„Wir brauchen das Lied“

Transcrição

„Wir brauchen das Lied“
FRIZZ März 2014
„Wir brauchen das Lied“
„Die Ratten", ein Stück von Gerhart Hauptmann aus dem Jahre 1911, wird
gerade am Neuen Theater Halle gespielt. Dass es gerade dieses Stück ist,
sollte aufhorchen lassen. Zu offensichtlich ist dessen Grundmotivation in die
Literaturgeschichte eingegangen: Ein Abend, der die Relevanz von Kunst zu
verteidigen weiß. Eine Bühnenkritik von Mathias Schulze.
Schwarze Schatten hinter den weißen Vorhängen. Der ehemalige Theaterdirektor
Harro Hassenreuter, vital und voller Wucht von NTIntendant Matthias Brenner gespielt,
betritt die Szenerie. Thomas Brasch, genauer sein Gedicht „Jim Morrison" wird zitiert.
Die Selbstreflexion der Kunst ist sofort eindringlich präsent. Wandlungen mache
derjenige durch, der alles zeige, was er in sich findet. Anfangs heißt es: „Ich bin der
Sänger nicht das Lied". Am Ende seiner Verausgabung wird der Künstler die Auflösung
seiner Subjektivität feststellen. Zugunsten der Mission und auch dann, wenn nur vier
Hände Applaus plätschern: „Bin ein Bauer, bin ein Präsident/Und vergesse, wer ich
war./Bin das Lied, bin nicht der Sänger."
Hauptmanns „Die Ratten" war der Versuch jegliche literarische Überformung
auszuschließen, Naturalismus ist das Zauberwort gewesen. Es sollte hineingehen in
die sozial deformierte Unterwelt, hinein in die Monster produzierende Großstadt. Weg
mit all dem Plunder, der verschönte. Weg mit all der Hoffnung, wo es doch eh keine
gab. Hinfort die hellen Farben, wo nur dunkle Leere herrschte. Aus den antiken
Göttern sind moderne Gespenster und Geister geworden. Die Figuren, allesamt
Archetypen, zerbrechen an der Wirklichkeit, verlieren ihre utopischen Entwürfe,
sterben im Elend. Zwischendurch, im Zentrum des Werkes, ein Gespräch über Kunst.
Klassik oder Moderne? Versöhnung oder Wahrheit? Zuversicht oder Realismus?
In der Inszenierung wird er gesprochen, der Berliner Dialekt der letzten Jahre des 19.
Jahrhunderts. Wahrscheinlich selten so waschecht wie hier. Das Bühnenbild von
Claudia Charlotte Burchard, also die bunten stillosen Klamotten und die kalten weißen
Treppen zeugen von der Kenntnisnahme der Geschmacklosigkeiten der Gegenwart. Ja,
all das Hopsen, Rumschreien, Kullern, Flennen, Fiepen bringt die Gestik und Mimik der
Elenden zur Sprache. Ja, der Schnaps fließt, das bessere Fühlen ist schon längst
verlernt, die Augenränder sind grün und blau und die fehlende Scham ebenso groß
wie die unbeholfene Gier und die Chancenlosigkeit.
Es ist aber nicht nur der geschärfte Blick fürs Milieu, nicht nur das völlig überzeugende
Spiel. Es sind nicht nur die mitunter zu lang geratenen Handlungsstränge, die im
Vordergrund stehen. Inszeniert von Henriette Hörnigk wird das Stück zur Frage nach
der heutigen Relevanz von Kunst.
Wie David Kramer als Hausmeister Quaquaro und Matthias Brenner als Hassenreuter
die Metaebene zu kitzeln wissen, ist bemerkenswert. Das Bewusstsein der elenden
Realität führt zu Rechtfertigungsnöten. Was soll uns dieses Theater noch bringen? Wer
will das Lied noch hören? Schlimmer noch: Wer kann es noch verstehen? Ist es nicht
schon längst eingezirkelt? Verbannt in eine Kultursphäre, die ihre Bedeutung verliert?
„Die Potenziale der Kunst und unsere Humanität stehen auf der Kippe.“
Brenner schmeißt sich in seine Rolle, er sucht, rauft die Haare. Das Elend führte
damals in die Weltkriege. Leere Geldbörse, leeres Theater, schwere Geschütze. Heiner
Müller, Beckett, Brecht, Rio Reiser werden zitiert: Irgendwo muss der Widerstand doch
sein? Irgendwann muss die Logik des Kapitals doch zerbrochen, irgendwie muss der
sanfte Faden zwischen Humanität und Bildung doch weiter gesponnen werden!
Stattdessen: Atze Schröder, Kessel Buntes und ein Theologe im Trainingsanzug. Die
Kunst machen die Verlierer, die Gebeutelten. Wetten dass? Immerhin, so muss es
sein. Ansonsten werden sie zu Ratten, die Menschen. Zu Ratten.
Hassenreuter rast, flucht, denkt, betrügt, referiert die heutigen Existenzängste und
greift gierig nach dem Arsch der Tochter. Großartig, wie Stella Hilb als Tochter
Walburga die Dauerdesillusionierung zu spielen weiß. Das Theater brauche doch nur
Puppen, sagt sie und öffnet die Schenkel. Erst einmal unten, gibt es kein Halten mehr.
Am Ende ist die Garderobe leer, die Stadt weg und das Mantra wird lauter: „Wir
müssen spielen, spielen, weiterspielen!"
Die Inszenierung bricht alles auf: Diskussionen nach der Funktion der Kunst prallen
auf Selbstmorde. Der Theologe glaubt, trotz Suppenküche, an die Erlösung und
Rechtfertigung des Elends, Utopien krabbeln auf der Altkleidersammlung. Das Stück
bleibt bei bloßer Betroffenheit nicht stehen, thematisiert die heutigen Sparzwänge.
Brenner brüllt und wird wie alle anderen Darsteller zum Lied. Die Wandlung vollzieht
sich auf der Bühne, der Song wird lauter und lauter.
Kommen mal wieder „Die Ratten", muss der Klammergriff des Naturalismus schon
deutlich zu spüren sein. Kommt Hauptmann, ist es in der Realität eigentlich schon zu
spät. Die Potenziale der Kunst und unsere Humanität stehen auf der Kippe. Das
musste jetzt noch einmal gesagt werden. Dafür kommen die Ratten und suchen die
Menschen. Gut so. Wir brauchen das Lied.
Die Ratten, 1., 15. und 16. März, Neues Theater Halle, jeweils 19.30