Leseprobe - STARK Verlag
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196 Salman Rushdie: Good Advice Is Rarer Than Rubies (1994) 3.5 Thematik Mischung von Ost und West Das zentrale Thema in Salman Rushdies Werk ist der kulturelle Ost-West Konflikt, der sich auch in seinem Leben insbesondere bei der Auseinandersetzung um The Satanic Verses symbolhaft spiegelt. Als weltgewandter, dem Westlichen aufgeschlossener Intellektueller setzt er sich wie ein Wanderer zwischen den Welten mit der Kultur seiner Heimat Indien und dessen Position in der Moderne auseinander. Die Literaturbeilage der Londoner Times (Times Literary Supplement) ordnet Rushdie als Schriftsteller folgendermaßen ein: “Rushdie is the great postimperial writer. His is a world in which Indian boys in Kensington sing Neil Sedaka2 songs to baby girls called Scheherazade3; and where diplomats from Asia play out Star Trek fantasies.” In Good Advice Is Rarer Than Rubies treffen diese beiden Welten, Ost und West, und die mit ihnen verbundenen Wertvorstellungen aufeinander. Auf dem Bus prangt z. B. der Schriftzug Move over Darling. Zum einen könnte man das ganz wörtlich interpretieren als Aufforderung an Fußgänger oder andere Verkehrsteilnehmer, Platz zu machen. Move over Darling ist aber auch der Titel einer amerikanischen Filmkomödie aus den 60er-Jahren mit Doris Day in der Hauptrolle. Dies zeigt, dass Erzeugnisse der westlichen Unterhaltungsindustrie durch die modernen Kommunikationsmittel (Radio, Film, Fernsehen – heute müsste man auch das Internet mit einbeziehen) Eingang auch in eine gänzlich andere Kulturwelt gefunden und dort ihre Spuren hinterlassen haben. Die britische Kolonialherrschaft eröffnete Indien schon früh (zu Beginn des 20. Jahrhunderts) Zugang zu den neuesten technischen Entwicklungen. Heute ist die Filmindustrie Indiens, allgemein Bollywood genannt, eine bedeutende Wirtschaftskraft des Landes. In R. K. Narayans Geschichte A Horse and Two Goats stimmt der alte Inder Muni angesichts westlicher Einflüsse eine „Kulturklage“ an: “The cinema has Salman Rushdie: Good Advice Is Rarer Than Rubies (1994 ) 197 spoilt the people and taught them how to do evil things.” (S. 76, Z. 21 f.). Nicht so bei Rushdie. Hier wirkt der auf dem Bus prangende Titel des amerikanischen Trivialfilms eher witzig. Zwar wird der Kontrast zwischen vermeintlichem Herz-Schmerz in der Liebeskomödie der Reichen und dem realen Überlebenskampf der Armen deutlich, doch stehen sich diese Elemente noch nicht unvereinbar gegenüber oder werden gar zum Anlass für Feindseligkeit oder Radikalisierung. Im Gegenteil, sie werden – bewusst oder unbewusst – in den normalen Lebensalltag übernommen. Es ist die Zeit der Koexistenz. An der Rückseite des Busses liest man die Verabschiedungsformeln „Tata-Bata“ und „O.K. Good Life“. Als der glückliche Muhammad zufrieden eine Pastete isst, die Rehana ihm spendiert hat, summt er zufrieden eine Filmmelodie. Die Mischung wirkt auf den Betrachter eher belustigend. Einerseits spürt man den Einfluss moderner westlicher Massenmedien, andererseits sind traditionelle Überzeugungen und auch der Aberglaube tief verwurzelt. So verkauft ein Straßenhändler den Buspassagieren Liebesgeschichten und obskure grüne Medizinen – beide, so wird knapp festgestellt, bewirken die Linderung von Betrübnis („both of which cured unhappiness“, S. 140, Z. 12). England ist nicht für alle das gelobte Land Anklänge an alte Kolonialzeiten, als die Briten die unumschränkten Herrscher auf dem indischen Subkontinent waren, zeigen sich am Anfang der Erzählung. Die Wartenden vor dem Konsulat müssen sich in Geduld üben. Erst wenn es den weißen Herren („the sahibs“) gefällt, so sagt es der Wachtposten, werden die Antragsteller zu ungewisser Stunde vorgelassen. Für viele Menschen in den ehemaligen Kolonien des britischen Empire blieb auch nach Erlangen der Unabhängigkeit England das Land ihrer Träume, um der Armut und Not in ihrer Heimat zu entfliehen. In den 50er- und 60er-Jahren bestand besonders 198 Salman Rushdie: Good Advice Is Rarer Than Rubies (1994) in den Textilfabriken in England eine große Nachfrage nach ungelernten Arbeitskräften, und damit setzte eine Flutwelle von Einwanderern aus Asien ein. Im Norden Englands wurde die im Text genannte Stadt Bradford, in der Rehanas Verlobter lebt, das Zentrum von Einwanderern aus Pakistan. Heute sind viele dieser Städte mit einer hohen Einwandererquote soziale Brennpunkte und oft Schauplätze von Rassenkonflikten. Die Immigration ist inzwischen erschwert worden. Eine Aufenthaltsgenehmigung kann nur bekommen, wer einen engen Familienangehörigen in England hat. Die „Dienstagsfrauen“ in Good Advice Is Rarer Than Rubies bemühen sich um ein solches Dokument im Rahmen der Familienzusammenführung. Da es nicht einfach ist, die entsprechenden Papiere zu erlangen, sind einige Frauen in der Geschichte auch bereit, ungesetzliche Wege einzuschlagen. Daher hat sich ein Schwarzmarkt entwickelt, auf dem gefälschte Dokumente gehandelt werden. Das ist Muhammad Alis Arbeitsfeld. Miss Rehana jedoch ist anders als die anderen Dienstagsfrauen. Sie hätte alle Voraussetzungen erfüllt, um ein Visum erteilt zu bekommen. Doch sie nutzt Alis guten Rat, um die Einreisegenehmigung nicht zu erhalten. Für Rehana ist England nicht mehr das gelobte Land, in das es sie zieht. Muhammad Ali entwirft vor ihr noch das alte Bild von England als der „großen Nation“, doch für Rehana kommt eine Ausreise nicht in Frage, weil sie in ihrer Heimat Pakistan ihr Auskommen und ihre Selbstständigkeit gefunden hat. In Lahore arbeitet sie für eine Familie in einer verantwortlichen Stellung als Kinderfrau. Rehana hat sich daher bewusst entschieden, nicht auszuwandern, sondern in ihrer Heimat zu bleiben. Salman Rushdie zeigt in seiner Geschichte, dass das alte Klischee von England als Traumziel aller Inder und Pakistani nicht mehr stimmt. Rehanas Entscheidung ist ein Symbol dafür, dass nicht nur im einstigen kolonialen Mutterland, sondern auch in den ehemaligen Kolonien ein Leben in Unabhängigkeit und Würde möglich ist. Salman Rushdie: Good Advice Is Rarer Than Rubies (1994 ) 199 Absage an die alte Tradition der arrangierten Heirat Rehanas Verzicht auf eine Ausreise nach England stellt auch einen Protest gegen die Tradition der arrangierten Ehe dar, ein Brauch, der die Frauen bei der Wahl des künftigen Ehemannes weitgehend ausschloss. In Ländern wie Indien und Pakistan legen die Eltern bzw. die Verwandten die Ehepartner und den Zeitpunkt der Heirat fest („arranged marriage“). Sie wählen den Partner nach sozialen Gesichtspunkten, d. h. er muss aus derselben Gesellschaftsschicht (derselben Kaste) stammen, oder sie wählen ihn nach strategischen, wirtschaftlichen Kriterien aus. Auch Rehanas Vater hat aus Fürsorge einen Ehemann für seine Tochter ausgesucht, um sie abzusichern. Für Rehana jedoch entfällt dieses Kriterium. Sie braucht eine Absicherung durch Verheiratung nicht mehr. Damit steht Rehana stellvertretend für einen neuen Frauentyp in der pakistanischen Gesellschaft. Sie geht unverschleiert, ist selbstbewusst genug, ohne unterstützende Familienangehörige ihr Anliegen zu vertreten und steht auf eigenen Beinen. Rushdie zeigt in Rehana eine emanzipierte Frau des 21. Jahrhunderts. Mit seiner Kurzgeschichte will er dem Leser klar machen, dass die klischeehafte Vorstellung von den Menschen und den sozialen Verhältnissen in den ehemaligen Kolonien Englands keine absolute Gültigkeit mehr haben. Die Welt aus Tausendundeiner Nacht existiert nicht mehr, sondern der Aufbruch in die moderne Zeit hat längst eingesetzt. Insofern möchte er damit auch uns im Westen den wertvollen Rat geben, die Welt in jenen Ländern ohne Vorurteile zu sehen. Angaben 1 Eine genaue Ortsangabe fehlt, doch werden einige pakistanische Städte genannt (Multan, Bahawalpur), und Rehana kommt mit dem Bus aus Lahore. 2 Neil Sedaka: amerikanischer Komponist und Schlagersänger der 50erund 60er-Jahre. 3 Scheherazade: Name der Märchenerzählerin aus Tausendundeiner Nacht.