgebieten des Deutschen Reiches mit rund zwölf Millionen hatte die junge Bundesrepublik stärker profitieren können als die DDR.10 Der nachkriegsbedingte Baby-Boom bis Mitte der sechziger Jahre mit einer hohen Fertilitätsrate über 2,1 Kinder pro (Durchschnitts-) Frau, die für eine stabil bleibende Bevölkerungszahl entscheidend ist, brach jedoch ab 1964 ein, sodass „bereits ab 1970 der Schwellenwert für eine stationäre Bevölkerung, das Bestandserhaltungsniveau, unterschritten wurde. Die Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland erreichte damit als eine der ersten Staaten weltweit das Stadium des Zweiten Demographischen Übergangs. Ab 1975 pendelte sich die durchschnittliche Kinderzahl bei etwa 1,4 ein.“11 Weil inzwischen jede Müttergeneration etwa um ein Drittel kleiner ist als die vorherige, d. h. seit ca. 30 Jahren 100 Frauen nur noch 60–70 Töchter bekommen, sind die Bedingungen für einen „exponentiellen Schrumpfungsprozess der Bevölkerung“ erreicht.12 Der seither einsetzende demographische Rückgang der westdeutschen Bevölkerung ist jedoch auch deshalb von der Politik übersehen worden, weil die Einwohnerzahl in der alten Bundesrepublik trotzdem zunächst nicht ab-, sondern zunahm. So ist es insbesondere auf drei Gründe zurückzuführen, dass heute fast zehn Prozent mehr Menschen in den alten Ländern leben als 1970. Dies war zunächst bedingt durch eine günstige innere Zusammensetzung der Bevölkerung, sodann durch eine steigende Lebenserwartung und Ebd., S. 76. Vgl. ebd., S. 74. Ebd., S. 72. Siehe hierzu die schon etwas ältere Forschungsliteratur von Christine Hannemann/Sigrun Kabisch/Christine Weiske (Hg.), Neue Länder – Neue Sitten? Transformationsprozesse in Städten und Regionen Ostdeutschlands, Berlin 2002, sowie Demographische Entwicklung im Freistaat Sachsen – Analysen und Strategien zum Bevölkerungsrückgang auf dem Arbeitsmarkt, (= Institut für Wirtschaftsforschung Dresden, 36), Dresden 2004. Vgl. Kröhnert/Hoßmann/Klingholz (wie Anm. 1), S. 157. Zur deutsch-deutschen Bevölkerungsentwicklung in den fünfziger und sechziger Jahren siehe jüngst auch Jörg Roesler, Das Zusammenspiel von innerdeutscher und transnationaler Migration nach Deutschland. Von der Mitte der 1950er bis Mitte der 1960er Jahre, in: DA 41 (2008), H. 3, S. 447–455. Vgl. ebd., S. 161, da sich acht Millionen der Vertriebenen in der Bundesrepublik und vier Millionen in der DDR niederließen. So Hansjörg Bucher, Raumordnungsprozesse und demographischer Wandel, in: Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft 32 (2007), H. 1-2, S. 123–136, hier S. 126. Vgl. ebd. 264 Einsichten und Perspektiven 4 | 08 Bevölkerungs- und Wirtschaftsentwicklung im vereinten Deutschland Durchschnittliche Kinderzahl pro Frau 2003 1,3 und weniger 1,31 bis 1,4 1,41 bis 1,5 1,51 bis 1,6 1,61 bis 1,7 mehr als 1,7 Datengrundlage: Statistisches Bundesamt schließlich durch den Umstand, dass die Bundesrepublik über Jahrzehnte hinweg faktisch ein Einwanderungsland war. Erst „seit 2003 sind die Wanderungsgewinne nicht mehr hoch genug, um die Sterbeüberschüsse ausgleichen zu können“.13 Anders verlief die Bevölkerungsentwicklung in der DDR. Auch nach dem Auslaufen der Immigration der Vertriebenen aus den ehemaligen Ostgebieten bis in die fünfziger Jahre hinein hielt die innerdeutsche Ost-West-Wanderung weiter an. Bis zum Mauerbau verließen 2,6 Millionen Menschen die DDR. Um den bereits eingetretenen demographischen Schwund zu kompensieren, entwickelte die SED zwar ein breites, sozialpolitisches Programm, allerdings mit wenig Erfolg: „Obwohl in der DDR in fast jedem Jahr mehr Personen geboren wurden als verstarben und das Land insgesamt einen Geburtenüberschuss erzielte, hatte es zum Fall der Mauer etwas weniger Einwohner als bei deren Bau. […] Der 13 Vgl. ebd., S. 126 f. Einsichten und Perspektiven 4 | 08 265 Bevölkerungs- und Wirtschaftsentwicklung im vereinten Deutschland Zu- und Fortzüge sowie Nettomigration nach Ostdeutschland 1989 bis 2006a Ostdeutschland vor 1991 a ohne Westberlin, Nettomigration = Zuzug - Fortzug (nur Binnenmigration) Quellen: Statistisches Bundesamt: Darstellung des IWH. Altersspezifisches Wandervolumen in Gegenwart und Zukunft Quellen: BBR Bonn 2008, Statistisches Bundesamt: Sonderauswertung der Wanderungsstatistik 2004, 11. Koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung (Variante 1-W2) Rückgang der Bevölkerung in Ostdeutschland ist somit ein Prozess, der seit über einem halben Jahrhundert andauert. Die DDR war das einzige Land der Welt, das in diesem Zeitraum durchgängige Bevölkerungsverluste zu verzeichnen hatte.“14 Diese sollten sich bald nach dem Fall der Berliner Mauer noch einmal dramatisch steigern, als die Geburtenrate unmittelbar nach der Friedlichen Revolution in der DDR von 1,3 Prozent im Jahr 1990 auf 0,77 Prozent absank.15 Seit 1990 beträgt der ostdeutsche Nettoverlust der dort bisher ansässigen Bevölkerung bis zum Jahre 2006 insgesamt 1,74 Millionen Menschen; im Schnitt haben jährlich ca. 50.000 Bürger die neuen Länder verlassen. Während die dortige Abwanderung der Bevölkerung „die Schrumpfung insgesamt verstärkten, trugen sie in Westdeutschland zum Wachstum der Bevölkerung bei“.16 Auch der Zuzug von Westdeutschen nach Ostdeutschland 14 Vgl. Kröhnert/Hoßmann/Klingholz (wie Anm. 1), S. 161. 15 Vgl. Thorsten Erdmann, Regionale Aspekte der Bevölkerungsentwicklung in Ostdeutschland seit der Wiedervereinigung, in: DA 38 (2005), H. 3, S. 402–409, hier S. 406. 16 So Ralf Mai, Die altersselektive Abwanderung aus Ostdeutschland, in: Raumforschung und Raumordnung 5 (2006), S. 355–369, hier S. 355. 266 Einsichten und Perspektiven 4 | 08 Bevölkerungs- und Wirtschaftsentwicklung im vereinten Deutschland Frauenanteil je 100 Männer im Alter von 20 bis 29 Jahren 2005 Sylt Fehmarn unter 85 Rügen 85 bis unter 88 Usedom 88 bis unter 91 91 bis unter 94 94 bis unter 97 97 bis unter 100 100 bis unter 103 103 und mehr Datengrundlage: destatis während dieses Zeitraums hat den eingetretenen Bevölkerungsschwund nicht ausgleichen können.17 Immerhin, so die jüngste gesamtdeutsche Entwicklung, ist die Zahl der Neugeborenen erstmals seit 1997 wieder gestiegen. Gegenüber 2006 wurden im Jahr 2007 12.141 Kinder geboren, ein Anstieg um 1,8 Prozent. Dadurch erhöhte sich auch die bundesdeutsche Geburtenrate leicht von 1,33 auf 1,37 Kinder pro (Durchschnitts-) Frau. Gleichwohl sank die Einwohnerzahl in den neuen Ländern im Jahre 2007 erneut um rund 107.000 Menschen.18 III. Da die innerdeutsche Migration von Ost- nach Westdeutschland jedoch nicht gleichmäßig über alle Alterskohorten erfolgt(e), sondern vor allem von den sog. „Berufs- 17 Vgl. die Angaben bei Alexander Kubis/Lutz Schneider, im Fokus: Wanderungsverhalten der Ostdeutschen, in: Wirtschaft im Wandel 14 (2008), H. 4, S. 128–131, hier S. 128. 18 Vgl. Mehr Kinder – aber trotzdem weniger Deutsche, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27. 6. 2008, S. 9. Einsichten und Perspektiven 4 | 08 267 Bevölkerungs- und Wirtschaftsentwicklung im vereinten Deutschland Land im Umbruch Sylt Fehmarn Rügen Usedom Datengrundlage: Statistische Landesämter Obwohl die Einwohnerzahl seit dem Jahr 2003 zurückgeht, wächst die Bevölkerung in manchen Gebieten weiter stark. Die hellgrünen, meist wirtschaftsstarken Gebiete erleben einen Zuzug vor allem junger Menschen und verzeichnen deshalb auch mehr Geburten als Sterbefälle. Die dunkelblauen Zonen profitieren zwar von der Zuwanderung, haben aber zu wenige Kinder, um die Sterbefälle zu kompensieren. Hellblau bedeutet doppelten Bevölkerungsverlust: weil die Menschen abwandern und weil mehr Menschen sterben, als geboren werden. Diese Entwicklung hatte bereits 2005 weit mehr als die Hälfte aller deutschen Landkreise und kreisfreien Städte erfasst. 268 Bevölkerungsveränderung nach Ursachen für alle deutschen Landkreise und kreisfreien Städte 2005 8 Geburtenüberschuss/Wanderungsgewinn (46) Geburtenüberschuss/Wanderungsverlust (14) Sterbeüberschuss/Wanderungsverlust (223) Sterbeüberschuss/Wanderungsgewinn (156) Einsichten und Perspektiven 4 | 08 Bevölkerungs- und Wirtschaftsentwicklung im vereinten Deutschland und Bildungswanderern“ im Alter zwischen 18 und 30 Jahren getragen wird, ist der Bevölkerungsverlust in den neuen Ländern um so gravierender, zumal gerade jene Generation ihrer Heimat den Rücken kehrt, welche die größte Fertilität aufweist. So geht die negative Wanderungsbilanz Ostdeutschlands seit 1991 zu 54 Prozent auf die Verluste gerade dieser Generation zurück.19 Weil es in dieser jungen Alterskohorte aber wiederum vor allem junge Frauen im Alter zwischen 18 und 30 Jahren sind, die stärker als Männer im gleichen Alter die neuen Länder verlassen,20 stellen sie „als potentielle Mütter eine besonders kritische Gruppe im Hinblick auf die langfristige demographische Entwicklung einer Region“ dar.21 So sind in absoluten Zahlen in geschlechtsspezifischer Hinsicht zwischen 1991 und 2004 aus den neuen Ländern rund 364.000 Männer abgewandert, im gleichen Zeitraum jedoch 536.000 Frauen.22 Insgesamt hat die Ost-West-Binnenmigration somit nicht nur zu einer Schrumpfung, sondern auch zu einer Alterung der Bevölkerung und damit auch des Erwerbspotentials in den neuen Ländern geführt. Entsprechend ist der Altersdurchschnitt der dort lebenden Menschen von 38,6 Jahren im Stichjahr 1991 auf 42,6 im Jahr 2002 angestiegen.23 Von der Abwanderung besonders junger Ostdeutscher, die eine klare Präferenz für die alten Länder aufwiesen, profitierten diese „mit einem Anteil von 84 Prozent weit überproportional an den Wanderungsgewinnen“ innerhalb Gesamtdeutschlands.24 IV. Auch wenn sich diese jüngsten demographischen Entwicklungsprozesse auf die Regionen Gesamtdeutschlands sehr unterschiedlich auswirken, so haben sich grundsätzlich zwei Entwicklungen vollzogen: Einerseits eine großräumige Migration von den neuen in die alten Länder seit 1990. Andererseits bildeten sich in Ostdeutschland seither kleinräumige siedlungsstrukturelle Gefälle zwischen den Kernstädten und ihrem Umland heraus.25 Kurz zum historischen Kontext: Schon bald nach 1990 wies das wieder vereinte Deutschland eine Zweiteilung in Boom- und Schwundregionen auf – und zwar in demographischer wie in sozioökonomischer Hinsicht. Und das hat sich bis heute nicht verändert, sondern eher noch verstärkt: So zählen die neuen Länder im gesamtdeutsch-regionalen Vergleich fast ausnahmslos zu den Schwundregionen, da vor allem die wirtschaftsstarken Gebiete im Süden und Südwesten Deutschlands, in Bayern und Baden-Württemberg, aber auch im Norden und Nordwesten, in Hamburg, im westlichen Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen, einen kontinuierlichen Zuzug junger Menschen, vornehmlich aus Ostdeutschland, erfahren und dadurch in jeder Hinsicht profitieren. Für die neuen Länder wiederum bedeutet das im Gegensatz dazu nicht nur eine schrumpfende Fertilität, verbunden mit sukzessiver Überalterung der dort verbleibenden Menschen, sondern Kommunen und Gemeinden werden dort auch zunehmend mit einer reduzierten Steuerleistung und nachlassender Kaufkraft zu kämpfen haben – z. T. ist das jetzt schon der Fall. Hält dieser Trend an, wobei der Alterungseffekt hinzukommt, wird die Bevölkerung in den neuen Ländern im Jahre 2020 nur noch bei 14,5 Millionen liegen statt bei 15,1 Millionen wie gegenwärtig. Das bedeutet gleichzeitig, dass sich die Abhängigkeit Ostdeutschlands von finanziellen Transferleistungen aus Westdeutschland nicht vermindert, wobei offen bleibt, was nach dem Ende von Solidarpakt II im Jahre 2019 sein wird. Nach wie vor hängen davon rund 850.000 Arbeitsplätze in den neuen Ländern ab. 19 Vgl. ebd., S. 129. 20 Gründe hierfür sind u. a., dass viele junge Frauen bereits nach der Schulausbildung, junge Männer hingegen erst nach der Berufsausbildung ihre Regionen verlassen; hinzu kommt, dass für junge weibliche Erwerbstätige eine höhere Migrationsbereitschaft aufgrund der schlechteren Lehrstellensituation besteht, vgl. Günter Herfert, Regionale Polarisierung der demographischen Entwicklung in Ostdeutschland – Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse?, in: Raumforschung und Raumordnung 5 (2007), S. 435–455, dort S. 449. 21 Vgl. Alexander Kubis/Lutz Schneider, „Sag mir, wo die Mädchen sind…“ Regionale Analyse des Wanderungsverhaltens junger Frauen, in: Wirtschaft im Wandel 13 (2007), H. 8, S. 298–307; Zitat S. 298. 22 Siehe Mai, S. 360. Die Abwanderung aus ostdeutschen Regionen lief dabei nach Mai in drei Phasen ab: 1991–1993, 1994–1997 und 1998–2001. Insgesamt setzt sie sich, wenn auch vermindert, weiter fort; vgl. ebd., S. 364f. 23 Vgl. Joachim Ragnitz/Lutz Schneider, Demographische Entwicklung und ihre ökonomischen Folgen, in: Wirtschaft im Wandel 6 (2007), S. 19–202; dort S. 195. Entsprechend wird auch „die Größe der Altersgruppen der 15–20Jährigen und der 20–40Jährigen…bis 2020 mit -46% bzw. 28% dramatisch abnehmen“, ebd. 24 So Bucher (wie Anm. 11), S. 128. 25 Vgl. ebd., S. 129. Einsichten und Perspektiven 4 | 08 269 Bevölkerungs- und Wirtschaftsentwicklung im vereinten Deutschland Regionale Polarisierung der demographischen Entwicklung in Ostdeutschland 2003–2005 Datengrundlage: Berechnungen der Statistischen Landesämter Im gleichen Zeitraum haben sich in den neuen Ländern, bedingt durch die Abwanderung von Bevölkerungsteilen in den Westen, „zwei polarisierte Raumtypen“ herausgebildet, nämlich „die Wachstumsinseln Berlin/ Potsdam, Dresden, Leipzig und die thüringische Städtereihe mit Jena, Weimar und Erfurt einerseits und großflächige Regionen mit stark schrumpfender Bevölkerung andererseits“.26 Trotz einer leicht abgeschwächten Abwanderung in den Jahren 2003–2005 blieben diese regionalen Raummuster bestehen, d.h. die bereits genannte Auseinanderentwicklung hat sich weiter stabilisiert.27 Im Rahmen dieser sich fortsetzenden Polarisierung unterscheidet die sozio-demographische Raumforschung in den neuen Ländern zwischen drei geographisch-demographischen Grundmustern: 26 So Herfert (wie Anm. 20), S. 441. 27 Vgl. ebd., S. 443. 270 Einsichten und Perspektiven 4 | 08 Bevölkerungs- und Wirtschaftsentwicklung im vereinten Deutschland Bevölkerungsentwicklung nach Raumtypen und Gemeindegrößen 2000–2005 Index 2000 = 100 Quelle: Berechnungen der Statistischen Landesämter Einsichten und Perspektiven 4 | 08 271 Bevölkerungs- und Wirtschaftsentwicklung im vereinten Deutschland • Wachstumsräume, in denen Kernstädte28 mit Wanderungsgewinnen dominieren, im Umland nach dem Auslaufen der Suburbanisierungswelle jedoch zunehmend Sterbefallüberschüsse zu registrieren sind; • Übergangsräume, hier dominiert in den Kernstädten (Greifswald, Stralsund, Chemnitz, Zwickau, Magdeburg, Halle) infolge zurückgehender Wanderungsverluste ein Sterbefallüberschuss, während in den peripheren Räumen Wanderungsverluste dominant bleiben;29 • stark schrumpfende Räume, in welchen sowohl hohe Wanderungsverluste, etwa in den Kernstädten (Neubrandenburg, Frankfurt/Oder, Dessau, Gera, Cottbus), als auch im peripheren Raum zu verzeichnen sind. Obwohl die Entwicklung noch keineswegs abgeschlossen ist, hat sich in der Raumforschung gegenwärtig folgender Forschungsstand herauskristallisiert: Vor dem Hintergrund massiver Wanderungsverluste aus den neuen Ländern wird davon ausgegangen, „dass Reurbanisierungsprozesse in Ostdeutschland aktuell nur in den Wachstumsinseln stattfinden werden“.30 Dieser Reurbanisierungsprozess wird vornehmlich von sehr mobilen, jungen Altersgruppen getragen, das bedeutet vorwiegend von Singles und kinderlosen Partnerschaften, während Familien eher eine untergeordnete Rolle spielen.31 Im Unterschied dazu bleibt in den stark schrumpfenden Räumen eine demographische Entwicklung des „kollektiven Abgleitens“ in allen Gemeindegrößengruppen erhalten. Hier ist kaum eine Abschwächung der Abwanderung zu konstatieren; erschwerend kommt hinzu, dass der Anteil der jungen, zwischen 19 und 35 Jahre alten Menschen daran in einigen Randgebieten zwischen 70 und 80 Prozent beträgt.32 Besonders hoch bleibt der Wanderungsverlust in den bereits genannten Städten wie z. B. Weißwas- ser, Hoyerswerda, Wolfen, Guben und Wittenberge, die vom ökonomischen Transformationsprozess besonders stark betroffen wurden. Hier verlassen „neben den jungen Mobilen auch Familien mittlerer und höherer Altersgruppen die Stadt“.33 In den Übergangsräumen schließlich ist die demographische Schrumpfung zwar reduziert, bleibt aber problematisch.34 Ihre weitere Bevölkerungsentwicklung hängt von ihrer Lage zu Wachstumsinseln, auch und nicht zuletzt zu westdeutschen ab, etwa Hamburg, Lübeck oder Hannover. Fasst man die bisherige Entwicklung zusammen, so kommt man an der Feststellung nicht vorbei, dass es in den neuen Ländern aufgrund der dargelegten Wachstums- und Schrumpfungsprozesse zu beidem gekommen ist. In der Tat konnte der bisherige sozioökonomische Transformationsprozess auf dem Gebiet der ehemaligen DDR bislang nur in einigen Wachstumsinseln und dem dazu gehörigen Umland, aber nicht flächendeckend, Erfolge zeitigen. Die enorme staatliche und privatwirtschaftliche Wirtschafts- und Infrastrukturförderung in Ostdeutschland35 hat zwar beträchtliche Erfolge aufzuweisen, die nicht leichtfertig unterschätzt werden sollten, in der Fläche ist sie aber bisher gescheitert. Strukturschwache, bevölkerungsarme und zugleich überalterte Regionen auf dem Lande und an der Peripherie werden einigen ökonomisch starken Regionen in Ostdeutschland gegenüberstehen, die zukünftig die Funktion von „Wachstumskernen“ ausüben (sollen). Tatsächlich gleichwertige Arbeits- und Lebensbedingungen konnten im vereinten Deutschland bislang noch nicht realisiert werden, trotz massiver Finanzund Investitionsleistungen seit fast zwei Jahrzehnten, besonders von West- nach Ostdeutschland.36 Daraus resultieren die eigentlichen Ursachen für den bisher nicht gestoppten innerdeutschen Migrationsprozess von Ost nach West, der fast ausschließlich in den neuen Ländern 28 Selbst ostdeutschen Städten gelingt es inzwischen, in die top ten europäischer Städte vorzustoßen, wie das Beispiel Leipzig zeigt, obwohl die Arbeitslosigkeit dort nach wie vor doppelt so hoch ist wie in westdeutschen Städten; so gelang es der Messestadt, im Rahmen einer europaweiten Untersuchung von 31 Städten Platz 5 einzunehmen; vgl. Urban Audit Perception Survey – local perceptions of life in 31 European cities, (2008); www.urbanaudit.org (Stand: Dezember 2008). 29 Vgl. ebd. 30 Ebd., S. 445. 31 Vgl. ebd., S. 446. 32 Vgl. ebd., S. 448. 33 Ebd., S. 449. 34 Vgl. ebd. 35 Schon seit längerem gibt es daher eine Diskussion über die „Fehlfinanzierung Ost“; vgl. jüngst Manfred Schweres, Fehlfinanzierung Aufbau Ost. Für eine offene Diskussion der Abgrenzung von Förderregionen in der Arbeitsmarkt- und Regionalpolitik, in: DA 41 (2008), H. 3, S. 408–415. 36 Das schlägt sich auch im Bruttoinlandsprodukt zwischen den alten und neuen Ländern nieder; selbst im wirtschaftlich stärksten der neuen Länder, in Sachsen, beträgt dessen Durchschnittswert nur 78 % des Bundesdurchschnitts. Vgl. Freiberg wächst am stärksten, in: Leipziger Volkszeitung vom 9. 7. 2008, S. 6. 272 Einsichten und Perspektiven 4 | 08 Bevölkerungs- und Wirtschaftsentwicklung im vereinten Deutschland negativ zur Auswirkung kommt und dort in demographischer Hinsicht bereits eine Situation „30 Jahre nach 12“ geschaffen hat. V. Was sind die eigentlichen Ursachen für die in demographischer wie in sozioökonomischer Hinsicht nach wie vor problematische Entwicklung in den neuen Ländern? Zuallererst sind es die noch immer nachwirkenden Folgen der von der SED geschaffenen zentralen Planverwaltungswirtschaft und ihrer verfehlten Wirtschafts- und Sozialpolitik, die von den politischen und wirtschaftlichen Eliten der alten Bundesrepublik offenkundig unterschätzt, wie andererseits die Leistungsfähigkeit der westdeutschen Marktwirtschaft überschätzt worden ist.37 Schlagwortartig zusammengefasst gehören dazu i. E. vor allem folgende Faktoren: Der weiter bestehende Mangel an Arbeitsplätzen – nach wie vor ist die Arbeitslosigkeit in den neuen Ländern im Schnitt doppelt so hoch wie in den alten; der teilweise noch immer bestehende Produktivitätsrückstand, der auch auf eine zu geringe Forschungsintensität und mittelständische Kapitalknappheit zurückgeht, der zu langsam wachsende Industrieanteil der Wirtschaft, die Kleinteiligkeit der Produktionsstätten sowie fehlende Konzernzentralen.38 Diese Probleme haben sich nach der Transition der zentralen Planverwaltungswirtschaft in eine soziale Marktwirtschaft teilweise verschärft oder konnten auf makro- und mikroökonomischer Ebene bisher nur partiell gelöst werden. Solche Feststellungen behalten grundsätzlich an Gewicht, obwohl sich in den neuen Ländern bereits auf volks- wie betriebswirtschaftlicher Ebene ein umfassender Modernisierungsprozess vollzogen hat: Denn bereits nach der Jahrtausendwende befand sich die Wirtschaft in Ostdeutschland auf dem Weg zu einer modernen, postindustriellen Dienstleistungsgesellschaft. Schon 2004 war der Beschäftigtenanteil in der Land- und Forstwirtschaft (primärer Sektor) von 9,0 Prozent (1989) auf 3,3 Prozent (2004) gesunken, und der Anteil der Beschäftigten im produzierenden Gewerbe (sekundärer Sektor) von 45,9 Prozent (1989) auf 26,3 Prozent (2004) gefallen, während die Be- schäftigung im tertiären Sektor, den Dienstleistungen, von 45,1 Prozent (1989) auf 70,4 Prozent (2004) gestiegen war.39 In diesem Zusammenhang sollte auch nicht übersehen werden, dass die privaten Haushalte in Ostdeutschland, die noch 1989 nur dem Standard eines durchschnittlichen westdeutschen Haushalts zu Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre entsprachen, bereits Mitte der neunziger Jahre das westdeutsche Niveau von 1992 erreicht hatten. Das bedeutet einen Wohlfahrtssprung von 30 Jahren innerhalb von einem Jahrfünft! Greift man nur eines der vielen gravierenden Defizite der DDR-Wirtschaft heraus, so wird rasch deutlich, mit welchen ökonomischen Problemen der Transitionsprozess von Anfang an behaftet und belastet war: Stichwort Arbeitsproduktivität. In der DDR ohnehin durchweg niedriger als in der Bundesrepublik, befand sich der SED-Staat im Jahr der Wende „auf einem Entwicklungsstand bei Produktion und Beschäftigung, wie er für die alte Bundesrepublik in den sechziger Jahren anzutreffen war“.40 Entsprechend belief sich die Arbeitsproduktivität in der DDR-Wirtschaft im Jahre 1983 nur noch auf 47 Prozent im Vergleich zur Bundesrepublik; zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung war sie noch niedriger. De facto war die DDR-Wirtschaft bis zu ihrem Zusammenbruch nur noch in der künstlichen Abschottung des RGW überlebensfähig gewesen, gemessen an den Anforderungen einer globalen Konkurrenzwirtschaft war sie das schon seit längerem nicht mehr. Erschwerend kam hinzu, dass mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion ab 1991 auch ihr wichtigster Handelspartner wegfiel. Es verwundert daher nicht, dass nach der Wiedervereinigung und der Öffnung der internationalen Märkte in der NochDDR-Wirtschaft Beschäftigung und Produktionsausstoß der ostdeutschen Betriebe auf ca. ein Viertel des Standes vom Jahr 1989 gesunken waren. Die Mehrzahl von ihnen war nicht mehr in der Lage, „marktgängige Güter zu kostendeckenden Preisen“ auf einem globalen Markt anzubieten.41 VI. Diese grundlegenden ökonomischen Defizite konnten mittel- und langfristig nur durch eine ordnungspolitische Kehrtwende – die Privatisierung – und den raschen Abbau 37 Vgl. ebd. S. 408. 38 Vgl. Udo Ludwig, Mittel- und langfristige Wachstumsprojektionen für Ostdeutschland, in: Wirtschaft im Wandel 6 (2007), S. 210–218, dort S. 210. 39 Vgl. ders., Licht und Schatten nach 15 Jahren wirtschaftlicher Transformation in Ostdeutschland, in: DA 38 (2005), H. 3, S. 410–416; dort S. 413. 40 Vgl. ebd., S. 412. 41 Vgl. ebd., S. 414. Einsichten und Perspektiven 4 | 08 273 Bevölkerungs- und Wirtschaftsentwicklung im vereinten Deutschland Maschinenbau Sachsen Umsatz (Mrd. Euro)/Beschäftigte Quelle: Statistisches Landesamt Sachsen von defizitären, industriellen Produktionsanlagen beseitigt werden.42 Daraus resultierte allerdings unweigerlich ein ebenso rasanter Abbau von Arbeitsplätzen – mit sozialen und sozialpsychologischen Folgen bis hinein in die Gegenwart. Doch die millionenfache Wegrationalisierung von Arbeitsplätzen traf auf eine Gesellschaft, die darauf völlig unvorbereitet war. Denn bei allen Mängeln und Defiziten der Planwirtschaft in der DDR blieb eines immer sicher: Niemand verlor seinen Arbeitsplatz. Diese Arbeitsplatzsicherheit war in der ostdeutschen Gesellschaft tief verinnerlicht. Die völlige Veränderung der bisher gewohnten Beschäftigungsverhältnisse bedeutete daher auch meist einen massiven Umbruch von persönlichen Lebensverhältnissen. Hinzu kam, dass die nach 1990 einsetzenden außer- und innerbetrieblichen Umstrukturierungen der jahrelangen Propaganda der SED scheinbar Recht gaben: „Kommt der Kapitalismus, kommt die Arbeitslosigkeit.“ Die „Wahrheit“ dieser apodiktischen Feststellung erfüllte sich somit subjektiv für viele arbeitslos Gewordene. Dabei ist den vielen Betroffenen meist nicht bekannt, dass ihre Abwanderung auch eine Folge der in beiden deutschen Wirtschaften bereits vor 1989 bestehenden Beschäftigungsprobleme war, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen und in differenten Formen: In der Bundesrepublik durch die seit Ende der siebziger Jahre sukzessiv steigende Arbeitslosigkeit, nicht zuletzt aufgrund des stetig ansteigenden Lohnniveaus; in der DDR eine systembedingte Beschäftigungskrise in Form „verdeckter Arbeitslosigkeit“, wie sie in allen Planwirtschaften auftritt. Diese doppelte Belastung hat den unumgänglichen Transformationsprozess der DDR-Ökonomie in eine soziale Marktwirtschaft zweifellos erheblich erschwert. In der Tat ist der in den neuen Ländern noch immer bestehende Mangel an Arbeitsplätzen der Hauptgrund für die massive Binnenwanderung, die sich seither von Ost- nach Westdeutschland ergeben hat und noch weiter ergibt. Vor allem jüngere Ostdeutsche haben ihre Städte und Dörfer verlassen und sind in jene westdeutsche Regionen oder in die Schweiz und Österreich abgewandert, die ihnen Arbeitsplätze anboten, nachdem sie in ihrer eigenen Heimat keine solchen mehr vorfanden oder zu wenige davon. Allerdings zeigt sich nach fast zwei Jahrzehnten erstmals etwas Licht am Ende des Tunnels: Hatte die Arbeitslosigkeit in Gesamtdeutschland im Februar 2005 ihren Höhepunkt mit 5,3 Millionen erreicht, so ist sie im September 2008 auf ihren bisher niedrigsten Stand von 3,08 Millionen gefallen, wobei der Abbau der Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland sogar noch höher ausgefallen ist als in West- 42 Vgl. Hans Luft, Die Treuhandanstalt. Deutsche Erfahrungen und Probleme bei der Transformation von Wirtschaftsordnungen, in: DA 24 (1991), H. 12, S. 1270–1287. 274 Einsichten und Perspektiven 4 | 08 Bevölkerungs- und Wirtschaftsentwicklung im vereinten Deutschland Bundesagentur für Arbeit erwartet geringes Defizit Zahl der Arbeitslosen in Millionen1 1 Registrierte Arbeitslose, die für die Vermittlung verfügbar sind Haushaltssaldo der Bundesagentur in Mrd. Euro Quelle: Bundesagentur für Arbeit/FAZ, Grafik Broker/Niebel Quelle: FAZ vom 9. 8. 2008, S. 9 Einsichten und Perspektiven 4 | 08 275 Bevölkerungs- und Wirtschaftsentwicklung im vereinten Deutschland deutschland: In der Veränderung zum Vorjahr eine Reduzierung um 1,9 Prozent im Unterschied zu den alten Ländern von 0,9 Prozent. Insgesamt ist mit 7,3 Prozent der niedrigste Stand der Arbeitslosigkeit seit sechzehn Jahren erreicht worden.43 Leider reicht das jedoch nach wie vor nicht aus, zumal die Arbeitslosigkeit in den neuen Ländern im Schnitt doppelt so hoch geblieben ist wie in den alten. Entsprechend ist Ostdeutschland weit davon entfernt, zu Westdeutschland aufzuschließen, wie der Jahresbericht 2007 der Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit ohne Beschönigung konstatiert.44 Zudem bedeutet die Ansiedlung hochmoderner Industrien keineswegs ein Allheilmittel für die Schaffung von Arbeitsplätzen. So führte z. B. die völlige Modernisierung des traditionellen Chemiestandorts der DDR in den Landkreisen Merseburg-Querfurt und Bitterfeld – Stichwort „Leuna“ – zwar zu international in jeder Hinsicht konkurrenzfähigen Arbeitsplätzen. Schon auf nationaler Ebene liegt z. B. der Umsatzzuwachs in den neuen Ländern mit 5,7 Prozent deutlich höher als in den alten mit 2,7 Prozent.45 Diese hoch modernen Arbeitsplätze sind jedoch so stark rationalisiert und produktionseffizient, dass sie „die Freisetzung nicht mehr benötigten Personals nicht kompensieren“ können.46 Mit anderen Worten: Sie schaffen nur bedingt weitere Arbeitsplätze. Ein eventuelles Hilfsmittel des Abbaus von sozioökonomischen Ungleichheiten kann möglicherweise in einer noch differenzierteren Förderung einzelner Regionen liegen, wozu auch der „Stadtumbau Ost“ gehören dürfte.47 Inwieweit das Erfolge zeitigt, bleibt allerdings abzuwarten. Letztlich stellt weiteres Wachstum nach wie vor den sichersten Garanten für die Schaffung von Arbeitsplätzen dar, auch und nicht zuletzt in den neuen Ländern. Das hängt aber nicht zuletzt vom weiteren Verlauf der internationalen ökonomischen Rahmenbedingungen und deren Auswirkungen auf die Konjunktur ab, über die sich gegenwärtig jedoch zunehmend der dunkle Schatten einer weltweiten Finanzkrise legt. ✩ 43 Vgl. Arbeitslosenzahl nähert sich der Drei-Millionen-Marke, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 1. 10. 2008, S. 13. 44 Vgl. Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (Hg.), Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit 2007, Berlin 2007, passim. 45 Vgl. „Gefragt wie geschnitten Brot“. Ostchemie sucht Arbeitskräfte, in: Leipziger Volkszeitung vom 8. 7. 2008, S. 6. Inzwischen hat sich die chemische Industrie mit rund 81.000 Beschäftigten zum drittgrößten Industriezweig in den neuen Ländern entwickelt. 46 Vgl. Alexander Kubis/Mirko Titze/Matthias Brachert, Leuchttürme und rote Laternen – Ostdeutsche Wachstumstypen 1996 bis 2005, in: Wirtschaft im Wandel 4 (2008), S. 144–153, hier S. 145 f. 47 Siehe hierzu i. E. Claus Michelsen, „Stadtumbau Ost“ in Sachsen: Differenzierter Einsatz der Aufwertungsförderung notwendig, in: Wirtschaft im Wandel 2 (2008), S. 62–71. 276 Einsichten und Perspektiven 4 | 08 Veranstaltungshinweis Veranstaltungshinweis Bilanz und Vorausschau: Große Koalition und Bundestagswahl 2009 16.–18. Januar 2009, Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände, Nürnberg Programm Freitag, 16. Januar 2009 • 14.00 h, Begrüßungen und Einführung • 14.30 h, Dr. Peter März, München Vergleich der beiden Großen Koalitionen von 1966–1969 und von 2005–2009 • 16.15 h, Prof. Dr. Eckhard Jesse, Chemnitz Das Parteiensystem vor der Bundestagswahl 2009 • 17.15 h, Prof. Dr. Roland Sturm, Erlangen Die Politik der Großen Koalition seit 2005: Strategien und Politikstille • 19.30 h Prof. Dr. Maria H. Dettenhofer, München Wahlen und Wahlkampf zu anderen Zeiten: Wettbewerb um Ämter in der Römischen Republik Samstag, 17. Januar 2009 • 9.00 h, Prof. Dr. Heinrich Pehle, Erlangen Der Bundespräsident und die Große Koalition • 10.00 h, Prof. Dr. Werner Patzelt, Dresden Fraktionsdisziplin während der Großen Koalition 1966–1969 und 2005–2009 • 11.30 h, Prof. Dr. Oskar Niedermayer, Berlin Die Rolle der beiden Regierungsparteien • 14.30 h, Podiumsdiskussion: „Die veränderte Republik“? Ost-West-Gemengelage, „Die Linke“ und die Koordinaten der Republik Prof. Dr. Klaus Schroeder, Berlin, Dr. Martina Weyrauch, Potsdam • 16.30 h, Prof. Dr. Frank Decker, Bonn Koalitionsaussagen der Parteien vor den Wahlen • 17.30 h, Thomas Schubert M. A., Chemnitz Die Rolle der „Grünen“ und der FDP Sonntag, 18. Januar 2009 • 9.00 h, Prof. Dr. Hans Joachim Veen, Weimar „Ossis“ und „Wessis“ – Befunde zu(m) Elektrorat(en) in Ost und West • 10.00 h, Prof. Dr. Ulrich Eith, Freiburg Landtags- und Bundestagswahlen im Vergleich • 11.30 h, Streitgespräch von Vertretern der politischen Parteien Informationen und Anmeldung: Beate Michl, M.A., Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit Praterinsel 2, 80538 München, Tel.: (089) 2186-2176, Fax: (089) 2186-2180 Zur Anmeldung verwenden Sie bitte dieses Formular (pdf, 90 kb) Hinweis: Für das Symposion wird eine Teilnehmergebühr erhoben. Tagungsgebühr ohne Übernachtungen: € 30,--, Tagungsgebühr mit Übernachtungen: im DZ € 130,-- / im EZ € 150,--, Studenten und Schüler mit Übernachtungen: € 40,-Studenten und Schüler ohne Übernachtungen: frei Einsichten und Perspektiven 4 | 08 277 Das Reichskristallnachtpogrom und seine juristische Aufarbeitung Das Reichskristallnachtpogrom und seine juristische Aufarbeitung Von Edith Raim Brandstifter in der Synagoge der orthodoxen jüdischen Gemeinde in der Essenweinstraße 7 in Nürnberg 278 Foto: Stadtarchiv Nürnberg Einsichten und Perspektiven 4 | 08 Das Reichskristallnachtpogrom und seine juristische Aufarbeitung Das Pogrom vom 9./10. November 1938 Am 9./10. November 1938 kam es zu gewalttätigen Ausschreitungen in Würzburg wie auch in zahlreichen anderen Orten im Reich. Die Inneneinrichtung der Synagoge in der Domerschulgasse wurde demoliert. Die Wohnung der Familie Hanover wurde verwüstet. Einer der Täter schilderte nach 1945 die Ausschreitungen der Pogromnacht: „Am 9. 11. 1938 habe ich mit dem SA-Sturm 21/9 an der Standorttotenfeier im Hutten’schen Garten teilgenommen, die seinerzeit wegen der Ermordung des Botschaftsrates vom Rath durchgeführt wurde. Bei dieser Totenfeier wurde bekanntgegeben, daß mit Gegenmaßnahmen der Reichsregierung zu rechnen sei. Im Übrigen vermag ich mich an weitere Einzelheiten nicht mehr zu erinnern. Jedenfalls begab sich unser Sturm im Anschluß an die Totenfeier in das Sturmlokal ‚Erzherzog Karl‘ in der Rottendorferstraße [in Würzburg], woselbst wir etwa um 22 oder 23 Uhr eingetroffen sein werden. Es wurde auch an diesem Tage, wie auch sonst bei den Zusammenkünften des Sturmes, ziemlich scharf getrunken. Ich erinnere mich noch, daß im Laufe des Zusammenseins Sturmführer U. mitteilte, er sei bei der Standarte gewesen, dort sei ihm eröffnet worden, daß auf Befehl der obersten SA-Führung eine Judenaktion durchgeführt werde, an der sich auch unser Sturm zu beteiligen hätte. Es kann auch möglich sein, daß U. von einem Befehl der Reichsregierung sprach. So genau vermag ich mich an die Einzelheiten nicht mehr zu erinnern. Jedenfalls äußerten mit mir eine Reihe von Sturmangehörigen gegen die Aktion Bedenken und bezeichneten diese als ungesetzlich, es könnte bei dieser Aktion zu Ausschreitungen von Teilnehmern kommen. U. erklärte darauf, daß er die gleichen Bedenken den verschiedenen Dienststellen auch vorgetragen hätte, es sei ihm aber erklärt worden, die Sache sei durchaus gesetzlich. Ob die Gaststätte H. seinerzeit die Befehlsstelle war, ist mir nicht bekannt. U. erteilte keinen Befehl zur Teilnahme an dieser Aktion, sondern stellte die Teilnahme frei. Es bildeten sich verschiedene Trupps, die sich von selbst zusammenfanden. Bei meinem Trupp waren U., [Oberforstrat] C., zwei mir nur vom Sehen bekannte politische Leiter [NSDAP-Ortsgruppenfunktionäre] und noch verschiedene andere Personen. Unser Trupp mag ungefähr 6 bis 8 Mann stark gewesen sein. Ich hatte schon bei der Totenfeier Zivil an, während die meisten anderen Teilnehmer in Uniform erschienen waren. Ich war von dem Genuß des inzwischen genossenen Alkohols wohl etwas angetrunken, aber nicht betrunken. In der Rottendorferstraße wurde angetreten. Ich begab mich sodann mit dem Trupp in Einsichten und Perspektiven 4 | 08 die Alleestraße an ein Eckhaus. Wir gingen eine Treppe hinauf. Ich weiß es aber nicht mehr, ob es sich um eine Wohnung im Parterre oder im 1. Stock handelte. Es war mir auch nicht bekannt, daß dort ein Rabbiner namens Hanover wohnte. Irgendjemand hat geschellt und es wurde uns geöffnet. Die Wohnung bestand aus 4 oder 5 Zimmern. Auf der linken Seite lag ein Studierzimmer, an das ein Wohnzimmer oder ein Eßzimmer anschloß. Als ich in dem Studierzimmer, das mit Büchern und Pergamentrollen in Regalen angefüllt war, mit der Besichtigung der Pergamentrollen beschäftigt war, befanden sich die übrigen Teilnehmer des Trupps in den anderen Zimmern. Ich habe in der Wohnung nichts zerstört, sondern mich nur für die Pergamentrollen interessiert. Der Wohnungsinhaber befand sich sogar bei mir im Zimmer und erklärte mir auch die Bedeutung der Rollen. Ich habe weder einen Stock noch irgendeinen anderen Gegenstand bei mir gehabt. Auch von U. kann ich nicht sagen, daß er irgendetwas bei sich gehabt hätte. Dagegen weiß ich das bestimmt von C., der als Gehbehinderter stets einen derben Stock mit sich führte. Während ich im Stehen mit dem Besichtigen der Pergamentrollen beschäftigt war, hörte ich aus dem nebenanliegenden Eßzimmer ein Klirren. Ich begab mich nun auch in das Eßzimmer und sah folgendes: C. stand hinter einem Tisch vor einem Glas- oder Kristall-Lüster. Ich stand ihm, durch den Tisch von ihm getrennt, gegenüber. Plötzlich holte C. mit seinem schweren Stock zum Schlage aus und schlug mit aller Wucht in den Glas- oder Kristall-Lüster hinein. Ich bekam dabei von der Spitze des C.’schen Stockes einen Schlag aufs Auge und außerdem noch einen Splitter von dem Glase ins Auge. Ich begab mich daraufhin sofort in das Badezimmer, um mir das Auge zu kühlen. C. kam schließlich auch noch in das Badezimmer, um dort die eingebaute Badewanne zu zertrümmern. Er wurde aber daran von mir und U. gehindert, indem wir ihm erklärten, er solle den Quatsch lassen, damit würde er nicht den Juden, sondern den Hauseigentümer schädigen. Ich habe wohl gesehen, daß in dem Eßzimmer eine Glasvitrine zertrümmert war, weiß aber nicht, wer diese zertrümmert hat. [...] Ich selbst habe nicht die geringste Zerstörung angerichtet und wurde gleich nach Betreten des Eßzimmers durch den Schlag des C. ausgeschaltet. Ich habe mich gleich danach nach Hause begeben und mich am anderen Tag in die Behandlung des Augenarztes Dr. S. begeben. Wir sind vom Sturmlokal zur Wohnung des Rabbiners Hanover nicht geschlossen marschiert. Ich weiß nicht mehr, wer seinerzeit geschellt hat, ich war es jedenfalls nicht. Soweit ich mich noch erinnere, standen vor der Wohnung bei unserem Eintreffen keine Personen. In die Wohnung hat sich der 279 Das Reichskristallnachtpogrom und seine juristische Aufarbeitung Die Aschaffenburger Synagoge während der Pogromnacht im November 1938 Foto: Privatarchiv Eymann, Aschaffenburg ganze Trupp begeben. Hanover wurde nicht mißhandelt und auch nicht verhaftet. Eine Frau habe ich in der Wohnung gesehen. An Kinder kann ich mich nicht erinnern.“ (Aussage des Beschuldigten Dr. Walter Sch. in der Hauptverhandlung vor dem Landgericht Würzburg am 13. 12. 1946; aus: Würzburg Js 763/46 = KMs 5/46; Staatsarchiv Würzburg; Staatsanwaltschaft 352. Der Täter wurde in der Revision zu acht Monaten Gefängnis wegen Landfriedensbruchs in Tateinheit mit schwerem Hausfriedensbruch verurteilt.) Diese Darstellung eines Beschuldigten Dr. Walter Sch. in der Hauptverhandlung vor dem Landgericht Würzburg am 13. Dezember 1946 ist ein prägnantes Beispiel der Abläufe des Pogroms: zunächst der Anlass, die Feiern anlässlich des gescheiterten Putschs vom 9. 11. 1923, die alljährlich vom NS-Regime und insbesondere den Partei280 funktionären und SA- und SS-Mitgliedern gefeiert wurden; anschließend der Verweis auf den Befehl des Sturmführers, der seinerseits von der Standarte einen Befehl erhalten hatte, und schließlich der Hinweis auf die zeitweiligen Bedenken ob der Rechtmäßigkeit der Ausschreitungen, die als Racheaktion inszeniert werden sollten, sowie auf die Organisation der SA in Trupps, die meist in „Räuberzivil“ (also nicht in Uniform) die Wohnungen von Juden überfielen. Das Zerschlagen des Kristall-Lüsters ist eine geradezu sprechende Erinnerung an den weithin verbreiteten Namen des Pogroms als ‚Kristallnacht‘ bzw. ‚Reichskristallnacht‘. Blicken wir auf den Ablauf der Ereignisse jener Nacht in München: Wie allgemein bekannt, hielt der Reichspropagandaleiter Dr. Joseph Goebbels eine antisemitische Hetzrede, in der er zu Ausschreitungen gegen Juden aufforderte. Als Anlass hatte ihm das Attentat von Herschel GrynEinsichten und Perspektiven 4 | 08 Das Reichskristallnachtpogrom und seine juristische Aufarbeitung Nach der Pogromnacht: Die Trümmer der Aschaffenburger Synagogen werden weggebracht. Foto: Privatarchiv Eymann, Aschaffenburg szpan auf den deutschen Legationssekretär Ernst vom Rath gedient. Unter dem Vorwand, Ernst vom Rath wichtige Papiere überbringen zu müssen, hatte Herschel Grynszpan sich am Morgen des 7. 11. 1938 Zugang zur deutschen Botschaft in Paris verschafft und den Legationssekretär Ernst vom Rath niedergeschossen. Grynszpan war durch die Deportation seiner Familie, die zu den ca. 18.000 in Deutschland lebenden Juden polnischer Staatsangehörigkeit gehörte, die aus dem Reich zur polnischen Grenze verschleppt worden waren und im Niemandsland kampierten, zu der Tat getrieben worden. Schon kurz nach der Veröffentlichung der Nachricht vom Attentat selbst beziehungsweise der entsprechenden antisemitischen Kommentare in der deutschen Presse kam es in Kurhessen (Kassel) und MagdeburgAnhalt am 7. 11. 1938 zu ersten pogromartigen Ausschreitungen, die durch lokale und regionale NSDAP-Funktionäre veranlasst worden waren. Goebbels begeisterte sich – wie wir aus seinem Tagebuch wissen – über die Vorfälle. Es hieß in seinem Tagebuch: „Die Synagogen werden niedergebrannt. Wenn man jetzt den Volkszorn einmal loslassen könnte!“ Am Nachmittag des 9. 11. 1938 erfuhr Hitler von seinem Leibarzt Dr. Brandt, den er nach Paris geschickt hatte, dass vom Rath seinen Verletzungen erlegen war. Um 18 Uhr an diesem Tag waren die alljährlichen NSDAP-Versammlungen zur Erinnerung an den Hitler-Putsch von 1923 im Alten Rathaus in München angesetzt. Zu diesem Zweck waren etwa 400 Personen eingeladen worden, bei denen es sich im Wesentlichen um Angehörige der „Alten Garde“ handelte. Reichspropagandaleiter Goebbels machte Hitler Mitteilung über die Pogrome im Gau Kurhessen und in MagdeEinsichten und Perspektiven 4 | 08 burg-Anhalt, wo bereits Synagogen angezündet und Geschäfte verwüstet worden waren. Augenscheinlich beschloss Hitler, die Pogrome nicht durch ein Einschreiten der Polizei beenden, sondern vielmehr den Ausschreitungen ihren Lauf zu lassen. Goebbels notierte: „Er [Hitler] bestimmt: Demonstrationen weiterlaufen lassen. Polizei zurückziehen. Die Juden sollen einmal den Volkszorn zu verspüren bekommen.“ Goebbels selbst hetzte in seiner Rede vor den NSDAP-Funktionären weiter. Es galt nun, die Partei nach außen hin „nicht als Urheber der Demonstrationen in Erscheinen treten“ zu lassen, wiewohl sie alles organisieren und durchführen sollte. Die Parteiführer reagierten, so Goebbels in seinem Tagebucheintrag vom 10. 11. 1938, mit stürmischem Beifall. „Alles saust gleich an die Telefone. Nun wird das Volk handeln. Einige Laumänner machen schlapp. Aber ich reiße immer wieder alles hoch.“ Die Befehle, die die NSDAP-Gauleiter in München telefonisch an die NSDAP-Kreis- und NSDAP-Ortsgruppenleiter und an Gliederungen der Partei gaben, wurden so interpretiert, dass Rache genommen werden müsse für den Mord an vom Rath und zwar dergestalt, „daß nun für das Blut des Parteigenossen vom Rath Judenblut fließen müsse“. Diese Telefonate entfesselten die Ausschreitungen im ganzen Reich, die unter dem Namen „Judenaktion“, „Kristallnacht“ oder „Reichskristallnacht“ traurige Berühmtheit erlangt haben. Aus einem ersten vorläufigen Bericht vom 11. 11. 1938, den Reinhard Heydrich nach dem Pogrom an Hermann Göring sandte, geht hervor, dass 36 Menschen getötet, 191 Synagogen in Brand gesteckt wurden, 76 zerstört, 815 Geschäfte verwüstet und 171 Wohnhäuser demoliert wurden. Einen Tag später, am 12. 11. 1938, 281 Das Reichskristallnachtpogrom und seine juristische Aufarbeitung Einsatz von jüdischen Männern zur Zwangsarbeit in Hofheim in Unterfranken nach dem Pogrom 1938 Foto: Stadtarchiv Nürnberg hatte sich die Schreckensbilanz weiter vergrößert: Die Zahl der verwüsteten Geschäfte bezifferte er nun auf 7500. Das Oberste Parteigericht, das ebenfalls mit Ermittlungen beauftragt war, ging von 91 Tötungen aus. Heutigen Schätzungen zufolge wurden nicht knapp 200, sondern über 1400 (genau: 1406) Synagogen und Betstuben niedergebrannt oder demoliert. In der Pogromnacht und den darauffolgenden Tagen wurden 30.756 Juden festgenommen und in die Konzentrationslager Buchenwald, Dachau und Sachsenhausen verschleppt, wo sie für mehrere Wochen festgehalten wurden. Etwa 1000 von ihnen haben die Haft nicht überlebt. Als besonderer Hohn muss es gelten, dass Hermann Göring am 12. November eine Konferenz abhielt, bei der Deutschlands Juden eine „Kontribution“ von einer Milliarde Reichsmark auferlegt wurde – für die ihnen zugefügten Schäden. Eigentlich gilt das Pogrom als gut erforscht: Es gibt Berichte der NSDAP, der Staatspolizeistellen, Briefe und Tagebücher von Tätern, Opfern und Zuschauern ebenso wie andere Zeitzeugenberichte. Allerdings stehen wir vor dem Problem, dass die NSDAP-Quellen oder andere Dokumente des „Dritten Reichs“ selbstverständlich alles andere als unparteiisch sind. So sind die Stimmungsberichte des Sicherheitsdienstes (des Nachrichtendienstes der Partei) zwar eine wichtige Quelle, allerdings dürfen sie nicht als genaues Abbild der Meinung der Bevölkerung gesehen werden. Vieles bleibt nicht überprüfbar. Der Sicherheitsdienst 282 kam in seinem Abschlussbericht zu der Meinung, die Bevölkerung habe im katholischen und städtischen Süden und Westen das Pogrom stärker abgelehnt als im protestantischen, agrarischen Norddeutschland. Insgesamt stellte dieser fest, dass die Deutschen mehr Missbilligung als Zustimmung für das Pogrom fanden und die Parteipropaganda schnell durchschauten. Aufarbeitung in der Nachkriegszeit Bereits am 5. September 1945 – und damit mehr als zwei Monate vor Eröffnung des Internationalen Militärtribunals gegen die Hauptkriegsverbrecher in Nürnberg – erhob die Staatsanwaltschaft Limburg Anklage gegen sechs Personen wegen Landfriedensbruchs und Freiheitsberaubung während der Pogromnacht in Villmar; nur sieben Tage später erging das Urteil gegen die Täter vor dem Amtsgericht Weilburg. Den Angeklagten wurde „moralische Verwahrlosung“ vorgeworfen: „Es mag auch sein, daß sie, wie die meisten Deutschen, unter dem Einfluß einer jahrelangen Propaganda an moralischer Urteilsfähigkeit eingebüßt hatten, so daß ihr Blick für die Verwerflichkeit des Vorgangs getrübt war. Es ist bekannt, daß der November 1938 der Beginn von Untaten war, die ohnegleichen in der Geschichte sind und für die es überhaupt keine menschliche Sühne gibt. Jedoch geschähe den Angeklagten Unrecht, wenn man ihr Tun unter dem Eindruck dieser späteren Missetaten beurteilen würde, wie schwer es auch heute ist, sich einer solchen Beurteilung zu enthalten.“ Einsichten und Perspektiven 4 | 08 Das Reichskristallnachtpogrom und seine juristische Aufarbeitung Das Urteil ist beispielhaft für die Problematik, mit der sich die deutsche Justiz nun befassen musste: die Verkehrung ethischer Werte, der Zusammenbruch der Rechtsordnung, die neue Beurteilung von Ereignissen, die Jahre zuvor stattgefunden hatten, und die generelle Frage, wie solche Verbrechen überhaupt adäquat bestraft werden können. Noch früher, am 17. August 1945, war beim Amtsgericht Offenbach Anklage gegen fünf Personen erhoben worden. Das Gericht entschied auf Einstellung wegen Verjährung; diese Entscheidung wurde erst durch die Revision beim Landgericht Darmstadt aufgehoben. Hessen wurde zum Vorreiter der Ahndung, weil die amerikanische Militärregierung einigen hessischen Gerichten vor allen anderen Anfang Juni 1945 die Erlaubnis zur Wiedereröffnung erteilt hatte. Voraussetzungen und Hintergründe Die meisten in der Pogromnacht begangenen Delikte wie Landfriedensbruch, Hausfriedensbruch, Brandstiftung, Körperverletzung, Freiheitsberaubung, Diebstahl, räuberische Erpressung, Nötigung, gemeinschädliche Sachbeschädigung, Zerstörung von Bauwerken, Religionsbeschimpfung u. a. waren verjährt. Da jedoch eine effektive Strafverfolgung dieser Taten während des ,Dritten Reiches’ selbstverständlich nicht stattgefunden hatte, galt die Verjährung als gehemmt, sodass erst ab dem 8. Mai 1945 die Frist begann. So konnten auch Verfahren wieder aufgenommen werden, die bereits rechtskräftig abgeurteilt waren: In Sinzenich im Kreis Euskirchen hatte die Bevölkerung ausgedehnte Diebstähle bei ihren jüdischen Nachbarn begangen. Einer der Täter war Heinrich H., der deswegen am 30. Mai 1939 zu acht Monaten Haft verurteilt wurde. Zehn Jahre später folgte die Verurteilung zu zwei Jahren Zuchthaus wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit in Tateinheit mit Landfriedensbruch. Während in der britischen und in der französischen Zone die Anwendung des Kontrollratsgesetzes Nr. 10 durch deutsche Gerichte von den Besatzungsmächten angeordnet worden war, wurde in der amerikanischen Zone gemäß deutschem Strafgesetzbuch geurteilt. Die Verfahren wurden teils von Amts wegen, teils durch Anzeigen eingeleitet. Der Generalstaatsanwalt von Oldenburg forderte die Staatsanwaltschaften Aurich, Oldenburg und Osnabrück auf, sofort die Strafverfolgung aufzunehmen: „Diese Tat hat die schwerwiegendsten Folgen gehabt, daher auch in dem noch gesund empfindenden [!] Teil des deutschen Volkes tiefe Empörung hervorgerufen. [...] Das deutsche Volk, aber auch die Weltöffentlichkeit, hat einen Anspruch darauf, daß alle an dieser Untat beteiligten Verbrecher, soweit sie für schuldig befunden werden, die verdiente Strafe erhalten.“ Einsichten und Perspektiven 4 | 08 An vielen Orten waren es aber Überlebende, die die Aufdeckung anmahnten. So zeigte Charles W. Anrod aus Chicago die Schändung der Gräber seiner Eltern und seines Bruders in der ,Reichskristallnacht’ in Niederbieber an. In Memmingen reichte der Treuhänder der Israelitischen Kultusgemeinde, Hugo Günzburger, eine Liste Beschuldigter ein, wobei ihm zunächst von der Staatsanwaltschaft bedeutet wurde, es gebe keine Handhabe, gegen die Täter vorzugehen. Auch andernorts war Beharrlichkeit nötig: Siegfried Seligmann hatte bereits im August 1945 den Behörden mutmaßliche Täter und Zeugen der Vorgänge in Neitersen, Kreis Altenkirchen, benannt. Aber bald schrieb er enttäuscht : „Ich muß feststellen, daß die Angelegenheit nicht so schnell und sorgfältig bearbeitet wird, wie die Naziverbrecher dieses seinerzeit mit unserem Gut und Leben getan haben. Wenn ich also nicht in kürzester Zeit die Gewissheit erhalte, daß die Ermittlungen schnell und gründlich durchgeführt werden, werde ich weitere Veranlassung nehmen müssen.“ Die Ermittlungen waren dabei alles andere als einfach. Die Beschuldigten waren verstorben, befanden sich noch in Kriegsgefangenschaft, waren interniert oder untergetaucht. Die Alliierten hatten viele Polizeiangehörige wegen deren SS-Mitgliedschaft verhaftet, das neu rekrutierte Polizeikorps war völlig unerfahren und mit den diffizilen Nachforschungen vor Ort überfordert. Ein enervierter Koblenzer Staatsanwalt äußerte über die Vernehmungen der Polizeiverwaltung Idar-Oberstein: „Ich verbitte mir auf das Entschiedenste, in Zukunft derartige Vernehmungen wie Bl. [Blatt] 4 d. A. [der Akten], wo ein ahnungsloser Ortsgruppenleiter vorgestellt wird, oder wie Bl. 5 und 6 d. A., wo ein Mann, der in der Synagoge plötzlich merkt, daß es rechts und links von ihm brennt, vorzunehmen. [Auf] Bl. 7 und Bl. 8 d. A. wird sogar gewagt, mir einen unschuldigen alten Kämpfer vorzustellen. Ich weiß nicht genau, ob die Polizei mit der Niederschrift derartiger Unsinnigkeiten selbst die Ernsthaftigkeit ihrer Tätigkeit in Frage stellen will. Ich bitte nunmehr ebenso ernst wie dringend, die Ermittlungen in dieser Sache zu betreiben oder mir mitzuteilen, daß die Polizei dazu nicht in der Lage ist.“ Dem entgegnete die Polizei, dass es sich bei der Ermittlung der „Judenaktion“ um eine „recht unangenehme, zeitraubende und schwere Arbeit“ handele, weil die Vernehmung einer großen Anzahl von Zeugen nötig sei. Geschäftsleute und Bekannte der Beschuldigten würden sich nicht mehr erinnern wollen, Beschuldigte hätten vereinbart, nichts zuzugeben und alles abzustreiten. Alle Täter zu erfassen sei 283 Das Reichskristallnachtpogrom und seine juristische Aufarbeitung Registrierung von jüdischen Häftlingen bei ihrer Einlieferung in das Konzentrationslager Buchenwald im November 1938 Foto: Yad Vashem unmöglich, „zumal die Namen von den Zerstörungstrupps aus Koblenz außer [...] nicht bekannt sind bzw. ermittelt werden konnten. Man kann sich des Eindruckes nicht erwehren, daß nur durch die Festnahme mehrerer schwer belasteter Personen wie [...] pp. eine weitere Aufklärung möglich ist.“ Der Untersuchungsrichter von Frankenthal zog gegenüber dem Generalstaatsanwalt von Neustadt an der Haardt ebenfalls ein bitteres Fazit: „Es ist im allgemeinen davon auszugehen, daß die wertvollen Tatzeugen sich nachträglich auch als Mittäter entpuppen.“ Die „Reichskristallnacht“ vor Gericht Vor Gericht wollten viele Zeugen ihre vor Polizei und Staatsanwaltschaft gemachten Belastungen nicht mehr wiederholen. Ein amerikanischer Prozessbeobachter, der die Verhandlung der Synagogenschändung von Windsbach miterlebte, klagte, dass die Einvernahme der Zeugen fast nutzlos gewesen sei, weil diese so außergewöhnlich furchtsam und zurückhaltend ausgesagt hätten. Eine Verurteilung der Angeklagten sei daher nur möglich gewesen, weil diese freiwillig die Verbrechen gestanden hätten. Für Hessen notierte ein Angehöriger der amerikanischen Rechtsabteilung, die deutschen Richter stünden häufig einer Mauer von Zeugen mit Pokergesichtern gegenüber, die sich an nichts erinnern wollten. Viele Belastungszeugen hielten überdies dem Druck der Anwälte der Verteidigung nicht stand, die schwache Vertretung der Anklage durch die Staatsanwaltschaft tat ein Übriges. Über den Pogromprozess von Andernach war zu 284 lesen: „Unter der Zuhörerschaft waren einige alte Nationalsozialisten, die mit Genugtuung die Ohnmacht der Richter belächelten. Sie freuten sich, daß die ‚Mär von dem Unbekannten’ [Täter] zwangsläufig geglaubt werden mußte. [...] Die merkwürdigste Erscheinung des Prozesses war zweifellos der Staatsanwalt, [...] der ruhig und gelassen [...] mit ansah, wie diese [die Hauptbelastungszeugen] von der fünfköpfigen Verteidigung psychologisch zermürbt und anschließend grundlos lächerlich gemacht wurden.“ Die Hauptverhandlungen waren bedeutende Ereignisse. Sie fanden – teils wegen der zerstörten oder auch von den Alliierten besetzten Gerichtssäle, teils wegen des großen Andrangs – vor Ort statt. In Idar-Oberstein tagte das Landgericht Bad Kreuznach in der Turnhalle, das Landgericht Wiesbaden begab sich zur Verhandlung des Pogroms in Oestrich in das örtliche „Gasthaus zur Krone“. Für die Verhandlung der Untaten von Deidesheim reiste das Landgericht Frankenthal vor Ort und hielt die Hauptverhandlung in der Berufsschule ab, das Landgericht Trier urteilte über das Pogrom von Zeltingen und Rachtig in der nächstgelegenen Kreisstadt Bernkastel-Kues, das Landgericht Aurich tagte in Leer. Für die reisefreudigen Strafkammern Koblenz und Bad Kreuznach sind Hauptverhandlungen in Ahrweiler, Andernach, Boppard, Kirchberg, Kirn, Neuwied, Selters und Sinzig belegt. Die Botschaft war deutlich: Es galt, Täter und Zuschauer mit den Untaten vor Ort erneut zu konfrontieren. Die Bevölkerung nahm an den Gerichtstagen regen Anteil. Bei der Verhandlung der „Reichskristallnacht“ von Buchau und Laupheim durch das Landgericht Ravensburg drängten sich nicht weniger als 300 Besucher in den Saal. Die französische Militärregierung, Einsichten und Perspektiven 4 | 08 Das Reichskristallnachtpogrom und seine juristische Aufarbeitung Die zerstörte Aschaffenburger Synagoge nach dem Pogrom Foto: Privatarchiv Eymann, Aschaffenburg die einen Beobachter entsandt hatte, beklagte aber die Schwerfälligkeit der Prozessführung: „Der Prozess spielte sich in einer ruhigen, aber äußerst lustlosen Atmosphäre ab.“ Beim Prozess gegen den Tübinger NSDAP-Kreisleiter vermerkte die Presse, dass sämtliche Besuchereintrittskarten, die für die Sitzung ausgegeben worden waren, auch Abnehmer gefunden hatten. An den Verfahren wie auch an dem beteiligten Justizpersonal entzündete sich natürlich Kritik. Urteile wurden über Landesgrenzen hinweg mit Argusaugen beobachtet. Der frühere Rabbiner von Bremen, Dr. Felix Aber, nun Rabbiner in den USA, reagierte entsetzt, als er aus der New York Times erfuhr, dass die Täter Wilhelm und Ernst B., die während des Pogroms Heinrich Chaim Rosenblum getötet hatten, nur wegen Totschlags belangt und zu lediglich acht bzw. sechs Jahren Zuchthaus verurteilt wurden. Häufig scheiterten Verurteilungen an Beweismangel. Wenn es zur Verhängung von Haftstrafen kam, waren diese meist niedrig. Darüber hinaus mussten viele bereits verhängte Strafen von bis zu sechs Monaten aufgrund des vom Bundestag beschlossenen Amnestiegesetzes vom 31. Dezember 1949 nicht verbüßt werden. Auch die französische Militärregierung in Baden monierte die notorische Milde der Gerichte und führte dies darauf zurück, dass die höheren Justizbeamten selbst als ehemalige NSDAP-Mitglieder jetzt schlecht gegen die Umtriebe vorgehen könnten, gegen die sie zur Tatzeit nicht protestiert hatten: „Ehemalige Parteimitglieder unter den Justizbeamten können nicht guten Gewissens harte Strafen für die Machenschaften verhängen, die sie in der Vergangenheit nicht mißbilligten.“ Einsichten und Perspektiven 4 | 08 Die Auseinandersetzung mit dem Judentum als solchem war eine Herausforderung, der nicht jeder Staatsanwalt und jeder Richter gewachsen war. Das Taharahaus, das Gebäude oder der Raum, in dem verstorbene Juden vor ihrer Beisetzung gewaschen werden, wurde fälschlich als „Friedhofssynagoge“ oder „Friedhofskapelle“ bezeichnet. Ein Richter fühlte sich zu folgender Erklärung bemüßigt: „Die Thora stellt eine meist kunstvoll auf Schweinsleder [!] geschriebene Heilige Schrift dar und bedeutet für die Juden das Allerheiligste [...].“ In den Urteilen finden sich mit großer Regelmäßigkeit zwei Topoi: Erstens seien die Täter ‚von außerhalb‘ gekommen, also Ortsfremde gewesen. Zweitens: Falls doch jemand aus dem Ort beteiligt gewesen sei, habe er qua Amt als NSDAP- oder SA-Funktionär auf einen zwingenden Befehl ‚von oben‘ gehandelt. Aus den Ermittlungen geht aber hervor, dass die teils nächtens von auswärts angereisten Täter fast stets auf die Hilfe der Ortskundigen angewiesen waren; sei es, dass ihnen der Weg zu den versteckt liegenden Synagogen und den in Wohnhäusern befindlichen Betstuben oder zu dem abseitig gelegenen Friedhof gewiesen wurde. Manchmal wurden den Tätern Listen mit den zur Verhaftung vorgesehenen ortsansässigen Juden und Hinweise zu deren Wohnungen oder Geschäften übergeben. Ebenso kam oft lediglich die Initialzündung für das Pogrom von außerhalb, Teile der Bevölkerung betätigten sich – wie etwa in Treuchtlingen – freiwillig und ohne Order an der Verfolgung. Bilanz in Zahlen Insgesamt gibt es zum Pogrom 2468 Ermittlungsverfahren und Prozesse vor westdeutschen Staatsanwaltschaften und Gerichten, in denen sich 17.700 Beschuldigte und Ange285 Das Reichskristallnachtpogrom und seine juristische Aufarbeitung Aussagen zu treffen. Im Vergleich zu anderen NS-Verbrechen wird aber deutlich, dass die ‚Reichskristallnacht‘ ein viel heterogeneres Täterpotential mobilisierte als andere nationalsozialistische Gewaltverbrechen. Wie schon aus den oben erwähnten Zahlen geschlossen werden kann, waren Ermittlungsverfahren mit 60 bis 70 Beschuldigten und Prozesse mit 10 bis 15 Angeklagten keine Seltenheit. Es gab sowohl sehr junge Täter (etwa Schulkinder oder HJ-Angehörige) als auch sehr alte Täter, die zum Zeitpunkt der Straftat bereits die 70 überschritten hatten. Nicht selten waren ganze Familienverbände oder ‚Werkscharen‘ von Firmen losgezogen, um Haus und Hof ihrer Nachbarn zu zerstören. Neben den immer wieder erwähnten SA- und SS-Angehörigen, NSDAP-Funktionären, Polizisten und Feuerwehrleuten waren häufig örtliche Honoratioren – darunter auch Lehrer oder Staatsanwälte – beteiligt. Auch 65 Frauen wurden wegen Verbrechen im Rahmen des Pogroms verurteilt. Forschungsausblick Die zerstörte Aschaffenburger Synagoge nach dem Pogrom Foto: Privatarchiv Eymann, Aschaffenburg klagte zu verantworten hatten. Bei 1174 dieser 2468 Verfahren handelt es sich um Prozesse. Die überwiegende Zahl der (erstinstanzlichen) Urteile, nämlich 1076, erging bis zum Jahr 1950. Ein letzter „Reichskristallnacht“-Prozess fand im Jahr 1992 in Paderborn statt, ein vorletzter ist 1964 in Bremen zu verzeichnen. Regional verteilen sich die Prozesse wie folgt: Bayern: 262 Prozesse, 1854 Angeklagte; Rheinland-Pfalz: 219 Prozesse, 1524 Angeklagte; Hessen: 210 Prozesse, 1516 Angeklagte; Baden-Württemberg: 183 Prozesse, 690 Angeklagte, Nordrhein-Westfalen: 180 Prozesse, 828 Angeklagte; Niedersachsen: 76 Prozesse, 543 Angeklagte, Saarland: 30 Prozesse, 236 Angeklagte. In Schleswig-Holstein, Berlin, Bremen und Hamburg beträgt die Zahl der Prozesse jeweils unter zehn. Zumeist betreffen die Prozesse Vorfälle im jeweiligen Sprengel des urteilenden Landgerichts. In einer sehr geringen Anzahl der Fälle ist auch das Pogrom in Gebieten außerhalb der Westzonen bzw. der Bundesrepublik Deutschland Gegenstand. Angesichts der oben erwähnten Anzahl von 17.700 Beschuldigten und Angeklagten ist es schwierig, generelle 286 Inwiefern reflektieren die Ermittlungen und Prozesse die historische Realität der Novemberpogrome? Die Prozesse enthalten vielfach – neben den juristischen Vorgängen – auch bedeutendes Quellenmaterial: Baupläne von Synagogen, Stadtpläne, auf denen die früheren Wohnungen ortsansässiger Juden eingezeichnet sind, Briefe jüdischer Emigranten, die ihre Erinnerungen festhielten, und nicht zuletzt Fotos der brennenden oder demolierten Synagogen. Sie sind beeindruckende Momentaufnahmen des deutschen Judentums am Vorabend der Vernichtung. Gleichzeitig muss aber vor der Annahme gewarnt werden, dass die Gesamtzahl der Ermittlungen und Prozesse auch die Summe aller ‚Reichskristallnacht‘-Verbrechen widerspiegelt. Für München gibt es beispielsweise keinen einzigen ‚Reichskristallnacht‘-Prozess, sondern lediglich einige schließlich eingestellte Ermittlungen. Nur wenig besser ist die Situation in Hamburg oder Berlin. Die kriegsbedingte Bevölkerungsumwälzung in den Metropolen war offenkundig zu groß, als dass Nachkriegsrecherchen erfolgreich durchgeführt hätten werden können. Nur 30 Prozesse befassen sich mit den amtlich während des ‚Dritten Reichs‘ festgestellten 91 Toten des Pogroms. Dazu kamen die Einschränkungen der Verjährung. So fand die ‚Reichskristallnacht‘ in Augsburg schon allein deshalb keinen Richter, weil die Nachforschungen erst 1962 begannen. Zu bedenken sind weitere Unwägbarkeiten: So war es wahrscheinlicher, dass sich Zeugen eher an die Beteiligung des örtlichen Volksschullehrers beim Pogrom erinnerten als etwa an weniger prominente Bewohner des Orts, eher an den NSDAP-Kreisleiter als an ein einfaches NSDAPEinsichten und Perspektiven 4 | 08 Das Reichskristallnachtpogrom und seine juristische Aufarbeitung Mitglied. Selbstverständlich liefen zudem Personen, die nach dem Krieg an ihren Heimat-(und Tat-)Ort zurückkehrten, ein größeres Risiko, erkannt und bestraft zu werden als jene, die eigenes Bestreben oder die Zeitläufe in andere Regionen verschlagen hatte. Die Zahl der am Pogrom Beteiligten ist auch deshalb als deutlich höher als die oben erwähnten 17.700 Beschuldigten und Angeklagten einzuschätzen, da bei vielen Tätern, deren Tod nachweislich feststand, überhaupt keine Verfahren mehr eingeleitet wurden. Zusammenfassung Neben den Motiven der Täter verbinden sich mit den unterschiedlichen regionalen Ausprägungen und dem zeitlichen Rahmen vom 7. bis 11. November 1938 weiterhin wichtige Fragen. In mancher Hinsicht gibt uns die ‚Reichskristallnacht‘ bis heute Rätsel auf. Das Jahr 1938 wird von Historikern als Zäsur in der antijüdischen Politik der Nationalsozialisten gewertet. Die Gewalttätigkeit erreichte neue, ungekannte Ausmaße, die ‚Reichskristallnacht’ stellte dabei den traurigen Höhepunkt in einem ganzen Maßnahmenkatalog dar. Bereits im März 1938 war jüdischen Gemeinden der Status von Körperschaften des öffentlichen Rechts aberkannt worden. Ab April 1938 wurden Juden zur Anmeldung ihres Vermögens gezwungen. Im Juni 1938 wurden 1500 Juden in Konzentrationslagern inhaftiert, im August 1938 wurden die Zwangsvornamen Sara und Israel eingeführt. Ärzten war seit Juni, Rechtsanwälten seit September 1938 das Praktizieren verboten worden. Seit Oktober 1938 wurden die Pässe aller Juden mit dem diskriminierenden J gekennzeichnet. Jüdischen Schülern wurde der Schulbesuch verboten. Die Publikation jüdischer Zeitungen und Zeitschriften im Reich – immerhin 65 Zeitungen und Zeitschriften sowie 42 Mitteilungsblätter – wurde untersagt. Zwar sind sich die Historiker einig, dass das Pogrom den Auftakt der Entwicklung von der bürokratischen Form der Diskriminierung hin zur gewalttätigen Verfolgung bildete, die schließlich im Massenmord endete. Andererseits gab es bereits seit Anfang 1938 regelrechte Gewaltwellen. Bekannt ist, dass ab Frühherbst 1938 gehäuft immer wieder pogromartige Ausschreitungen verübt wurden. Schon im März 1938 waren jüdische Bewohner von Altenmuhr terrorisiert worden. In Mellrichstadt – in der Nacht vom 30. September auf den 1. Oktober 1938 – demolierte der HJ-Bann Neustadt-Mellrichstadt die örtliche Synagoge und vier Wohnungen jüdischer Einwohner. In Leutershausen wurden am 14. Oktober 1938 die Häuser einer jüdischen Familie namens Jochsberger von HJ-Angehörigen mit Steinen beworfen. Vor dem Einsichten und Perspektiven 4 | 08 Synagogeneingang wurde Mist abgeladen; am 16. Oktober 1938 wurde die Synagoge selbst durch den Pöbel völlig demoliert, der Opferstock wurde aufgebrochen, das Geld entnommen und dem Winterhilfswerk übergeben. Bei den Familien Benno Guthmann und Rudolf Weil wurden Fenster eingeschlagen, bei Ignaz und Nathan Jochsberger Haustür, Fenster und Inventar zertrümmert. An einigen Orten waren fortgesetzte Terroraktionen zu beobachten: in Unsleben kam es – vor dem Novemberpogrom – bereits am 28./29. September 1938 zu Ausschreitungen gegen Juden, ihre Wohnungen und Einrichtungen, ebenso am 23./24. September 1939, ferner am 7./8. Oktober 1939. Es ist davon auszugehen, dass sich die Gewalt über Monate hinweg regelrecht aufbaute. Heute gehen Historiker davon aus, dass sich viele kleine Feuer zu einem Flächenbrand ausweiteten. Was waren die Motive der Täter? Wir können davon ausgehen, dass die Tatmotive äußerst vielschichtig waren. Neben Antisemitismus und Gruppendruck waren sicher auch Rachemotive und Geldgier wichtige Auslöser für die Taten. Maskuline Traditionen – wie exzessives Trinken –, die die Gewaltbereitschaft erhöhten, dürfen ebenfalls nicht vernachlässigt werden. Andererseits wissen wir, dass auch Frauen an den Exzessen beteiligt waren und dass sehr häufig Zuschauer zu Tätern wurden. Auch waren die Opfer nicht nur Juden. In Wunsiedel beispielsweise richtete sich das Pogrom nicht nur gegen die ortsansässigen Juden: Mit dem Schlachtruf „Jetzt geht es noch gegen die Schwarzen“ wurde sowohl der evangelische als auch der katholische Pfarrer von einem aufgebrachten Mob verhaftet. In verschiedenen Städten im Rheinland artete ein St.-Martins-Zug in ein Pogrom aus. An einigen Orten staffierten sich die Täter mit den in den Synagogen gefundenen Rabbinertalaren, Kopfbedeckungen und Gebetsschals aus und plagiierten mit Schriftrollen jüdische Bräuche. In einigen Fällen war das Pogrom auch Vorgriff auf die einige Jahre später folgende Deportation und Vernichtung: So wurde aus Neustadt im NSDAP-Gau Saarpfalz eine 70-jährige Frau nach Mannheim in den benachbarten NSDAP-Gau Baden verschleppt, weil die Saarpfalz „judenfrei“ gemacht werden sollte. ❙ Die Darstellung der Initiierung des Pogroms folgt Angela Hermann: Hitler und sein Stoßtrupp in der ‚Reichskristallnacht‘, in: VfZ, 56. Jg., Heft 4, Oktober 2008, S. 603–619. Eine leicht geänderte Version des Beitrags von Edith Raim erschien zuerst in Andreas Nachama, Uwe Neumärker und Hermann Simon (Hrsg.): ‚Es brennt!‘ Antijüdischer Terror im November 1938, Berlin 2008, S. 146–153. 287 Die Signifikanz der Nürnberger Prozesse Die Signifikanz der Nürnberger Prozesse Von Christoph Safferling Wachen vor dem Eingang zum Schwurgerichtssaal 288 Foto: National Archives, College Park, MD, USA Einsichten und Perspektiven 4 | 08 Die Signifikanz der Nürnberger Prozesse Wenn man in Europa von Freiheit und Rechtsstaatlichkeit spricht, nimmt Nürnberg eine bedeutsame Rolle ein. Das Reichsparteitagsgelände steht in besonderer Art als Symbol für Unterdrückung und Tyrannei, der Schwurgerichtssaal 600 für Bestrafung und Wiedergutmachung im Falle schwerwiegendster Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Europa hat, nachdem es die schlimmsten Verbrechen, die menschlich überhaupt vorstellbar sind, erleben musste, einen Prozess der Vereinigung und Versöhnung eingeläutet, der in den letzten 60 Jahren zu einer ungewohnt friedlichen und prosperierenden Zeit geführt hat. Im Prozess des Erinnerns an die blutige Geschichte Europas und des gleichzeitigen Bemühens, die Grausamkeiten der Vergangenheit nicht zu wiederholen, sind die Nürnberger Prozesse von besonderer Bedeutung. Im Blick auf die Signifikanz der Nürnberger Prozesse stehen vor allem drei Punkte im Mittelpunkt. 1. Die Errichtung von anerkannten internationalen Kernverbrechen als Magna Charta der Menschheit, 2. die Idee einer internationalen Strafjustiz über den Grundsatz der Staatssouveränität und 3. das Fair-trial-Prinzip als Grundlage eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens. Wir sprechen immer von den Nürnberger Prozessen, wir sprechen im Plural. Im Nürnberger Schwurgerichtssaal wurden aber zwei phänotypisch verschiedene Prozessarten durchgeführt. Zum einen der sogenannte Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess, der ein internationaler Strafprozess war, basierend auf der am 8. August 1945 in London verabschiedeten Charta des internationalen Militärgerichtshofs. Auf der Grundlage dieser Charta wurden von den alliierten Siegermächten, den USA, dem Vereinigten Königreich, Frankreich und der Sowjetunion insgesamt 21 vormalige Nazi-Größen angeklagt. Auch wenn es anfangs so geplant war, fanden in der Folge keine weiteren wirklich internationalen Strafverfahren mehr statt. Der Kalte Krieg war bei Beendigung des ersten und einzigen Hauptkriegsverbrecherprozesses am 1. Oktober 1946 bereits so weit fortgeschritten, dass kein zweites Mal eine Einsichten und Perspektiven 4 | 08 Kooperation zwischen den westlichen Siegermächten und der Sowjetunion vorstellbar war. In der Folge wurden weitere NS-Verbrecher von nationalen Gerichten verfolgt und abgeurteilt. Die weiteren Verfahren, die als sogenannte Nürnberger Nachfolgeprozesse in die Geschichte eingegangen sind, waren Prozesse, die allein unter US-amerikanischer Verantwortung durchgeführt wurden auf der Grundlage von Kontrollratsgesetz Nr. 10. Parallel wurden sowohl in der französischen wie der britischen, aber auch in der sowjetisch besetzten Zone Verfahren gegen Kriegsverbrecher durchgeführt, die allerdings nicht die gleiche Aufmerksamkeit und Bedeutung erlangten wie die in Nürnberg durchgeführten zwölf Nachfolgeprozesse. Das lag auch daran, dass die Anklagestrategie der Vereinigten Staaten eine Konzentration auf verschiedene Berufsgruppen zum Inhalt hatte. Es wurden also – vorsichtig ausgedrückt – Stellvertreterprozesse geführt gegen Ärzte, Juristen, Mitgliedern von Einsatzgruppen, gegen Industrielle und Diplomaten. Mit dem sogenannten Wilhelmstraßenprozess, also dem Prozess gegen Angehörige des Auswärtigen Amtes, wurde im April 1949 diese Art der strafrechtlichen Aufarbeitung der NS-Diktatur in Nürnberg beendet. Während also der Hauptkriegsverbrecherprozess für die Internationale Strafjustiz als Vorbild, in eingeschränktem Sinn als Präzedenz, gelten darf, sind die Nachfolgeprozesse trotz ihres nationalen Charakters für die Entwicklung des materiellen Völkerstrafrechts und den moralischen Strafanspruch der internationalen Gemeinschaft bedeutsam. Die Errichtung von anerkannten internationalen Kernverbrechen als Magna Charta der Menschheit Die Signifikanz des Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesses als erstem internationalem Strafprozess besteht zunächst darin, dass im Nürnberger Statut die strafrecht289 Die Signifikanz der Nürnberger Prozesse Ansicht des Ostflügels des Justizpalastes mit dem Saal 600 – Ort der Nürnberger Prozesse – im zweiten Obergeschoss. Foto: Stadtarchiv Nürnberg lichen internationalen Kernverbrechen aufgestellt worden sind, die bis heute dem Grunde nach Gültigkeit haben. Als erstes ist dabei das Verbot des Angriffskriegs zu nennen, Verbrechen gegen den Frieden, wie es in Art. 6a des Nürnberger Statuts heißt. Als zweites sind die Kriegsverbrechen zu nennen, Art. 6b des Nürnberger Statuts, und zuletzt die Kategorie der Verbrechen gegen die Menschlichkeit, normiert in Art. 6c des Nürnberger Statuts. Diese Liste an internationalen Verbrechen stellt in der Menschheitsgeschichte ein absolutes Novum dar. Entsprechend war die Anerkennung dieser Verbrechenstatbestände im Verlaufe des Nürnberger Prozesses wie auch in der Nachwirkung höchst umstritten. Das gilt vor allem für den zuerst genannten Tatbestand des Verbrechens gegen den Frieden. Zwar gab es in dem sogenannten Briand-Kellogg-Pakt von 1928 eine vertragliche Grundlage für die Ächtung des Krieges in der internationalen Politik; ein strafrechtliches Verbot war damit allerdings nicht verbunden. Im Vergleich dazu war der zweite Tatbestand, die Kriegsverbrechen, relativ unstrittig. Auf der Grundlage verschiedener Genfer Konventionen ebenso wie der Haager Landkriegsordnung von 1907 gab es tatsächlich gewisse Handlungen, die als Mittel und Methode der Kriegsführung bei Androhung von Strafe verboten waren. 290 Eine völlige Neuschöpfung hingegen bilden die Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Dieser Verbrechenstatbestand stellt den Versuch dar, die bis zum damaligen Zeitpunkt unvorstellbare Grausamkeit und Systematik in der Vernichtung von Menschenleben in einen Begriff und auf einen Straftatbestand zu gießen. Die sich dahinter verbergenden Straftaten, wie Mord, Folter, Versklavung, Ausrottung und dergleichen, sind in sämtlichen zivilisierten Staaten der Welt als strafbare Handlungen zweifellos anerkannt. Fraglich ist indes, wie man zum Ausdruck bringt, dass diese „einfachen Verbrechen“ in einem Kontext geschehen sind, der einen Angriff auf die Menschheit als Ganzes enthält. Im Nürnberger Verfahren war man in dieser Kategorie relativ zurückhaltend, sodass der Tatbestand nur im Zusammenhang mit einer kriegerischen Handlung Anwendung fand. Das bedauerliche Resultat dieser restriktiven Handhabung: Verbrechen an der deutschen Bevölkerung wurden im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess nicht thematisiert. Gleichwohl war im Nürnberger Statut mit der Formulierung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit die begriffliche, aber auch die juristische Grundlage für diesen neuen zusammenfassenden internationalen Tatbestand gelegt. Im Kontrollratsgesetz Nr. 10 wurde der Tatbestand Einsichten und Perspektiven 4 | 08 Die Signifikanz der Nürnberger Prozesse Umbau des Schwurgerichtssaals für die Nürnberger Prozesse Foto: National Archives, College Park, MD, USA geöffnet und der Begehungszusammenhang mit dem Krieg als Voraussetzung gestrichen. Die moderne Tatbestandsfassung, wie etwa in Art. 7 des Römischen Statuts für den Internationalen Strafgerichtshof, sieht den internationalen Charakter des Delikts dadurch erfüllt, dass die Einzeltat im Zusammenhang mit einem ausgedehnten oder systematischen Angriff auf eine Zivilbevölkerung stehen muss. Ein Krieg bzw. ein bewaffneter Konflikt ist hingegen nicht (mehr) erforderlich. Diese Liste der Verbrechenstatbestände wurde von den Vereinten Nationen bereits im Jahr 1946 bestätigt. In dieser Liste der internationalen Verbrechen fällt auf, dass der Völkermord nicht enthalten ist. Der Tatbestand des Völkermordes war im Jahre 1945 juristisch nicht existent. Erst drei Jahre später, im Jahre 1948, gelang es, durch eine Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen die Konvention zur Verhütung und Bestrafung von Völkermord zu verabschieden. Dieser Straftatbestand knüpft, wenn man so will, an die Verbrechen gegen die Menschlichkeit an, betont dabei im Speziellen aber die Vernichtung einer besonders abgrenzbaren Gruppe. Es handelt sich dabei um eine national, ethnisch, rassisch oder religiös definierte Gruppe. Einsichten und Perspektiven 4 | 08 Die Konvention und damit den Tatbestand des Völkermordes verdanken wir dem unermüdlichen Engagement des polnischen Juristen Raphael Lemkin. Raphael Lemkin war selbst die Flucht über Skandinavien in die USA gelungen, verlor aber fast seine ganze Familie im Holocaust. Nach Kriegsende diente er zeitweise im USamerikanischen Anklägerteam des obersten Bundesrichters Robert H. Jackson und versuchte dort, seine Idee eines Völkermordtatbestandes zu verwirklichen, konnte sich aber mit dieser neuartigen Herangehensweise nicht durchsetzen. Erst drei Jahre später gelang ihm der Durchbruch. Heute steht der Völkermord in Art. 6 des Römischen Statuts für den internationalen Strafgerichtshof an erster Stelle der internationalen Kernverbrechen. So hat der Völkermord historisch zwar seinen Ursprung in den Verbrechen der Nationalsozialisten an der jüdischen und an anderen Minderheiten, er ist juristisch in der strafrechtlichen Aufarbeitung in der unmittelbaren Kriegsfolge allerdings nicht zur Anwendung gelangt. Damit wird auch ein weiterer Umstand deutlich: Im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess ging es vornehmlich, der US-amerikanischen Anklagedoktrin entsprechend, um die Ahnung des Führens eines Angriffskriegs. 291 Die Signifikanz der Nürnberger Prozesse Die Freigesprochenen geben eine Pressekonferenz im Nürnberger Schwurgerichtssaal (v.r.n.l.): Hans Fritzsche (lachend), Schacht und Franz v. Papen (gebeugt mit Brille) 1946. Foto: Museen der Stadt Nürnberg, Christine Dierenbach Der Holocaust, die Vernichtung von Minderheiten und ‚menschenunwürdigen Lebens‘ traten demgegenüber eher in den Hintergrund. Das entspricht nicht unserer heutigen Wahrnehmung, erklärt sich aber aus den soeben skizzierten juristischen Rahmenbedingungen und dem Umstand, dass das wahre Ausmaß der Vernichtungsmaschinerie in Auschwitz und anderswo erst im Laufe des Prozesses bzw. erst einige Jahre später mit der Auffindung des sogenannten Wannsee-Protokolls im Jahre 1948 deutlich wurde. Es mag zugleich als Ironie der Geschichte angesehen werden, dass vor allem die US-amerikanische Regierung im letzten Jahrzehnt die Verabschiedung eines Tatbestandes „Führen eines Angriffskriegs“ auf internationaler Ebene erfolgreich torpediert hat. In Nürnberg war es doch gerade dieser Tatbestand, den das US-amerikanische Anklägerteam um Robert Jackson für alle Zukunft festgestellt haben wollte. Die Idee einer internationalen Strafjustiz über den Grundsatz der Staatssouveränität Im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess wurden zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit die Staatssouveränität, der Grundsatz der Immunität von Staatsoberhäuptern und Regierungsmitgliedern sowie 292 das Rückwirkungsverbot zugunsten einer Bestrafung führender Staatsmänner zurückgestellt. Bereits nach dem Ersten Weltkrieg wurde eine Bestrafung des als Aggressor ausgemachten deutschen Kaisers Wilhelm II. im Versailler Vertrag kontempliert. Allerdings kam es zu einem solchen Verfahren nie, zumal nicht nur der vorgesehene Straftatbestand, Verbrechen gegen die Heiligkeit der Verträge, reichlich unbestimmt war, sondern auch weil die Niederlande dem verfolgten Kaiser politisches Asyl gewährten. Prozesse gegen Kriegsverbrecher durchzuführen wurde auf der Grundlage des Versailler Vertrages schließlich Deutschland, also der nationalen Justiz aufgetragen. Aus der langen Liste vermeintlicher Kriegsverbrecher (zwischen 900 und 1700) wurden schließlich in den Jahren 1921– 1927 17 Verfahren vor dem Reichsgericht durchgeführt, die als sogenannte Leipziger Prozesse in die Geschichte eingegangen sind. Die geringe Zahl der tatsächlich Verfolgten wurde noch „garniert“ mit der großen richterlichen Milde, mit der das Gericht den Angeklagten begegnete; bei sieben Freisprüchen gab es nur zehn Verurteilungen. Eines haben diese Verfahren deutlich gemacht: Eine unabhängige Justiz zur Durchführung von Kriegsverbrecherprozessen findet sich sicherlich nicht dort, wo Richter und Angeklagte die gleiche Nationalität besitzen. Die milden Haftstrafen verEinsichten und Perspektiven 4 | 08 Die Signifikanz der Nürnberger Prozesse Die Hauptangeklagten vor dem Internationalen Militärgerichtshof im Saal 600 Foto: Stadtarchiv Nürnberg bunden mit vorzeitigen Entlassungen und Begnadigungen sprechen von einem Misserfolg auf ganzer Linie, legt man einen gewissen Abschreckungseffekt von Strafprozessen als Maßstab an die Leipziger Prozesse an. Spätestens in der Moskauer Deklaration von 1943 legten sich die Alliierten deshalb auf eine Strafverfolgung der schlimmsten NS-Verbrecher nach dem Sieg über Nazi-Deutschland fest. Die Strafverfolgung sollte auf verschiedenen Ebenen erfolgen und insbesondere dort, wo es keinen expliziten territorialen Bezug gab, sollte eine koordinierte, internationale Strafverfolgung etabliert werden. Nach der totalen Kapitulation am 8. Mai 1945 begann daher neben der verwaltungstechnischen Organisation der Besatzungszonen zugleich die Arbeit an einer internationalen Strafverfolgung der Hauptkriegsverbrecher. Auch wenn sich mit Hitler und Goebbels die bedeutendsten Figuren und Repräsentanten des NS-Regimes bereits durch Selbstmord der Strafverfolgung entzogen hatten, standen insbesondere mit Göring, Heß als Hitlers Stellvertreter, Dönitz als Hitlers Nachfolger, mit mehreren Wehrmachtsgenerälen wie Keitel und Jodl, verschiedenen Reichsministern, wie von Ribbentrop und Speer, auch weitere Einsichten und Perspektiven 4 | 08 Repräsentanten des Unrechtssystems noch zur Verfügung. Mit der Anklage auch der politischen Führungsebene NaziDeutschlands wird klar, dass der Grundsatz der Immunität für Taten, die in Ausübung eines öffentlichen Amtes begangen werden, bei schweren Menschlichkeitsverbrechen keine Gültigkeit mehr hat. Das gilt selbst dann, wenn das jeweilige nationale Recht so ausgestaltet ist, dass die Taten keinen Gesetzesverstoß darstellen. Auch wenn eine rückwärtige Anwendung von Strafrecht nach allgemeinen rechtsstaatlichen Prinzipien, die auch zur damaligen Zeit Geltung hatten, nicht statthaft ist, so kann das doch dort nicht gelten, wo die Grundlagen der zivilisierten Welt selbst von den angeklagten Personen angegriffen wurden. Diese einer streng positivistischen Rechtsdogmatik zunächst widersprechenden Grundlagen basieren auf einer zutiefst moralischen Überzeugung, darüber hinaus aber auch auf einem allgemeinen Gerechtigkeitsverständnis, sowie auf der Überzeugung, dass es die Weltgemeinschaft nicht zulassen kann, dass ihre eigenen Grundlagen selbst erschüttert werden. Kurz nach Abschluss der Strafverfolgung von NSVerbrechen in Nürnberg haben sich die europäischen Staaten mit der Verabschiedung der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Gründung des Europarates eine menschenrechtliche Verfassung gegeben, die genau diese Werte widerspiegelt. So wurde auch in Art. 7 293 Die Signifikanz der Nürnberger Prozesse der Europäischen Menschenrechtskonvention der Grundsatz des Rückwirkungsverbotes anerkannt, zugleich in Abs. 2 aber festgestellt, dass dieses Rückwirkungsverbot dann keine Wirkung haben kann, wenn die Tat nach den von den zivilisierten Völkern anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen strafbar war. Diese Ausnahme vom nullumcrimen-Grundsatz wurde zunächst von der Bundesrepublik Deutschland als offensichtlicher Versuch, die Nürnberger Prozesse im Nachhinein zu rechtfertigen, bei der Ratifizierung mit einem Vorbehalt versehen. Nach dem Wiederaufleben der Idee einer internationalen Strafjustiz zunächst durch die Schaffung des Jugoslawientribunals im Jahr 1993, sodann durch die Verabschiedung und Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofs, ist die Bundesrepublik Deutschland im Jahre 2001 auch formal auf die europäische Linie eingeschwenkt und hat den Vorbehalt zu Art. 7 Abs. 2 EMRK offiziell zurückgezogen. Die Legitimität von Strafverfahren hängt allerdings auch von einer gewissen gleichmäßigen Anwendung ab. Eine willkürliche Bestrafung widerspricht elementar dem Rechtsstaatsprinzip. Nach Nürnberg sah sich das Völkerstrafrecht in genau dieser Falle. Der Kalte Krieg machte es politisch unmöglich, die Versuche, die seitens der Vereinten Nationen unternommen wurden, einen permanenten Strafgerichtshof einzurichten, in die Tat umzusetzen. Bemühungen dieser Art wurden offiziell bereits in den frühen fünfziger Jahren wieder eingestellt. Auf anderen Ebenen jedoch wirkte das in Nürnberg Erreichte fort. So wurden die Genfer Konventionen bereits 1949 neu und umfassend formuliert, versehen auch mit einer ganzen Reihe an konkreten strafrechtlichen Drohungen. 1977 wurde in den Zusatzprotokollen ein weiterer Fortschritt erreicht. Ähnlich auch auf Ebene der Menschenrechte: Nicht nur im Zusammenhang mit dem Europarat und der Europäischen Menschenrechtskonvention wurden hier Fortschritte erreicht, auch auf internationaler Ebene wurde 1966 mit der Verabschiedung des internationalen Pakts für bürgerliche und politische Rechte ein menschenrechtlicher Durchbruch gefeiert. Wie schon erwähnt, wurde 1948 mit der Verabschiedung der Völkermordkonvention ein neuer strafrechtlicher Tatbestand konkret gefasst. All das sind Nachwirkungen von Nürnberg. Eine internationale Strafverfolgung fand indes nicht mehr statt, auch wenn es an Gelegenheiten nicht gemangelt hätte. Die Legitimität von Nürnberg war fast 50 Jahre mit dem Makel behaftet, dass die einzigen Verfolgten die besiegten Deutschen waren und in Deutschland die Meinung deshalb weit verbreitet war, die Nürnberger Prozesse seien ein Akt von Siegerjustiz gewesen. Interessanterweise gelang allerdings ein Durchbruch kurz nachdem sich der Kalte Krieg mit dem Fall der Mauer 1989 dem Ende zuneigte. 294 Als sich auf dem Territorium des ehemaligen Jugoslawien ein grausamer Bürgerkrieg entfaltete, reagierten die Vereinten Nationen in Erinnerung an den Nürnberger Prozess mit der Errichtung eines internationalen Straftribunals als Unterorgan des Sicherheitsrats. So ungewöhnlich dieser Schritt formal wie politisch war, so sehr zeugte er doch davon, dass die Idee einer internationalen Strafverfolgung, wie sie in Nürnberg praktiziert wurde, noch lange nicht in Vergessenheit geraten war. Eher im Gegenteil: Das Statut des Jugoslawientribunals vom 28. Mai 1993 erinnert stark an das Statut des Internationalen Militärtribunals vom 8. August 1945. Danach, so möchte man meinen, ging alles ganz schnell. Bereits ein Jahr später wurde ein weiteres Tribunal vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zur strafrechtlichen Verfolgung des Völkermordes in Ruanda eingerichtet. Im Jahre 1998 schließlich verabschiedete eine internationale Konferenz das Statut für den Internationalen Strafgerichtshof, der am 1. Juli 2002 in Kraft getreten ist. Die Überzeugung, dass ein Kernbestand der Menschenrechte auch für jeden Staatsmann verbindlich ist und dass der Grundsatz der Staatssouveränität hinter dem Schutz dieser Menschenrechte auch durch Strafrecht zurück zu stehen hat, darf im Grundsatz weltweit als anerkannt gelten. Das Fair-trial-Prinzip als Grundlage eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens Eine große Herauforderung für das internationale Strafrecht bildet das Strafverfahrensrecht. Im Vorfeld des Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesses war es unter den alliierten Siegermächten mehr als strittig, ob tatsächlich ein rechtsstaatlich ausgestattetes Strafverfahren angewendet werden sollte oder ob nicht eine summarische Prüfung völlig ausreichend sei. Zudem wurde die Schuld der Angeklagten im Grunde als bewiesen und feststehend angesehen. Es ist vor allem das Verdienst des amerikanischen Chefanklägers Robert H. Jackson, dass in Nürnberg schließlich der Versuch unternommen wurde, ein Strafverfahren durchzuführen, das rechtsstaatlichen Anforderungen genügen kann. Entscheidet man sich für ein Strafverfahren, so Robert Jackson in seiner Rede vor der amerikanischen Gesellschaft für internationales Recht am 14. April 1945, so muss grundsätzlich von der Unschuld der Angeklagten ausgegangen werden. Ist man nicht bereit, den Angeklagten freizusprechen, so darf man kein rechtsstaatliches Strafverfahren durchführen. Im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess wurde dieser Grundsatz – bei aller Kritik im Einzelnen – ernst genommen, was man auch daran ablesen kann, dass Einsichten und Perspektiven 4 | 08 Die Signifikanz der Nürnberger Prozesse Robert H. Jackson, amerikanischer Chef der Anklagebehörde, während der Nürnberger Prozesse nationaler Strafprozesse ausgelöst, man spricht hier, nimmt man den asiatischen Raum mit dazu, von weit über 10.000 Strafverfahren weltweit und hat ein Bemühen in Gang gesetzt, schlimmste Verbrechen strafrechtlich zu ahnden, unabhängig von Raum und Zeit; zu denken wäre hier an die spektakulären Prozesse der Folgezeit, etwa den Ulmer Einsatzgruppenprozess, den sogenannten Auschwitz-Prozess in Deutschland, den Eichmann-Prozess in Jerusalem, die Verfahren gegen Papin oder Trouvier in Frankreich und etliche mehr. Diese Verfahren sind in Europa Teil der kollektiven Erinnerungskultur – als Erinnerung an die schlimmsten Übergriffe, die schlimmsten Verbrechen, die sich Menschen gegenseitig antun können, aber zugleich als Erinnerung an die Möglichkeit, mit diesen Verbrechen fertig zu werden, in rechtsstaatlichen Verfahren eine passende Antwort zu finden und so ein friedliches Zusammenleben in Zukunft zu fördern und zu ermöglichen. Foto: Stadtarchiv Nürnberg mit von Papen, Fritsche und Neurath gegen den erbitterten Widerstand der sowjetischen Richter immerhin drei Personen freigesprochen wurden. Robert Jackson war im übrigen von der Mühe, die ein internationales Strafverfahren mit sich bringt, selbst überrascht, da er beim Beginn des Prozesses im November 1945 noch davon ausging, dass bis Weihnachten die Verurteilungen vorlägen. Dass es schließlich noch weitere zehn Monate dauerte, ist aus heutiger Sicht gleichwohl überraschend, bedenkt man, dass die Verfahren vor dem Jugoslawientribunal in der Regel mehrere Jahre beanspruchen. Auch wenn das Strafverfahren in Nürnberg aus heutiger Sicht an Fairness einiges zu wünschen übrig ließ, muss doch berücksichtigt werden, dass den Angeklagten jeweils ein Verteidiger zur Seite gestellt wurde, dass ihnen ausreichend Zeit und Gelegenheit gegeben wurde, Beweise, die zur Entlastung dienten, vorzutragen und dass ein aufwendiges Dolmetschersystem die Verständlichkeit gewährleistete. Zusammenfassung Die Signifikanz von Nürnberg zeigt sich vor allem in drei Punkten: Es gibt eine Liste von Kernverbrechen, Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Verbrechen des Angriffskriegs, die Gültigkeit hat gegenüber jeder Person, sei sie Staatsoberhaupt oder auch nicht, und die mittels eines fairen Verfahrens vor internationalen Richtern durchgesetzt werden kann. Ausgehend von Nürnberg hat sich daher weltweit die Meinung durchgesetzt, dass Völkerstrafrecht der Beginn eines Neuanfangs sein kann, der es überflüssig macht, auf archaische Reaktionsmuster wie Rache und neuerlichen Krieg zurückzugreifen. Dabei darf man nicht übersehen, dass in Nürnberg vergleichsweise ideale Verhältnisse vorlagen. Der Krieg war zu Ende, das rechtskulturelle Umfeld war einem strafgerichtlichen Verfahren aufgeschlossen gegenüber, der Großteil der Bevölkerung sah in den Angeklagten die Verantwortlichen für Krieg und Leid und befürwortete daher eine Verurteilung. Diese Grundbedingungen sind allerdings eher selten. In Jugoslawien hatte der Bürgerkrieg noch nicht einmal seinen Höhepunkt erreicht, als der Sicherheitsrat das Jugoslawientribunal einrichtete. In Ruanda besteht ein ausgeprägtes alternatives Reaktionsmodell, was mit strafrechtlicher Aufarbeitung kaum vergleichbar ist, in Kambodscha gibt es kein Vertrauen gegenüber Gerichtsverfahren. Die Nürnberger Prozesse zeigen zwar einen und in dem konkreten Fall erfolgreichen Weg, grausames Unrecht aufzuarbeiten und ein friedliches Zusammenleben in der Zukunft zu gewährleisten, es ist aber keinesfalls der einzige und wird nicht in jeder Situation der richtige Weg sein. Für Europa freilich bedeuten die Nürnberger Prozesse den Beginn einer lange anhaltenden friedlichen Vereinigung, die weltweit bislang ihresgleichen sucht. Das moderne Europa der Freiheit und der Rechtsstaatlichkeit hat auch in Nürnberg seinen Ursprung. ❙ Der Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess hat in der unmittelbaren Nachkriegszeit nicht nur eine Fülle Einsichten und Perspektiven 4 | 08 295 Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit Publikationen der Landeszentrale zu den Schwerpunktthemen dieser Ausgabe Sicherheit und Frieden Die veränderte Republik Die Bundesrepublik Themenheft 1.08 zu Beginn des Deutschland nach der Deutschland Holocaust Education 21. Jahrhunderts Wiedervereinigung Eine Bilanz nach 60 Jahren 530 Seiten, 2004 770 Seiten, 2006 698 Seiten, 2008 (A 111) (A 123) (D 70) 84 Seiten, 2008 Diese und andere Publikationen können Sie bei der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit beziehen. Praterinsel 2, 80538 München, Fax: 089 - 21 86 - 21 80, [email protected], www.politische-bildung-bayern.de