Über die Verfahren der Wasserstands
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Über die Verfahren der Wasserstands
117 promet, Jahrg. 29, Nr. 1- 4, 117-124 (Juni 2003) © Deutscher Wetterdienst 2003 S. H. MÜLLER-NAVARRA, W. LANGE, S. DICK, K. C. SOETJE Über die Verfahren der Wasserstands- und Sturmflutvorhersage Hydrodynamisch-numerische Modelle der Nord- und Ostsee und ein empirisch-statistisches Verfahren für die Deutsche Bucht 1 Einleitung Das Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie (BSH) betreibt seit Jahrzehnten einen Gezeitendienst, sowie einen Wasserstandsvorhersage- und Sturmflutwarndienst (ANNUTSCH 1993). Diese Kernaufgaben des BSH sind unabdingbar für eine sichere Navigation in den deutschen Küstengewässern und einen effektiven Küstenschutz. Die im Wasserstandsvorhersagedienst eingesetzten Verfahren konnten in den letzten 20 Jahren durch intensivere Nutzung der Informationstechnologie deutlich verbessert werden. Durch zuverlässige Datenfernübertragung konnten die Fortschritte der synoptischen Meteorologie und der Atmosphärenmodellierung voll ausgeschöpft werden. Wir wollen uns hier auf die Frage der Vorhersage von Wasserständen in der Deutschen Bucht beschränken, da zum einen die Wasserstandsvorhersage für die Ostsee ausführlich bei HUPFER et al. (2003) beschrieben ist und zum anderen wegen der erheblich größeren Gezeiten der Nordsee das zeitliche Zusammentreffen von Sturm und Tidehochwasser ein zusätzliches Prognoseproblem darstellt. Dem Thema Sturmflutvorhersage war zuletzt 1978 ein promet–Heft (SCHMITZ 1978) gewidmet. In den promet–Heften Jahrg. 27, H. 3/4 und Jahrg. 28 H. 1/2 wird die neue Modellkette des DWD vorgestellt, die einen wahrnehmbaren Effekt auf die Güte der Wasserstandsvorhersagen haben wird. So erscheint es sinnvoll, an dieser Stelle die neuesten Erfahrungen und Entwicklungen zu den Methoden der Wasserstandsvorhersage darzulegen. Der Gezeitenanteil an den Wasserstandsschwankungen (HORN 1948) wird hier nicht behandelt,wir beschränken uns auf den Windstau. Als Windstau wird die Differenz zwischen gemessenem Wasserstand und astronomisch vorhergesagtem Wasserstand bezeichnet. Diese formale Trennung der Anteile ist hydrodynamisch betrachtet nicht vollständig korrekt, der damit verbundene Fehler aber klein. Als Beispiel für die Leistungsfähigkeit der WindstauVorhersageverfahren dient das Orkantief „Anatol“ am 3. Dezember 1999, das eine sehr schwere Sturmflut an der deutschen Nordseeküste verursachte. Einzelheiten dazu siehe Abschnitt 4. 2 Empirisch-statistische Verfahren basieren auf Messdaten und Annahmen zur physikalischen Wechselwirkung zwischen Wasserstand und meteorologischen Parametern. Windstau und meteorologische Daten werden mittels multipler Regression zueinander in Beziehung gesetzt und ein lineares Modell berechnet (MÜLLER-NAVARRA und GIESE 1999). Mit einem derartigen Modell in Verbindung mit Vorhersageverfahren der synoptischen Meteorologie wurden jahrzehntelang gute Ergebnisse erzielt. Mit der Einführung operationeller Wettervorhersagemodelle konnte eine Idee von HANSEN (1956) aufgegriffen werden,das Problem mit hydrodynamisch-numerischen Modellen (HNVerfahren) zu lösen. Hydrodynamisch-numerische Modelle sind ein Versuch, in einem virtuellen, digitalisierten Meer die Bewegungsvorgänge deterministisch zu berechnen.Die NavierStokes-Gleichungen der Hydrodynamik werden dabei auf Gitternetzen zeitlich integriert. Dabei spielen Randbedingungen – z. B. Impulsflüsse zwischen Atmosphäre und Meer – eine besondere Rolle. Anfangs konnte man nur Wasserstände und Strömungen zweidimensional berechnen, mittlerweile lassen sich auch zusätzlich Temperatur und Salzgehalt dreidimensional simulieren. Um numerische Modelle für die Wasserstandsvorhersage nutzen zu können, müssen Atmosphären-, Nordseeund Flussmodelle verknüpft werden. Bereits SCHMITZ (1978) schlägt vor,diese Modellkette in den dafür zuständigen Bundesbehörden DWD und BSH (bis 1990 DHI „Deutsches Hydrographisches Institut“) operationell zu betreiben. Heute ist diese Kette im wesentlichen realisiert und im Wasserstandsvorhersagedienst zu einem wichtigen Hilfsmittel geworden. Bei den künstlichen neuronalen Netzen wird im Gegensatz zu den beiden anderen Verfahren auf eine explizite Formulierung der Physik verzichtet (RÖSKE 1997). Neuronale Netze weisen ein gewisse Ähnlichkeit mit statistischen Verfahren auf, sind aber „lernfähig“. Es ist ein Versuch, die Funktionsweise des menschlichen Gehirn teilweise in Computerprogrammen abzubilden. Damit kann die Anwendung künstlicher neuronaler Netze auf die Vorhersage als Klassifikation oder Mustervervollständigung verstanden werden. Dieses Verfahren ist relativ jung, daher fehlen langjährige Erfahrungen in der Vorhersagepraxis, über die hier berichtet werden könnte. Von der Wettervorhersage zum prognostizierten Wasserstand Drei verschiedene Prognoseverfahren für den Wasserstand werden im Vorhersagedienst des BSH angewendet: • empirisch-statistische Verfahren, • hydrodynamisch-numerische Modelle und • neuronale Netze. Abb. 1: Deutsche Bucht, Flächen mit Wassertiefen kleiner 2,5 m sind schraffiert. 118 S. H. Müller-Navarra et al.: Verfahren der Wasserstands- und Sturmflutvorhersage Bevor auf das empirische Verfahren und das numerische Modell näher eingegangen wird, ist einzugrenzen, für welchen Zeitraum präzise Prognosen erforderlich sind.Das hängt von dem physikalischen Phänomen Windstau ab,aber auch von den logistischen Erfordernissen der Seeschifffahrt und des Küstenschutzes. In den vergangenen Jahrzehnten hat sich herausgestellt,dass besonders der Zeitraum 6 bis 18 h vor Hochwassereintrittszeit in Cuxhaven von Interesse ist. Dieser Vorhersagezeitraum genügt einerseits den Anforderungen tiefgehender Schiffe in den Revieren, andererseits auch als Vorwarnzeit bei Sturmfluten. Wasserstandsprognosen bis zu 72 h voraus – von den Meteorologen noch als Kurzfristprognosen bezeichnet – werden bereits intern berechnet, sind aber nicht präzise genug und daher nur eingeschränkt nutzbar. Um eine Vorhersageleistung im Intervall 6 bis 18 h voraus den Nutzern anbieten zu können, müssen Wetter- und Wasserstandsdaten gesammelt, aufbereitet und analysiert werden. Die Modellkette (promet 28. Jhrg. H. 1/2, Abb. 13-1) einschließlich der Wasserstandsmodelle muss durchlaufen sein. Während die Vorbereitungszeit beim empirischen Verfahren maximal 1 h ist, sind es bis zu 6 h beim numerischen Modell. Cuxhaven ist in der Vorhersagepraxis Bezugspunkt für alle anderen Orte der Deutschen Bucht geworden. Die Elbmündung hat nicht nur die Eigenschaft, geometrischer Mittelpunkt der deutschen Nordseeküste zu sein,sondern weist auch bei fast allen Windrichtungen einen – auf die Deutsche Bucht bezogen – mittleren Windstau auf. So tritt bei SSW-Winden an der ostfriesischen Küste Erniedrigung,an der nordfriesischen Küste Erhöhung der Wasserstände ein; der Windstau bei Cuxhaven geht gegen Null. TOMCZAK (1952a, 1952b) berechnete für einige Häfen der Deutschen Bucht Tabellen der Staudifferenzen zu Cuxhaven in Abhängigkeit von Windrichtung und -stärke. Diese Tabellen werden auch heute noch zur Ermittlung detaillierter Wasserstandsvorhersagen herangezogen. Egal ob empirisch-statistisches Verfahren oder numerisches Modell, das zentrale Vorhersageproblem lautet: Wie entwickelt sich der Windstau in Cuxhaven im Vorhersage-Zeitfenster 6 - 18 h? 2.1 Empirisch-statistisches Verfahren Das denkbar einfachste empirische Verfahren wäre, alle in der Deutschen Bucht beobachteten Windstauwerte bei Hoch- bzw. Niedrigwasser Wertepaaren von Windrichtung (β) und -geschwindigkeit (f) zuzuordnen. Passende Intervalle von Richtung und Geschwindigkeit vorausgesetzt (z. B. ∆β = 10° und ∆f = 2 m/s), ergäben hinreichend viele Fälle, um diese Schubladen zu füllen. Bei mehreren Fällen je Schublade und Mittelwertbildung ließen sich daraus Windstautabellen konstruieren, denen dann entsprechend der Windprognosen die zugehörigen Windstauwerte entnommen werden können. Der Windstau ist zwar hauptsächlich, aber nicht nur vom lokalen Wind in der Deutschen Bucht abhängig. Umfangreiche Untersuchungen haben gezeigt, dass auch andere meteorologische Einflüsse bestehen (KOOPMANN 1962). In der Praxis ist ein empirisches Verfahren abhängig von der operationellen Verfügbarkeit relevanter Parameter, sonst kann es später nicht als Prognosewerkzeug eingesetzt werden. Parameter zur Berechnung des Windstaus in Cuxhavens sind Windgeschwindigkeit f und -richtung β, Lufttemperatur Θa und Wassertemperatur Θw, Luftdruck p und 3stündige Luftdruckänderung ∆p3 in der südlichen Deutschen Bucht, Windstau in Wick ∆hWick an der schottischen Ostküste 12 h zuvor und die bereits eingetretenen Windstauwerte in Cuxhaven bei unmittelbar voran gegangenem Niedrig- promet, Jahrg. 29, Nr. 1- 4, 2003 (∆ht-τ/2) und Hochwasser (∆ht-τ). Beim Niedrigwasserstau gehen die unmittelbar vorangegangenen Hoch- und Niedrigwasserstauwerte ein. Bei Windstauanalysen für Orte der flandrischen Küste wurde herausgefunden, dass die Wirkung eines Windes auf den Stau erst mit etwa 3stündiger Verspätung eintritt (SCHULZ 1920). Dieses Phasenverhalten ist nur bei höheren Windgeschwindigkeiten signifikant, hier werden durchweg jeweils die Windverhältnisse 3 Stunden vor Hochwasser (HW) bzw. Niedrigwasser (NW) verwendet. Der Winkel β der Windrichtung bezieht sich auf das nautische System: 0° Nordwind, Skala aufsteigend im Uhrzeigersinn. Die Stabilität der Schichtung in der bodennahen Atmosphärengrenzschicht (Prandtlschicht) ist am einfachsten durch die Temperaturdifferenz Wasser – Luft auszudrücken – nachweislich von Bedeutung für die Wirkung des Windes auf die Wasserstände. Auch der Luftdruck und Fernwellen spielen eine Rolle, so dass mehrdimensionale Schubladenschränke und Tabellen weder zu füllen noch anzuwenden wären. Einfacher ist es per multipler Regression eine empirische Formel zu finden der Form ∆h(τ) = J Σa g (x ,t) + e(t) j j → (1) J=0 mit x→ = { f , β , Θa , Θw , p , ∆p3 , ∆hWick , ∆ht-τ/2 , ∆ht-τ }. (2) Der Windstau ∆h wird durch ein Modell linearer Funktionen gj beschrieben und die Koeffizienten aj werden so bestimmt, dass die Summe der quadrierten Residuen e den kleinsten Wert annimmt. g0 = 1 g1 = f 2cos(β) g2 = f 2sin(β) g3 = f 3cos(β) g4 = f 3sin(β) g5 = (p Θ -1a - 3,6 hPa K-1) f 2cos(β) g6 = (p Θ -1a - 3,6 hPa K-1) f 2sin(β) g7 = (Θa - Θw) f 2cos(β) g8 = (Θa - Θw) f 2sin(β) g9 = ∆p3 g10 = p-1015 hPa g11 = ∆hWick g12 = ∆ht-τ/2 g13 = ∆ht-τ (3) (4) (5) (6) (7) (8) (9) (10) (11) (12) (13) (14) (15) (16) Diese Zusammenstellung von Funktionen basiert auf Erfahrungen im Windstaudienst des BSH (ANNUTSCH 1978) und resultiert aus zahlreichen Versuchen mit unterschiedlichsten Ansätzen. Alle 13 Funktionen (Gleichungen 3-16) lassen sich physikalisch begründen. Eine ausführliche Diskussion der Anteile am Windstau, die Koeffizienten und statistische Parameter finden sich in MÜLLER-NAVARRA und GIESE (1999). Windstau und Gezeiten können innerhalb der Deutschen Bucht die gleiche Größenordnung von mehreren Metern erreichen, in der Ostsee hingegen sind die Gezeiten um eine Größenordnung kleiner. Sowohl meteorologisch als auch astronomisch bedingte Wasserstandschwankungen stellen hydrodynamisch – lange Wellen dar, die sich mit einer Geschwindigkeit √gh in der Nordsee contra solem ausbreiten. Fernwellen aus dem Nordatlantik z. B. wandern entlang der Ostküste Schottlands und Englands und machen sich auch noch an der niederländischen und deutschen Küste bemerkbar. Bei Sturmfluten würde eine simple lineare Überlagerung von Fernwelle, lokalem Windstau und Gezeit zum Überschätzen promet, Jahrg. 29, Nr. 1- 4, 2003 119 S. H. Müller-Navarra et al.: Verfahren der Wasserstands- und Sturmflutvorhersage der Maximalwasserstände führen, da Windstress und Bodenreibung nicht ausbalanciert sind (TANG et al. 1996). Dem Umstand der Wechselwirkungen wird hier ansatzweise dadurch Rechnung getragen, dass 4 Sätze von Koeffizienten aj berechnet werden, jeweils für Hoch- und Niedrigwasserzeiten bei auf- sowie ablandigen Winden. Als auflandig werden Winde aus den Sektoren 200° - 360° und 0° - 20° angesehen. Der in Tab. 1 aufgelistete Koeffizientensatz kann bei auflandigen Winden zur Berechnung des Windstaus zur Hochwasserzeit in Cuxhaven angewendet werden. Den größten Einfluss haben die Funktionen g0 bis g4,sie können bei einfachen Abschätzungen auch separat angewendet werden. Bei Anwendung des empirischen Modells mit den Koeffizienten aus Tab. 1 auf Daten des Jahres 1994 ergab sich eine Standardabweichung von 14,5 cm. Wenn dieses Verfahren mit vorhergesagten (Modell-) Daten verwendet wird, wächst die Standardabweichung auf etwa 20 cm. Abb. 2: Von den BSH-Modellen benötigte Ausschnitte aus dem Diamanten 1 des GME und dem LM. Abb. 3: Gitternetze der hydro-thermodynamischen Modellkette des BSH. Das empirische Verfahren ist bis etwa 54 kn (10 Bft) einsetzbar, darüber hinaus kann nicht extrapoliert werden (vergl.Abb. 5). Das Verfahren ist einfach anwendbar und robust. Wichtigste Voraussetzung ist die zeitnahe Verfügbarkeit der Messdaten aus der Deutschen Bucht, wobei besonders die unbemannten Feuerschiffe qualitativ hochwertige meteorologische Daten liefern müssen. Ausgehend von diesen Messdaten erarbeitet der diensthabende Seemeteorologe des DWD mit Hilfe der Ergebnisse verschiedener Atmosphärenmodelle ein manmachine-mix. Die Frage, ob so bei Kürzestfristprognosen immer eine optimale Windvorhersage (vergl. Tab. 4) herausspringt oder ob der Synoptiker die Modellvorhersagen „verschlimmbessert“, ist noch weitgehend ungeklärt. Die Erfahrung zeigt jedoch – nicht nur bei Sturmflutwetterlagen –, dass eine vollständige Automatisierung nicht möglich ist.Auf die klassische synoptische Vorhersagemethode in Verbindung mit empirisch-statistischen Windstauverfahren darf daher nicht verzichtet werden. In der jüngsten Diskussion zum Mensch-Maschine-Konflikt (BALZER 2002) kann aus der Sicht des Windstauers insoweit klar Stellung bezogen werden. Vor allem bei kritischen Wetterlagen und Kürzest- Funktion g j 0 1 1 f2 cos β 2 f2 sin β 3 f3 4 5 6 Koeffizient a j Standardabweichung σ j Einheit a j P-Wert -5,45 cm 0,63 0 0,031 cm/kn2 0,0052 0 -0,0296 cm/kn2 0,0054 0 cos β 0,00012 cm/kn3 0,00018 0,50913 f 3 sin β -0,00116 cm/kn3 0,00015 0 0,113 cm K/(hPa kn2) 0,020 0 -0,168 cm K/(hPa kn2) 0,019 0 (p/Θa-3,6 hPa/K) f 2 (p/Θa-3,6 hPa/K) cos β f 2 sin β 7 (Θa-Θw) cos β 0,00075 cm /(kn2 K) 0,00079 0,34016 8 (Θa-Θw) f 2 sin β 0,00033 cm /(kn2 K) 0,00070 0,64093 9 ∆p3 2,53 cm /hPa 0,25 0 10 p – 1015 hPa -0,439 cm /hPa 0,039 0 11 ∆hWick 0,347 1 0,025 0 12 ∆hCux(HW) 0,141 1 0,013 0 13 ∆hCux(NW) 0,212 1 0,014 0 Tab. 1: f2 Durch multiple Regression berechneter Koeffizientensatz aj für das empirische Modell für Hochwasser in Cuxhaven bei auflandigen Winden (Datensatz 1988 – 1993), aus MÜLLER-NAVARRA und GIESE (1999). 120 S. H. Müller-Navarra et al.: Verfahren der Wasserstands- und Sturmflutvorhersage Modell Gitterabstand Zeitraum (∆t =1 h) LM ~ 7 km 0 – 48 h GME ~ 55 km 0 – 78 h Parameter Einheit Zonaler 10-m-Wind m/s Meridionaler 10-m-Wind m/s Temperatur K Spezifische Feuchte kg/kg Gesamtbewölkung % Bodendruck (MSL) Pa Tab. 2: Zusätzliche Felder 81 h, 84 h Von der BSH-Modellkette verwendete Parameter aus GME und LM (Stand 4/2003). fristvorhersagen, wenn es sich fast schon um ein Nowcasting handelt, müssen der Synoptiker und der „Windstauer“ eingreifen, wenn aktuelle Messdaten und Modellvorhersagen auseinander driften. 2.2 Hydrodynamisch-numerische Modelle Seit Mai 1981 – 15 Jahre nach Beginn der operationellen Modellierung beim DWD – gibt es beim BSH ein seinerzeit NVS (Numerisches Vorhersagesystem) genanntes Wasserstandsvorhersage- und Öldriftmodell für die Nordsee (SOETJE und BROCKMANN 1983). Dafür notwendige Windprognosen wurden aus 24-h-Vorhersagen des Bodendrucks berechnet, die über das GTS-Netz auf einem 2,5°Gitter verfügbar waren. In den 80er Jahren kamen die Bodendruckprognosen aus dem BKF-Modell (EDELMANN 1979), später lieferten die GM/EM/DM-Modellkette und nun das GME/LM (MAJEWSKI und RITTER 2002; STEPPELER et al. 2002) auch andere Parameter wie den 10-m-Wind, die Gesamtbewölkung, die Temperatur und die spezifische Feuchte (Tab. 2). Die hydro- und thermo-dynamischen Prozesse von Flachwassergebieten werden hauptsächlich von vertikalen Impulsund Wärmeflüssen an der Grenzfläche von Atmosphäre und Meer gesteuert. Um die Kopplung zwischen den BSHModellen (Staumodell und Zirkulationsmodell) und DWDAtmosphärenmodell sicher zu realisieren, wird zweimal täglich ein Datensatz mit einer 84-h-Vorhersage der Wind- Jahr promet, Jahrg. 29, Nr. 1- 4, 2003 komponenten, des Druckes, der Gesamtbewölkung, der Lufttemperatur und der spezifischen Feuchte vom DWD zum BSH übertragen (Tab. 1). Die beiden letztgenannten Parameter werden aus der Bodenschicht des Atmosphärenmodells entnommen, der 10-m-Wind ist eine spezielle Extrapolation unter Berücksichtigung der Stabilitätsverhältnisse in der Prandtlschicht. Die Gitternetze der DWD-Atmosphärenmodelle und der BSH-Modelle unterscheiden sich stark (Abb. 2 und 3). Die räumliche Interpolation wird mit baryzentrischen Koordinaten bewerkstelligt. Die Berechnung der Gezeiten für spezielle Orte der Nordund Ostsee mit hydrodynamisch-numerischen Modellen erreicht trotz der mittlerweile langen Tradition von Modellen und der Leistungsfähigkeit der Rechenanlagen nicht die Genauigkeit der astronomischen Verfahren. Man ist daher dazu übergegangen, aus Modellen nicht absolute Wasserstände bereitzustellen, sondern den Windstau zu berechnen, indem von Wasserständen einer Version mit meteorologischem Input Wasserstände einer parallel gerechneten reinen Gezeitenversion abgezogen werden. Zwar wurde jüngst das hydrodynamisch-numerische Modell durch Implementation der selbständigen Gezeiten vervollständigt (MÜLLERNAVARRA 2002b), aber noch fehlen zur besseren Darstellung der Gezeiten im Modell langjährige Hochseepegelmessungen am Nordrand der Nordsee. Da zwischen Analysezeitpunkt (hier jeweils 00 und 12 UTC) und Ende der Modellläufe einige Stunden vergehen, decken die Modellergebnisse des Simulationszeitraums 12 – 24 h etwa den Vorhersagezeitbereich 6 – 18 h ab. Im folgenden wird zwischen dem Staumodell und dem dreidimensionalen Zirkulationsmodell unterschieden. Während das Staumodell (JANSSEN 1996) ausschließlich auf die Bedürfnisse des Windstaudienstes zugeschnitten ist, liefert das Zirkulationsmodell (DICK et al. 2001) neben den Wasserständen eine ganze Reihe weiterer Parameter (Wassertemperatur, Salzgehalt, Strömungen, Eisbedeckung), die für die anderen Dienste des BSH wichtig sind. Das Staumodell ist ein zweidimensionales Modell mit einer horizontalen Auflösung von 6 Seemeilen, die Auflösung des Zirkulationsmodells beträgt im deutschen Küstengebiet 1 Seemeile (s. Abb. 3). Das Staumodell läuft seit Herbst 1996 operationell und liefert Windstauvorhersagen für einen Zeitraum von 84 h. Dieses geschieht zweimal täglich, basierend auf den 00 und 12 Uhr Vorhersageläufen des DWD. Das Zirkulationsmodell läuft wegen der erheblich längeren Rechenzeiten nur einmal pro Tag, basiert auf den 12 UTC-Läufen des DWD und deckt einen Zeitraum bis ebenfalls 84 h voraus ab. Der wesentliche Staumodell 12 bis 24 h Vorhersage HW NW Bias Stdabw. Bias Stdabw. 3D-Zirkulationsmodell 12 – 36 h Vorhersage HW NW Bias Stdabw. Bias Stdabw. 1997 3,1 14,9 8,0 14,4 5,0 19,8 48,5 23,6 1998 2,1 14,5 3,0 15,6 1,1 19,9 43,5 21,7 1999 -0,8 14,7 0,2 12,9 6,6 18,1 22,4 19,6 Tab. 3: 2000 0,8 13,7 -1,8 14,6 6,1 18,5 18,1 20,8 Bias und Standardabweichung der Differenzen zwischen Modellergebnis und Beobachtung. 2001 3,2 15,6 1,2 13,7 4,8 18,2 19,0 18,4 2002 -5,5 15,3 0,7 15,6 2,7 19,1 24,9 19,1 promet, Jahrg. 29, Nr. 1- 4, 2003 S. H. Müller-Navarra et al.: Verfahren der Wasserstands- und Sturmflutvorhersage Vorteil des Staumodells ist, dass im Falle aktuellerer meteorologischer Vorhersagen (z. B. 18 UTC-Lauf) neue Windstauberechnungen nach wenigen Minuten möglich sind, während dieses beim Zirkulationsmodell mindestens 3 h Rechenzeit erfordert (auf Rechner Sun E10000). Das dreidimensionale Zirkulationsmodell, das auch die Dichteschichtung im Meer und den Ästuaren berücksichtigt, ist hingegen in der Lage lokale Stauunterschiede zu beschreiben. Diese Unterschiede können an der reich gegliederten deutschen Küste mehrere Dezimeter betragen. 121 (a) In Tab. 3 sind Bias und Standardabweichung der Differenzen zwischen Modellergebnis und beobachteten Wasserstand beim Pegel Cuxhaven für die Jahre 1997 – 2002 aufgelistet. Im Staumodell, welches zweimal pro Tag rechnet, tritt jedes Hochwasser einmal im 12 – 24 h Intervall ein, dagegen liegen beim einmal pro Tag rechnenden Zirkulationsmodell auch Hochwasser im 24 – 36 h Intervall. Die Standardabweichung muss allein deswegen beim Staumodell deutlich geringer sein. Die Verbesserung der Modellergebnisse nach 1998, z.B. die Halbierung des Bias bei den NiedrigwasserVorhersagen des Zirkulationsmodells, ist auf die Erhöhung der Gitternetzauflösung zum 01.01.1999 und eine substantielle Überarbeitung der lokalen Topographie in der Elbemündung zurückzuführen. Mittlerweile ist das Staumodell zu einem unverzichtbaren Werkzeug im Wasserstandsvorhersagedienst geworden. Bei Orkanwindstärke sind die Modellergebnisse allerdings wegen Unsicherheiten bei der Formulierung des Windschubansatzes nur als Entscheidungshilfe anwendbar. Nach wie vor gibt es nicht das Verfahren für Sturmflutvorhersagen. 3 (b) Zur Güte der Wasserstandsprognosen Jedes der beiden vorgestellten Verfahren liefert nach Eingabe meteorologischer (Vorhersage-) Daten einen Windstau für Cuxhaven (das numerische Modellsystem darüber hinaus für die ganze Küste). Der diensthabende „Windstauer“ steht dann vor der Aufgabe, aus den aktuellen Wasserstandsmeldungen und den Modellvorhersagen das Beste zu machen. Zur Seite steht ihm dabei ein Entscheidungshilfesystem, das die relevanten Daten in einer Graphik zusammenfasst und ihn bei der Extrapolation der Staukurve unterstützt. Ist der Windstau für die nächsten Hoch- bzw. Niedrigwasser bei Cuxhaven ermittelt, wird die astronomisch vorausberechnete Abweichung vom mittleren Hochwasser (MHW) addiert und als Ergebnis die gesamte Abweichung vom MHW an die Nutzer bekannt gegeben. Vielfach wird gefordert, nicht nur den Wasserstand selbst vorherzusagen, sondern auch ein Maß für die Güte der Vorhersage mitzuliefern. Das könnte für jede einzelne Vorhersage geschehen oder – abgeleitet aus den zurückliegenden statistischen Auswertungen – als allgemeine Aussage. Aus der praktischen Anwendung der Wasserstandsvorhersagen in der Seeschifffahrt und im Küstenschutz bei Sturmfluten ergeben sich 2 wesentliche Fragen: (c) a) Wie verändern Gezeiten und Windstau die tatsächlich am Schiffsort vorhandene Wassertiefe und wie sicher lässt sich diese Veränderung vorhersagen? b) Mit welcher Sicherheit kann rechtzeitig vor Sturmfluten gewarnt werden? Damit ist unmittelbar einleuchtend, dass nicht ein Gütemaß für beide Fragestellungen geeignet ist. Im Falle a) geht es hauptsächlich um die Revierfahrt bei extremen Flachwasserbedingungen wie z. B. in Elbe und Weser. Dort spielt sich die Schifffahrt bei sehr geringer Kielfreiheit (Differenz zwischen Wassertiefe und Tiefgang) ab, wobei noch das dynamische Fahrverhalten den Tiefgang wesentlich beeinflusst (FLÜGGE und ULICZKA 2001). Die Nutzer – Kapitäne, Reedereien, Revierzentralen und Lotsen – wollen wissen, mit welchem Fehler Wasserstandvorhersagen behaftet sein können, um eine gewisse Mindest-Kielfreiheit sicherzustellen. Damit erscheint es als sinnvoll, anzugeben, wieviel Prozent der Vorhersagefehler innerhalb bestimmter Intervalle liegen. Jährlich wird dieses für das zurückliegende Jahr berechnet und seit 1996 sind die Zahlen recht stabil. 60 % der HW-Vorhersagen weichen um nicht mehr als 10 cm, 85 % nicht mehr als 20 cm und nur etwa 1 % weichen um mehr als 50 cm von dem eingetretenen Wasserstand ab (1985 – 1995 waren es 50 %, 72,5 % und 3 %; 1949: 41%, 70% und 6,5 %.). Die entscheidende Verbesserung innerhalb der letzten 50 Jahre besteht in der weitgehenden Vermeidung von Fehlvorhersagen größer als 50 cm. Trägt man den Vorhersagefehler in 5 cm-Intervallen für die Jahre 1949, 1991 und 2000 auf auf (Abb. 4a bis 4c), zeigt sich, wie die Verteilungen mit der Zeit ihre Form verändert haben. Abb: 4: Prozentuale Verteilung des Vorhersagefehler (Vorhersage minus Beobachtung) in den Jahren (a) 1949, (b) 1991 und (c) 2000. 122 S. H. Müller-Navarra et al.: Verfahren der Wasserstands- und Sturmflutvorhersage Im Falle b) – bei Sturmfluten – ist von vornherein klar, dass die Vorhersageverfahren Fehler von einigen Dezimetern aufweisen. Hier geht es hauptsächlich um das Warnen vor extrem hohen Wasserständen. D. h. es muss rechtzeitig erkannt werden, ob bestimmte Schwellwerte überschritten werden und als Konsequenz daraus die Warnempfänger alarmiert werden. Ein Szenario bei dem der Wasserstand gegenüber MHW um mehr als 1,50 m erhöht ist,wird Sturmflut genannt.Dieses ist bei ca. 0,5 % aller Hochwasser in Cuxhaven im Zeitraum 1901 – 2000 der Fall. In den letzten 2 1/2 Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts hat die Sturmfluthäufigkeit vermutlich leicht zugenommen. Nur etwa jede zehnte Sturmflut erreicht Wasserstände von mehr als 2,5 m über MHW. Dann handelt es sich um eine schwere Sturmflut, solche mit mehr als 3,5 m über MHW sind sehr schwere Sturmfluten.12 – 18 h vor Eintritt des Höchstwasserstandes erfolgt durch das BSH eine Sturmflutwarnung. Sturmflutwarnungen werden über Rundfunk, Telefon und Internet (http://www.bsh.de) verbreitet. Im Rahmen des Katastrophenschutzes werden über Alarmpläne die zuständigen Behörden und sturmflutgefährdete Firmen gewarnt. 4 Beispiel Sturmflut 3. Dezember 1999, Orkantief „Anatol“ promet, Jahrg. 29, Nr. 1- 4, 2003 um eine sehr schwere Sturmflut. Eine detaillierte Beschreibung der Wetterlage mit Zugbahn des Orkantiefs „Anatol“ und zeitlicher Entwicklung findet sich im „Klimastatusbericht 1999“ des Deutschen Wetterdienstes (LEFEBVRE 1999) und ist hier nur auszugsweise wiedergegeben: „Der Orkan entwickelte sich am 2. Dezember über dem Nordatlantik aus einer zunächst nur schwachen Welle, die sich unter Vertiefung rasch ostwärts verlagerte. In den Nachtstunden zum 3. Dezember war sie bereits zu einem Tief mit einem Kerndruck von 985 hPa gereift und lag nördlich von Irland. Durch einen Kurzwellentrog in der Höhe erfuhr das Tief günstige Entwicklungsbedingungen und vertiefte sich in nur etwa 12 Stunden um weitere 40 hPa auf 952 hPa zum Orkantief. Wie [...] zu ersehen ist, zog es dabei über die Nordsee, im Bereich des Limfjordes über Jütland (Dänemark), über Südschweden (in der Nacht zum 4. Dezember) und die Ostseeinsel Gotland, das Baltikum und weiter nach Russland, wo es sich dann bald abschwächte.” Der Sturm erwies sich als der stärkste Orkan des 20. Jahrhunderts in Dänemark und verursachte katastrophale Gebäudeund Waldschäden im Süden Jütlands. Bei maximalen Mittelwinden von 38 m/s und Böen um 50 m/s an der Westküste Südjütlands verunglückten viele Menschen. Weiter südlich in der Helgoländer Bucht waren es nur 26 m/s (Böen 35 m/s). Bei Sturmfluten ist nicht nur der Betrag der Windgeschwindigkeit entscheidend, sondern auch die Richtung. Schon bei der Sturmflut im Februar 1825 ist eine typische Drehung des Windes von südwestlichen auf nordwestliche Richtungen beobachtet worden (CRAMER 1827). Die Reihe der gut dokumentierten Sturmfluten im 19. und 20 Jahrhundert lehrt, dass jede Sturmflut raum-zeitlich anders abläuft. Zwar gibt es einige einfache Grundprinzipien wie typische Zugbahnen und Verlagerungsgeschwindigkeit der Sturmtiefs, diese Erkenntnisse helfen im Einzelfall aber wenig, da gerade die exakte Zugbahn wegen der geringen Stationsdichte auf der Nordsee schwer vorhergesagt werden kann. Wie aber sind die im Nachhinein zufriedenstellenden Sturmflutvorhersagen des BSH auf der Basis der Windvorhersagen des DWD entstanden? Schon am 2. Dezember 1999 mittags warnte der diensthabende Seemeteorologe des DWD bei einer persönlichen Beratung vor einem außergewöhnlichen Sturmereignis. Wie und wann die Deutsche Bucht davon betroffen sein würde, konnte zu diesem Zeitpunkt niemand sagen. Da es wegen des Tidenhubs von mehr als 3,5 m ganz besonders auf den zeitlichen Verlauf des Sturms ankommt – astronomisches Hochwasser und maximaler Windstau müssen gleichzeitig eintreten –, sind Sturmflutprognosen in ausreichender Genauigkeit bestenfalls 18 h vor Eintritt des Sturmflutscheitels möglich. Bei der 1999er Sturmflut kam an der dänischen und schleswigholsteinischen Nordseeküste der starke Sturm zunächst aus Westsüdwest,drehte dann auf West und in den frühen Abendstunden des 3. Dezembers auf Westnordwest. Da in der Nacht vom 3. zum 4. Dezember 1999 in Hamburg ein Scheitelwasserstand von 3,89 m über MHW eintrat, handelte es sich Die vom diensthabenden Seemeteorologen des DWD gelieferten Windvorhersagen für die Deutsche Bucht sind in Tab. 4 dargestellt. Hier interessiert besonders die Vorhersage für das Zeitintervall 19 – 23 Uhr am 3.12.1999. Schon am 2.12.1999 abends deutete sich der typische Verlauf mit von SW auf WNW drehendem schweren Sturm an. Für den Pegel Cuxhaven bedeuten WNW 10 in der Deutschen Bucht nach Windvorhersagen vorausberechnete Eintrittszeiten der HW und NW in Cuxhaven Intervall 2.12. abends 02.12.1999 21:04 HW 18 - 22 W7 03.12.1999 03:43 NW 00 - 04 W7 W - SW 6 - 7 03.12.1999 09:25 HW 06 - 10 WSW 6 SW 9 WSW 7 - 8 03.12.1999 16:29 NW 13 - 17 SW 9 - 10 SW - W 9 - 10 WSW 10 SW - W 10 - 11 03.12.1999 22:12 HW 19 - 23 WNW 10 NW 8 - 9 WNW 9 WNW 8 - 9 03.12.1999 04:55 NW 01 - 05 NW 7 WNW 7 - 8 NW - W 7 - 8 03.12.1999 10:30 HW 07 - 11 W6 W6 03.12.1999 17:33 NW 14 - 18 Windstau zur Vorhersage 3.12., 19 - 23 Uhr Tab. 4: Mitternacht 3.12. morgens mittags W - NW 5 - 6 315 cm 165 cm Windvorhersagen des Seewetterdienstes Hamburg, Zeitangaben in MEZ. 220 cm 175 cm promet, Jahrg. 29, Nr. 1- 4, 2003 123 S. H. Müller-Navarra et al.: Verfahren der Wasserstands- und Sturmflutvorhersage empirischem Verfahren über 3 m Windstau (vgl. Abb. 5). Damit war klar, dass spätestens am nächsten Morgen Sturmflutwarnungen durch das BSH herauszugeben waren. Zunächst schien sich die Lage zu entspannen, die Mitternachtsvorhersage des DWD fiel deutlich geringer aus (NW 8 – 9). Drohte etwa keine schwere Sturmflut? Am Morgen des 3.12.2003 musste nun die Entscheidung auf der Basis der DWD-Vorhersage von WNW 9 fallen. Von Bedeutung ist auch, dass alle Vorhersagen bis 10 Bft reichen, zwar nicht immer zum HW-Termin, jedoch vorher. Die letzte Vorhersage – 3.12. mittags – weist als entscheidendes Merkmal auf, dass der Wind vor dem HW sogar 11 Bft erreicht, bei weiterer Drehung dann aber deutlich abnimmt. Diese Entwicklung vollzog sich etwas verzögert, die Windgeschwindigkeit ging im entscheidenden Moment lediglich auf 10 Bft zurück. Abb. 5: Eine Hilfe war am Morgen des 3.12.1999 auch das Staumodell, das einen Eindruck der Stauverhältnisse in der gesamten Nordsee für die Eintrittszeit des Hochwassers in Cuxhaven ermöglichte (Abb. 6).Wegen deutlich unterschiedlicher meteorologischer Eingangsdaten – beim DWD fand gerade die Umstellung von der GM/EM/DM-Kette auf die GME/LM-Version statt – lieferten die Wasserstandsmodelle im Laufe des Tages teils widersprüchliche Ergebnisse. Windstau in Cuxhaven zur Hochwasserzeit bei stauwirksamster Richtung (295°), (Koeffizientensatz nach MÜLLER-NAVARRA und GIESE, 1997). Die offizielle Vorhersage des BSH, die am 3.12.1999 morgens vom erstgenannten Verfasser berechnet und vormittags von den Rundfunkanstalten und über andere Kanäle verbreitet wurde, lautete: „Sturmflutwarnung des BSH. Für die deutsche Nordseeküste besteht die Gefahr einer schweren Sturmflut. In der Nacht von Freitag zu Sonnabend wird das Hochwasser an der Deutschen Nordseeküste, in Emden, Bremen und Hamburg 2 1/2 bis 3 Meter über mittlerem Hochwasser eintreten.“ Abb. 6: Windstauprognose des Staumodells vom 02.12.1999 um 22 Uhr für 24 Stunden später. 1 2 Das Hochwasser am 3. Dezember 1999 abends und nachts Helgoland Borkum Emden Wilhelmshaven Alte Weser Bremerhaven Bremen Großer Vogelsand Cuxhaven Hamburg Büsum Bildersperrwerk Husum Ribe Esbjerg Tab. 5: In Tab.5 sind die am 3.Dezember 1999 an Pegeln der Deutschen Bucht (Spalte 1) eingetretenen maximalen Wasserstände, Bezugshöhen und Eintrittszeiten (7) aufgelistet. Am anschaulichsten ist die eingetretene Abweichung vom Mittleren Hochwasser (5).Diese Zahlenangabe hat in der Vorhersagepraxis die größte Bedeutung, da die Menschen an der Küste die örtlichen Tideverhältnisse kennen. Das MHW des jeweiligen Jahres (2) 4 5 6 7 8 9 MHW 1999 (PN) 3 astronomisch vorausberechnete Abweichung vom MHW Windstau bei HW eingetretene Abweichung vom MHW maximaler Pegelstand (PN) Eintrittszeit (MEZ) PN - Pegelnull (NN) maximaler Wasserstand (NN) 585 612 643 681 632 675 742 645 650 706 657 649 662 101 87 –20 –18 –22 –31 –25 –27 –34 –24 –24 –22 –21 –18 –17 0 8 226 203 270 307 246 295 265 282 331 411 319 345 397 411 303 206 185 248 276 221 268 231 258 307 389 298 327 380 411 311 791 797 891 957 853 943 973 903 957 1095 955 976 1042 512 398 19:58 18:50 20:10 20:47 20:00 20:51 22:00 19:51 20:18 23:27 20:16 19:54 20:27 18:15 18:30 –500 –502 –500 –503 –494 –499 –501 –500 –502 –500 –500 –500 –500 –15 –15 291 295 391 454 359 444 472 403 455 595 455 476 542 497 383 Hochwasserstände (in cm) und Eintrittszeiten an ausgewählten Pegeln der Deutschen Bucht am 3. Dezember 1999 am Abend und in der Nacht. Lage der Stationen siehe Abb. 1, aus MÜLLER-NAVARRA (2002a). 124 S. H. Müller-Navarra et al.: Verfahren der Wasserstands- und Sturmflutvorhersage bezieht sich auf das Pegelnull, das bei den deutschen Pegeln bei etwa –5 m NN liegt (8). Das astronomisch vorausberechnete Abendhochwasser (3) lag in der Deutschen Bucht fast überall unterhalb des MHW, es war wegen der täglichen Ungleichheit das niedrigere der beiden Hochwasser des Tages.Der maximale Pegelstand (6 und 9) hätte also bei anderen Gezeitenverhältnissen noch einige dm höher ausfallen können.Die Wirkung des Windes auf den Wasserstand ist von der örtlichen Wassertiefe abhängig, bei positiver Abweichung vom MHW (3) wäre der Windstau (4) deshalb etwas kleiner gewesen. Bei Hamburg, Husum und Ribe war der Windstau zur Hochwasserzeit am größten, das muss bei allgemein gehaltenen Vorhersagetexten berücksichtigt werden. Meist sind dann spezielle Warnungen erforderlich,und Warnungsempfänger vor Ort erhalten von der Rundfunkvorhersage abweichende Werte. Die maximalen Wasserstände reichten von 291 cm NN in Helgoland bis 595 cm NN in Hamburg (Tab. 5, Spalte 9). Mit Gezeiten allein wären die Pegelstände zum gleichen Zeitpunkt nur auf 65 cm bzw. 184 cm geklettert. Bei Orkanen vom „Anatol“-Kaliber muss mit einem Windstau von über 4 m gerechnet werden. Prinzipiell haben sich das empirische Verfahren und die Modelle bei dieser sehr schweren Sturmflut bewährt. Es hat sich aber auch deutlich gezeigt, dass erfahrene Synoptiker auf Seiten des DWD und erfahrene Windstauer auf Seiten des BSH erforderlich sind, um prinzipielle Schwächen der Modellsysteme bei Extremsturmfluten auszugleichen. 5 Ausblick Weitere Steigerungen der Genauigkeit der Vorhersageverfahren sind nur mühsam zu erreichen. Es ist bereits eine Herausforderung, den erreichten Standard bei geringer werdenden Ressourcen zu erhalten. Hier gilt es, ohne Qualitätsverlust weiter zu automatisieren, dabei aber nicht die kritische Masse im Personalbestand zu unterschreiten. Wesentliche Schritte bei der Automatisierung sind durch die numerischen Modelle des DWD und des BSH möglich geworden. Die Naturkatastrophen der letzten Jahre mit Bezug auf die Meere („Anatol“, Oderflut, Elbeflut) zeigten jedoch deutlich die Grenzen von numerischen Modellen auf. Da die meteorologischen und meereskundlichen Dienste gerade an den Vorhersageleistungen bei Extremereignissen gemessen werden, muss der Mensch die Modellergebnisse nachvollziehen und wenn nötig modifizieren, bevor sie in Form von Vorhersagen verbreitet werden. Danksagung promet, Jahrg. 29, Nr. 1- 4, 2003 EDELMANN, W., 1979, Die Vorhersagemodelle des DWD. Dt. Met. Ges., Offenbach, 75 – 134. FLÜGGE, G., K. ULICZKA, 2001: Dynamisches Fahrverhalten und Wechselwirkungen mit der Fahrrinnensohle von sehr großen Containerschiffen unter extremen Flachwasserbedingungen. Hansa 138, 60 - 67. HANSEN, W., 1956: Theorie zur Errechnung des Wasserstandes und der Strömung in Randmeeren nebst Anwendungen. Tellus 8, 287 - 300. 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Gedankt sei den Kolleginnen und Kollegen des Schichtdienstes und der Modellgruppe des DWD für die gute Zusammenarbeit, ohne die Wasserstandsvorhersagen in dieser Qualität nicht möglich wäre. Inge MenzenhauerSchumacher (BSH) sei für die statistischen Auswertungen zur Vorhersagegüte gedankt. TOMCZAK, G., 1952a: Der Einfluß der Küstengestalt und des vorgelagerten Meeresbodens auf den windbedingten Anstau, betrachtet am Beispiel der Westküste Schleswig-Holsteins. Dtsch. Hydrogr. Z. 5, 114 - 131. Literatur Anschrift der Autoren: ANNUTSCH, R., 1978: Über das empirisch-statistische Sturmflutvorhersageverfahren des Deutschen Hydrographischen Instituts. promet 8 H. 4, 9 – 12. Dipl.-Ozeanogr. Sylvin H. Müller-Navarra [email protected] Dipl.-Ozeanogr. Wolfgang Lange [email protected] Dipl.-Ozeanogr. Stephan Dick [email protected] Dipl.-Ozeanogr. Kai C. Soetje [email protected] alle: Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie Bernhard-Nocht-Str. 78, 20359 Hamburg, http://www.bsh.de ANNUTSCH, R., 1993: Entwicklung des Gezeiten- und Windstau-Dienstes. Dt. Hydrogr.Z.Erg.h.B 25.In:G.Wegner,Hrsg.:Meeresforschung in Hamburg von Vorvorgestern bis Übermorgen. 115-126. BALZER, K., 2002: Zum Mensch-Maschine-Konflikt in der Wettervorhersage. promet 28 H. 1/2 , 46 – 54. CRAMER,A. D., 1827: Grundriß der Stadt Emden mit Bezeichnung der Verwüstungen der Sturmfluth des 3ten und 4ten Febr. 1825, nebst Beilage, Oldenburg. DICK, S., E. KLEINE, S. H. MÜLLER-NAVARRA, H. KLEIN, H. KOMO, 2001: The Operational Circulation Model of BSH (BSHcmod) – Model description and validation. Ber. d. Bundesamtes für Seeschifffahrt und Hydrographie 29, 49 S. TOMCZAK, G., 1952b: Der Einfluß der Küstengestalt und des vorgelagerten Meeresbodens auf den windbedingten Anstau des Wassers an der deutschen Nordseeküste zwischen Ems und Elbe. Dtsch. Hydrogr. Z. 5, 277 - 284.