Kampo – die japanische Phytotherapie
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Kampo – die japanische Phytotherapie
K a m p o – d i e j a pa n i s c h e P h y t ot h e r a p i e U. Eberhard Kampo – die japanische Phytotherapie ein Überblick Zusammenfassung Kampo bedeutet auf japanisch "chinesische Medizin". Dabei ist die moderne japanische KampoMedizin eine eigenständige Heilkunde, die durch eine Weiterentwicklung und Verfeinerung der traditionellen chinesischen Kräuterheilkunde in Japan entstand. Sie bietet speziell für uns im Westen eine Reihe von Vorteilen in der praktischen Anwendung gegenüber der TCM-Phytotherapie, die hier aufgezeigt werden. Eine wachsende Zahl chronisch Kranker mit multiplen Beschwerden und funktionellen Störungen, besonders in der zweiten Lebenshälfte, bestimmen immer mehr die tägliche Praxis des niedergelassenen Arztes. Über die zunehmende Bedeutung der Kampo-Medizin im japanischen Gesundheitswesen, welches vor ähnlichen Zukunftsaufgaben steht, wie wir sie bei uns im Westen vorfinden (z. B. Überalterung der Bevölkerung und Zunahme der "Zivilisationskrankheiten") wird eine Brücke zu einem Einsatz der Kampo-Mittel bei uns geschlagen und die Prinzipien dieser traditionellen Phytotherapie werden vorgestellt. Schlüsselwörter Kampo-Medizin, chinesische Phytotherapie, Qualitätskontrolle, shôBestimmung, Kampo-Bauchdiagnose Kampo – the Japanese herbal medicine Abstract Kampo means ‚Chinese Medicine’ in Japanese. Although modern Kampo-Medicine is today an independent medical treatment system created from a development and refinement of the traditional Chinese Herbal therapy over centuries in ancient Japan. Kampo offers us in the West some important advantages in its practical application over the TCM-Phytotherapy which Zum Status der KampoMedizin in Japan Japan ist uns im Westen als hoch industrialisiertes Land und Wirtschaftsmacht ein Begriff. Auf dem Gebiet der Medizin vernimmt man aus Japan eher Nachrichten über Fortschritte durch Spitzentechnologie als Berichte über Naturheilverfahren. Wer weiß denn bei uns im Abendlande schon, dass es dort auch eine sehr lebendige traditionelle Medizin gibt, die zunehmend Dt. Ztschr. f. Akup. 47, 2/2004 are discussed in this report. A growing number of patients with chronic diseases or multiple complaints and functional disorders, especially those occurring in the elderly, increasingly dominate the daily practice of a medical practitioner. This report shows the growing importance of Kampo-Medicine in the Japanese health care system, which faces similar challenges in the future as we do in the West an Bedeutung gewinnt. Im Gegensatz zu China, wo die Traditionelle Chinesische Medizin als kulturelle Errungenschaft mit nationalem Stolz propagiert wird und große Anstrengungen unternommen werden, sie in alle Herren Länder zu exportieren, käme in Japan niemand auf den Gedanken, von einer "Japanischen Traditionellen Medizin" zu sprechen, geschweige denn, eine solche fernab des japanischen Inselreiches zu verbreiten. Dabei könnte gerade für uns Ärzte im Westen, die wir von der TCM fas- (aging population and an increase in so called ‘civilization diseases’ etc.) presenting the principles of this traditional herbal medicine and proposes the application of Kampo here. Keywords Kampo-Medicine, Chinese Herbal Medicine, quality control, shô-determination, abdominal examination ziniert sind und Akupunktur, Moxibustion und chinesische Phytotherapie praktizieren, der japanische Weg, eine 1500-jährige Weiterentwicklung durch Selektion und Anpassung an die japanischen Verhältnisse (die übrigens unseren ähnlicher sind als den chinesischen), von großem Nutzen in der praktischen Anwendung sein. Verfolgt man die Berichterstattung in japanischen Medien der letzten Jahre, findet man immer häufiger Stimmen, die die Überzeugung ver- DZA 21 K a m p o – d i e j a pa n i s c h e P h y t ot h e r a p i e treten, dass die moderne Medizin den Anforderungen einer zunehmend älter werdenden Bevölkerung nur noch in sehr beschränktem Maße gerecht werden kann. Dieser Trend hat der Kampo-Medizin in neuerer Zeit ein wachsendes Interesse beschert. Das spiegelt sich nicht nur in den steigenden Umsätzen der Kampo-Arzneimittel wider, sondern auch in der Zahl der verordnenden Ärzte (Abb. 1), dem zunehmend größer werdenden Anteil an klinischen Studien über die Kampo-Heilmittel und beachtlichen Ergebnissen in der modernen Grundlagenforschung. Kampo ist die japanische Art der überlieferten Phytotherapie, die auf der chinesischen Arzneimittelkunde gründet. Der Kampo-Heilkunde, kampô igaku, kommt innerhalb der traditionellen Medizin Japans die bedeutendste Rolle zu. Sie darf heute ausschließlich von approbierten Ärzten nach einem regulär absolvierten medizinischen Hochschulstudium angewandt werden. Demgegenüber wird die Akupunktur und Moxibustion in Japan vorwiegend von eigens dazu ausgebildeten Akupunktur-Ärzten praktiziert. Ausgehend von der alten Lehre der chinesischen Heilkunde hat die japanische Kampo-Medizin einen eigenständigen Weg eingeschlagen. In ihrem grundsätzlichen Ansatz unterscheidet sie sich jedoch – besonders von außen betrachtet – auf den ersten Blick nicht sehr wesentlich von der chinesischen Medizin. Die Unterschiede zeigen sich vor allem in der Praxis. Chinesische Ursprünge und Verselbständigung der japanischen Phytotherapie – Vorteile der Kampo-Medizin Die Ursprünge der Kampo-Medizin gehen zurück auf den chinesischen Kulturexport, der das japanische Yamato-Reich im 5. Jh n. Chr. erreichte. Unter den chinesischen Einwanderern befanden sich Gelehrte, die nicht nur die chinesische Schrift, konfuzianische Welt- Abb.1: Umfrageergebnis nach einer angesehenen japanischen Ärztezeitschrift (Nikkei Medical, 1997) nach dem über 70 % aller befragten Ärzte verschiedener Fachrichtungen Kampo-Mittel verwenden. 22 DZA anschauungen und die buddhistische Religion verbreiteten, sondern auch medizinische Kenntnisse. So waren es vorwiegend Priesterärzte, die in buddhistischen Klöstern und Tempeln die chinesische Medizin praktizierten. Die Emanzipation der japanischen Kampo-Medizin von ihrer chinesischen Mutterheilkunde begann erst nach einer langen Periode der "kritiklosen Nachahmung" im 16. Jh n. Chr. Nicht nur die unterschiedlichen Lebensbedingungen im Land der aufgehenden Sonne und die Andersartigkeit der Japaner im Vergleich zu den Chinesen, sondern auch die Abhängigkeit vom Drogenimport – fast 80 % der Heilpflanzen müssen aus anderen asiatischen Ländern importiert werden – mündeten schließlich in einer "Japanisierung" der TCM. Schon frühzeitig begann man in Japan die wirksamsten Substanzen zu selektieren und diese einer verfeinerten pharmazeutischen Aufarbeitung zu unterziehen. Dies wiederum führte zu einem höheren Nutzungsgrad, da die gleiche Menge Droge mehr Wirksubstanz aufweist. Dadurch wurden wesentlich geringere Dosen als in den chinesischen Rezepturen gleicher Zusammensetzung benötigt, um denselben Wirkungsgrad zu erzielen. In der Tat sind in China bis zu 5-fach höhere Dosen der Einzeldrogen innerhalb einer Rezeptur keine Seltenheit. Eine chinesische Apotheke benötigt zur Herstellung aller gängigen Rezepturen einen Drogenvorrat von etwa 500 Einzelsubstanzen, eine japanische Kampo-Apotheke lediglich die Hälfte davon. Für die Anwendung bei uns im Westen wurde die für die Herstellung der wichtigsten 100 Kampo-Rezepturen notwendige Zahl an Einzeldrogen sogar Dt. Ztschr. f. Akup. 47, 2/2004 K a m p o – d i e j a pa n i s c h e P h y t ot h e r a p i e bis auf 100 Substanzen reduziert. Diese für die Praxis enorme Vereinfachung konnte aufgrund langjähriger Erfahrungen in der Anwendung der Kampo-Medizin bei uns und in enger Zusammenarbeit mit japanischen Kampo-Spezialisten realisiert werden (4). Regelmäßige Rückstandskontrollen auf Herbizide, Insektizide und Pestizide, ebenso wie Prüfungen auf mikrobiologische Verunreinigungen (z. B. Schimmelpilzbefall) und Schwermetallbelastungen, werden von seriösen Kampo-Firmen rigoros durchgeführt. Hierbei gelten die im offiziellen Japanischen Arzneibuch (in der derzeit gültigen 14. Version) festgelegten Prüfverfahren und Grenzwerte als Richtschnur. Kampo-Drogen weisen den höchsten Wirkstoffgehalt auf, den man überhaupt finden kann. Der äußerst sensible japanische Binnenmarkt mit seinen anspruchsvollen und qualitätsverwöhnten Konsumenten erlaubt keine zweitklassige Ware, es können nur Substanzen von höchster Qualität Verwendung finden. Aus der Sicht des praktizierenden Therapeuten ergeben sich also eindeutige Vorteile in der Anwendung der verfeinerten Kampo-Phytotherapie gegenüber der ursprünglichen TCM-Kräuterheilkunde: Beim Import der Kampo-Drogen sind weniger Einzelsubstanzen und bei der Lagerung kleinere Mengen notwendig. Eine strenge Rückstandsprüfung und die hohe Qualität der Einzeldrogen gewähren Zuverlässigkeit für den Konsumenten. Die hochwertige pharmazeutische Aufbereitung der Rohdrogen erlaubt eine geringere Dosierung ohne Wirkungseinbuße bei erheblich weniger Nebenwirkungen, angeneh- Dt. Ztschr. f. Akup. 47, 2/2004 Ärzte und Institutionen, die sich klinisch und praktisch mit KampoMitteln beschäftigen. Abb. 2: Darstellung der japanischen Nationaflagge (Roter Punkt auf weißem Grund) mit den japanischen Schriftzeichen für Nippon. merem Geschmack und besserer Verträglichkeit. Kampo in Forschung und Lehre Eine Institution, die weit über die Grenzen Japans hinaus großes Ansehen und Anerkennung gefunden hat, ist das Kitasato-Institut für Fernöstliche Medizin in Tokyo. Dieses Ende der 70er Jahre gegründete medizinische Institut hat sich ganz der klinischen Praxis und Erforschung der Kampo-Medizin verschrieben. Etwa 30.000 Behandlungsfälle pro Jahr und fast 200 wissenschaftliche Veröffentlichungen machen dieses Institut zur wichtigsten Einrichtung dieser Art im gesamten ostasiatischen Raum. Daneben sind weitere Universitätsinstitute in Tokyo, Toyama und Osaka bekannt geworden, die sich der klinischen und pharmakologischen Erforschung der KampoMedizin widmen. Das öffentliche Gesundheitswesen hat die KampoMedizin anerkannt. Im Jahre 1976 wurden ca. 140 der klassischen Kampo-Rezepturen in den Erstattungskatalog der nationalen japanischen Krankenversicherung aufgenommen. Kampo in Deutschland Auch bei uns im deutschsprachigen Raum gibt es seit einigen Jahren Heidrun Reissenweber leitet am Klinikum der Universität München eine Forschungsstelle für KampoPhytotherapie, eine in Deutschland bisher einzigartige universitäre Institution, die sich zur Aufgabe gestellt hat, in Japan klinisch erprobte und pharmakologischtoxikologisch belegte Kampo-Rezepturen bei ausgewählten Indikationen exemplarisch zu überprüfen. Eine kürzlich abgeschlossene klinische Studie bestätigte die Wirkung einer traditionellen Kampo-Rezeptur (gosha jinki gan) bei der diabetischen Neuropathie (12). Helmut Bacowsky, der als Übersetzer des im Haug Verlag erschienen Buches von K. Terasawa bekannt wurde (18), ist Vorsitzender der Europäischen Akademie für Kampo-Medizin mit Sitz in Wien. Der Verein hat sich zur Aufgabe gestellt, die Kampo-Medizin als anerkannte Therapierichtung zu fördern und wissenschaftliche Informationen zu publizieren. Dazu dient eine Fachzeitschrift namens EuroKAMPO (Adresse s. Anhang). Ulrich Eberhard, Autor dieses Artikels und des im Elsevier-Verlag (Urban & Fischer) erschienen Leitfaden Kampo-Medizin (4) leitet einen Ärztlichen Arbeitskreis für Konstitutionelle Akupunktur und Kampo-Medizin in München (afkam) und beginnt nun einen zweijährigen Ausbildungslehrgang (8 Wochenendseminare) in KampoMedizin im Fortbildungsinstitut Dr. Becker in Rheinfelden (Adressen im Anhang). DZA 23 K a m p o – d i e j a pa n i s c h e P h y t ot h e r a p i e Der Bezug der Kampo-Mittel kann über eine Münchner Apotheke erfolgen, welche die hochwertigen Rohdrogen direkt von renommierten japanischen Kampo-Firmen bezieht. Die Apotheke stellt anhand der ärztlichen Rezeptur die fertige Kampo-Drogenmischung her und verschickt sie an den Patienten. (Weitere Informationen zum Prozedere beim Bezug der Drogen sind über den Autor erhältlich.) Diagnostik und Therapie der Kampo-Medizin In jeder systematischen Heilkunde geht der Therapie eine zielgerichtete Diagnostik voraus, so auch in der Kampo-Medizin. Das diagnostische Vorgehen ähnelt dem der in der chinesischen Medizin praktizierten, ausschließlich auf sinnlicher Wahrnehmung beruhenden "Vier diagnostischen Verfahren" (Befragung – Betrachtung – Betastung – Hören und Riechen). Die subjektiven Symptome, die vorwiegend durch gezielte Fragestellungen eruiert werden, ergeben zusammen mit den objektiven Befunden, die vom Untersucher über die Zungen-, Pulsund Bauchuntersuchung erhoben werden ein Zustandsbild, welches in der Kampo-Medizin als shô bezeichnet wird. Für jedes shô kennt die Kampo-Medizin eine oder mehrere zugehörige Rezepturen. So wird verständlich, dass die shôBestimmung der Auswahl der Kampo-Rezeptur, d. h. ausschließlich der Therapie dient und keine Aussage erlaubt über die Krankheitsursache im Sinne unserer westlichen Pathogenese. Ein weiterer, für den Einsatz der KampoMedizin sehr wesentlicher Aspekt wird hier deutlich: die Kampo-Diagnostik bedient sich eines phänomenologisch begründeten Vergleichssystems, das minimale Ver- 24 DZA änderungen registriert, jegliche Abweichung vom Normalzustand auf subtilste Art und Weise vermerkt und "verarbeitet". Ein solcher Ansatz macht verständlich, weshalb die Kampo-Medizin nicht nur kurativ, sondern vor allem auch präventiv von großem Nutzen ist. Für die Kampo-Diagnostik von herausragender Bedeutung ist die von japanischen Ärzten entwickelte Bauchuntersuchung (fukushin), die seit dem 16. Jh. die Grundlage der shô-Bestimmung darstellt (Abb. 3). Obwohl die Untersuchung des Bauches und die Zuordnung bestimmter Bauchareale zu den Funktionskreisen bereits im 16. Kapitel des altes chinesischen Klassikers Nan Ching beschrieben wurde (19), ist das Prinzip der Bauchdeckenpalpation und die Interpretation derselben eine Errungenschaft japanischer Kampo-Ärzte, die der chinesischen Medizin unbekannt ist (11). Diese subtile Methode der Bauchuntersuchung ist von jedem westlichen Arzt ohne besondere Schwierigkeiten erlernbar. Zur Differenzierung von Krankheitszuständen werden in der KampoMedizin auch heute noch traditionelle Konzepte herangezogen. Die Krankheitsbilder der Konzepte ki (chin.: Qi), ketsu, Blut (chin.: xue) und shineki, Körperflüssigkeiten Abb. 3: Technik der Bauchuntersuchung Linke Abbildung: Der Untersucher beginnt mit der Fläche der aneinander gelegten Finger zunächst vom Xiphoid bis zum Nabel und weiter bis zur Symphyse unter leichtem Druck zu palpieren (1), weitere Betastung des Abdomens in spiralförmiger Richtung: im Uhrzeigersinn vom rechten Unter- zum rechten Oberbauch (2), weiter über die Mittellinie zum linken Ober- und linken Unterbauch (3) und in einer weiteren Spirale über die lateralen Anteile der Bauchdecke hinweg (4 und 5). Beachtet werden sollen vor allem Konsistenz und Spannungsunterschiede der benachbarten Regionen. Von besonderem Interesse sind die subkostale, epigastrische, periumbilikale, suprapubische und inguinale Region, die erneut gezielt und unter deutlich erhöhtem Druck und mehr aus den Fingerspitzen heraus palpiert werden. Abschließend wird das gesamte Abdomen mit den Fingerspitzen perkutiert (Gasbildung) und die Magengrube beklopft (Plätschergeräusch). Rechte Abbildung: Zur Unterscheidung des Spannungszustands der Bauchdecke hat sich eine 5-stufige Gradeinteilung bewährt: Grad 1: schlaffe Bauchdecke, kein Tonus; Grad 2: schwache Bauchdecke, wenig Widerstand; Grad 3: weiche, entspannte Bauchdecke, normaler Tonus; Grad 4: gespannte Bauchdecke, leicht hypertone Muskulatur; Grad 5: erheblich gespannte Bauchdecke, deutlich hypertone Muskulatur. Die Technik der Bauchdiagnose wird in folgenden Büchern dargestellt • Eberhard U. Leitfaden Kampo-Medizin, Elsevier/Urban & Fischer, München 2003. Seite 72 ff. • Schmidt H. Konstitutionelle Akupunktur / Die chinesisch-japanische Typenlehre und ihre Anwendung, Hippokrates Verlag 1988. Seite 110 ff • Shibata Y. Kampo Treatment for Climacteric Disorders, Paradigm Publications, Brookline, Massachusetts, 1996. p 56 ff • Terasawa/Bacowsky. Kampo - Praxis der traditionellen fernöstlichen Phytotherapie anhand von klinischen Fallbeispielen, Haug Verlag Heidelberg, 1994. Seite168 ff. Dt. Ztschr. f. Akup. 47, 2/2004 K a m p o – d i e j a pa n i s c h e P h y t ot h e r a p i e (chin.: jinye) und die Krankheitsbilder auf der Grundlage der "Acht Leitkriterien" und "Sechs Krankheitsphasen" nach Shang Han Lun (chinesischer Klassiker der Arzneimittellehre) werden dabei vorwiegend zu Grunde gelegt. Anwendung der Kampo-Rezepturen Die traditionelle pharmazeutische Zubereitung der Kampo-Mittel ist die Rohdrogenmischung aus den wirksamen Anteilen der jeweiligen Arzneipflanzen. Einige Substanzen entstammen dem Reich der Mineralien, wenige sind tierischer Herkunft. In der Regel werden die Pflanzenteile getrocknet und zerkleinert, häufig auch weiterer pharmazeutischer Aufbereitung unterzogen. Eine Gegenüberstellung von Kampo-Mitteln und chemisch definierten Pharmaka zeigt Tabelle 1. Die überlieferten Kampo-Rezepturen, die aus mehreren Einzelsubstanzen als Dekokt oder Extrakt angewandt werden, wirken als therapeutische Einheit. Synergistische Interaktionen zwischen den Einzelkomponenten begünstigen die Gesamtwirkung des Gemisches und erhöhen die Bioverfügbarkeit der einzelnen Ingredienzien. In einer Untersuchung zur Pharmako- logie der Kampo-Rezeptur makyo kanseki tô (Ma Xing Shi Gan Tan) [Zusammensetzung: 10 g Gypsum fibrosum, 4 g Herba Ephedrae, 4 g Semen Armeniacae, 2 g Radix Glycyrrhizae], die im traditionellen Kontext bei einem Krankheitsbild Anwendung findet, das wir im Westen als Bronchialasthma bezeichnen, konnte gezeigt werden, dass der antitussive und bronchiolytische Effekt der Rezeptur bei gleichzeitiger Abkochung aller vier Inhaltsstoffe maximal ist, und es wurde nachgewiesen, dass die in Herba Ephedrae enthaltenen Ephedrinderivate (Methylephedrin, Pseudoeohedrin, Ephedradin A, B, C) in höherer Konzentration in der Tinktur enthalten waren, als bei alleiniger Abkochung von Herba Ephedrae (5). Eine Reihe weiterer interessanter Ergebnisse dieser pharmakologischen Untersuchung bestätigt die Erfahrung, dass unerwünschte Nebenwirkungen der Einzeldrogen durch das Zusammenwirken des Drogengemisches innerhalb einer klassischen Kampo-Rezeptur weitgehend neutralisiert werden. Breites Indikationsspektrum Die häufigsten Einsatzgebiete der Kampo-Phytotherapie sind: › Chronische funktionelle Störungen › Psychosomatische Erkrankungen › Allergien › Schmerzsyndrome › Infektionskrankheiten › Autoimmunkrankheiten › Immunmodulation › Degenerative Erkrankungen und Stoffwechselkrankheiten › Zerebrovaskuläre Erkrankungen › Kindliche Entwicklungsstörungen › Iatrogene Schädigungen › Rekonvaleszenz › Prävention und Prophylaxe Chronische funktionelle Störungen: Die unter diese Rubrik fallenden vielfältigen Störungen, die ohne feststellbare organische Veränderungen teilweise erhebliche rezidivierende Beschwerden hervorrufen und den Betroffenen nicht selten zum chronisch Kranken machen, gehören zur Domäne der Kampo-Medizin. Dazu zählen alle psychovegetativen Störungen, wie Dysfunktionen des autonomen Nervensystems ("vegetative Dystonie"), funktionelle Herzbeschwerden, vegetativ-dystonische gastrointestinale Beschwerden, hormonelle Dysbalance, klimakterische Symptome, vegetative Urogenitalstörungen, Störungen der Sexualfunktion, Erschöpfungszustände, das chronische Müdigkeitssyndrom, sowie Störungen des Schlaf- und Wachrhythmus. Alle durch Stress Ta b e l l e 1 Kampo-Mittel chem. definierte Pharmaka Zubereitung Rohsubstanzen (Vielstoffgemisch) Reinsubstanz(en) (Monosubstanz) Anwendung Dekokt (Extrakt) Lösung, Tabletten, Dragees etc. Verabreichung oral oral oder systemisch Wirkungsbeginn verzögert schnell Wirkungsrichtung mehrdimensional eindimensional Wirkungsweise synergistisch akumulativ therapeutische Breite groß klein Nebenwirkungen selten häufig Dt. Ztschr. f. Akup. 47, 2/2004 DZA 25 K a m p o – d i e j a pa n i s c h e P h y t ot h e r a p i e verursachten Störungen sind hier inbegriffen und bieten ein erfolgsversprechendes Betätigungsfeld. Psychosomatische Erkrankungen: Die phänomenologisch begründete Kampo-Medizin sieht psychische und somatische Symptome in einem sehr engen, korrelativen Zusammenhang, ähnlich der Chinesischen Medizin. Subjektive und objektive Symptome dienen zur Bewertung der individuellen Reaktionslage oder im Krankheitsfalle zur Bestimmung des Schweregrades der Störung, weniger zur Differenzierung zwischen psychogenen oder somatogenen Ursachen. Auf dieser Basis lassen sich alle jene Krankheitsbilder, die wir im Westen Abb. 4: Darstellung eines Bauchbefundes Kyôkyôman aus dem Lehrbuch fukusho Kirau (Inaba u. Wakuba, 1982) den "psychosomatischen” zuordnen, auch mit Kampo-Rezepturen behandeln, in idealer Weise begleitend zur Psychotherapie. Allergie und Atopie: In zahlreichen Untersuchungen wurde nachgewiesen, dass einige Kampo-Verordnungen antiallergene, auf die allergische Reaktion vom Typ I und 26 DZA Typ IV inhibitorische Wirkung ausüben (7, 16). In der Praxis bewähren sich Kampo-Verordnungen zur Abmilderung der Hypersensibilität des Allergikers, indem sie eine Minderung der erhöhten Reaktionsbereitschaft oder auch eine Unterdrückung der allergischen Reaktion bewirken. Infektionskrankheiten, Immunmodulation, Autoimmunkrankheiten: Vielversprechend ist der Einsatz von Kampo-Mitteln bei einer geschwächten Abwehrfunktion zur Stärkung des Immunsystems, beispielsweise bei rezidivierenden Infekten. Verschiedene Studien berichten in letzter Zeit über den Einsatz von Kampo-Drogen bei AIDS (10) und bei Malignom- und Metastasenerkrankungen (6). Auch bei Autoimmunkrankheiten, wie etwa jene vom rheumatischen Formenkreis, können Kampo-Rezepturen eine günstige Beeinflussung der Pathologie bewirken (2). Die Anwendung geschieht in diesen Indikationsbereichen meist adjuvant zur konventionellen Therapie. Die Virushepatitis (HBV) ist eine endemische Erkrankung in Japan und die Rezeptur shô saiko tô erwies sich in zahlreichen Studien wirksam, sowohl bei akuter wie auch bei chronischer Leberentzündung durch ihre hepatoprotekive Wirkung (8, 9). Die so genannten saikozai, das sind alle Rezepturen, die als Hauptdroge Radix Bupleuri enthalten, scheinen besonders bei Entzündungskrankheiten innerer Organe (Vaskulitis) antiinflammatorische Wirkung zu entfalten. Es konnte im Tierexperiment gezeigt werden, dass Kampo-Mittel in der Lage sind, pathophysiologische Reaktionen wie die Entstehung zirkulierender Immunkomlexe (CIC) zu begrenzen und damit dem Entzündungsvorgang entgegenzuwirken (3). Experimentelle und klinische Studien bei Nephritis und beim Nephrotischen Syndrom untermauern diese Erkenntnisse (1, 15). Schmerz: Für einige Kampo-Drogen konnte eine direkte analgetische Wirkung (z.B. Radix Bupleuri, Tuber Corydalis, Radix Achyranthis) oder eine spasmolytische Wirkung (z. B. Radix Paoniae, Pericarpium Aurantii, Radix Puerariae) nachgewiesen werden (17). Auch entfalten die Drogenmischungen meist eine indirekte schmerzstillende Wirkung durch eine Verbesserung der Mikrozirkulation bzw. durch Milieuveränderungen im Schmerzbereich. Gynäkologie und Geburtshilfe: Die Kampo-Medizin hat in Japan seit altersher eine herausragende Bedeutung bei den vielfältigen funktionellen Störungen, die aufgrund neuro-endokrinologischer Überund Unterfunktionen im weiblichen Menstruationszyklus auftreten. Viele japanische Frauenärzte praktizieren diese Therapie neben der konventionellen Behandlung (14). Der Einsatz von Kampo-Mitteln in der Betreuung während der Schwangerschaft und postpartal ist unter zweierlei Gesichtspunkten abzuwägen: Schaden und Nutzen für Mutter und Kind. Einige Kampo-Drogen sind während der Schwangerschaft bzw. Stillzeit kontraindiziert. Dieses "Verbot" ist allerdings unter dem Gesichtspunkt der paracelsischen Maxime ‘nihil nocere’ zu sehen und gegenüber den potentiell schädigenden synthetischen Pharmaka abzuwägen. Pädiatrie: Kampo-Mittel als Extrakte eignen sich auch in der pädiatrischen Praxis und sind eine wertvolle Alternative zur konventionellen Pharmakotherapie bei allen infektiösen Kinderkrankheiten, bei generalisierter Abwehrschwäche ("Rotznasen-Kinder"), bei Allergien sowie bei Entwicklungs- und Dt. Ztschr. f. Akup. 47, 2/2004 K a m p o – d i e j a pa n i s c h e P h y t ot h e r a p i e psychosomatischen Störungen (z. B. Enuresis, hyperaktive Kinder). Allerdings ist die Anwendung in Dekoktform wegen dem "bitteren Geschmack" meist etwas problematisch. Hier ist ein entsprechendes Einfühlungsvermögen des Arztes (und der Eltern) Voraussetzung für den Einsatz der Kampo-Mittel. Geriatrie: Die Erkenntnis, dass eine Pflanzentherapie schonender ist als eine "denaturierte” und mit starken Arzneimitteln die naturgegebenen Bedingungen störende Pharmakotherapie und deshalb insbesondere bei alten Menschen von großem Vorteil ist, setzt sich bei uns wie in Japan immer mehr durch. Zustände körperlicher Schwäche und das gleichzeitige Auftreten einer Vielzahl subjektiver Beschwerden und mentaler Funktionseinschränkungen, bei gleichzeitiger Insuffizienz der Ausscheidungs- bzw. Entgiftungsfunktion, kommen häufig bei alten Menschen vor. Bei der zunehmenden demografischen Überalterung der Bevölkerung wird die wachsende Bedeutung der Kampo-Medizin im Gesundheitswesen Japans verständlich. In zahlreichen Studien konnte in den letzten Jahren die hervorragende Wirksamkeit von Kampo-Verordnungen nachgewiesen werden, die bei altersbedingten metabolischen oder zerebrovaskulären Erkrankungen und beim dementiellen Syndrom von großem Nutzen sind (Yamada, 1985) Iatrogene Schäden: Langzeitanwendung von modernen Pharmaka, Polypharmakologie oder auch Medikamentenabhängigkeit führen nicht selten zu Schädigungen, die durch den verordnenden Arzt mit verantwortet werden müssen. Die Kampo-Medizin bietet sich auch hier als ganzheitliche und nebenwirkungsarme Alternative an. Auch dort wo der iatrogene Scha- Dt. Ztschr. f. Akup. 47, 2/2004 den zwangsläufig unvermeidbar ist, z. B. bei Chemotherapie oder Radiatio, lassen sich mittels KampoDrogen die schädigenden Nebenwirkungen oft eindrucksvoll herabmildern. Nicht nur subjektiv fühlen sich die Patienten besser (weniger Haarausfall, weniger Übelkeit und besseres Allgemeinbefinden), auch sah ich in der Praxis immer wieder, dass der Einsatz bestimmter KampoRezepturen zu "messbaren” Ergebnissen führen kann (z. B. geringere Depression der blutbildenden Parameter). Rekonvaleszenz: Kampo-Mittel werden häufig zur "Wiederherstellung der Gesundheit” nach langwierigen, zehrenden Krankheitsverläufen oder nach schweren Operationen und Geburten angewandt. So wird beispielsweise die KampoRezeptur juzen daiho to (Shi Quan Da Bu Tang) zur Förderung der Wundheilung eingesetzt. Erklärt wird dies durch eine Verbesserung der Mikrozirkulation und Granulation. Die Erfahrung lehrt, dass postoperative Komplikationen wie Thrombose, Anämie, Magen-DarmTrägheit, gestörte Leber- oder Nieren-Blasen-Funktion, Infektionen, Adhäsions- oder Fistelbildungen, weniger häufig auftreten. Die präoperative Kampo-Anwendung zur "Vitalisierung” und Vermeidung von Komplikationen hat ebenso ihren Platz wie die postoperative zur Regenerierung. Prävention und Prophylaxe: Mittels der in der Kampo-Medizin ureigenen Anamnese und Untersuchungstechnik lassen sich Abweichungen vom "Normalen” schon vor dem Auftreten der ersten manifesten Krankheitssymptome feststellen und gezielt behandeln. Dies kann zur Vorbeugung von Infektionskrankheiten genauso nützlich sein wie zur Prävention von organischen Erkrankungen. Auch im Anfangsstadium eines akuten Infekts kann durch eine frühzeitige Einnahme von KampoMitteln die Infektionsausbreitung verhindert werden. Periodisch auftretende Beschwerden, wie etwa Menstruationsstörungen oder Migräne-Attacken, lassen sich durch den Einsatz der Kampo-Mittel abschwächen oder unterdrücken. In der täglichen Praxis bietet die Kampo-Medizin ein weites Anwendungsfeld entweder als Monotherapie oder als Begleittherapie neben der konventionellen Pharmakotherapie. Sie eröffnet jedem ärztlichen Therapeuten, sei er nun "alternativ" oder "schulmedizinisch" orientiert, neue diagnostische und vor allem therapeutische Wege, ohne sich jedoch erst einmal mühsam in die komplexen und fremdartigen Begriffe und zahllosen Einzeldrogen der TCM einarbeiten zu müssen. Als allopathische Methode – Kampo-Dekokte sind Urtinkturen! – und wegen der zahlreichen Wirksamkeitsnachweise in klinischen und pharmakologischen Studien wird der Zugang zur Kampo-Medizin auch für viele jener Kollegen erleichtert, die anderen komplementären Heilverfahren, wie etwa der Homöopathie, mit Skepsis begegnen. In der Akupunktur-Praxis bietet die kombinierte Anwendung der Nadeltherapie und Kampo-Behandlung eine ideale Ergänzung. So wird es auch im traditionellen Sinne in den Ländern des Ostens vielfach praktiziert. Beide Therapieformen, die äußere Nadeltherapie und die innere Arzneipflanzentherapie stammen aus demselben Kulturraum und ergänzen sich optimal. Schlussbetrachtung Die Kampo-Medizin kann dort gute Dienste erweisen, wo die Verbes- DZA 27 K a m p o – d i e j a pa n i s c h e P h y t ot h e r a p i e serung der Lebensqualität des Patienten größere Bedeutung gewinnt als die ausschließlich kurativ orientierte, auf bloße Krankenversorgung bedachte Medizin. Dies gilt sowohl für chronische Erkrankungen, als auch für die im fortgeschrittenen Lebensalter auftretenden Störungen. Die heute in Japan praktizierte neuzeitliche Kampo-Medizin, die sich aus der alten chinesischen Medizin durch einen mühsamen Prozess der Weiterentwicklung herausschälte, ist bei uns im Westen sowohl für fortgeschrittene TCMTherapeuten, aber ebenso für jeden praktizierenden Arzt anwendbar, der nicht davor zurückschreckt, sich einige leicht erlernbare KampoKonzepte anzueignen. 4. Eberhard U. Leitfaden Kampo-Medizin, Elsevier/Urban & Fischer, München 2003 5. Hosoyo E. Scientific Reevaluation Literatur of Kampo Formulas using modern 1. Aoyagi K et al. 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Recent Advances in the medicines of plant origin in modern Pharmacology of Kampo, Excerpta therapy, A Symposium Report, Oxford Medica 1988 Clinical Communications, Oxford 1990 Adressen für an Kampo Interessierte: Ärztlicher Arbeitskreis für Konstitutionelle Akupunktur und Kampo-Medizin (afkam) Dr. med. Anna Hutzel Richard-Riemerschmid-Allee 28/0 D-81241 München Tel.: +49 (0) 89 / 8 34 04 57 Kampo-Ausbildungskurse in Zusammenarbeit mit dem Qualitätszirkel Akupunktur Rheinfelden im Fortbildungsinstitut für ganzheitliche Heilverfahren Dr. med. Judith Becker Hohe-Flum-Weg 5, D-79618 Rheinfelden Tel.: +49 (0) 7623 / 6 30-25 Fax: +49 (0) 7623 / 6 30-07 [email protected] Europäische Akademie für Kampo-Medizin DDr. Helmut Bacowsky Sachsenplatz 9/30 A-1200 Wien Tel.: +43 (0) 1 / 3 30 85 62 Fax: +43 (0) 1 / 3 32 40 27 [email protected] Internet: http://www.eurokampo.at Oriental Medicine Research Center of the Kitasato Institute Director: Dr. Toshihiko Hanawa 5-9-1 Shirogane, Minato-Ku Tokyo, Japan 108-8642 Tel.: +81 (0) 3 / 57 91 61 66 Fax: +81 (0) 3 / 34 48 14 38 [email protected] Forschungsstelle für Japanische Phytotherapie (Kampo) Leiterin: Dr.med.Heidrun Reißenweber M. A. Medizinische Klinik – Innenstadt Klinikum der Universität München Ziemssenstraße 1, D-80336 München Tel.: +49 (0) 89 / 51 60-22 23 Fax: +49 (0) 89 / 51 60-23 02 [email protected] 28 DZA Dt. Ztschr. f. Akup. 47, 2/2004 K a m p o – d i e j a pa n i s c h e P h y t ot h e r a p i e 9. Oda T et al. Kampo preparations as 14. Shibata Y/ Wu J. Kampo Treatment 17. 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