Anwendung in der diättherapeutischen Praxis
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Anwendung in der diättherapeutischen Praxis
Kaisers Ideenreich Fokus · Leitlinien Medizinische Leitlinien Anwendung in der diättherapeutischen Praxis Diätassistenten setzen in ihrer täglichen Arbeit aktuelle Forschungskenntnisse alltagstauglich um (VDD, 2010). Auch sind wir im Hinblick auf eine Professionalisierung unseres Berufes, nicht nur auf europäischer Ebene, dazu aufgefordert, in unserer Arbeit hohe Standards zu setzen und Fähigkeiten und Fertigkeiten, die wir für das Erreichen unserer Ziele und bei der Ausübung unseres Berufes benötigen, zu bestimmen. Um diesen Ansprüchen zu genügen, bieten neben Standards und Richtlinien insbesondere Leitlinien schnelle und wissenschaftlich anerkannte Informationen und Handlungsempfehlungen zu bestimmten Fragestellungen. Leitlinien – eine Einführung Nach Definition des Ärztlichen Zentrums für Qualität in der Medizin (ÄZQ) sind Leitlinien (engl. guidelines) „[...] systematisch entwickelte, wissenschaftlich begründete und praxisorientierte Entscheidungshilfen für die angemessene ärztliche Vorgehensweise bei speziellen gesundheitlichen Problemen“ (ÄZQ, 2007, S.75). Demnach stellen Leitlinien einen definierten Konsens mehrerer Experten innerhalb einer Fachdisziplin oder interdisziplinärer Arbeitsgruppen wie bei der Leitlinie 10 D&I · 1/2013 der Chirurgischen Arbeitsgemeinschaft für Adipositastherapie (CAADIP), dar. Hier waren bei der Entwicklung und Erstellung neben den Chirurgen auch Internisten, Ernährungsmediziner, Psychosomatiker und Methodiker aus verschiedenen Fachgesellschaften beteiligt. Leitlinien haben in der Regel für einen bestimmten Zeitraum ihre Gültigkeit. So weist die im April 2010 erschienen „S3-Leitlinie: Chirurgie der Adipositas“ der CA-ADIP eine Gültigkeit von fünf Jahren auf. Derzeit wird diese Leitlinie fachlich in- haltlich überprüft. Nach Ablauf der Gültigkeit erfolgt die Aktualisierung einer Leitlinie. Deutlich von den Leitlinien abzugrenzen sind Richtlinien (engl. directives), die als Handlungsregeln einer gesetzlich, berufsrechtlich, standesrechtlich oder satzungsrechtlich legitimierten Institution für den Rechtsraum dieser Institution bindend sind und deren Nichtbeachtung definierte Sanktionen nach sich ziehen kann (ÄZQ, 2007). Ferner sind auch Standards wie Leitfäden sowie das Rationalisierungsschema Fokus · Leitlinien von Leitlinien abzugrenzen. Im Sinne von „Handlungs- und Entscheidungskorridoren“ kann und muss in besonderen Fällen von Leitlinien abgewichen werden. Neben Wissensvermittlung und einer Verbesserung der medizinischen Versorgungsqualität durch klare Handlungsempfehlungen sollen Leitlinien (Muche-Borowski, C & Kopp, I., 2011): ■ die gesundheitliche Versorgung sicherstellen und verbessern, ■ in der medizinischen Praxis als wissenschaftlich begründete und ökonomisch angemessene ärztliche Entscheidungshilfen angewendet werden, ■ unnötige und medizinisch überholte Maßnahmen (inkl. Behandlungsfehler) sowie zu hohe Kosten vermeiden sowie ■ Patienten, Kostenträger, Verordnungsgeber sowie die Fachöffentlichkeit etc. über notwendige und allgemein übliche medizinische Maßnahmen bei speziellen Gesundheitsrisiken und -störungen informieren. Welche medizinischen Leitlinien sind für Diätassistenten im Bereich der Diättherapie und Ernährungsberatung relevant? Drei wesentliche Arten von Leitlinien gilt es dabei zu unterscheiden: ■ Diagnostik und Therapie, z.B. bei Adipositas, Diabetes mellitus Typ 1 und 2, Allergien ■ Prävention ernährungsmitbedingter Erkrankungen, z. B. Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Ernährung e. V. (DGE) zur Bedeutung von Fett- und Kohlenhydrat- zufuhr für die Prävention ausgewählter ernährungsmitbedingter Krankheiten ■ Nationale Versorgungsleitlinien (NVL-Programm), z. B. bei Asthma, Diabetes mellitus. Die Mehrzahl veröffentlichter Leitlinien stammt aus dem Bereich Diagnostik und Therapie, die im Folgenden näher beleuchtet werden. Federführend bei der Erstellung von Leitlinien in Deutschland ist die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften in Deutschland e.V. (AWMF), in der 162 wissenschaftlich arbeitende medizinische Fachgesellschaften organisiert sind. Die Zentrale Aufgabe der AWMF besteht in der Koordination der Entwicklung von Leitlinien zur Diagnostik Leitliniensuche über das Portal der AWMF. D&I · 1/2013 11 Fokus · Leitlinien und Therapie durch die einzelnen Fachgesellschaften. Im Sinne der Qualitätssicherung stellt sie hierfür das AWMF-Regelwerk für die Erstellung von Leitlinien zur Verfügung, welches als Werkzeuge wie z. B. zur Literaturrecherche und Konsensfindung enthält. Auf der Homepage (www.awmf.de) sind derzeit 680 aktuell von S1- bis S3-Leitlinien verfügbar. Die Erstellung einer wissenschaftlichen Leitlinie kann nach Muche-Borowski & Kopp (2011) in fünf Phasen zusammengefasst werden. ■ Phase 1 – Planung und Organisation: Die Leitlinienerstellung ist ein sehr aufwändiges und zu finanzierendes Verfahren und bedarf einer sorgsamen Auswahl der Themen, die im Hinblick auf Bedarf, Ziele, Fragestellung und Zielgruppe zu begründen ist. Neben Ärzten können auch Diätassistenten zur Zielgruppe gehören. ■ Phase 2 – Leitlinienentwicklung: Hier wird das methodische Vorgehen für Klassifizierung festgelegt (vgl. Tab 1). Weiterhin erfolgt in dieser Phase eine Literaturrecherche zu definierten Fragestellungen in elektronischen Literaturdatenbanken wie PubMed, AWMF-Register, Medline sowie zu systematischen Übersichtsarbeiten in der Cochrane Library oder durch Handsuche in Fachzeitschriften. Die so recherchierte Literatur wird hinsichtlich ihrer wissenschaftlichen Aussagekraft, der so genannten Evidenzklasse/ -grade (vgl. Tab. 2), bewertet. Das methodische Vorgehen ist in einem Leitlinien-Report zu dokumentieren. ■ Phase 3 – Redaktion und Verbreitung: Aus den abgeleiteten Evidenzen werden dann Empfehlungen zur wissenschaftlichen Aussagefähig der Literatur (vgl. Tab. 3) gegeben, die eindeutig formuliert sein sollten. Um die Leitlinie neben Medizinern und Therapeuten einer breiten Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen und deren Anwendung zu erhöhen, können diese zusätzlich als Patientenund/oder Kurzversion publiziert werden (vgl. Abb. 2). Die Verbreitung erfolgt zum Beispiel über Internetseiten der Fachgesellschaften, wissenschaftlichen Fachzeitschriften oder in Form von Kongressbeiträgen. ■ Phase 4 – Implementierung: Die Handlungsempfehlungen einer Leitlinie müssen in dieser Phase trotz verschiedener struktureller, finanzieller oder personeller Barrieren zur Anwendung kommen. ■ Phase 5 – Evaluierung und Planung der Fortschreibung: Die Gültigkeit einer Leitlinie ist zeitlich limitiert. Gleichzeitig müssen in dieser Phase die Güte und Akzeptanz überprüft sowie Umsetzungsprobleme berücksichtigt werden. Bezeichnung Charakteristika Wissenschaftliche Legitimation für Legitimation der die Umsetzung Methode Beispiele S1: Handlungsempfehlung von Experten Selektierte Entwicklergruppe Keine systematische Evidenzbasierung Keine strukturierte Konsensfindung gering gering Leitlinie Therapiemöglichkeiten bei der IgE-vermittelten Nahrungsmittelallergie 2009, Leitlinie Zöliakie 2009, Leitlinie Obstipation im Kindesalter 2007 S2k: Konsensbasierte Leitlinien Repräsentative Entwicklergruppe gering Keine systematische Evidenzbasierung Strukturierte Konsensfindung hoch Leitlinie Ernährungsempfehlungen zur Behandlung und Prävention des Diabetes mellitus (2005/2010) S2e: Evidenzbasierte Leitlinien Selektierte Entwicklergruppe Systematische Evidenzbasierung Keine strukturierte Konsensfindung gering Leitlinie Diagnostik und Therapie der sekundären Eisenüberladung bei Patienten mit angeborenen Anämien 2010 S3: Evidenzund Konsensbasierte Leitlinien Repräsentative Entwicklergruppe hoch Systematische Evidenzbasierung Strukturierte Konsensfindung hoch Therapie der Adipositas im Kindes- und Jugendalter 2009, Leitlinie Chirurgie der Adipositas 2010 hoch Tab. 1: Stufenklassifikation von Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) nach Kopp, Encke & Lorenz (2002) und Beispiel nach Meeteling-Eeken & Huehmer (2011) 12 D&I · 1/2013 Fokus · Leitlinien Auch die Leitlinien-Detailansicht erfolgt über das Portal der AWMF. Evidenzklasse Studientyp Ia Meta-Analysen von mehreren randomisierten kontrollierten Studien Ib mindestens eine randomisierte kontrollierte Studie IIa mindestens eine gut angelegte, jedoch nicht randomisierte und kontrollierte Studie IIb mindestens eine gut angelegte quasi-experimentelle Studie III gut angelegte, nicht-experimentelle deskriptive Studien wie Vergleichsstudien, Korrelationsstudien oder Fall-Kontroll-Studien IV Berichte der Experten-Ausschüsse oder Expertenmeinungen bzw. klinische Erfahrung anerkannter Autoritäten Tab. 2: Evidenzgrade (-klassen) zur Bewertung der wissenschaftlichen Aussagefähigkeit klinischer Studien (AHCPR, 1993) Empfehlungsgrad Beschreibung Grad A „Soll“-Empfehlung Zumindest eine randomisierte kontrollierte Studie von insgesamt guter Qualität und Konsistenz, die sich direkt auf die jeweilige Empfehlung bezieht und nicht extrapoliert* wurde (Evidenzebenen Ia und Ib). Grad B „Sollte“-Empfehlung Gut durchgeführte klinische Studien, aber keine randomisierten klinischen Studien, mit direktem Bezug zur Empfehlung (Evidenzebenen II oder III) oder Extrapolation von Evidenzebene I, falls der Bezug zur spezifischen Fragestellung fehlt. Grad C „Kann“-Empfehlung Berichte von Expertenkreisen oder Expertenmeinung und/oder klinische Erfahrung anerkannter Autoritäten (Evidenzkategorie IV) oder Extrapolation von Evidenzebene IIa, IIb oder III; diese Einstufung zeigt an, dass direkt anwendbare klinische Studien von guter Qualität nicht vorhanden oder nicht verfügbar waren. Good Clinical Practice Gilt für eine Behandlungsmethode, für die es keine experimentellen wissenschaftKKP = Klinischer Kon- lichen Studien gibt, diese nicht möglich sind oder nicht angestrebt werden, das sensuspunkt Behandlungsverfahren aber dennoch allgemein üblich ist und innerhalb der Konsensusgruppe eine Übereinkunft über das Verfahren erzielt werden konnte. Tab. 3: Kriterien für Ableitung von Empfehlungsgraden in Leitlinien zur Diagnostik und Therapie auf Basis von klinischen Studien (Schütz, 2012). *extrapolieren = abschätzen D&I · 1/2013 13 Fokus · Leitlinien Relevanz für Diätassistenten – Nutzen in der Praxis Leitlinien stellen eine schnelle Möglichkeit dar, sich Wissen und evidenzbasierte Handlungsanweisungen zu konkreten Themenbereichen nach aktueller Studienlage anzueignen. Gleichzeitig bieten sie die Möglichkeit qualitätsgesichert zu handeln, jedoch auch das eigene diättherapeutische Wissen und Handeln zu überprüfen. Natürlich sind Leitlinien immer kritisch zu hinterfragen, da sie immer nur von einer ausgewählten Expertengruppe erstellt werden. Auch auf europäischer sowie internationaler Ebene sind in den letzten Jahren eine Vielzahl von Leitlinien entstanden, die den diättherapeutischen Beratungs- und Arbeitsalltag unterstützen. Dabei fällt auf, dass gerade in amerikanischen Leitlinien die Berufsgruppe der „dietitian“ explizit im Bereich diätetischer Aspekte und der Ernährungsberatung genannt wird. Ein Beispiel hierfür stellte beeindruckend die Leitlinie „Allied Health Nutritional Guidelines for the Surgical Weight Loss Patient“ der American Society for Metabolic and Bariatric Surgery (ASMBS) dar. Einige Fachgesellschaften veröffentlichen eine Entwurfsversion ihrer Leitlinie, welcher durch Fachkräfte kommentiert werden kann. Hier besteht demnach die Möglichkeit für Diätassistenten, sich kritisch mit in der Entwicklung befindlichen Leitlinien zu beschäftigen und einzubringen. Daher ist das Verwenden der korrekten Berufsbezeichnung unabdingbar. Die Auswahl der nachfolgenden Internetlinks soll helfen, wichtige Leitlinien schnell zu finden: ■ www.awmf.org/leitlinien ■ www.leitlinien.de ■ www.dge.de/modules.php?name=St&file=w_leitlinien ■ www.sign.ac.uk/guidelines/index.html Darüber hinaus bieten die Homepages internationaler Fachgesellschaften weitere Leitlinien zum Download an. Jedoch gelten für die Anwendung in Deutschland immer nationale Leitlinien. Literatur ■ AHCPR (1993). Clinical practice guideline No. 1. Agency for Health Care Policy and Research. AHCPR Publication No. 92-0023 ■ Muche-Borowski, C. & Kopp, I. (2011). Wie eine Leitlinie entsteht. Z Herz- Thorax- Gefäßchir; 25: 217-223 ■ Kopp, I., Encke, A. & Lorenz W. (2002). Leitlinien als Instrument der Qualitätssicherung in der Medizin. Das Leitlinienprogramm der Arbeitsgemeinschaft Wissenschaftlicher Medizinischer Fachgesellschaften (AWMF). Bundesgesundheitsbl Gesundheitsforsch Gesundheitsschutz; 45:223-233 ■ Schütz, T. (2012). Wissenschaftliche Leitlinien: Methodik – Bewertung – Anwendung. Ernährungs-Umschau; 59: 542-549 ■ Meteling-Eeken, M. & Huehmer, U. (2011). Wissenschaftlich arbeiten – Grundlagen für die Weiterentwicklung der Diätetik in Deutschland. Diät & Information; 1: 8-11 ■ VDD (2010). Grundsätze des beruflichen Selbstverständnisses für die Mitglieder des VDD e.V. Verfügbar unter: www.vdd.de/fileadmin/downloads/091110_Downloads/Berufsrichtlinien.pdf Zugriff am 15.12.2012 Die Autoren Mario Hellbardt B.Sc. Diätassistent, MEB/VDD, Gesundheitswissenschaftler Universitätsmedizin Leipzig Integriertes Forschungs- und Behandlungszentrum (IFB) Adipositas Erkrankungen Philipp-Rosenthal-Str. 27 D-04103 Leipzig [email protected] 14 D&I · 1/2013 Jana Böhnke Diätassistentin, Ernährungsberaterin/DGE Universität Potsdam Exzellenzbereich Kognitionswissenschaften Department Psychologie Beratungspsychologie Karl-Liebknecht-Straße 24-25 D-14476 Potsdam-Golm [email protected]