Was ist Wahrheit? - Evangelische Akademie Tutzing

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Was ist Wahrheit? - Evangelische Akademie Tutzing
Was ist Wahrheit? Eine große, eine schwierige Frage. Aber
um diese spöttische oder vielleicht auch ernsthafte
Anmerkung des Pontius Pilatus geht es im Kern, wenn man
sich kritisch mit den Medien und insbesondere der Presse
beschäftigt. Und vor allem, wenn es um das Schüren von
Zukunftsängsten und das Ausmalen von
Katastrophenszenarien geht. Das Thema dieser Tagung.
So einleuchtend und eigentlich selbstverständlich die
Forderung nach wahrheitsgemäßer Berichterstattung auf
den ersten Blick erscheint, so schwierig ist es, sie in der
Praxis einzulösen. Da muss man erst gar nicht die
Wissenschaft, die Philosophie, die Linguistik oder die
Logik, bemühen, die sich schon seit dem Altertum und bis
in die Gegenwart mit dem kniffligen Thema „Wahrheit“
abgeplagt haben. Der Blick in die alltägliche Praxis der
Redaktionsstuben reicht bereits, um die Schwierigkeit des
Unterfangens zu erkennen.
Doch der Reihenfolge nach. Auf dieser Tagung geht es
darum, wie die Zukunftserwartung junger Leser durch auf
sie zugeschnittene Bücher geprägt wird. Als Ergänzung
hierzu wurde ich gebeten, das Gleiche für die Presse
herauszufinden. Wobei das Ergebnis mit dem Titel der
Tagung – „Albtraum Zukunft“ – und der mutigen
Feststellung, dass Jugendliche heute, so wörtlich, „von
Katastrophenszenarien und Zukunftsangst geprägt“ seien,
schon vorweggenommen wurde. Auch eine solche
Behauptung ist ja selbst schon ein gewisses
Katastrophenszenario und insofern strenggenommen ein
Zirkelschluss. Als Tatsache wird behauptet, was erst
nachgewiesen werden soll.
Die meisten demoskopischen Untersuchungen können ein
derart düsteres Bild zumindest nicht bestätigen. Die letzte
Shell-Jugend-Studie von 2010 hat festgestellt, dass 59
Prozent der deutschen Jugendlichen mit Zuversicht in die
Zukunft blicken. Nur sechs Prozent sehen demnach ihre
Zukunft düster. Ein sogar noch positiveres Bild zeichnet
eine Befragung der Süddeutschen Zeitung vom
vergangenen Jahr. Danach bezeichneten 83 Prozent der 12bis 19-Jährigen den Satz „Ich bin Optimist“ als zutreffend,
bei den 20-bis 29-Jährigen waren es sogar 86 Prozent. Und
den Satz „Ich habe keine Lust, über meine Zukunft in zehn
Jahren nachzudenken“ machten sich immerhin 57 Prozent
der Jüngeren und 48 Prozent der etwas Älteren zu eigen.
Solche Zahlen sind, ich weiß, natürlich immer mit Vorsicht
zu genießen. Aber das Gegenteil lässt sich gewiss mit
diesem Ergebnis auch nicht beweisen. Als kleine Fußnote
könnte ich noch meine ganz private Beobachtung
hinzufügen. Ich behaupte mal, dass keines meiner vier
Kinder und auch nicht deren Freunde, zumindest soweit ich
da Einblick habe, unter Zukunftsangst leidet.
Einen Kontrapunkt, den will ich auf keinen Fall
verschweigen, setzte zu den hier gemachten Feststellungen
im Herbst 2010 die sogenannte Rheingoldstudie. Dahinter
steht das Kölner „Institut für qualitative Markt- und
Medienanalysen“, eine Einrichtung von, überwiegend,
Diplompsychologen, die sich laut Selbstauskunft, „auf
tiefenpsychologische Kultur-, Markt- und Medienforschung
spezialisiert“ hat. Finanziell unterstützt wurde die
Rheingoldstudie übrigens von IKEA Deutschland. Wegen
ihrer Originalität und weil sie sich von den zitierten
Erkenntnissen so weit unterscheidet, will ich sie hier etwas
ausführlicher zitieren. Es heißt dort:
„Die Jugend 2010 gibt ein verblüffendes Bild ab. Sie
präsentiert sich sehr erwachsen, kontrolliert und vernünftig.
Zielstrebig will sie ihren eigenen Weg finden. Dabei stehen
Bildung, Karriere und ein hoffentlich gutes Einkommen
hoch im Kurs. Eine große Anpassungs-Bereitschaft,
persönliche Beweglichkeit und Pflichtbewusstsein werden
ebenso als Garanten eines erfolgreichen bzw. abgesicherten
Lebens angesehen, wie ein breites Kompetenz-Spektrum.
Die Lebensentwürfe der jungen Menschen sind von klaren
und vor allem erreichbaren Zielen bestimmt. Dabei scheint
in diesen Entwürfen immer eine Biedermeierwelt durch, in
der das zentrale Lebensziel darin besteht, ein kleines Haus
mit Garten oder eine Eigentumswohnung zu besitzen.
Bewohnt mit der eigenen Familie, den (beiden) Kindern
und dem Hund. Das Lied von Peter Fox über das „Haus am
See“ ist daher eine Hymne an ein beschauliches Leben, in
dem man endgültig angekommen ist, sich niedergelassen
hat und sich im Kreise der Familie wohlfühlt. Zuhause will
man sich gemütlich einrichten und Geborgenheit erfahren –
möglichst mit einem verlässlichen und treuen Partner, an
den man sich fest bindet.
Psychologisch verstehbar sei diese an die Ideale des
Biedermeier erinnernde Lebens-Haltung, so heißt es bei
Rheingold weiter, nur vor dem Hintergrund einer
veränderten Lebenswirklichkeit, die aus Sicht der
Jugendlichen durch eine ungeheure Brüchigkeit und
ständige Erschütterungen geprägt ist. Das lange Zeit sichere
und berechenbare Versorgungs-Paradies Deutschland hat
furchterregende Risse bekommen. Das Lebensgefühl der
Jugendlichen ist daher stark von Zerrissenheitserfahrungen
und Krisen geprägt – sowohl im gesellschaftlichen wie im
familiären Rahmen. Jeder Jugendliche hat entweder in
seiner eigenen Familie oder in seinem Umfeld Trennungen
oder Scheidungen erlebt. Viele leben in Patchworkfamilien
oder mit der alleinerziehenden Mutter. Aber auch in den
noch „intakten“ Familien wird häufig die mangelnde
Präsenz oder Verlässlichkeit der Väter beklagt. Eine sichere
und tragfähige Basis finden die Jugendlichen aber auch
nicht in der Gesellschaft, die durch immer neue Krisen
erschüttert wird und die weder klare Leitlinien noch eine
glaubwürdige Zukunftsperspektive bietet. Hartz IV ist
daher für die Jugendlichen zum Sinnbild eines persönlichen
Einbruchs und Loser-Schicksals geworden, das jedem
jederzeit drohen kann.
In diesem Stil geht es dann noch mehrere Seiten weiter.
Umso verblüffender ist aber der Schluss der Studie. Heißt
es dort doch: Auch für die leistungswilligen Jugendlichen
ist es bedeutsam, einen Schon- und Schutzraum zu haben,
der sie auffängt, trägt und ihnen Geborgenheit vermittelt.
Dieses Urvertrauen ‒ jenseits aller Absturz-Ängste –
gehalten zu werden, finden die Jugendlichen vor allen bei
den Müttern und, jetzt kommtʼs, bei den Medien.
Überraschend viele Jugendlichen stimmten regelrechte
Lobeslieder auf ihre Mütter an. Die eigene Mutter steht für
die Verlässlichkeit und Sicherheit, die man sonst in der Welt
nicht findet. Mit der Mutter verbunden ist die Hoffnung auf
eine bedingungslose Liebe. Eine Liebe, die nicht an
Erfolgsbedingungen geknüpft ist, sondern auch besteht,
wenn man scheitert oder abstürzt. Die Nähe oder das
freundschaftliche Verhältnis zur Mutter manifestiert sich in
einer steten Rückkehr ins elterliche Heim. Das „Hotel
Mama“ dient nicht nur der simplen Bequemlichkeit,
sondern einer existentiellen seelischen Stabilisierung.
Aber auch die Medien, so heißt es weiter, erfüllen diese
Stabilisierungs-Funktion. Die Jugendlichen umhüllen sich
regelrecht rund um die Uhr mit diversen Medien wie Radio,
Fernsehen, Internet oder Handy, die meist sogar parallel
genutzt werden. Kleine MP3-Player fungieren als mobile
Ohrenschnuller, die einen draußen begleiten und
umsäuseln. So können verstörende Leerstellen im Alltag
vermieden werden, in denen man sich auf sich allein
zurückgeworfen sieht. Vor allem Plattformen wie Facebook
oder StudiVZ werden im Sinne einer ständigen Anbindung
und Kommunikations-Zufuhr genutzt.
Soweit das von Katastrophen umwölkte Biedermeier-Bild
unserer jungen Generation in der Rheingold-Studie, die sich
wie gesagt doch erheblich von anderen Untersuchungen
unterscheidet.
Dass aber nahezu für jede Behauptung ein statistischer
Beleg zu finden ist, zeigte kürzlich ein Beitrag in der SZ, in
der zwölf sehr verbreitete Annahmen über die Arbeitswelt
analysiert wurden. Etwa der beliebte Satz: Immer mehr
Fachkräfte wandern ins Ausland ab. Stimmt aber nicht
unbedingt. Denn 78 Prozent der Auswanderer kehren nach
ein paar Jahren wieder heim. Oder: Der Krankenstand ist
auf einem Rekordhoch. Laut
Bundesgesundheitsministerium gab es aber im ersten
Halbjahr 2009 – das waren wohl die neuesten Zahlen ‒ so
wenig Krankmeldungen wie noch nie seit Einführung der
Statistik vor 40 Jahren. Die Krankenkassen widersprechen
sich übrigens völlig bei diesem Thema. Noch ein letztes
Beispiel: Die Behauptung, die Mehrheit der deutschen
Arbeitnehmer mache nur noch Dienst nach Vorschrift,
stimmt nach den Feststellungen des Gallup-Instituts in
Berlin. Danach trifft diese Einschätzung auf 63 Prozent der
Beschäftigten zu. Das Gegenteil hat hingegen die
Unternehmensberatungsfirma Towers Watson
herausgefunden. Danach sehen sich 67 Prozent der
Mitarbeiter als engagiert an, womit Deutschland im
internationalen Vergleich sogar ganz vorne liegen würde.
Man sieht: Alles ist irgendwie beweisbar. An dieser Stelle
pflegt man immer gerne Winston Churchill zu zitieren, der
angeblich dazu aufrief, keiner Statistik zu trauen, die man
nicht selbst gefälscht habe. Das Dumme ist nur, dass dies
Churchill vermutlich nie gesagt hat. Da sind wir schon
wieder beim Problem mit der Wahrheit.
Zum Thema Statistik muss ich noch etwas sagen. Sie
kennen vielleicht das Beispiel von zwei Menschen, von
denen der eine in einer Wüste verdurstet und zur gleichen
Zeit irgendwo der andere ertrinkt. Nach Adam Riese sind
also zwei Menschenleben zu beklagen. Wenn das Problem
jedoch rein statistisch betrachtet wird, dann geht es den
beiden „im Schnitt“ noch immer gut. Die etwas albern
anmutende Geschichte ist leider statistischer Alltag. Ein
schönes, eigentlich eher trauriges, Beispiel bot der
sogenannte Sommer vor einem Jahr. Da die Presse
wahnsinnig gerne Wettergeschichten erzählt und dabei zu
Superlativen neigt ‒ nach dem Motto „Der heißeste
Sommer seit 40 Jahren“ oder „Der verregnetste August seit
Menschengedenken“, gehe ich mal etwas auf dieses Thema
ein.
Also: Jedermann wusste im Sommer 2011 in Deutschland,
dass es nahezu permanent geregnet hat und auch die
Temperaturen – von ein paar Ausreißern abgesehen – alles
andere als sommerlich waren. Alles falsch, so verblüfften
uns prompt manche Wetterexperten, der Sommer sei
eigentlich sogar zu warm gewesen.
Das Geheimnis dieser extrem verschiedenen Sichtweisen
liegt nicht etwa daran, dass der Laie sich etwas bloß
vormacht und einfach dazu neigt, über das schlechte
Wetter zu lamentieren. Der Grund liegt darin, dass der
Statistiker Durchschnittswerte miteinander vergleicht,
während der normale Regenschirmträger Einzelereignisse
erlebt. Ein Beispiel: Im Juli steigt an fünf Tagen
hintereinander das Thermometer nicht über 18 Grad,
an den letzten beiden Wochentagen aber beschert das
überraschende Hoch „Heini“ zwei Hitzetage mit bis zu 35
Grad. Der Normalbürger wird dann sagen: Das war
eine grausame Woche, erst viel zu kalt und dann brutal
heiß. Doch der Meteorologe, zumindest der, der sich
lediglich auf seine beliebte Statistik stützt, ist mit der
Woche rundum zufrieden. Im Schnitt sei es an den sieben
Tagen knapp 23 Grad warm gewesen, und das sei für den
Juli doch durchaus angemessen. Allerdings, das räumt der
Experte ein, sei das eigentlich „zu warm“ gewesen.
Ähnliches können Sie dann in der Presse lesen, die häufig
auch unkritisch vermeintliche neue wissenschaftliche
Erkenntnisse oder schier unglaubliche
Forschungsergebnisse von irgendwelchen drittklassigen
Instituten, vornehmlich US-amerikanischer Provenienz,
wortwörtlich von den Nachrichtenagenturen zu übernehmen
pflegt.
Also, um zum Ausgangspunkt zurückzukommen: So
schwierig oder unmöglich es ist, statistisch nachzuweisen,
ob überhaupt und wenn ja warum junge Leute
Zukunftsängste haben, umso einfacher ist es, die
vermeintlichen ursächlichen Quellen, sprich die in den
Medien verbreiteten Erkenntnisse oder eben „Wahrheiten“
zu analysieren. Sie haben das ja seit gestern ausführlich mit
der Kinder- und Jugendliteratur getan und werden das auch
noch morgen fortsetzen.
Zur Presse: Eigentlich scheint alles klar zu sein. Im Kodex
des Deutschen Presserates heißt es, die Achtung vor der
Wahrheit und die wahrhaftige Unterrichtung der
Öffentlichkeit gehörten neben der Wahrung der
Menschenrechte zu den obersten Geboten der Presse. Und
einer der berühmtesten Journalisten, Egon Erwin Kisch,
äußerte sich zu diesem Thema voller Begeisterung: Nichts
sei verblüffender als die einfache Wahrheit, nichts
exotischer als unsere Umwelt, nichts phantastischer als die
Wirklichkeit.
Alles richtig, aber, großes Aber: Tatsache ist eben auch,
dass über etwa 99 Prozent der Ereignisse auf dieser Welt
überhaupt nicht berichtet wird. Und zwar aus dem
einfachen Grund, weil die Presse davon gar nichts erfährt.
Und Fakt ist es ebenso, dass von allen Nachrichten der
Agenturen, die der einzelne Journalist zur Kenntnis nimmt,
ebenfalls der stark überwiegende Teil in den Papierkorb
wandert. Mit dem Rest muss sich der Leser abfinden ‒ der
Rest, das ist, mit Meldungen, Kommentaren, Reportagen,
Features, Glossen, Rezensionen und den zahlreichen
Korrespondentenberichten, immer noch ein gewaltiger
täglicher Informationsberg. Der ist so hoch, dass der Leser
selber auch noch mal auswählt. Mit der Folge, dass
schätzungsweise allenfalls die Hälfte der in einer Zeitung
erschienenen Beiträge von einer nennenswerten Leserzahl
überhaupt zur Kenntnis genommen wird. Und nicht nur das,
von den Artikeln werden meist auch nur die Anfänge oder
Schlüsse gelesen oder, besser gesagt, überflogen. Aber, und
das ist überhaupt das schwierigste Unterfangen: Der Leser
muss erst einmal für das Produkt gewonnen werden. Das ist
in einer Zeit, in der in einem Ausmaß wie noch nie zuvor
die elektronischen mit den Printmedien konkurrieren, in
dem wie wild gemailt, gesimst und getwittert wird,
wahrlich keine leichte Aufgabe.
Der Leser, und siehe das Thema der Tagung, vor allem
auch der junge Leser, für den es schon längst nicht mehr
selbstverständlich ist, regelmäßig eine Tageszeitung zu
lesen, muss also geködert werden. Dafür ist, erst mal als
positives Beispiel, der gute Ruf einer Zeitung eminent
wichtig. In ihr werde man seriös, umfassend und gut lesbar
informiert, das ist das Ziel jeder ernsthaft arbeitenden
Redaktion. Und für die jüngeren Leser – etwa vier Prozent
der SZ-Leser sind zwischen 14 und 19 Jahre alt‒ gibt es
hier immer mal wieder eine Extra-Zeitung für Kinder, unter
anderem erschien etwa ein Special zur letzten
Bundestagswahl. Für die etwas Älteren sind die „Jetzt“-
Seiten und die Website „jetzt.de“ da sowie das Projekt
„Schule und Zeitung“.
Wie bedeutend für die Zeitungen gerade die
nachwachsende Generation ist, die sich zunehmend im
Internet informiert, zeigt eine Untersuchung des
Allensbacher Instituts für Demoskopie vom letzten Jahr.
Danach ist die wichtigste Informationsquelle für das
aktuelle Geschehen, also über Politik, Wirtschaft,
Wissenschaft, Kultur und Lokales – Sport wurde
merkwürdigerweise nicht erwähnt – bei den 16- bis 29Jährigen zwar immer noch das Fernsehen mit 56 Prozent.
Dahinter folgt aber schon ganz knapp das Internet mit 50
Prozent. Relativ weit abgeschlagen rangieren das Radio mit
20 und die Zeitung mit 13 Prozent.
Das klingt erst mal reichlich ernüchternd für die Presse.
Doch das Ganze sieht schon sehr anders aus, wenn man
nach der Glaubwürdigkeit der Informationsquellen fragt.
Da liegen das Fernsehen mit 82 Prozent und die Presse mit
70 Prozent plötzlich sehr deutlich vor dem Internet. Wobei
hier noch zwischen den verschiedenen Anbietern erhebliche
Unterschiede bestehen. Denn mit 52 Prozent werden die
Online-Auftritte der Zeitungen und Zeitschriften ganz klar
vor den diversen Internet-Foren, Blogs, Facebook- und
Twitterseiten gewürdigt. Die kommen maximal auf 24
Prozent in der Glaubwürdigkeits-Statistik, vieles gilt sogar
als noch weit unseriöser.
Zu einem in der Aussage ähnlichen Ergebnis, wenn auch
auf andere Prozentzahlen, kommt die JIM 2011, eine Studie
des Medienpädagogischen Forschungsverbunds Südwest,
so heißt das. Dahinter steht die Landesanstalt für
Kommunikation Baden-Württemberg in Stuttgart, die den
Medienumgang 12- bis 19-Jähriger untersucht hat. Zum
Thema „Glaubwürdigkeit“, das ich hiervon nur
herausgreife, heißt es dort:
In der JIM-Studie wurden die Jugendlichen gefragt:
„Stell Dir mal vor, Du wirst im Radio, im Fernsehen, in
Tageszeitungen oder im Internet über ein und dasselbe
Ereignis informiert, die Berichte widersprechen sich aber
bzw. sind voneinander verschieden. Wem würdest Du am
ehesten glauben: dem Radio, dem Fernsehen, dem Internet
oder der Tageszeitung?“
Auf diese Frage entscheiden sich zwei Fünftel, also 40
Prozent, für die Tageszeitung, 29 Prozent vertrauen am
ehesten den Meldungen aus dem Fernsehen, ein Sechstel
baut auf das Radio und nur jeder Siebte traut am ehesten
den Angaben aus dem Internet. Insgesamt betrachtet
bewerten Jungen und Mädchen die Medien recht ähnlich.
Mädchen entscheiden sich etwas häufiger für das
Fernsehen, Jungen zu einem größeren Anteil für das
Internet. Größere Unterschiede ergeben sich bei der
Betrachtung der Altersgruppen. Hier verlieren mit
zunehmendem Alter der Jugendlichen Radio und Fernsehen
an Glaubwürdigkeit, während die Tageszeitung an
Vertrauen sogar noch deutlich hinzugewinnt. Weniger
deutlich gilt das auch für das Internet.
Das reicht jetzt vielleicht erst mal mit Zahlen. Es soll aber
deutlich machen, dass sich auf dem Medienmarkt derzeit
wirklich Gewaltiges bewegt, vergleichbar mit dem Einzug
des Fernsehens in die Wohnzimmer, nur dass das Ganze
jetzt noch unglaublich schneller vonstatten geht. Es zeigt
aber auch zugleich, dass es sich noch weiter lohnt, mit
einem Printmedium, das manche schon totsagen möchten,
um das Publikum zu wetteifern, auch um die jüngeren
Leser.
Um sich in dieser harten Konkurrenzveranstaltung von
anderen Produkten zu unterscheiden, muss jede Zeitung
und überhaupt jedes Medium neben der Seriosität auch
noch mit Alleinstellungsmerkmalen aufwarten: am besten
mit exklusiven Meldungen, mit kleinen Sensationen, auch
wenn dieser Begriff bei den meisten Journalisten auf dem
Index steht. Das Dumme ist nur, dass keine exklusive
Meldung im Zeitalter der Internet-Auftritte aller Medien
lange exklusiv bleibt. Nur in wenigen Ausnahmefällen hält
eine Redaktion ihren Scoop bis kurz vor Redaktionsschluss
zurück, um die Konkurrenz zu verblüffen. Das Übliche ist,
dass man sich gegenseitig fast rund um die Uhr im Internet
und über die Nachrichten-Agenturen belauert, um nicht ins
Hintertreffen zu geraten.
Bei meiner kleinen Abschiedsrede in der SZ konnte ich
mir nicht verkneifen, in dem Zusammenhang das eigene
Haus etwas aufs Korn zu nehmen. Ich sagte damals: Ich
wünsche mir, „dass die SZ wieder so selbstbewusst wird,
dass sie sich nicht die Themen von anderen Medien
diktieren lässt, sondern auf ihre eigenen Stärken baut, dass
wir nicht bei jedem Alarm-Alarm-Geschrei gleich vorne mit
dabei sind: Sprich: Schweinegrippe, sprich WirtschaftsApokalypse, sprich all die großen und kleinen
Katastrophen, die zumeist sowieso schon nach wenigen
Wochen wieder vergessen sind.
Und damit sind wir ja schon bei den düsteren
Zukunftsausblicken angekommen, die einen nicht geringen
Teil der Nachrichteninhalte ausmachen. Inzwischen
versuchen eben nicht nur die Boulevardzeitungen mit
möglichst reißerischen Überschriften sich vom
Konkurrenzprodukt abzuheben, davor ist auch die
sogenannte seriöse Presse nicht gefeit. Das ist
selbstverständlich natürlich auch den meisten Journalisten
selbst bewusst, doch es ist unglaublich schwierig, sich dem
allgemeinen Trend entgegenzustemmen.
Ich habe das mal, am Ende meiner aktiven Zeit bei der
Süddeutschen Zeitung, auch in einem internen Papier
aufgespießt. Ich lese Ihnen da ein paar Auszüge vor, um das
noch anschaulicher zu machen:
3,5 Millionen Arbeitslose – die Medien jubeln. Von
Aufschwung ist die Rede. Ja, der Arbeitsminister hält jetzt
sogar das Wunder „Vollbeschäftigung“ für möglich.
Klappe! Neuer Versuch: 3,5 Millionen Arbeitslose ‒ das
Ganze ist eine einzige Katastrophe. Deutschland befindet
sich in einem „tiefen Tunnel“, die „Ratlosigkeit regiert“, die
Gesellschaft ist „entzweit“. Alles echte Zitate, wenn auch
nicht nur aus der SZ. Die erste Version stammt vom April
2008, die zweite vom Frühjahr 2009. Die gleichen Zahlen,
aber ihre Interpretation könnte nicht unterschiedlicher sein.
Was gerade nur ein Jahr zuvor noch wie toll gefeiert wurde,
war plötzlich nichts als das Indiz einer fürchterlichen
Katastrophe.
Ja, ja, ganz verkehrt waren die Warnungen nicht, sehr viel
mehr Menschen mussten nun mit Kurzarbeit klarkommen.
Aber eben dafür wurde ja dieses Instrument erfunden, damit
die Arbeitslosigkeit erst mal vermieden werden kann.
Stimmt auch: Keiner wusste damals, wie positiv sich die
Situation auf dem Arbeitsmarkt noch weiter entwickeln
würde. Aber das ist es ja gerade: Obwohl es niemand genau
weiß, tun die zahlreichen Fachleute und politischen
Schwadroneure immer so, als wüssten sie schon alles. „Im
Sommer wird es kritisch“, raunten die einen, „die Talfahrt
endet im Frühsommer“ hofften dagegen andere. Oder war
mit dem Ende der Rezession „im Herbst“ oder erst „in
weiter Ferne“ zu rechnen? Einig waren sich alle
Kaffeesatzleser nur in einem Punkt: So schlimm war᾽s noch
nie, die Apokalypse schien nahe.
Nur seltsam, dass man so richtig gar nicht das Weltende zu
spüren schien: Die Biergärten waren wie immer gut gefüllt,
es war nach wie vor schwer, eine teure Opernkarte zu
ergattern, die Leute diskutierten wild über einen
Bundesliga-Krimi und über ähnlich wichtige Ereignisse. Im
München wurde sogar in dieser angeblich so schrecklichen
Krisenzeit ein schönes neues Museum eingeweiht, das sich
der bayerische Staat 48 Millionen Euro kosten ließ. Was
aber, Krise hin, Krise her, für niemand ein Thema zu sein
schien. Schließlich wollte man sich ja nicht als Banause
outen.
Wie ist das alles vereinbar? Tanzen die Leute alle auf dem
Vulkan, den sie nicht sehen wollen oder gibt es da einfach
zwei unterschiedliche Realitäten: die medial vermittelte und
die selbst erlebte? An beidem ist etwas dran. Da keiner
wirklich weiß und wissen kann, wann und wie sich die
Wirtschaft wieder erholt (das Gleiche gilt heute für den
Euro und für Griechenland) und wie viele Arbeitsplätze das
vielleicht noch kosten wird, machen erst einmal (fast) alle
Bürger so weiter wie bisher. Was bleibt ihnen auch anderes
übrig? Doch die Medienmenschen können sich natürlich
nicht einfach zurücklehnen und verkünden, dann warten
wir᾽s eben ab. Sie sind dazu gezwungen, täglich neue
Wasserstandsmeldungen zu bringen, und zwar so, dass sie
mehr als die konkurrierenden Medien wahrgenommen
werden. Und damit dies gelingt, muss überzeichnet,
vergröbert und alles noch viel schrecklicher aufgeschrieben
werden, als es ohnehin schon ist. Wenn da eine Zeitung mal
fast entschuldigend einräumt, als die Konkurrenz schon den
Vergleich mit der Wirtschaftskrise der zwanziger Jahre
bemüht, das wirtschaftliche Desaster lasse „die
Beschäftigung noch unberührt“, dann wirkt diese
realistische Wertung im allgemeinen Trauerchor fast als
obszöne Verniedlichung.
Angesagt ist der Untergang, ohne Beschönigung und ohne
Hoffnungsschimmer. Die Zeiten, dass nur schlechte
Nachrichten auch wirklich Nachrichten sind, gehören einer
harmlosen Vergangenheit an. Nur die ganz fürchterliche, die
aufschreckende, die entsetzliche Nachricht ist von Belang.
Ich übertreibe nur unwesentlich. Da reicht es zum Beispiel
nicht, zu konstatieren, dass die Arbeitslosigkeit und damit
auch die relative Armut in Mecklenburg-Vorpommern
immer noch reichlich hoch ist, nein, im deutschen Osten
gehen gleich „ganze Regionen unter“. Es wurde nicht
berichtet, ob die Landstriche bald geflutet werden. Es
schien aber so, als ob es sie wohl bald einfach nicht mehr
geben werde. Nur merkwürdig, dass die jämmerlichen
Gegenden inzwischen zu den beliebtesten Touristenzielen
Deutschlands geworden sind – mit jährlich zweistelligen
Zuwachsraten. Andererseits: Reich waren diese Landstriche
noch nie, sie lebten auch in früheren Zeiten im
Wesentlichen vom Fischfang und von Sommerfrischlern.
Dass die wirtschaftliche Situation dort nicht besser ist, liegt
unter anderem auch daran, dass hier nicht nur die Industrie
fehlt, sondern dass sich viele Menschen (vor allem
Ausländer) nicht unbedingt zu „national befreiten Zonen“
und rechtsradikalen Dumpfbacken hingezogen fühlen. Das
ist aber eine andere Geschichte.
Ein beliebtes apokalyptisches Thema ist die
Erderwärmung. Um sogleich keine Missverständnisse
aufkommen zu lassen. Außer einigen Lobbyisten der
Stromkonzerne und manchen Verschwörungstheoretikern
muss nach den vorliegenden Daten jeder ernsthafte Mensch
davon überzeugt sein, dass die Temperaturen auf diesem
Planeten langsam aber kontinuierlich steigen. Und deshalb
sollte es auch selbstverständlich sein, dass alles
Menschenmögliche dafür getan wird, dass eine der
Hauptursachen dafür, die Emission von CO² und anderen
sogenannten Treibhausgasen, minimiert wird.
Wenn man sich aber etwas detaillierter, etwa über den
Eisschwund in der Arktis, informieren möchte, dann erfährt
man erstaunlich Widersprüchliches. So schrieb der DiplomMeteorologe Martin Paesler im April 2009: „Global setzte
sich der seit vier Jahren anhaltende Abkühlungstrend fort,
die Eisbedeckung im Nordpolarmeer war die größte seit
1979...“ Paesler ist kein Sonderling, der sich interessant
machen möchte. Auch kanadische Wissenschaftler stellten
2008 fest, dass wegen extrem kalter Temperaturen in den
meisten Teilen der Arktis die Eisfläche wieder zugenommen
habe. In der gleichen Zeit berichteten mehrere Medien, die
Eisschmelze am Nordpol habe sich „dramatisch
beschleunigt“.
Wir werden heute nicht herausfinden, was da nun der
Realität oder der Wahrheit näher kommt. Unumstritten ist
nur, dass das Ganze eine sehr komplizierte Thematik ist.
Das geht schon bei den Wolken los. Je nachdem, in welcher
Höhe sie sind, sorgen sie für höhere oder auch niedrigere
Temperaturen. Angeblich kann bislang kein Computer der
Welt bei Wetterprognosen diese widersprüchlichen
Auswirkungen der Wolken exakt vorhersagen. Lassen wir
das.
Peer Steinbrück hat mal den Satz gesagt, die Deutschen
seien „in schlechte Nachrichten verliebt“. Man muss nicht
BSE, Ehec, die Vogel- oder die Schweinegrippe bemühen,
um festzustellen, wie recht der Mann hat. Vielleicht wird ja
auch eines Tages nach dem Katastrophen- der AnastrophenJournalismus modern. Anastrophe bedeutet die „Wendung
zum Besseren“.
Noch einmal kurz zu meinen zeitungsinternen kritischen
Anmerkungen Sie wurden damals von den Kollegen
durchaus wohlwollend (mit ein paar „ohoho“) bedacht, aber
sonst ohne weitere Resonanz zu den Akten gelegt.
Schließlich wissen alle Medienmenschen, was der vor
einem Jahr gestorbene deutsch-ungarische Literaturagent
und Verleger Josef von Ferenczy einmal so auf den Punkt
brachte: „Redactio braucht Sensatio.“ Etwas feiner drückte
das Gleiche der gegenwärtige SZ-Chefredakteur Kurt
Kister so aus. In der dicken Beilage zum 60-jährigen
Bestehen der Süddeutschen Zeitung schrieb er
selbstkritisch: „Die Fülle der Medien und mehr noch die in
diesen Medien gepflegte Fülle der Formate kann aus fast
jeder Mücke einen Elefanten machen. Dieser Elefant
trampelt dann mit lautem Getröte durchs Regierungsviertel
– so lang, bis in den Ereignisproduktionsmaschinen ein
neuer Elefant gemacht wird.“
Das Bild ist nicht ganz neu. Früher sprach man nur von
einem kleineren Tier, von der „Sau, die durchs Dorf
getrieben“, aber alsbald von einer anderen Sau abgelöst
wird. Kister wollte aber nicht nur „mea culpa“ sagen,
sondern er fügte hinzu: Das Denken in Events, die Debatte
in der Talkshow, die Storys über gefärbte Haare und
Designer-Garderobe (damals gerade beim Thema „Gerhard
Schröder“ aktuell) – all dies ist nicht den Medien allein
anzulasten. Die gesamte politische Klasse versteht und
präsentiert heute Politik stärker als jemals zuvor auch als
Show. Da hat sich in den seitdem vergangenen sieben
Jahren nicht allzu viel geändert.
Sehr viel wird ja nun über die Macht der Medien geredet
und wie sie es schafft, Leute hochzujubeln oder, nach
Bedarf, wieder niederzuschreiben. Dafür gibt es sicher auch
Beispiele. Aber wenn man etwa das bekannteste der
jüngsten Zeit, den Sturz Christian Wulffs, genauer
betrachtet, dann muss man doch eher zum Schluss
kommen, dass sich da einer schon selber demontiert hat.
Wobei, das sei zugestanden, die Medien als penible
Chronisten der einzelnen Fehltritte fungierten. Aber das
gehört eben nicht zur „sensatio“, sondern zur ureigenen
Aufgabe der Zeitungen, die schließlich laut einer
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1965 als
„freie, nicht von der öffentlichen Gewalt gelenkte, keiner
Zensur unterworfene Presse“ ein „Wesenselement des
freien Staates“ darstellt.
Heribert Prantl, Ressortchef Innenpolitik und inzwischen
auch Mitglied der SZ-Chefredaktion, hat das noch mit
etwas mehr Emphase so niedergeschrieben:
„Leidenschaftlicher Journalismus ist allergisch gegen
Korruption, gegen Lobbyisten, die Parlamentarier ködern
und füttern, und gegen den Ausverkauf des Gemeinwesens.
Leidenschaftlicher Journalismus akzeptiert es nicht, wenn
Politiker den Staat als Selbstbedienungsladen betrachten
und Manager ihre Unternehmen als
Selbstversorgungsanstalt. Journalismus ist, auch, ‚LobbyControl‘.“ Und schließlich ist Prantl zuversichtlich, dass es
den guten, verlässlichen, kritischen Journalismus, trotz aller
Medienvielfalt, auch in Zukunft geben wird, und es wichtig
bleibt, dass es ihn weiter geben wird. Noch nie sei das
Bedürfnis nach einem orientierenden, aufklärenden,
verlässlich einordnenden, klugen Journalismus so groß wie
heute gewesen.
Ganz vom allgemeinen Meinungstrend kann sich die
Presse allerdings nicht abkoppeln, will sie nicht ihr eigenes
Publikum verprellen. Was nicht heißt, dass nicht
gelegentlich mal auf der Meinungsseite gegen den Strich
gebürstet wird, was dann regelmäßig in manchem Aufschrei
auf der Leserbriefseite seinen Niederschlag findet. Denn
natürlich versucht jeder Leitartikler und Kommentator ein
bisschen was in seinem Sinne zu verändern und tatsächlich
an der Meinungsbildung im wörtlichen Sinne beizutragen.
Aber zu große Erwartungen werden da auch von den
Meinungsbildnern selbst zurückgeschraubt. Fast zu
bescheiden hat der frühere SZ-Chefredakteur Dieter
Schröder einmal geschrieben:
„Zeitungen registrieren die Sekunden im Gang der
Geschichte, aber sie machen keine Geschichte.“ Ein
bisschen weiter vor wagt sich da schon der soeben zitierte
Heribert Prantl: Ein Leitartikel, so sagte er einmal, sei „wie
ein Stein, den man ins Wasser wirft. Er verändert die
Qualität des Wassers nicht, zieht aber Kreise. Kommentare
sind kleine Steine, Leitartikel große“.
Der schönste Leitartikel, der schärfste Kommentar
bewirken aber nichts, wenn er nicht so geschrieben wird,
dass er vom Leser auch verstanden wird. Die deutsche
Sprache bietet da sowohl sehr schöne wie verheerende
Möglichkeiten, Sachverhalte und Meinungen auszudrücken.
Am witzigsten hat dies Mark Twain in seiner Abhandlung
über die „schreckliche deutsche Sprache“ beschrieben. So
mokierte er sich etwa über das deutsche Problem der
zweiteiligen und trennbaren Verben. Zu Ihrer, hoffentlich,
leichten Erholung von vielen, vielen Fakten, hier zwei
Twainsche Beispiel für diese deutschen Besonderheiten:
Diesmal nicht aus der Zeitung, sondern aus einem MarlittRoman: „Wenn er aber auf der Straße der in Samt und Seite
gehüllten, jetzt sehr ungeniert nach der neuesten Mode
gekleideten Regierungsrätin begegnet...“
Oder, ein noch drastischeres Beispiel für trennbare Verben:
„Da die Koffer nun bereit waren, reiste er, nachdem er seine
Mutter und Schwestern geküsst und noch einmal sein
angebetetes Gretchen an den Busen gedrückt hatte, die, in
schlichtem weißen Musselin gekleidet, mit einer einzigen
Teerose in den weiten Wellen ihrer üppigen braunen Haare,
hilflos die Stufen herabgewankt war, noch bleich von der
Angst und Aufregung des vergangenen Abends, aber voller
Sehnsucht, ihren armen, schmerzenden Kopf noch einmal
an die Brust dessen zu legen, den sie inniger liebte als ihr
Leben, AB.“ Er reiste ab, das war die Botschaft.
Der Journalist und Sprachkritiker Wolf Schneider sagte
132 Jahre nach Mark Twain: „Die Fähigkeit, zwei Wörter
als zusammengehörig zu erkennen, endet bei sechs bis
sieben Wörtern. Auch wenn der Marlittsche Rekord von 74
Wörtern auch im schlechtesten Zeitungsartikel wohl kaum
zu finden sein wird, so gibt es hier immer wieder auch
ausreichend abschreckende Beispiele. Verständlichkeit, der
Sprachwitz und die Plausibilität sind fast so wichtig wie die
Fakten in einem Meinungsbeitrag.
Aber vielleicht bleibt, zusammenfassend gesagt, eines der
größten Ziele einer seriösen Zeitung, die Mündigkeit seiner
Leser so zu stärken, dass sie auch mit kritischem
Bewusstsein die eigene Zeitung und überhaupt die Medien
aller Art zu lesen verstehen. Was im Übrigen, wie schon
kurz angeschnitten, auch eine schöne Aufgabe für die
Schulen ist. Und wenn man der Mehrheit der Jugendstudien
trauen darf, dann ist es mit der Mündigkeit der jungen Leser
gar nicht so schlecht bestellt.