deutschlandsaga fanzine
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0 9 er GA A S D LAN H TSC NZ I N E U E D FA LIEBE LESERIN, LIEBER LESER, am 1. März 2008 – also vor gut zwei Wochen – schloss sangund klanglos ein Kapitel in der Geschichte moderner Informationstechnologie: Der Netscape-Browser wurde eingestellt. Die Navigations-Software, die für viele das problemlose Surfen im Netz ermöglichte – ab 1994 verfügbar, stellte sie auch Grafiken dar –, erhält keinen Support mehr. Das Internet ist uns heute selbstverständlich und nirgends zeichnet sich in der 1990er Dekade der Abschied aus dem zwanzigsten Jahrhundert deutlicher ab als in der Entwicklung dieses Informations- und Kommunikationsmittels. Seine Möglichkeiten als unkontrollierter, öffentlicher Raum wurden früh erkannt. In unserem »Fanzine« zu den 90er Jahren geht die Kuratorin Inke Arns daher der Frage nach, ob und wie Netzkunst außerhalb des World Wide Web zu präsentieren sei. Mit der endgültigen Auflösung des Ostblocks und der Erosion und Neubildung staatlicher Strukturen und Substrukturen nicht nur in Europa, sondern vor allem in Afrika, gibt es auf der politischen Ebene die nachhaltigste Veränderung in diesem Jahrzehnt. Die Kriege und Gräuel, die damit auch verbunden waren, sind heute nahezu vergessen: Die Bilder des gelynchten rumänischen Staatspräsidenten und seiner Frau haben noch viele im Gedächtnis. Sie fallen allerdings in die Tage zwischen den Jahren 1989/90. Danach sah man vor allem Videobilder aus den Kameras zielgenau einfliegender Cruise Missiles im Kuwaitkrieg. Die Nato hatte diese Unterhaltung bei ihren Luft-Performances in Belgrad nicht zu bieten. Das Massaker in Srebrenica, bei dem 1995 8.000 muslimische Bosnier ermordet wurden, ging ohne Zuschauer über die Bühne, ebenso der Völkermord in Ruanda, dem bis zu eine Millionen Menschen zum Opfer fielen. Unter diesem Horizont sei hier an die ersten Auslandseinsätze der Bundeswehr in dieser Dekade erinnert und die damals erbittert geführten Debatten darüber, welche Verantwortung das seit dem 3. Oktober 1990 vereinigte Deutschland aus seiner Vergangenheit ableiten will. Das »Deutschlandsaga«-Fanzine konnte auch diesmal einen bildenden Künstler als Ideengeber und Gestalter gewinnen. Der Maler Tim Eitel hat mit seinen privaten Fotos aus den 90er Jahren den Bildteil gestaltet, der sich durch das gesamte Heft zieht und den Texten neben dem Fan-Magazin Format nicht nur einen Rahmen gegeben, sondern eine ganz persönliche Bilderzählung hinzugefügt. Spotlightartig finden Sie in den Texten verschiedene Perspektiven und Aspekte des Jahrzehnts beleuchtet: Beiträge zu den Mythen von Lady Di und Kurt Cobain finden Sie ebenso wie zu Künstlern, Theaterleuten und Aktivisten und ganz persönliche Berichte und Essays zu der Zeit. Ganz besonders freut mich, dass sich in der 90er Ausgabe alle drei Autoren der Deutschlandsaga-Uraufführungswerkstatt der Schaubühne, Nina Ender, Ewald Palmetshofer und Anne Rabe, beteiligen konnten. Allen sei herzlich für den Einsatz und fruchtbare Diskussionen gedankt. Überraschung und viel Vergnügen beim Lesen wünscht Ihnen Ihr Max Glauner Chefredakteur »Deutschlandsaga«-Fanzine, [email protected] Das Theaterprojekt »Deutschlandsaga« wird gefördert durch die Impressum – Herausgeber: Friedrich Barner, Christof Belka, Jens Hillje, Andreas Seyffert, Irina Szodruch – Herstellungsleitung: Andreas Seyffert Chefredakteur: Max Glauner – Redaktionsassistenz: Nadja Grabsch, Tim Holtorf – Gestaltung: Heinrich Kreyenberg – Druck: Tastomat Druck GmbH Schaubühne am Lehniner Platz, Spielzeit 2007/08, Kurfürstendamm 153, 10709 Berlin, www.schaubuehne.de EWALD PALMETSHOFER KLASSENBEWUSSTSEIN BEGREIFEN Damen und Herren. Es ist eine theoretische und politisch praktische Notwendigkeit den Begriff der gesellschaftlichen Klasse, und das ist natürlich ein leerer Begriff, aber trotzdem oder gerade deswegen die dringende Notwendigkeit, den Begriff der Klasse in seiner begrifflichen Leerheit politisch neu zu füllen und ihm ein reales Korrelat zuzuschreiben, also ein reales Faktum, eine reale Gegebenheit, also eine reale Trägersubstanz des Klassenbegriffes, wie wir ihn hier heute jetzt notwendigerweise zu denken haben. Und darum nehmen wir den Begriff, den Begriff der Klasse, und weil dieser als Begriff nicht mehr taugt, die soziale, also die soziale Spannung, nicht dass hier eine soziale Spannung der Fall, aber brauchen hier trotzdem einen Begriff, für den Fall, dass eine auftritt, eine Spannung, eine soziale Spannung und dann tritt die auf und kein Klassenbegriff bereitgestellt, um die Spannung zu benennen und einer Analyse, weil wir natürlich politisch umgehend bemüht wären die Spannung, die soziale, einer Analyse zuzuführen, allerdings mit einem begrifflichen Instrumentarium, das wir hier jetzt heute erfinden müssen. Und das tun wir auch und erfinden die Klasse neu und doch ist hier Vorsicht angebracht. Die Klasse neu zu erfinden fordert eine Vorsicht und eine Weitsicht, und was für eine Weitsicht das fordert. Und man muss einen Begriff erfinden, der das Reale der Klasse ausfindig macht und in der Mitte unserer Gesellschaft aufspürt und dem öffentlichen Blick preisgibt und eine öffentliche Begriffsbildung muss hier angeregt werden, aber man muss den Begriff vorerst im Geheimen halten und zunächst das Reale des Begriffes, muss die Klasse, muss, nennen wir sie die Unterschicht, muss sie, also die Unterschicht, in ein Bewusstsein, in ein Bewusstsein der Öffentlichkeit muss man die Unterschicht hineinbekommen und dann einen Begriff, denselben, den man vorher geheim gehalten hat, und der aufgrund politischer Bewegungen, auf die wir nicht näher eingehen, aufgrund von Zeitmangel hier jetzt heute, muss man den Begriff dann auf das Öffentlich-Sichtbar-Gemachte langsam anwenden, aber nicht von außen, sondern muss die Verhältnisse dergestalt bewegen, dass sich quasi wie von selbst die Klasse aus dem Bewusstsein herausschält als Unterschicht und muss dann das Reale des Begriffes, hat man es erst einmal öffentlich sichtbar gemacht und in der Mitte der Gesellschaft aufgespürt, muss man es dann von der Mitte hinaustragen und die Selbstauflösung des Realen des Begriffes vorantreiben, muss der öffentlichen Selbstdemütigung eben selbiger neu erfundenen Klasse nichts entgegenstellen, viel mehr noch, muss diese Selbstdarstellung dem freien Markt und dessen Gesetzen überantworten und auf das Selbstdemütigungsregulativ des Marktes vertrauen und die Denunziation der Klasse nach ökonomischen Prinzipien voranschreiten lassen, ohne einzugreifen und das Reale der Klasse, die Neubefüllung der Klasse, muss dies schleichend gestalten und im öffentlichen Bewusstsein ein Bewusstsein für die legitime Angestammtheit der Unterschicht am Rand, nachdem man sie aus der Mitte der Gesellschaft gesammelt, muss man nach dem öffentlichen Blick den öffentlichen Ort als angestammten Ort etablieren und damit, im Falle einer Spannung, einer sozialen Spannung, die Spannung aus der Mitte der Gesellschaft hinaus an den Rand und diesem Rand später die öffentliche Wahrnehmung entziehen. Wir verlassen uns auf das Gesetz des Marktes und befördern die mediale Bewirtschaftung des Realen des Begriffes der Klasse und warten, bis die Bewirtschaftung ein Ende gefunden und die Subjekte der Unterschicht vom Markt verlassen und die Bewirtschaftung der Unterklassenschicht zum Stillstand kommt, wie es die Gesetze des Marktes vorsehen, und ein anderes Produkt an dessen Stelle tritt und das Reale der Unterklasse wird von der Mitte an den Rand transferiert worden sein und die Spannung als soziale Spannung wird gemeinsam mit den Subjekten der entsprechenden Schicht nicht länger der öffentlichen Wahrnehmung von Interesse sein. Gleichzeitig werden wir dieser Klasse, die sich medial selbst verraten haben wird, durch die maßgeschneiderte Auferlegung gesetzlicher Bestimmungen eine Rückkehr in die Mitte aus der Aussicht hinaus nehmen und werden auf keine Gegenstimmen stoßen, weil das Produkt nach den Gesetzen des Marktes und der medialen Exzessivbewirtschaftung bereits woanders ist und die Unterklasse vom öffentlichen Bewusstsein nicht länger konsumiert werden wird. Ewald Palmetshofer, 1978 in Linz geboren, Studium in Wien, Retzhofer Literaturpreis für junges Drama 2005, 2007 mit »helden« Einladung zum »hotINK International Play Reading Festival« in New York, seit der Spielzeit 2007/08 Hausautor am Schauspielhaus Wien. CONSTANTIN RAUER DIANA, PRINCESS OF WALES VOM MYTHOS EINER GEJAGTEN JÄGERIN Am 31. August 1997 verstarb Lady Di unter bis heute ungeklärten Umständen bei einem Autounfall in einer Pariser Unterführung. Es folgte ein Meer von Blumen sowie ein Medienhype, der die Princess of Wales zur Prinzessin der Herzen erklärte – post mortem freilich, denn zu ihren Lebzeiten war von einem solchen – übrigens Elisabeth Stuart entlehnten – Beinamen nichts zu hören. Seinerzeit war ich Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Religionswissenschaftlichen Institut der Freien Universität Berlin, zuständig unter anderem für die so genannten versteckten Religionen sowie für die Untersuchung von modernen Alltagsmythen mit religiösem Hintergrund. So sehr schien das Lady-DiPhänomen zu meinen Themen zu passen, dass manche sogar scherzhaft behaupteten, ich hätte die Prinzessin umbringen lassen, um neuen Seminarstoff zu erhalten. Also kam es zu einem Lady-Di-Seminar, in dem ich mir mit den Studenten und Studentinnen vorgenommen hatte, den Diana-Mythos semiologisch zu entschlüsseln. Zu diesem Zweck analysierten wir das DianaImago anhand der zu Lebzeiten publizierten Diana-Fotos, welche nach ihrem Tod von der Boulevardpresse in Sonderheften nochmals reproduziert worden waren: tausende und abertausende von Bildern. Unsere Recherche wurde damals von F. Gerbert ausführlich im »Focus« besprochen (siehe: Focus 47/1997, S. 270-275, www.focus.de/kultur/leben/hochschulen_aid_167950.html); hier seien einige der Überlegungen von damals erinnert. Sprechend war bereits das erste von Diana in den Printmedien veröffentlichte Foto: Man sieht sie nicht direkt, denn sie steht hinter einem Baum und beobachtet durch einen Handspiegel, den sie am Baum vorbei hält, eine Meute von Paparazzi. Ein Paparazzo erwischt ihr Gesicht in eben ihrem Spiegel. Das Bild ist sinnbildlich: Von Anfang an verstand es die Prinzessin ihr öffentliches Image zu reflektieren und zu produzieren. Sie, die von den Paparazzi gejagte, war eigentlich von vorneherein die Jägerin: Ganze Presseabteilungen waren mit nichts anderem beschäftigt, als mit der Produktion ihres öffentlichen Bildes, wobei die Paparazzi nur part of the game waren. Trägt man einen solch bedeutungsschwangeren Namen wie Diana, wird man sich schon früh nach dessen Signifikation erkundigt haben: Artemis, die altgriechische Fruchtbarkeitsgöttin, der zuliebe die Bürger von Ephesos um ein Haar den Apostel Paulus ermordet hätten; Diana, die römische Göttin der Jagd, eine bewaffnete Frau, deren Hunde den Akteion, der sie nackt gesehen hatte, in Stücke zerrissen. In dem Schloss der Spencers, in dem Lady Diana aufgewachsen war, befand sich auch ein Gemälde der Diane de Poitiers (1499-1566). Letztere war die Maitresse des zwanzig Jahre jüngeren Henri II. und damit Rivalin von dessen Frau, Catherine de Medici. Da sie auf der politischen Bühne mit der Medici nicht konkurrieren konnte, flüchtete sie sich ins Ästhetische: Sie ließ sich Jagdschlösser bauen und auf unzähligen Portraits in der Pose und mit den Emblemen der Jagdgöttin, mit Pfeil und Bogen, Mondsichel und den Hunden, abbilden. Da ihre Wiederbelebung des DianaMythos Schule machte, transformierte sie so – im Zuge der Gegenreformation – das Selbstbild der Frau: Sowohl dem Marien-Bild des Mittelalters als auch dem Nonnen-Bild der Reformations-Frau stellte sie das selbstbewusste Frauenbild der handelnden Jägerin entgegen. 1981 heiratete Lady Diana Prinz Charles, wurde Princess of Wales und Mitglied des Königshauses. Noch in der Hochzeitsnacht wurde ihr offenbart, dass ihre Ehe rein repräsentativen Charakter habe, da Prinz Charles bereits anderweitig, nämlich mit Frau Camilla Parker Bowles liiert sei. Aus der Ehe gingen hervor: zwei Kinder, Prinz William 1982 und Prinz Harry 1984, sowie ein entsetzlicher Rosenkrieg. Dieser begann lange bevor Diana 1992 in dem Skandalbuch von A. Morton »Diana – Her True Story« die Details ihrer Ehe preisgab (worauf sofort die öffentliche Trennung folgte) und lange bevor sie 1996 in einem Fernsehinterview mit M. Bashir das Königshaus direkt angriff (worauf Königin Elisabeth II. die Scheidung forderte). Auch wurde dieser Rosenkrieg von Dianas Seite aus mit ganz anderen Mitteln geführt, als alleine mit den eher konventionellen einer Fernseh- oder Buchpublikation. Was Diana in ihrem Rosenkrieg gegen Prinz Charles – und zwar von Anfang an, seit dem Beginn ihrer Ehe – einsetzte, war das von ihr öffentlich produzierte Frauenbild – das Bild der Diana eben. Ob man nun die Gala-Bilder, die Reise-Bilder, die Sport-Bilder oder die Bilder des politischen Engagements der Princess of Wales betrachtet, auf allen ihren Bildern wird eines deutlich in den Vordergrund gestellt – nämlich: ihre Beine sowie ihr Gang. Bei weitem treffender als »Prinzessin der Herzen« wäre daher der Beiname »Prinzessin der Beine« gewesen. Offensichtlich ging es der Prinzessin darum, ein neues Frauenbild auf die Beine zu stellen und zwar auch über die Art und Weise der Darstellung. Frei nach den antiken Frauenfiguren läuft Diana frontal auf den Betrachter zu, mit einem dynamischen, nach vorne gerichteten Gang. (Diese dynamischen Dianafiguren der Antike verschwanden ab dem 3. Jahrhundert zugunsten der Marien- und Venusfiguren, welche beide einerseits statisch sind und andererseits für den Betrachter ins Bild zurückgehen.) Ob alleine joggend oder tanzend mit John Travolta, ob beim Schwimmen mit Dodi Al-Fayed oder beim Skifahren mit ihren Söhnen – immer (und selbst noch bei den Minenopfern, für die sie sich einsetzte) ging es um Beine und Bewegung. Diese Bewegungsmetapher des inszenierten Diana-Bildes war freilich gegen die sprichwörtliche Steifheit der Windsors gerichtet; dem klassischen Bild der Macht, also dem des unbewegten Bewegers (einem Bild, dem noch Königin Elisabeth II. entspricht) stellte Diana das Bild einer bewegten Bewegerin entgegen – formal wie inhaltlich. Da konnte man beispielsweise im Fernsehen und späterhin auf Video folgende Szene mitverfolgen: Bei einem offiziellen Anlass spielt Prinz Charles in einem Streichquartett klassische Musik. Urplötzlich begibt sich auch Diana auf die Bühne, setzt sich an das sich ebenfalls dort befindende Klavier und spielt – der Klassik ins Wort fallend – Jazz. Das Streichquartett befindet sich rechts, das Klavier links auf der Bühne. Die Kameras schwenken von der rechten Seite zur linken; derart, dass das Quartett sich nicht mehr im Bilde befindet. Charles und seinen Mitstreichern blieb nichts anderes übrig, als ihr Konzert abzubrechen und die Bühne zu verlassen; die Kameras hatten sich ausnahmslos auf das Bild der Diana focusiert. Szenen dieser Art, in denen Charles öffentlich bloßgestellt und blamiert und zudem die Protokolle feierlicher Veranstaltungen aus der Fassung gebracht wurden, gab es unzählige – und es war wohl diese permanente Imagezerstörung, die das Königshaus und insbesondere die Queen zur Weisglut brachten. Nach ihrer offiziellen Trennung ließ sich Diana vor dem Taj Mahal fotographieren, sitzend dieses Mal und alleine – vor dem Palast der Liebe. Als sie sich dann noch im Tiger-Bikini, anscheinend schwanger mit einem Araber ablichten ließ, war genug; ebenso prompt wie 1992 auf ihr Buch die Trennung und ebenso prompt wie 1996 auf ihr Fernsehinterview die Scheidung folgte, so folgte nun 1997 auf diese Bilder ihr Tod. Epilog. Es soll Zeiten gegeben haben, da sich die Bühne (Opernsängerinnen und Schauspielerinnen, wie die Mode überhaupt) an Prinzessinnen orientiert hatte; in der zweiten Hälfte des 20en Jahrhunderts spätestens hatte sich dieses Verhältnis längst umgekehrt. Prinzessin Diana wollte so sein wie Marilyn Monroe (ein Star!) und imitierte doch eine andere – nämlich die zeitgleich mit ihr aufkommende Madonna. In dieser Rivalität freilich hatte sie keine Chance: Es war Madonna, die den Ton, das Trendsetting, die neuen Werte und Bilder vorgab – und im Vergleich zur Sängerin schien die Prinzessin erstaunlich antiquiert. Diana aber wirkte (wie das Negativ von Madonna) auf einer anderen Bühne: Indem sie die Bilder der repräsentativen Macht dekonstruierte (und beispielsweise zeigte, dass selbst das englische Königshaus schon längst nicht mehr zu unterscheiden war, etwa von der Fernsehserie einer Kleinbürgerehe), stellte sie aufs Neue die Frage nach der Vorbild-Funktion der Repräsentation. In diesem Punkt und nur in diesem war sie Madonna voraus: Madonna war Idol (und vergaß gerade darum die Frage, was sie als Vorbild bewirken wolle) – Diana war Vorbild (und stellte genau darum die Frage, wie Idole heute aussehen sollten). Constantin Rauer war zuletzt Gastprofessor für Philosophie an der Universidade Federal de Santa Catarina in Florianópolis, Brasilien. Im Oktober 2007 erschien von ihm im Akademie Verlag: »Wahn und Wahrheit. Kants Auseinandersetzung mit dem Irrationalen«. Derzeit arbeitet er an einem von der Gerda Henkel Stiftung geförderten Projekt mit dem Titel »Homo cultus. Die Geburt des Menschen – mit Religion, Kunst und Geschichte – während der jüngeren Altsteinzeit«. NADJA GRABSCH A TRIBUTE TO KURT COBAIN Das erste Mal wunderte ich mich zur jährlichen Faschingsparty. Die bunten Kostüme wurden mehrheitlich gegen schwarze Fummel eingetauscht, Tanz- gegen Depri-Mucke-Stimmung. Auch die Rauchereckenjungs aus der Klasse drüber hatten offensichtlich nicht zufällig alle den letzten Friseurtermin geschmissen und ich kombinierte, dass die »Nevermind«-Shirts auf den gleichen Grund zurückzuführen waren: die Band Nirvana, die offensichtlich mein gesamtes Umfeld infiziert hatte. Nach Gerüchten, die Band-AG hätte Rasierklingen im Proberaum gebunkert, kam der absolute Höhepunkt nach den Osterferien, kurz vor meinem elften Geburtstag, als die Hälfte der Mädchen tränenüberströmt vor der völlig überforderten Mathereferendarin standen. Man könne heute unmöglich die Matheprüfung machen, denn Kurt Cobain habe sich gestern das Leben genommen. Die Mathearbeit wurde verschoben und auf einmal konnte selbst ich, deren kleines Universum durch Nirvana bisher kaum irritiert wurde, der Sache etwas abgewinnen. Wo andernorts Techno-Paraden stattfanden, trat hier eine Band auf die Bühne, die vor allem eines vermitteln wollte: Authentizität. Und das Image funktionierte. Binnen kürzester Zeit wuchsen die drei Kleinbühnenrocker Kurt Cobain, Dave Grohl und Krist Novoselic´ zu Musikstars der Megaklasse heran. Nevermind, ihre zweite Platte mit Baby Spencer Elden unter Wasser auf dem Cover, wurde zu einem der meistverkauften Rockalben der Musikgeschichte, Songs wie »All Apologies«, »Come As You Are« und »Smells Like Teen Spirit« zu den meistgespielten der 90er Jahre und letzterer schließlich zur Hymne einer ganzen Jugend: »Hello, hello, hello….With the lights out it's less dang'rous. Here we are now, entertain us…«. Nirvana sammelte Music Awards und ihre Videos liefen bei MTV rauf und runter. Ihre Wirkung bestand einerseits im unverkennbaren Grunge-Sound und Cobains rauer Stimme, andererseits aber auch in ihrer zur Schau getragenen Distanz zum Musikgeschäft, auch wenn ihr kommerzieller Erfolg nicht unbedingt mit der Rolle der Antihelden kompatibel war. Der eigentliche Schlüssel und damit zugleich Anfang und Ende jeder Nirvana-Geschichte, ist die Figur Kurt Cobains. Kurt Cobain war Nirvana. Wie kaum ein anderer hat er es verstanden, das Leiden am Leben zur Kunst zu erheben und zu verkörpern. Wenn Cobain die Bühne betrat und Einblick in die Seele eines ewig Gestrauchelten gewährte, dann wurde einem überwiegend pubertierenden Publikum die Erfahrung emotionaler Tragik zuteil. Und alle in dieser Zeit nicht mit dem messianischen Cobain-Syndrom Infizierten konnten eigentlich nur als Aussätzige bedauert oder für ihre Immunität bewundert werden. Denn zur Cobain-Syndrom-Ausstattung gehörten nicht nur Kerzen und Räucherzeugs, akribisch gesammelte Bravo-Schnipsel und Nirvana-Buttons auf jedem verfügbaren Kleidungsstück, dazu gehörte in erster Linie der Freifahrtschein zum Unglücklichsein, zur Depression im ganz großen Stil. Dass Cobain, der wie Robert Schumann, Britney Spears und unzählige Größen des ShowBiz an einer Bipolaren Störung litt, an seiner Rolle zerbrach, war dabei lediglich der Ausdruck eines wohl tragischen, aber gekonnt vermarkteten »Schicksals«. Seine Geschichte liest sich wie aus einem psychiatrischen Handbuch klassischer Musikerkarrieren. Der Junge aus dem US-Westküstennest Aberdeen, der früh mit dem Selbstmord naher Verwandter konfrontiert wird, aus dem zerrütteten Elternhaus ausbricht und schließlich kein anderes Ziel mehr kennt, als Musik zu machen. Die Stationen gehen von der Freundschaft zu Krist Novoselic´, über einige gescheiterte Bandprojekte, zum großen Griff, der Gründung von Nirvana. Es folgen 1989 das Debut-Album Bleach, der Plattenvertrag mit Geffen Records und schließlich das über 10 Millionen Mal verkaufte Album Nevermind. Cobains Magenprobleme und depressive Zustände wurden dadurch nicht geringer, nur der Drogenkonsum heftiger und die Entzugsversuche häufiger. Seine Musik transportierte dafür inbrünstige Hoffnungslosigkeit, quälend zur Schau gestellte Sehnsucht nach Ruhe der Seele im Vollkommenen, wie es der Bandname prophezeit. Kurt Cobain hätte nicht so erfolgreich sein können, wären all diese aus dem Arsenal der Romantik gegriffenen Motive nicht bitterernst gewesen. Auf dem Höhepunkt seiner Karriere und dem Tiefpunkt seines Lebens gibt es für den 27-Jährigen nichts mehr zu sagen. Kurt Cobain nimmt sich am 5. April 1994 nach einer Überdosis Heroin durch einen Kopfschuss das Leben. Nadja Grabsch, geboren 1983 in Berlin, studiert Germanistik und Medienwissenschaft und arbeitet als Redaktionsassistentin für das »Deutschlandsaga«-Fanzine. JACEK SLASKI NAZIMUSIK Politische Ansichten und Überzeugungen haben in der Popmusik spätestens in den 1990er Jahren nichts mehr verloren. Doch sie lebten in dieser Dekade in einer radikalen Nische umso mehr auf – unter rechten Vorzeichen. Die Rechtsrockszene in Deutschland erlebte in den 80er Jahren ihren Anfang. Die Böhsen Onkelz wurden bereits 1980 gegründet und erlebten ihre ersten Erfolge. Doch erst in den 90ern gab es einen wirklichen Aufstieg der Szene. Rassistisches, ausländerfeindliches und antisemitisches Gedankengut fand zunehmenden Eingang in die Musik von Liedermachern wie Frank Rennicke, bei Oi!, Punk- und Metal-Bands wie Störkraft, Endstufe, Landser und Kahlschlag. Oft verbinden diese Bands ultrarechte Slogans, sie bedienen sich teilweise der germanischen Mythologie und schrecken auch nicht vor Gewaltverherrlichung, Nazi-Propaganda und der Verleugnung des Holocaust zurück. Diejenigen, die sich nach der Wiedervereinigung stärker in Richtung rechts orientiert haben, suchten nach musikalischen Sprachrohren. Die alten Neonazis haben sich vielleicht noch mit Heimat- und Soldatenliedern oder Marschmusik abgefunden. Doch die junge Generation von Skinheads und anderen rechten Subkulturen wollte eine eigene Musik, mit der sie sich identifizieren konnte. Zu der Zeit hatte sich in England bereits eine lange Tradition der Skinhead-Musik etabliert. Skinheads hörten unter anderem Ska, das wie die britische Skinhead-Kultur seine Wurzeln in der jamaikanischen Musik hatte und eher unpolitisch war. Doch Bands wie die neofaschistisch motivierten Skrewdriver des 1993 verstorbenen Sängers Ian Donaldson hatten mittlerweile einen Kultstatus erreicht und ihre Sympathien für die rechtsradikale englische Partei National Front nie verheimlicht. Ähnlich wie in England funktionierte ab den frühen 90er Jahren die rechte Musikszene auch in Deutschland. 1992 gründete sich die Hardcoreband Landser, die Rassenmischung als Völkermord bezeichnete und sich offen zur Nazi-Ideologie bekannte. Zwar wurden Landser schon früh vom Verfassungsschutz beobachtet und nahezu alle Tonträger der Gruppe indiziert, dennoch brachte sie es bis 2003 auf ein gutes Dutzend Platten. Die rechte Musikszene ist sehr gut organisiert, sowohl im Internet wie auch in der realen Welt. Daher ist eine Indizierung, die an sich nur den Verkauf durch offizielle Kanäle, wie etwa große Plattenläden untersagt, meist unwirksam. So konnten innerhalb der rechten Szene eigene, unabhängige Vertriebswege etabliert werden und Konzerttourneen stattfinden – trotz Indizierung und Verfahren gegen die Verwendung verfassungswidriger Parolen und Symbole. Erst 2005 hat der Bundesgerichtshof Landser als kriminelle Vereinigung eingestuft und damit das weitere Fortbestehen von Landser erheblich erschwert. Viele andere der Gruppen aus den 90er Jahren existieren heute ebenfalls nicht mehr, zumindest nicht unter ihren Originalnamen. Dennoch finden sich weiterhin Videos von Rechtsrockgruppen zum Beispiel auf dem Videoportal YouTube und wenn man etwas tiefer surft, stößt man ohne größere Probleme auf die musikalischen Hinterlassenschaften der Rechten. Immer wieder tauchen Rechtsrockbands in den Schlagzeilen auf, wenn etwa das Bundeskriminalamt mal wieder CDs oder Computer in irgendwelchen Hinterhofstudios oder Privatwohnungen beschlagnahmt hat, oder – wie zuletzt 2004 durch die Verteilaktion der so genannten »Schulhof-CD« mit Songs verschiedener Rechtsrock-Bands – in der Nähe von Schulen und Jugendzentren. Ein Ende der Szene ist nicht abzusehen. Mittlerweile wird die Zahl der rechten Bands auf mehrere hundert geschätzt. Sie veröffentlichen jährlich an die 100 neue Platten. Dazu kommen einige dutzend Firmen, die sich um die Produktion und den Vertrieb des Rechtsrock kümmern. Perle: »Tick« von Surrogat Der deutschsprachige Noise-Pop der Berliner Band Surrogat war derart stilprägend, dass zwar außer einem enthusiastischen Kreis von Fans kaum jemand die Band kennt, doch den Sound, den Surrogat in die deutsche Musiklandschaft holten, hört man heute bei vielen Bands. Als der Sänger Patrick Wagner, beeinflusst vom legendären US-Produzenten Steve Albini, Surrogat gründete und kein Label für das Debüt fand, gründete er gemeinsam mit dem Radio-DJ Raik Hölzel einfach ein eigenes. Es hieß kitty-yo und gehörte in den 90er Jahren zu den einflussreichsten Labels Deutschlands. Surrogats Single Tick von 1994 war die erste Veröffentlichung auf kitty-yo, es folgten Elektro-Pop und Post-Rock-Gruppen wie Jeans Team, To Rococo Rot und Tarwater, die an den Grenzen von Elektronik, Minimalismus und schrägem Pop einen Sound für das wiedervereinigte Berlin erfanden. Surrogat machten den Anfang. Guru: Helge Schneider Helge Schneider ist selbstverständlich hinlänglich bekannt. Er spielt für Millionen, vom Hochschulprofessor bis zum Schulkind hat sich die deutsche Nation auf das dadaistische Multitalent aus Mülheim an der Ruhr geeinigt. Der Erfolg des 1955 geborenen Helge Schneider hat in den 90er Jahren mit den Filmen begonnen. Zuvor sah man den Kauz durchaus auch mal auf der Straße spielen. Es war die Musik, speziell der Jazz seiner Helden von Thelonious Monk bis Dave Brubeck, mit der er berühmt werden wollte. Dann entdeckte er auch seine humoristische Seite. Neben dem Klavier beherrscht der Sänger und Songschreiber Schneider auch noch folgende Instrumente: Saxophon, Vibraphon, Akkordeon, Gitarre, Geige, Hawaiigitarre, Blockflöte, Schlagzeug, Trompete, Hammond-Orgel und Cello. 1990 erschien sein Album New York, I’m Coming, später gründete er neben seinen diversen Jazzensembles, in denen unter anderem der legendäre englische Schlagzeuger Pete York spielt, auch die Hardrocktruppe Helge and the Firefuckers, mit der er 1999 das gleichnamige Album veröffentlichte. Jacek Slaski ist Redakteur beim Stadtmagazin ›tip Berlin‹. UTE BÜSING AMANDA KARTOFFEL: RÜCKBLICK AUF DIE 90ER JAHRE Im Januar 1990 sendete zitty-Radio Berlin Glossen der Kulturjournalistin Ute Büsing. Wir drucken hier achtzehn Jahre nach der Sendung erstmals ihre zum Entstehungszeitpunkt weitsichtige Glosse »Amanda Kartoffel: Rückblick auf die 90er Jahre«. Hallo. Ich bin die Amanda Kartoffel. Altes Adelsgeschlecht: in gerader Linie zurück bis zu unserem Entdecker, dem Preußenkönig. Als Erdfrucht mit ehrbarem Stammbaum gehöre ich zu den ganz wenigen, die noch im Jahr 2000 unverbrüchlich dazugehören. Unkraut vergeht eben nicht. So schnell kriegt uns keiner klein. Unsereins hat seine Augen überall. War doch klar, dass meinesgleichen die Null-Diäten der »Me«Generation überleben würde. Der Mensch lebt nicht von Tofu, Vierkornknäcke oder auf frischem Lauch gebetteter Wachtel allein. Zum aufgewärmten Kohl, von dem plötzlich alle nicht genug kriegen konnten, gehörten Kartoffeln. Kartoffelpuffer, Kartoffelklöße, Bratkartoffeln, Kartoffelsuppe – mit uns im Magen wurde schließlich so mancher Krieg überlebt. Selbst in unseren Schalen steckt noch Nährwert. Wir passen uns auch gerne wechselnden Gepflogenheiten und Moden an. Lassen uns als »Amanda Salat« servieren oder als Party Snack schwarzrot-golden anmalen. Von Natur aus sind wir eher braun. Die Schollen-Verbundenen neuen deutschen Menschen, die seit der Zwangsvereinigung von BRD und DDR anno 1991 brüderlich und schwesterlich zusammen fanden, wussten uns jedenfalls zu schätzen. Wir kochten auf kleiner Flamme weiter und taten als so genannte »Pommes« große Dienste bei der Osterweiterung der Fast Food Filialen. Allerdings wurde auch keine Kreuzberger Koordinationsdelegation zur Projektbesprechung am Prenzlauer Berg je ohne kollektives Kartoffelsalatspeisen empfangen. Seit der Einführung der so genannten »Bananensteuer«, 1993, die den übermäßigen Verzehr von Südfrüchten reglementiert, sind wir noch schwerer im Kommen. Die Kampagne »Fresh Food for Fresh People« haben wir den aussterbenden Ökoläden wie »Sun Reis« gern überlassen. Reis? Wer isst schon so was, wo doch noch jenseits der Westgrenze Kartoffeln wachsen. 1995, als das Hahn-Meitner-Institut sich in einer Pilzwolke auflöste, waren wir kurzfristig in der Gefahr vom Markt genommen zu werden. Doch dann hat uns ein von Gorbi geschickter Entsorgungstrupp zum unbedenklichen Verzehr freigegeben. Etwas peinlich war uns die Observation durch die überlebenden Tschernobyl-Spezialisten schon, denn wir sind durch die Bestrahlung noch ein bisschen brauner geworden. 1996 haben wir uns ratlos von unten angeguckt. Da hatte die unermüdliche Kampagne des Sozialdemokratischen Reiches Deutscher Nation »Gib ATZE keine Chance!« voll gegriffen. Die Filialen des Megakonzerns »Condomi« verzeichneten vom Mars bis an die Memel durchschlagenden Erfolg. Die Geilheit nach schwarz-rotgoldenen Präsern hatte so sehr gegriffen, dass die Geburtenrate auf nahe Null absackte. Der Bundesverband der Großdeutschen Rüstungsindustrie wurde wild vor lauter prognostizierten Facharbeitermangel. Bundeskanzler Lafontaine traf sich im Krisenzentrum Wandlitzer Kreisel zu einer eilig anberaumten Sondersitzung mit dem greisen Weisen und Ersten Ehrenvorsitzenden der Weltweiten New-Age-Bewegung, Woytila. Es gab, unverzeihlich, keine Kartoffeln. Bei Krimsekt, Marke Gorbatschow, und Kaviar aus der Spezialstörzüchtung des Fischhändlers Noriega im Panamakanal, einigte man sich auf ein Rettungskonzept für das vom Aussterben bedrohte sozialdemokratische Sozialwesen: 1. Die unfruchtbare Kampagne »Gib ATZE keine Chance!« wird unverzüglich durch »Neue ATZES braucht das Land!« ersetzt. 2. Der Megakonzern »Condomi« wird ohne Duldung von Nachfolgebetrieben verboten. 3. In den durch das Abschmelzen der Pole entstandenen Sümpfen bei Spree und Ruhr werden unverzüglich Fabriken zur Spermien-Zucht angelegt. 4. Das urdeutsche Nahrungsmittel Kartoffel wird zur Triebsteigerung Grundlage aller Schulspeisepläne. 1998 wurde der so genannte »Lafontaine-Woytila-Pakt« Gesetz. Die Proteste der »Liga zur Gleichstellung der Männer« verhallten nach der Selbstauflösung der Grünen ohne Gehör. Auch Generalbundesanwalt Schily vermochte seinen Einspruch nicht mehr zu artikulieren. Von jahrzehntelanger kartoffelarmer Ernährung in Szenelokalen geschwächt, versank er in der zwecks Besserung bestellten Riesen-Portion Kartoffemus. Ich, Amanda Kartoffel, kann das bezeugen. Meine Augen waren dabei. Ute Büsing lebt als freie Autorin, vorwiegend für das rbb-inforadio, in Berlin. CHRISTINA ZOPPEL DER MIKROWELLENSURFER In der Mikrowelle mit Tomaten Splatterwave zu spielen oder Mutters Goldrandgeschirr zum Funkensprühen zu bringen, hat ihn nicht interessiert. Er spielte lieber PING am Commodore 64. Die Mikrowelle überließ er seiner Mutter. Nun steht das aussortierte Ding, sorgfältig in Luftblasenfolie verpackt in der eigenen Bude, etwas verloren wie er selbst. Zum Aufwärmen gibt es nichts. Niemand kocht, keine Zeit. Er muss lernen. Das erklärt er der Mutter, wenn sie sonntags anruft. Dabei hat er lauter neue Spielzeuge: Die Welt hat sich an seinen Computer angedockt, und er surft. Das erklärt er Mutter nicht, es wäre zu kompliziert. Sie hatte schon Schwierigkeiten mit BTX. Von Myst schweigt man ohnehin besser, ebenso von Magenkrämpfen und Schwindelgefühl. Der Hunger treibt ihn hinaus in die Stadt. Bislang kannte er im Supermarkt nur die Regale für Softdrinks und Knabberzeug. Jetzt entdeckt er bei Penny und Spar die endlosen Weidegründe der Fertignahrung. Die dargebotene Fülle in Dosen, Tüten, fix und fertig eingeschweißt in Kunststoff, schockgefrostet oder vierzig Jahre haltbar gemacht durch Dehydration ist beeindruckend. Italienisches, chinesisches, thailändisches, deutsches, französisches oder schweizerisches Essen, das er großteils nur vom Hörensagen kennt. Lediglich mit Tiefkühlpizza und Dosenravioli hat er schon Kontakt gehabt. Verstohlen beobachtet er die zielstrebigen Einkäufer um sich und stapelt rasch die selben Kartonpackungen in seine Armbeuge. Er hat sich keine Blöße als Instant-Neuling gegeben. Zu Hause packt er die Mikrowelle aus und stellt sie auf den unnützen Küchentisch. Ein entspanntes Verhältnis mit ihr aufzubauen, ist schwieriger als gedacht. Auch wenn er gleich beim ersten Versuch festgestellt hat, dass man den Aludeckel vom Singlemenü abziehen muss. Er weiß, dass elektromagnetische Wellen die Wassermoleküle in schnelle Bewegung versetzen und so erwärmen. Aber er weiß nicht, wieso er sich an einem Löffel serbischen Bohneneintopfs aus der Ecke der Plastikschale böse die Zunge verbrennt und das Zeug in der Mitte der Schale noch fast kalt ist. Er stellt fest, dass Würstchen sofort platzen und verbrüht sich mehrfach die Hand und einmal die Nase, als Wasserdampfblasen aus dem Gericht explodieren. Die Mikrowelle und er haben sich arrangiert. Während sein Essen rotiert, geht er noch auf ein kurzes Spiel oder eine Nachricht an den Computer. Erst ein paar Minuten nach dem »Ping!« des Geräts holt er sich sein lauwarmes Schälchen. Die erste Frage der Mutter, ob er auch richtig esse, kann er nun mit gutem Gewissen beantworten. Es gibt Chili con Carne, Königsberger Klopse mit Kapernsauce, Paprikagulasch mit Eiernocken, Zürcher Geschnetzeltes mit Reis, Kasseler mit Rahmgemüse, Bockwurst mit Sauerkraut oder Burgunderbraten mit Spätzle. Inzwischen weiß er auch, warum die versierten Fertiggericht-Konsumenten so schnell beim Einkaufen sind. Sollte es ihn interessieren, was er eben gegessen hat, liest er das auf der Verpackung nach. Letztendlich lernt man, die Gerichte an der Farbe zu unterscheiden. Die zweite Frage der Mutter, ob er denn auch mal an die Luft gehe, kann er zumindest bejahen. Der nächste Supermarkt ist zwei Straßen weiter, dorthin geht er montags und donnerstags. An den anderen Tagen ist mehr als genug Bewegung in seiner Kleinstwohnung. In der Mikrowelle schwingen die Wasser- und Fettmoleküle und er kommt bei Tomb Raider regelmäßig ins Schwitzen. Die dritte Frage hat sie sich diesmal verkniffen. Es ist die nach den Mädchen und sie hängt eng mit der zweiten Frage zusammen. Zwar seltener als der Mutter, aber doch hin und wieder, kommt ihm der Gedanke nie eine kennen zu lernen, wenn er nicht öfter unter Leute geht. Deshalb ist er jetzt nervös. Lisa aus dem Seminar hat sich bei ihm zum Abendessen eingeladen. Er hat zwei Burgunderbraten gekauft und ein paar Bier. Als sie endlich kommt, besteht sie darauf sich die Spätzle in einer Pfanne zu braten, weil Mikrowellen schädlich seien. Den Braten überlässt sie ihm, weil sie Vegetarierin ist und Bier mag sie nicht. Sie erzählt von ihrer Yogalehrerin und wie teuer Flüge nach Indien sind. Sie wärmt sich noch das Rahmgemüse vom Kasselergericht und isst drei Gabeln davon, bevor sie geht. Sie muss zu einer Party. Sie fragt nicht, ob er mitkommt. Er hätte wohl ohnehin abgelehnt, er will in Ruhe ein Bier trinken, mit Tetris. Christina Zoppel, Autorin, geboren 1971 in Bregenz, Österreich, lebt in Berlin. ANDREAS SEYFFERT »LECK MICH AM ARSCH, MARIE!« EINE MARKTGESCHICHTE Wir waren berauscht. Niemals zuvor hatten wir so viel Geld in so kurzer Zeit mit so wenig Aufwand verdient. Wir fuhren wie die Henker auf der Transitstrecke Richtung Heimat, Richtung Westen. Nirgendwo irgendwer, der einem blöd von der Seite kommen konnte oder wollte – Radarkontrollen, lächerlich. Es herrschte ein nie zuvor und nie mehr danach empfundener Zustand von Anarchie. Zumindest auf den Autobahnen der DDR. Drei Wochen lang, von Mitte Juli bis Anfang August 1990, eroberten wir wie auf Droge die DDR-Wochenmärkte, genauer gesagt, die Märkte entlang der Ostseeküste. Wismar, Rostock, Stralsund, Greifswald, Wolgast oder Sassnitz auf Rügen hießen unsere Stationen. Wir schliefen in ehemaligen Nazibunkern, DDR-Pionierheimen, zerfallenen Gründerzeitvillen oder einfach im Auto. Als wir uns eine Woche nach der Währungsunion in den Großen Ferien nach dem zwölften Schuljahr aufmachten, hatten wir keinen blassen Schimmer von dem Land, das einige in Anführungszeichen schrieben. Natürlich saßen wir keine sieben Monate zuvor staunend im fernen, behüteten Hamburg mit den Eltern vor den Fernsehgeräten und staunten Bauklötze, was da »drüben« passierte. Aber wie das Land, so war auch dieses Ereignis für uns nicht fassbar. Keiner von uns hatte DDR-Verwandte, geschweige denn ein DDR-Verhältnis, eine DDRGeschichte. Meine Oma in West-Berlin, die diesen Deutschen Wahnsinn von 1989 nicht mehr erlebte, hasste alles, was politischer Ostimport war, war sie doch selbst eine Vertriebene, eine Heimatlose, die in der Frontstadt noch gut und gerne 1.000 Jahre mit der Mauer hätte leben können. Und so standen wir oft mit meinem Papa in diesem miefigen, viel zu engen Museum am Checkpoint Charlie, gafften von einer wackligen Aussichtsplattform auf den Todesstreifen und waren froh auf der anderen Seite zu stehen. Aber in dem besagten Sommer 1990, als die zerbröselte Mauer ein lächerliches Requisit für Andenkenshops wurde, nagte an uns dann doch die Neugierde die »andere Seite« kennen zu lernen, eine Neugierde wie sie wohl nur Teenager oder Bauspekulanten haben. Außerdem wollten wir unser Taschengeld aufbessern. Wismar. Gleich der erste Wochenmarkt war ein Volltreffer. Wir verkauften Musikkassetten. Aus einem ziemlich alten Kassettenspieler dröhnte unsere Ware – eigentlich nur ein einziges Lied, das wie zur Strafe an das »Eldorado« der ersten Wendemonate nie mehr aus meinen Ohren wich: »Leck mich am Arsch, Marie!« Diese eine Zeile war wie das Mantra der »tollen Tage«, die in meiner Zeitrechnung mit dem Fall der Mauer begannen, im Gewinn der Fußballweltmeisterschaft am 8. Juli in Rom ihren kollektiven Superhype fanden und im Staatsvertrag am 3. Oktober 1990 ihren rustikalen Endpunkt erlebten. »Mein Geld bekommst Du nie«, lautet die zweite feinsinnige Zeile dieses frivolen Schlagers, die eigentlich hätte schon andeuten müssen, was die Währungsreform in vielen Haushalten wirklich auslösen sollte. Mit: »Alles Scheiße, deine Ellie« endete unser Verkaufsschlager, um sogleich wieder auf Stopp gedrückt, zurückgespult und abermals abgespielt zu werden – ein Dauer-ScheißeLoop. Das braun gehaltene Cover zierte eine blonde Schönheit, die dem Betrachter ihren Po so zuschiebt, als ob sie ihn mit der Verführung zugleich warnen wollte: »Ich komme aus einer anderen Zeit – den 70er Jahren – und einem fernen Land – der BRD. Lass Dich ruhig mit mir ein, aber nichts ist umsonst!« Die Menschen auf dem Marktplatz in Wismar waren aus dem Häuschen, lachten sich halb zu Tode, sangen das Lied nach und kauften unsere Kassetten wie Besessene. Wir waren alles andere als Kenner oder gar Liebhaber dieser Musik, aber das mussten wir gar nicht sein. Nicht wir machten die Geschäfte, sondern die Geschäfte machten uns. Welche Anmaßung, Infantilität, Spießbürgerlichkeit in dieser einen Zeile steckte, aber nicht zuletzt auch Anarchie und Schadenfreude über den Zusammenbruch eines Systems, das wir nicht kannten, gepaart mit einer unbestimmten Sehnsucht des Neuanfangs, dämmerte uns erst jetzt. Und mit Sicherheit spielte das frische Westgeld in den Händen der Menschen eine gewaltige Rolle. Noch waren die Bauspekulanten und Vermögensberater nicht flächendeckend in das »Neue Land« eingedrungen. Noch waren es die kleinen Händler wie wir, die die Vorhut der Warenwelt bildeten und auf dem überfüllten Marktplatz um den Verkauf von Produkten wie Bananen, Autoreiniger, Nagellackentferner, Dessous oder aber Musik konkurrierten. Und unsere Musik ging am besten. Wir waren fiebrig von dem Glück, das auf den Gesichtern unserer Käufer lag, von dem Geruch des frisch gedruckten Geldes und von uns selbst, die noch vor kurzem nicht wussten, wo Wismar liegt. Als die Sonne wie in »High Noon« stechend über uns stand, packten wir unseren Tapeziertisch ein. Wir waren ausverkauft. An einem Vormittag! So rasten wir zurück nach Hamburg und expandierten. Wir mieteten uns einen Transporter, luden ihn voll mit unseren Kassetten und legten eine Wochenmarktroute fest, die angelehnt an das »Wismarer Wirtschaftswunder« der ultimative Schlachtplan für weitere Geschäfte sein sollte. Dabei verließen wir nie das spätere Mecklenburg-Vorpommern. Warum, weiß ich heute nicht mehr so recht. Vermutlich hat es etwas mit dem Wasser zu tun, das Hamburger nie ganz aus den Augen verlieren wollen. Die Gier nach Geld erlosch allerdings schon bald. Wir verdienten es einfach zu leicht; und so interessierten wir uns von Mal zu Mal, von Markt zu Markt mehr für Land und Leute. Es war ein gastfreundliches Land, und das kindliche Staunen auf den Gesichtern seiner Einwohner schien uns sagen zu wollen: Alles ist neu, ich darf es erleben und gestalten. Und vor nahezu jedem Eigenheim war ein handgeschriebenes Schild: Zimmer frei. Wir selbst noch bis zum Anschlag grün hinter den Ohren, wurden wie »echte« Erwachsene in den intimen Orten privater Wohnstuben und Schlafzimmer, manchmal auch Garagen empfangen. Wir fühlten uns nicht als Fremde, sondern als Handlungsreisende: überall und nirgends zu Hause. Wo wir einkehrten oder übernachteten bezahlten wir nie mit Geld, sondern stets mit unseren Kassetten. Naturalienhandel pur! Als ob es sich wie ein Lauffeuer herumgesprochen hatte, das in unserem Laster die frivolen Kassetten lagerten, wollten alle nur dieses eine Lied, »Ihr wisst schon, das mit der blonden Frau auf dem Cover.« Nach drei Wochen hatten wir soviel Geld verdient, dass wir monatelang um die Welt hätten jetten können. Ich aber entschied mich für eine andere Weltreise und begann Philosophie zu studieren. Und aus dem Händler wurde ein Grübler. Noch einmal nach den »tollen Tagen« machte ich im April 1992 abermals eine Tour über die Wochenmärkte des nun offiziell als Mecklenburg-Vorpommern titulierten Bundeslands. Doch nichts war mehr so wie damals. Die Euphorie wie weggeblasen, die Anarchie reguliert: Tempolimitschilder auf der Autobahn, nur halb zu Ende restaurierte Eigenheime am Straßenrand, wie Pilze aus dem Boden geschossene Discounterketten und deutlich weniger Kauffieber in den Augen der Wochenmarktmenschen. Sie waren zu vergleichenden Besuchern geworden, die schnell gelernt hatten, nicht alles für Gold zu halten. Vielleicht aber war es auch profaner: Unser sexy Covergirl war zwei unglaublich dicken Männern in hässlichen Trachtenkostümen gewichen. Und auf unserem moderneren CD-Spieler, der trotzdem nicht gegen die Wucht von »Aal-Willy’s« 1000-Watt-Stimme am Stand nebenan ankam, lief »Herzilein«. Und wie den SchmollMoll der kommenden Jahre vorwegnehmend weiter: »Du musst nicht traurig sein, schuld war doch nur der Wein.« Andreas Seyffert, geboren in Hamburg, Leiter der Abteilung Presse / Öffentlichkeitsarbeit / Marketing der Schaubühne am Lehniner Platz, Herausgeber der »Deutschlandsaga«-Fanzines, ein großer Fan von Paralleluniversen und Manager des 1. FC Energie Schaubühne. NINA ENDER DAS KIND UND DAS GELD Das Kind und das Geld. Die beiden gründen eine Bande. Das Kind schreibt ein Regelwerk. Erstens: Wir sind eine Bande. Zweitens: Keiner ist der Bestimmer. Drittens: Wir brauchen einen Schatz. Ich will der Bandenchef sein, brüllte das Geld. Im Kopf des Kindes hat die Stimme der Mutter des Kindes ein Zimmer. Es ist eine kleine Kammer. Keine Fenster. Rotweißkarierte Tapete blauweißkarierte Tapete rotblaukarierte Tapete. Die vierte Wand ist ganz weiß an ihr prallt die Stimme ab ewiggleiches Gerede mit Dellen und Beulen im Kopf des Kindes: Du sollst nicht mit Geld spielen. Du musst dir das Geld einteilen. Du musst der Herr sein über dein Geld. Und das Kind dachte an einen schwarzen Zylinder und einen aufgemalten Schnurrbart. Es geht nicht, sagte das Kind zu dem Geld, du darfst nicht bestimmen. Ich muss dein Herr sein jetzt und immerdar. Da faucht das Geld die Raubkatze der bluthungrige Jäger ein Stinkmorchelkobold mit fauligem Gebiss. Über Geld redet man nicht über Geld redet man nicht über Geld redet man nicht. Die Stimme der Mutter des Kindes rennt rasend über die rotweißblauweißrotblaukarierten Wände der Kammer. Das Kind: Mein Taschengeld ist gekürzt worden. Das war eine Maßnahme die sein musste. Papa war Schreiner. Papa ist nicht mehr Schreiner. Papa bekam keine Abfindung. Mama musste sich damit abfinden. Ich muss mich damit abfinden und stecke mir Superman unter die Jacke und gehe mit Superman unter der Jacke aus dem Laden auf der Straße lass ich ihn laufen ich sage erhebe dich in die Lüfte flieg ins Krematorium und hole Papa da fort das ist ein Ort an dem die Gestorbenen verbrannt werden die nicht unter die Erde wollen und von Würmern gefressen es bleibt nichts übrig bis auf die Metallteile aus ihren Knien die muss Papa aus der Asche klauben. Das ist eine Maßnahme die sein muss. Sonst wird ihm das Geld gestrichen weil Papa ist arbeitslos und darf nicht faul auf der Haut rumliegen. Jetzt kann Papa nicht mehr schlafen und seine Stimme wird immer höher ein Piepsen Papa die Sirene Superman flieg hol ihn da fort. Die Stimme der Mutter des Kindes liegt erschöpft verbeult und zerdellt in einer Ecke der Kammer ohne Fenster ob ein Baum draußen blüht weiß man nicht. Die Stimme ist arg gealtert gebrochen das ewiggleiche Gerede: Geld stinkt, denk daran. Geld stinkt Geld stinkt Geld stinkt. Das Kind: Es riecht nicht Superman weißt du alles ganz klinisch. Papa drückt einen Knopf und das Fließband fährt den geschlossenen Sarg in den vorgeheizten Ofen Papa muss warten während der Verbrennung es ist Mittag und er kann nicht essen jetzt ist Mittag Superman ich schenk dir die Freiheit und du rettest Papa bevor der Ofen piepst und ich klau die Zigaretten. Das Geld greift den Bandengedanken erneut auf. Immer zusammenhalten, fragt das Kind. Immer zusammenhalten, bekräftigt das Geld. Und das Kind kann beruhigt sein in seiner Hand eine warme Münze. Dem Geld wuchsen Augen, die ein Loch durch den Körper des Kindes durchstarren konnten, das es dann als leere Stelle spür- te. Dem Kind wuchsen tausend Arme die andauernd nach den leeren Stellen tasteten und sie doch nicht ertasten konnten. Das Kind: Papa will ein Gutachten erstellen lassen. Das Gutachten wird Geld kosten. Das Geld werden wir vorschießen müssen. Ich schieße mein Geldstück in den Nachthimmel und treffe ins Schwarze und Papa weint wieder. Aber wenn das Geld morgen früh mit den Sonnenstrahlen aus dem Himmel zurückfällt wird es so viel sein dass ich davon ein Schloss kaufen kann mit hundert Zimmern und für jedes Zimmer schreinert Papa ein Bett und dann kann er schlafen in einem Bett nach dem andern hundert Nächte lang und dann wieder von vorn. Die Stimme der Mutter des Kindes in der karierten Kammer im Kopf des Kindes wie in einem Kerker an dessen Wänden sie sich wund reibt und von den Wänden der heisere Widerhall: Wenn dus zu was bringen willst in deim Leben dann musst dus zu Geld bringen. Dann musst du’s zu Geld bringen. Dann musst dus zu Geld bringen wenn dus zu was bringen willst in deim Leben. Du musst mit deim Geld umgehen mit Geld muss man umgehen können. Dem Kind war der Umgang mit dem Geld durchaus gestattet. Und so traf sich das Kind am Nachmittag nach dem Sportunterricht in den Hecken hinter dem Weitsprungbecken mit dem Geld und sie sprachen über Sachen, über Sex. Keine Geheimnisse! Dem Kind klafft der Mund offen ein Schober in den man alles einfahrn kann hell ausgestrahlt gierig in Erwartung auf die Erträge der Ernte. Das Geld lässt nicht locker, ich will der Bandenchef sein. Das Kind, den Tränen nahe: Es gibt keinen Bestimmer in unserer Bande. Wir beschützen einander. Aber einer muss bestimmen, sagt das Geld, sonst geht es drunter und drüber. Der Atem gefriert. Im Kopf des Kindes in ihrer Kammer wütet die Stimme der Mutter. Dann muss ich bestimmen, sagt das Kind, ich muss der Herr sein über das Geld. Das Geld die meuternde Masse die eisige bleischwere Rüstung mit Glasscherbenkrone kreischt auf und es ist Hohn. Das Kind: Papa hat in den letzten sechs Wochen zwei Stunden durchgeschlafen und die auf dem Sofa während im Fernsehen erst eine Talkshow lief in der über Piercings geredet wurde oder schlampiges Anziehen und dann eine Talkshow über Brustoperationen oder schlimme Haarschnitte so genau weiß ich das nicht mehr. In seinem Brief steht, ich möchte bitte als ganzer Mensch begraben werden. Und bitte keine Kränze kaufen sondern Spenden auf das Konto meiner Frau. Und Mama redet mit den Polizisten über Lieblingsplätze oder wo man Papa noch finden könnte bevor… Und ein Polizist lächelt Mama an und Mama lächelt zurück und lässt ihren Finger länger zwischen den Lippen liegen aber ohne Nägel zu kauen. Das Geld legt seine Klaue auf die Stirn des Kindes und fährt die Krallen aus. Dann soll der Stärkere Chef sein. Das Kind will zurückweichen kann nicht weil die Krallen in seiner Haut haften es schüttelt sich windet sich bohrt die Krallen mit Widerhaken dran dadurch nur tiefer in seine Stirn rein über die Augen des Kindes fließen kleine Blutbäche die Augen verkleben das Geld geifert gibt grunzende Laute von sich und blind geht das Kind dem Geld an die Gurgel. Die beiden fallen im Kampf und kämpfend ineinander verschlungen rollen sie über eine breite abschüssige Straße es zappelt es spritzt das Knäuel verliert Flüssigkeit lässt eine sabbrige Spur hinter sich aus Blut Eiter Speichel Schweiß Pisse die morgen ein orangener, stinkender Fluss sein wird an dessen Ufer Ausflügler verweilen. Nina Ender, geboren 1980 in Erlangen, Publikumspreis beim DRAMA KÖLN 2005 für das Kurzdrama »Der Katze den Kuchen reichen«, UA 2006, Einladungen zum FORUM JUNGER AUTOREN EUROPAS der Theaterbiennale Wiesbaden 2006 und den Werkstatttagen am Burgtheater Wien 2006, mit dem WS 2007/08 Abschluss des Studiengangs Szenisches Schreiben an der UdK Berlin, Uraufführung von »Beta« zur »Deutschlandsaga« 90er Jahre. ANDREAS KREMERS »CORPORATE WORLD« VON ERNST-WILHELM HÄNDLER Die neunziger Jahre waren für mich die Zeit, in der ich als Jobeinsteiger bei einem deutschen Konzern an ersten »Meetings« teilnahm. Schnell stellte ich fest, dass es dabei weniger um die Arbeit an Sachfragen als um politische Positionierungen ging. Als Medium der Wahl traf Powerpoint genau den Bedarf der Anwender. Mit seiner Hilfe konnten komplexe Zusammenhänge eingängig visualisiert werden. Bulletpoints und Pfeile simulierten argumentative Zusammenhänge zwischen angesagten Schlagworten und halfen, bloße Spiegelungen der aktuellen Meinungslage wie tiefe Analysen aussehen zu lassen. Das Corporate Design und die Dramaturgie der Animationen verliehen den Auftritten Glanz und Professionalität. Die erfolgreichsten Präsentationen funktionierten als kurze, emblematisch verdichtete Chartfolgen. Sie beruhten auf der Verschränkung unternehmenspolitischer Diskurse mit vertrauten betriebswirtschaftlichen Argumentationen. Fortschritt als allgemeine Bewegung in eine offene Zukunft war hier nicht gefragt. Stattdessen äußerste Betriebsamkeit bei der Einverleibung neuer Felder in das wirtschaftsliberale Gedankengebäude. Ich fand mich in einer prachtvoll von Beamern illuminierten Schneekugel wieder, in der Irritationen von außen nicht vorkamen. Drinnen war das leidenschaftliche Engagement aller Angestellten oberstes Gebot. Es wurde gerne in die eigene Karriere investiert und das zahlte sich aus. Meine Suche nach literarischen Auseinandersetzungen mit diesem aggressiv expandierenden Gesellschaftsmodell verlief weitgehend ergebnislos. Im kulturellen Umfeld wurde der Einbruch der Ökonomie in das Leben mehr oder weniger durchgängig als Okkupation des Richtigen durch das Falsche, als eine Art Invasion feindlicher Aliens interpretiert, die ausschließlich entfremdete Verlierer produzierte. Vor dem Hintergrund meiner Erfahrungen war diese Sicht der Dinge antiquiert, hoffnungslos unterkomplex und irreführend. Mehr Blick für die Realität enthielt Ernst-Wilhelm Händlers 1997 erschienener Roman Fall. Der Autor, selbst Geschäftsfüh- rer des familieneigenen Unternehmens, schildert darin die »Corporate world« der Vorstandsetagen und Beratungsfirmen als strukturelles Phänomen. Im Roman ist die »Corporate world« das Gravitationszentrum, dessen Gesetze sämtliche anderen im Text geschilderten Lebensbereiche ebenso subtil wie effizient durchdringen. Sie fasziniert, weil sie dem Einzelnen ein immerwährendes Karriereversprechen gibt, das es ihm vernünftig erscheinen lässt, sein Leben immer auf das nächste Karriereziel hin zu entwerfen. Denn »in Corporate world geht es nur bergauf«. Indem sie die Idee immerwährenden Fortschritts in die systemimmanent kontrollierten Erwerbsbiografien der Angestellten verlegt, etabliert sich »Corporate world« selbst als quasi naturgesetzliches Universum, ohne Überlebensalternativen außerhalb seiner selbst. Das erzählerische Rückgrat des Romans sind die Texte aus der Binnenperspektive des Geschäftslebens. Neben der Darstellung einer »Firm« genannten Beratungsgesellschaft ist dies vor allem die in Form von Aktenvermerken und Geschäftsbriefen dokumentierte Geschichte des Industriellensohns Georg Voigtländer. Voigtländer erbt die Hälfte eines Familienbetriebes, engagiert sich für die Unternehmensziele, betreibt im Streit mit den übrigen Anteilseignern die notwendige Umwandlung der Firma in eine GmbH, versucht Transparenz in die internen Abläufe zu bringen und wird zum Schluss durch eine Intrige aus der Geschäftsführung gedrängt. Demgegenüber hat sich die »Firm« trendgerecht mit Unternehmenswerten ausgestattet, die sie flexibel genug halten, um zum Marktführer aufzusteigen. In ihnen verpflichtet sich die »Firm«, sich den Zielen ihrer Kunden gegenüber gänzlich indifferent zu verhalten. Ihre Beratungsleistung beschränkt sich auf reines Prozessmanagement zur Erreichung der Kundenziele, worin immer sie bestehen mögen. Daneben bietet Händlers Roman eine Fülle weiterer Erzählund Reflexionsstränge: einen Schriftsteller, dessen Buchveröffentlichung am Konkurs des Verlages scheitert, Figuren, die aus Romanen Thomas Bernhardts Die Auslöschung und Gert Hofmanns Auf dem Turm übernommen und variiert werden, oder Rückgriffe auf Wittgensteins Sprachphilosophie und Paul Wührs Das falsche Buch. Händler wurde für diesen hohen Grad an Komplexität kritisiert, ebenso für den sprachphilosophischen Aufwand. In der Tat ist Fall kein Wohlfühlbuch für das literarische Fernsehfeuilleton. Keine Zeile überflüssig, der Ansatz ist folgerichtig und eine adäquate Auseinandersetzung mit unserer Zeit einfach nicht billiger zu haben. Der Text experimentiert mit der Frage, wie wir die Inszenierungen, in denen wir leben, begreifen und zu unserer Identität vordringen können. Literarisch bezieht sich Händler auf die großen Vorbilder des Diskursromans: Joyce, Döblin, Dos Passos. Formal bietet der Text eine Vielzahl unterschiedlichster Textsorten und gibt nur die notwendigsten narrativen Stützen. Wer an traditionellere Schreibweisen gewöhnt ist, kann sich mit Konrad Bayers Der Kopf des Vitus Bering für die Lektüre warmlaufen. Heiße Empfehlung. Andreas Kremers, geboren 1964, Betreiber der Buchhandlung Shakespeare and Company, Berlin. ASTRID HACKEL MAGDEBURGER BÜNDNISSE Anfang der 90er Jahre: Die DDR ist gerade zusammengebrochen, die Mauer ist offen, die Menschen finden sich nur mühsam in der neuen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zurecht. Gleichzeitig haben die nationale Begeisterung über die Vereinigung, Hass auf »rote Bonzen« und die von BILD und CDU geschürte Angst vor der »Asylantenschwemme« ein Klima entstehen lassen, in dem sich ein gewalttätiger Rechtsradikalismus Bahn brechen kann, wie er seit Kriegsende nicht mehr vorstellbar war. Rechte Schlägerbanden marodieren durch ostdeutsche Städte, greifen Asylbewerberheime und alternative Treffpunkte an, erschlagen Obdachlose, Schwarze und Punks. Innerhalb nur eines Jahrzehnts werden etwa einhundert Menschen von Neonazis umgebracht. Es gibt allerdings auch Widerstand, nur wird er zu dieser Zeit fast ausschließlich von kleinen linken Antifa-Initiativen getragen. Philipp Stein war in den 90er Jahren in der Magdeburger Antifa engagiert. Er ist heute 35 Jahre alt und arbeitet als Grafiker in Berlin. In Magdeburg wurden 1992 und 1997 Punks von rechtsradikalen Schlägern ermordet. 1995 hetzten am Himmelfahrtstag Hooligans Ausländer durch die Innenstadt. Wie war das Leben in einer Stadt, in der offenbar Nazi-Gewalt zum Alltag gehörte? Anfang der 90er Jahre empfand ich die Situation als besonders schlimm, unter anderem weil ich selbst mehrfach Opfer von Rechten wurde. So versuchte eine Gruppe von Nazi-Skins mich nachmittags im Stadtzentrum vor eine Straßenbahn zu werfen, was durch das Eingreifen eines betrunkenen Polen verhindert wurde. Der war so groß und so wütend, dass sich die Nazis nicht an ihn heran trauten und von mir abließen. Damals konnten diese Banden beinahe machen, was sie wollten: Niemand stellte sich ihnen entgegen. Die Polizei hielt sich in Magdeburg meist heraus und wurde dabei von dem aus Hamburg importierten Innenminister Perschau gedeckt. Der hatte sein Feindbild – die Hafenstraße – mitgebracht, sodass für ihn ein paar Hausbesetzer allemal problematischer waren als die ständigen Überfälle durch Nazis. Aber waren nicht die Polizeibeamten zu dieser Zeit auch sehr verunsichert, immerhin gehörten sie ja alle vorher zur DDRVolkspolizei? Schließlich war ihr politisches Koordinatensystem zusammengebrochen, ihr Ansehen in der Bevölkerung miserabel und ihre Ausstattung unzureichend. Das stimmt alles, trotzdem gibt es keine Entschuldigung dafür, dass Polizisten so oft bei Nazi-Attacken wegschauten und die anschließenden Ermittlungen in vielen Fällen im Sande verliefen. Viele werden sich noch an die Pogrome 1992 in Rostock erinnern. Ein rassistischer Mob konnte sich tagelang in einer Großstadt austoben, ohne dass die Polizei ihm Einhalt gebot. Wir leiteten daraus unsere Verpflichtung ab, Nazis auch militant entgegenzutreten. Uns ging es dabei nicht nur um uns selbst: 1992 und 1993 zum Beispiel bemühten wir uns um den Schutz von Flüchtlingsheimen, quasi mit dem Knüppel in der Hand. Statt schweigend zuzusehen, wollten wir eingreifen. Und angreifen. Also »Schlagt die Faschisten, wo ihr sie trefft«? Begibt man sich so nicht auf das Niveau seiner Gegner? Was ist mit Werten wie Toleranz und Gewaltfreiheit? Toleranz ist natürlich ein Wert, aber kein abstrakter. Eine Ideologie der Intoleranz und der Ungleichheit kann und darf nicht hingenommen werden. Das Problem besteht bei Nazis ja nicht darin, dass sie eine andere Meinung haben, sondern dass sie ihre Feinde im wörtlichen Sinn ausrotten wollen. Ihre Bezugnahme auf das »Dritte Reich«, ihr ungebrochener Antisemitismus, die zahlreichen Toten der letzten 18 Jahre beweisen, dass sie es ernst meinen. Auf »Gewaltfreiheit« lassen sich solche Leute nicht verpflichten, denn Gewalt ist Hauptbestandteil ihrer Identität. Die Antifa reflektiert und diskutiert dagegen seit 20 Jahren über ihre Militanz. Mit dem »Niveau seiner Gegner« hat diese Militanz wenig zu tun. Es ist schon ein riesiger Unterschied, ob man Nazis aus seinem Stadtteil verjagt, weil man Ausländer, Schwule und alternative Lebensformen schützen möchte, oder ob Schwarze abends in der Straßenbahn halbtot geprügelt werden. Die formale Gleichstellung von »linker und rechter Gewalt«, häufig ergänzt durch Worte wie Bandenkrieg, Revierstreitigkeiten und Jugendkriminalität, empfanden wir als Beleidigung. Noch dazu kam sie oft genug von Politikern, Journalisten und Amtspersonen, denen in der Regel kein Wort der Solidarität mit Opfern rassistischer Angriffe über die Lippen kam und die zum Teil bis heute die Augen vor der Gefahr von Rechts fest verschlossen halten. Fühltet ihr Euch von der Zivilgesellschaft im Stich gelassen? Abgesehen davon, dass sie ziemlich schwach entwickelt war, ging uns der Paternalismus ihrer Vertreter auf die Nerven. Die Zivilgesellschaft war in Magdeburg lange Zeit ein kleiner Kreis aus ehemaligen Bürgerbewegten, provinziellen Sozialdemokraten, ein paar Grünen, wenigen Kulturschaffenden und drei Pfarrern. Als selbsterklärte Erben der DDR-Opposition fühlten sie sich als Vertreter des Volkes und behandelten uns wie ungezogene Kinder. Das ärgerte uns sehr, denn wir mobilisierten zu großen Demonstrationen tausende Menschen aus der alternativen Subkultur, die entschlossen gegen Neonazis auftraten, während die sogenannte Zivilgesellschaft beispielsweise nach dem Mord an einem 17-jährigen Punker 1997 lediglich 150 Bürger auf die Beine brachte. Mit der PDS kamen wir besser zurecht, vielleicht weil uns die Genossen als Kampfreserve betrachteten. Als sie allerdings endlich eine PDS-Jugendgruppe mit karriereorientierten Schlaftabletten aufgebaut hatten, kühlte sich das Verhältnis ab. Ende der 90er Jahre wurde die Situation besser. Couragierte Gewerkschafter, einige PDSLandtagsabgeordnete, der Ausländerbeauftragte und andere Leute erkannten unsere Arbeit an und waren zu einer fairen Zusammenarbeit bereit. Aber auch wir hatten uns weiterentwikkelt. Wir wurden Bündnispartner, weil wir kontinuierlich arbeiteten, über die Neonazi-Szene besser Bescheid wussten als die Polizei und als politische Akteure in der Stadt nicht zu ignorieren waren. Noch einmal zu Eurer Antifa-Gruppe. Wie sah Euer Engagement aus? Mit den bescheidenen Mitteln, die uns zur Verfügung standen, versuchten wir Öffentlichkeit für das Problem Rechtsradikalismus zu schaffen. Und gleichzeitig kämpften wir auf der Straße gegen Nazis. Wir haben Demonstrationen organisiert, bei Infoständen in der Magdeburger Innenstadt Flugblätter verteilt, Veranstaltungen durchgeführt und die Strukturen der Nazi-Szene recherchiert und so weiter. Wir unterhielten Kontakte zu anderen Antifa-Gruppen in Berlin, Halle, Braunschweig, arbeiteten im Magdeburger »Bündnis gegen Rechts« und unterstützten, so gut es ging, AntifaschistInnen im Umland. Diese Arbeit war allerdings nur möglich, weil wir uns einen Freiraum erkämpft hatten, denn Anfang der 90er »befreiten« wir unseren Stadtteil von Neonazis. Das mag heute seltsam, albern oder anmaßend klingen, aber die Schaffung eines Areals, in dem man ohne Angst vor rechten Übergriffen leben konnte, wäre für viele Brandenburger Kleinstädte heute ein traumhaftes Ziel. Unsere »Befreiung« bestand darin, dass wir den Rechten zeigten, dass wir uns wehren können. Wir nahmen ihnen und ihrem gewaltbereiten Anhang das Gefühl, die Herren der Straße zu sein und sich alles erlauben zu können. Mit Notrufketten alarmierten wir uns gegenseitig bei Übergriffen und gelegentlich übergaben wir rechte Schläger auch der Polizei. Abends gingen wir manchmal sogar auf »Streife«, verwarnten rechte Mitläufer und griffen SkinheadCliquen an. Das klingt auch nach einem gewissen Abenteuer-Faktor. Bestimmt war dieser Aspekt eine wesentliche Triebfeder und für viele junge Leute, die sich nur zwei, drei Jahre engagierten, war er das erst recht. Doch wird deshalb unser Bemühen schlechter? Aus heutiger Sicht würde ich zwar auch sagen, dass wir viele Fehler gemacht haben, weil wir uns stark an der Subkultur der westdeutschen Autonomen-Szene orientierten. Doch wo waren die Alternativen? Die parteinahen Jugendverbände mit ihrer bürokratischen Strukturierung fand ich todlangweilig und mit Punk konnte ich nichts anfangen. Die Autonomen strahlten Entschlossenheit und Konsequenz aus und sie hatten Antworten auf meine Fragen. Klar, ich registrierte bald, dass es auch hier Borniertheit und Dogmatismus gab, doch trotzdem möchte ich die vielen Diskussionen und vor allem die Erfahrungen, die ich in dieser Zeit gesammelt habe, nicht missen. Text und Interview: Astrid Hackel, geboren 1980, leitet das Ressort für Literatur und Theater der Zeitschrift »goon«. ANNE RABE WIR 1997 – SKIZZE EINER HELDENZEIT. Als Jan Ullrich 1997 als erster Deutscher die Tour de France gewann, hatte der von der Wiedervereinigung überrumpelte Volkskörper seine Erfüllung gefunden. Ein rotschopfiger Aufsteiger aus der Lichtenhagener Platte, getrimmt durch den Staatssportapparat der DDR und diesem gerade noch rechtzeitig entkommen, um ein gesamtdeutscher Held zu werden, hatte das Potenzial, all unsere Sehnsüchte in einer Sportart zu bündeln, in der man keine Fahne zu schwenken braucht. Die trillerpfeifende Jugend versammelte sich nicht mehr zur Loveparade, sondern feuerte ihren Jan an. Die Mütter schickten ihre Jüngsten in den örtlichen Radclub und es war endlich wieder »deutsch ein Stolzer« zu sein – ganz ohne Problemdiskurs folgender »Sommermärchen«. Jan Ullrich war nicht irgendwer, irgendeiner, der von irgendwoher das Trikot hatte, das wir im örtlichen Fanshop kaufen konnten. Jan Ullrich war unser großer Bruder, unser Enkel, unser Schwiegersohn. Wir waren Jan Ullrich, hätten Jan Ullrich sein können, denn wir hätten genauso schön auf dem Siegerpodest gelächelt wie er. Wie damals, als wir das erste Mal bei sternTV auftraten und unsere traurige Lebensgeschichte erzählten, wie uns die Oderflut die Häuser zerstört hat, wie unser Sohn zu den Nazis übergelaufen ist oder wie man die örtliche Salzstangenfabrik, in der wir seit Jahrzehnten ungelernt arbeiteten, einfach dicht gemacht hat. Die Ausgelassenheit überkam uns nach den »Mühen der Ebene« am 28. Juli 1997 auf der Champs-Elysées. Da war es. Wir haben es geschafft. Wir haben es geschafft. Wir sind ganz oben gelandet. Wir haben trainiert über Jahre, sind in die Auswahl gerutscht. Nicht zufällig. Wir haben morgens ein bisschen Tee und eine große Portion Nudeln gegessen. Damit sie uns nicht zum Halse heraushängt, haben wir uns sofort auf das Rad gesetzt und sind die Berge der mecklenburgischen Endmoränen abgefahren. Stunden um Stunden. Tausende Kilometer waren wir dem Wind und uns selbst ausgeliefert. Einem Selbst, das den Erfolg nur vor sich selbst kennt, das seine Waffen nur in sich selbst findet, nur sich selbst zu überlisten braucht. Wer nicht positiv getestet wird, ist nicht positiv, ist nicht gedopt, tut nichts Verbotenes. Danach werden wir auch nicht gefragt. Wir loten die Grenzen unseres Körpers aus. Wenn unser Körper nicht mehr kann, helfen wir ihm. Wir helfen ihm wieder zu genesen, schnell zu genesen. Wir müssen trainieren! Ein unsägliches Wort. Wie ein zu lang gekautes Kaugummi zieht es am Kiefer. Aus unseren wortkargen Mündern kommt keines zu viel. Wir müssen nicht reden, wir müssen Rad fahren. Wir sind die Helden unserer Zeit. Blindes Vertrauen in den Trainer, blindes in unseren Leibarzt. Wir haben einen Leibarzt! Das hat es früher nicht gegeben. Mit zehn Jahren fuhren wir ohne Gangschaltung auf der größten deutschen – jetzt gesamtdeutschen – Insel herum, schoben auf den letzten Metern zum Ziel die viel zu großen Reifen im klapprigen Stahlgestell. Weit weg von zu Hause treten wir unser Heimweh in die Pedale und denken dabei an Mutti, die mit ihrem Klapprad über die Landstraße holpert. Einmal, wenn die Mauer gefallen sein wird, wenn wir unsere Freiheit erst erlangt haben werden, ja, dann wird sie ein eigenes Haus bekommen. Wir werden es ihr kaufen. Wir werden es ihr kaufen. Jetzt können wir es ihr kaufen. Ohne Kredit, im Gegensatz zu den Eltern unserer Klassenkameraden, die sich schinden müssen ohne Job. Unsere Mutti braucht sich nur im Garten zu schinden. In einem großen Garten, vielleicht so groß, dass sie einen Gärtner anstellen kann, denn mit den Füßen vom Boden heben wir nicht ab. »Natürlich, Mutti, bekommst du einen Gärtner.« Das ist gar kein Problem. Es gibt überhaupt keine Probleme, wenn wir den Kindern unsere Namen auf ihre Trikots malen. Allez! Allez! Henry Maske, der Gentleman aus Frankfurt Oder, hat seinen letzten Kampf verloren. Wir aber haben bereits von Anfang an gewonnen. Wir geben uns diese Blöße nicht. Wir überholen einen Richard Virenque im Zeitfahren und schenken ihm ein Lächeln, wenn er nach Atem japst. Wir haben es von ganz unten nach ganz oben geschafft, sind angekommen in einem Land, an einem Fleck, den die Bewohner des Landes selbst noch nicht kennen. Wo wir jetzt sind, da wird die Luft knapp. Unser Vater war Alkoholiker, unsere Mutter hat uns ganz allein durch die Platte gebracht, die nur dadurch berühmt wurde, dass sie eines Tages zum Kurzurlaubsziel andersdeutscher Neonazis wurde, die Vietnamesen die Köpfe einschlugen. Wir sind der einzige Lichtblick von hier. Mit uns identifiziert sich die ganze Nation. Wer an uns denkt, denkt nicht an Ost oder West. Wir sind der erste deutsche Tour-de-France-Sieger. Als Kinder haben wir von der »Friedensfahrt« geträumt. Jetzt wissen wir, wie lächerlich das war. Jetzt, da wir wissen, wo wir international stehen, wissen wir, wie selbstbewusst wir sein dürfen, sein müssen. Das ist keine Arroganz. Ein Held muss tun, was er tun muss und noch redet niemand darüber. Altmeister Rudi Altig leiht uns seine Moderatorenstimme. Er ist es, der die Fernsehnation den Berg hoch peitscht. Er weiß, was das heißt und er hat Verständnis. Er weiß, von nix kommt nix, dass sich bestimmte Dinge in den Ohren der Zuschauer ganz anders anhören, als sie in unserer Wirklichkeit aussehen. Deshalb verklärt er nicht die Realität. Aber nicht jeder muss alles wissen. Wenn jemand keine Ahnung von etwas hat, kann er sich kein Bild machen nach ein, zwei Fakten. Wir haben die Tour de France gewonnen. Das kann uns keiner mehr nehmen. Wir haben niemals irgendwen betrogen. Uns wird man betrügen, wenn man uns die Nostalgie auf der Mattscheibe um die Ohren haut, ohne dass wir dazu Ja und Amen sagen dürfen, weil wir dabei waren. Wir sollen dann erstaunt tun, über die alten und neuen Verhältnisse und wieder weinen und hoffen, dass man uns noch einmal zu sternTV einlädt und uns verzeiht. Es kommt auf das Timing an, aber das ist schon in einem ganz anderen Jahrtausend, von dem man sich einmal gewünscht haben wird, dass an seiner Schwelle durch den winzigen Fehler eines unbedeutenden Programmierers alle Lichter auf der Welt erloschen worden wären. Anne Rabe, 1986 in Wismar geboren, Studium der Theaterwissenschaft und Germanistik an der FU, seit 2006 Szenisches Schreiben an der UdK, Autorin der Uraufführungswerkstatt »Deutschlandsaga«, veröffentlicht seit 2006 in verschiedenen Zeitschriften. Im März dieses Jahres kommt ihr Stück »Achtzehn Einhundertneun – Lichtenhagen« am Maxim-Gorki-Theater Berlin als Werkstattinszenierung heraus. RONALD KADUK VOKUHILA IN ROM – DER DEUTSCHE FUSSBALL Da standen sie und jubelten. Zweiundzwanzig Fußballer und vier Trainer. Eigentlich ein perfektes Bild: eine laue Sommernacht in Rom. Ein tobendes Stadion. Lothar Matthäus mit dem Weltpokal in der Hand. Pierre Littbarski reckt die Faust in den Himmel. Überall Freude. Deutschland wurde gerade zum dritten Mal Weltmeister. Und zwar hoch verdient und begleitet von den Sympathien der Welt. Nur acht Monate nach der Maueröffnung und drei Monate vor der offiziellen Wiedervereinigung schien es Fortuna mit den Deutschen besonders gut zu meinen. Umso bedauerlicher, dass diese auf unzähligen Fotografien und Videobändern festgehaltene Zeit zu den ästhetisch armseligsten in der Geschichte des Landes gehört. Konnte man im November 1989 über die Anoraks und Vokuhila-Frisuren der sich vor den Kameras der Welt in den Armen liegenden Ost- deutschen noch mit Freudentränen in den Augen hinwegsehen, reichte nun selbst eine esslöffelgroße Portion Glückshormone nicht mehr aus, die ästhetischen Sünden dieser Jahre zu ignorieren. Knapp die Hälfte der auf dem römischen Rasen versammelten Nationalspieler jubelte jedenfalls mit einer mehr oder weniger kühnen Spielart jener vorne kurz und hinten lang gehaltenen Frisur. Sieben davon strahlten die Weltöffentlichkeit zudem als Oberlippenbartträger an. Der 8. Juli 1990 mochte für die Fußballnation ein Höhepunkt gewesen sein, in Fragen des guten Geschmacks war es ein Tiefpunkt. Das Schlimmste waren die Trikots. Jenes gezackte, die Brust unruhig umschwirrende, schwarz-rot-goldene Band zeigte deutlicher als alles andere die damalige provinzielle Rückständigkeit des Designs »Made in Gemany«. Nach einer weiteren Geschmacksverirrung bei der WM 1994 in den USA ging es in der zweiten Hälfte der Dekade zumindest ästhetisch wieder aufwärts. Nun schien es sich auch bis ins fränkische Herzogenaurach herumgesprochen zu haben, dass weniger manchmal mehr ist. Jenseits der Wahl des richtigen Trikots stand der deutsche Fußball in den neunziger Jahren noch vor weiteren Herausforderungen. Galt es doch, ein aufgelöstes Land samt seiner Fußballer, Vereine und Fans zu integrieren. Die optimistische Prognose des scheidenden Teamchefs Beckenbauer, der deutsche Fußball werde dank der Verstärkungen aus dem Osten auf Jahre hinaus unschlagbar sein, erwies sich als grobe Fehleinschätzung. Vielmehr zeigte sich auch im Fußball, was die Politik jener Jahre prägte: eine arrogante Selbstzufriedenheit, die nicht bereit war, das wiedervereinigte Deutschland als Chance für Reformen und Verbesserungen zu begreifen. Die Quittung folgte auf dem Fuß. Im Gleichschritt mit der Politik Helmut Kohls marschierte auch der Fußball in den Stillstand und damit im internationalen Vergleich ins Hintertreffen. Die ostdeutschen Vereine wurden von den etablierten Bundesligisten zu Talentschuppen degradiert oder zum Spielball windiger Unternehmer. Allerdings gab es immer wieder Lichtblicke. Viele davon sind untrennbar mit dem Namen Matthias Sammer verbunden. Der gebürtige Dresdner dominierte dank seines Könnens und seiner Persönlichkeit wie kaum ein anderer die Jahre zwischen 1992 und 1997. Als Abwehrchef, Mittelfeldmotor und – wenn es sein musste – auch Torschütze führte er den VfB Stuttgart und Borussia Dortmund zu Meistertiteln, gewann mit Dortmund die Champions-League und mit der deutschen Nationalmannschaft 1996 die Europameisterschaft in England. Wie kein Spieler seit Beckenbauer dachte und agierte er auf dem Platz wie ein Trainer. Seine sächsische Herkunft machte ihn zu einer wichtigen Integrationsfigur zwischen Ost und West und zum ersten gesamtdeutschen Fußballstar. Nach mehreren Knieoperationen musste er seine Karriere bereits 1998 beenden. Ronald Kaduk, Berlin, Metropolenforscher und Sportjournalist THOMAS IRMER NEUE AUTOREN IM THEATER Er war der Shooting-Star aus der Steiermark und für die erste Hälfte des Jahrzehnts musste Werner Schwab auch dafür stehen, dass sich deutsche Bühnen überhaupt noch für neue Auto- ren interessierten. Ansonsten sah sich das Theater mit Peter Handke, Botho Strauss oder Peter Turrini, Heiner Müller und Elfriede Jelinek für die Gegenwart gut eingerichtet. Die kurze, heftige Schwab-Welle – daneben der ebenfalls früh verstorbene Thomas Strittmatter – ist als Sonderfall zugleich auch der Beleg dafür, wie schwer es junge Dramatiker in diesen Jahren hatten. Uraufführungen unbekannter Autoren fanden am Katzentisch statt, schwach besetzte Regieassistenten-Projekte auf der Studiobühne. Das Feuilleton gierte nach dem nächsten Zadek-Tschechow oder staunte über den postsozialistischen Furor der Volksbühne. Lebenslange Theaterfreundschaften wie die zwischen Peymann und Handke oder Bondy und Strauss besetzen eben auch die Definition von Gegenwart im Theater. Selbst in der nun erweiterten, wiedervereinten Theaterlandschaft Deutschlands ist höchstens für ein Dutzend lebender Autoren wirklich Platz zur Entfaltung. Das heißt, ihre neuen Stücke werden nachgespielt und bilden den Kanon aktueller Dramatik. Am Katzentisch dagegen ist Versenkung vorprogrammiert. Es ist auch die Zeit, da der Beruf des Dramaturgen sich allgemein wandelt: vom Theaterphilosophen zum hastigen Dienstleister zwischen Bühne und Öffentlichkeit. Die durchgesetzten Autoren brauchen eigentlich beide nicht. Den unbekannten steht indes keiner der beiden zur Verfügung. Andererseits wurde händeringend nach dem Zeitstück gesucht, in dem das neue Deutschland zur Sprache kommt. Schwab, der Österreicher mit dem Credo »Die Sprache hat sich nichts zu sagen«, konnte es nicht sein. Sicher, es gab Klaus Pohl, der den Stasi-Ibsen-Thriller »Karate-Billi kehrt zurück« schrieb und in »Die schöne Fremde« das Thema Fremdenhass aufgriff. Der studierte Soziologe Oliver Bukowski tastete sich mit überraschenden »Hardcore-Schwänken« an die Nöte ostdeutscher Wendeverlierer heran. Und Dea Loher, Absolventin eines neuen Studiengangs für szenisches Schreiben an der Hochschule der Künste in Berlin, versprach schon mit ihren ersten Stücken noch mehr. Aber das war es auch fast schon im Theater der letzten Kohl-Jahre mit ihrem zunehmend schlechter gelaunten Konsens. Während am Katzentisch trotz aller miesen Aussichten noch reichlich Talente auf den Durchbruch hofften. Es bedurfte einer Initialzündung aus England, wo die Besten einer unter Thatcher verlorenen Jugend sich inzwischen ins Theater geschrieben hatten und vom legendären Royal Court ausgezeichnet betreut wurden. Mark Ravenhills »Shoppen & Ficken« und Sarah Kanes »Zerbombt« stießen 1998 die Türen auf für eine regelrechte Welle durch das deutsche Theater. Gewiss, diese beiden krass den entfesselten Neoliberalismus beklagenden Stücke wurden gar nicht so flächendeckend gespielt, wie es von heute aus scheint. Sie trugen jedoch zu einer Neubewertung neuester Dramatik bei, mit der sich vieles änderte. Sozialkritisch grundierte Geschichten aus der derangierten Gegenwart, unpathetisch in einer Art coolem Nihilismus schnell erzählt – so ging die Tür zur Wirklichkeit auf. Auf die British Invasion folgte die sofortige Auflösung des deutschen Katzentischs, und wer von dort mit frischen Stücken aufstand, war plötzlich gefragt. Innerhalb von nur zwei oder drei Spielzeiten war am Ende der neunziger Jahre eine so große Anzahl zwischen 1967 und 1972 geborener Autoren etabliert, wie es sie in dieser Stärke zuletzt ausgerechnet in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren gegeben hatte. Gesine Danckwart, David Gieselmann, Marius von Mayenburg, Albert Ostermaier, Falk Richter, Moritz Rinke, Roland Schimmelpfennig und Theresia Walser – ihre Stücke waren das, womit das Theater »Ja, wir spielen Gegenwart!« rief. Es waren natürlich noch viele andere, und bis zu 100 Uraufführungen (Tanzabende, Kindergeburtstage und Filmadaptionen nicht gerechnet) wurden in diesen Jahren der neuen deutschen Welle gezählt. Schwab war passé, Müller vorerst vergessen – und der inzwischen umstrittene Strauss eine heimliche Orientierungsfigur, dem beispielsweise einige von Rinkes und Schimmelpfennigs Stücken nicht wenig verdanken. Der Boom entblößte aber auch den Uraufführungs-Hype der Theater mit ihrem Wahn, nur der Erste könnte etwas bemerkenswert Auffälliges in die Landschaft stellen. Nachinszenierungen von neuen Stücken – und hier zeigt sich das Aufmerksamkeitsheischende über dem literarisch-dramaturgischen Wirkungsinteresse – galten als so unattraktiv wie wenige Jahre zuvor noch der Autor am Katzentisch. Der wird inzwischen mit fetten Auftragshonoraren geködert – um das Recht der ersten Nacht zu sichern. Was naturgemäß keinen Qualitätsschub bedeutet und die eventuell kanonbildende Nachspielprüfung erst recht behindert. In einem dritten Schritt wird die junge Dramatik ab 2000 im deutschen Theater schließlich internationalisiert: Jon Fosse, Neil LaBute, Fausto Paravidino, dazu auch weniger beachtete Entdeckungen wie die Stücke des Esten Jaan Tätte oder der zuvor schon durch Armin Petras aufgeführte Katalane Sergi Belbel. Paradoxerweise tritt die neue Welle in dem Moment hervor, als die Theatertheorie des Postdramatischen den originären Stückautor und seinen Text als zentrales Element einer Aufführung verabschiedet. Hans-Thies Lehmanns »Postdramatisches Theater« von 1999, inzwischen in mehr als zehn Sprachen übersetzt, wird an allen Theaterschulen zwischen Lissabon und Moskau studiert. Sein Verleger Karl-Heinz Braun, Verlag der Autoren, bemerkte damals, es wäre auch gleich ein Gegenbuch fällig, mit all den vielen neuen Dramatikern, die wiederum von Lehmanns früheren Beobachtungen zum Postdramatischen auch selbst schon beeinflusst waren. Theater ringt, gerade wenn es authentisch nach draußen wirkt, mit sich selbst – als Bastard vieler Einflüsse und Selbstverständnisse. Ihre Themen und Schreibweisen sind sehr, sehr verschieden, aber was die neuen Autoren gemeinsam schaffen, ist ein Gespür für ein im Theater noch unbekanntes Jetzt. Nicht Thesenstücke, sondern Themenstücke. Versuche an der unübersichtlichen Gegenwart. Manchmal zu klein, oft überraschend. Der Meteoriteneinschlag von Kane und Ravenhill hätte weniger bedeutet, wenn es hier nicht geeignete Orte für einen produktiven Krater gegeben hätte. Der wichtigste war wohl die Baracke am Deutschen Theater, ein 99-Plätze-Container, der einst für Bauarbeiter stehen geblieben war und dann mehr oder weniger nebenbei für kleine, ja »Katzentisch«-Projekte bespielt wurde. Bis 1996 Thomas Ostermeier und seine Truppe kamen mit der Idee: eigentlich nur Gegenwart. Vor allem mit »Shoppen & Ficken« am 17. Januar 1998 war dies ein Volltreffer – und nur ein Jahr später die Keimzelle der neuen Schaubühne. Thomas Irmer, lehrt als Amerikanist Theatergeschichte an der FU Berlin, Autor und Ko-Regisseur von »Die Bühnenrepublik. Theater in der DDR«, 3sat / Alexander Verlag, Berlin 2003. FELIX RÖMER G’SCHICHTEN AUS DEM WIENER WIRTSHAUS 5 – Nicht viel los in den österreichischen Neunzigern. Zeit für ein paar Privatismen. In den Neunzigern ist ja nicht allzuviel los in Österreich – also im Land selber. An seinen südlichen Grenzen dafür umso mehr: Da herrscht Krieg. Innerhalb von zehn Tagen erkämpfen sich die Slowenen ihre Unabhängigkeit. Wie eine Wolke zieht der Krieg nach Kroatien weiter und dehnt sich über zehn Jahre lang über das ganze Land aus. Dennoch mache ich im Sommer 1992 Urlaub in Istrien. Weil es hier so schön ist. Die Strände sind jetzt leer und die Kuchentheken voll und noch nie hat sich ein kroatischer Kellner so gefreut, mich zu bedienen. Bei uns zuhause alles ruhig und wenig Skandale. Die 80er waren ja voll davon. Vom gepantschen Wein geht auch keine Gefahr mehr aus. Glykol wird wieder als reines Frostschutzmittel verwendet. Auch der bekannte und angeblich vielfache Prostituiertenmörder Jack Unterweger, der das Land monatelang in Atem gehalten hatte, sitzt im Gefängnis. Selbst an Kurt Waldheim, unserem SA-Präsidenten, hat sich die Bevölkerung gewöhnt. Er sitzt seine letzten Tage in den gefängnisdicken Mauern der Wiener Hofburg ab und wartet auf seine Ablösung. Unterweger konnte vor allem wunderbar dichten, weshalb er später auch als Häfenpoet, wie bei uns die Gefängnisdichter heißen, in die österreichische Literaturgeschichte eingegangen ist. Nach manch mörderischem Tag hatte er abends seine Lesungen am liebsten in der Nähe des jüngsten Tatortes veranstaltet – wie man später ermittelte. Er war ein fescher Bursch und seine Lesungen immer ausverkauft. Zahlreiche österreichische Künstler und Intellektuelle glauben den Unschuldsbeteuerungen Unterwegers und schreiben eine landesweit Aufsehen erregende Petition, in der sie Waldheim um Unterwegers Freilassung bitten. Gleichsam als letzte Amtshandlung begnadigt Waldheim Unterweger, gewissermaßen von Mörder zu Mörder. Unterweger wird freigesprochen. Leider nützte er seine Freiheit nicht nur zum Dichten. Er geht abermals auf den Wiener Gürtelstrich, wo er etlichen Huren mit seinem wunderbar Wiener Schmäh den Kopf verdreht; bevor er ihnen den Hals umdreht. Angeblich. Lesungen macht er danach keine mehr. Er bekommt lebenslänglich und erhängt sich kurz nach der Urteilsverkündigung an der Verstrebung seiner Toilette mit einem Schnürsenkel. Die Frage war er’s oder nicht nimmt er mit ins Grab. Währenddessen bin ich in Deutschland und bekomme mit einer deutschen Frau zwei Kinder. Einen Buben und ein Mädel. Ich bin jetzt in den Dreißigern und es ist höchste Zeit für eine Therapie. Immer am Montag um acht Uhr morgens habe ich meine Stunde. Ich muss mit dem Fahrrad einen kleinen Berg hochfahren. Anfangs brauche ich dafür über zwanzig Minuten. Nach der dritten Stunde nur noch zehn. Ich bin noch nie so gerne aufgestanden. Meine Therapeutin ist äußerst langbeinig, trägt kurze und schwarze Röcke und sieht Juliette Binoche zum Verwechseln ähnlich. Und sie ist eine Theaternärrin. Nach einem Jahr gestehe ich ihr meine Liebe, worauf sie die Therapie abbricht. Wenigstens auf einen Kaffee hätte sie sich mit ihrem Patienten aus der Geburtsstadt Freuds einlassen können. Dar- aufhin beginne ich mehrere Theaterstücke zu schreiben, die zu meiner großen Freude alle aufgeführt werden. Eines handelt von der äußerst schwierigen Beziehung zu meiner Mutter; ein anderes über meine noch schwierigere Beziehung zur Mutter meiner Kinder, das dritte über die Liebe im Allgemeinen und im Besonderen. Um die Stücke nicht mit mir in Verbindung zu bringen, wähle ich als Pseudonym kurzerhand den Namen meines Großvaters selig. Sein Gasthaus ist ja in den 80ern verkauft worden und ich war der Alleinerbe. Weil aber Großvater selig zu Lebzeiten den weißen und roten Wein immer so billig an seine Stammgäste ausgeschenkt hat – warum verschenkst du ihn nicht gleich, hat meine Großmutter mehrmals am Tag schimpfend zu Großvater gesagt – war ich lediglich ein Alleinerbe mit Schulden. Das wenige Geld, das mir blieb, verspielte ich in diversen Kasinos. Zeitweilig fühlte mich als junger Dostojewskij. Nur dass ich halt nicht so gut schreiben konnte wie er. Und leider auch nicht so viel Geld hatte zum Verspielen. Spätestens jetzt hätte ich wieder eine Therapie gebraucht; aber zu einem männlichen Therapeuten wollte ich auch nicht. Einmal im Jahr fahre ich nach Wien und besuche das Gasthaus meines verstorbenen Großvaters. »Vorübergehend geschlossen« steht jedes Mal an der Tür. Der neue Wirt war nämlich gar kein Wirt, sondern lediglich ein Servierer. Und Schmäh hatte er auch Nullkommajosef. Deshalb ist er eingegangen. Wie auch sein Nachfolger. Mein Großvater hinterlässt eine stattliche Riege von lauter gescheiterten Wirten. Vielleicht sollte ich ja doch das Gasthaus übernehmen, denk ich mir manchmal, wenn’s mit dem Theater bergab gehen sollte. Aber in den Nullerjahren komme ich ja an die Schaubühne. Und das Gasthaus meines Großvaters bekommt endlich einen ordentlichen Wirt. Ganz schön viel los dann wieder! Felix Römer, geboren 1960 in Wien, Schauspieler und Autor, Ensemblemitglied der Schaubühne. PETRA REICHENSPERGER LOTS OF PEOPLE DIE FORM DER EINLADUNG BEI RIRKRIT TIRAVANIJA Damien Hirsts Tigerhai in Formalin musste längst durch einen neuen ersetzt werden und die Sexgeschichten aus Tracy Emins Campingzelt mag heute keiner mehr so recht hören. Gab es neben diesem Sensation-Hype noch etwas, das den Kunstdiskurs über die 90er Jahre hinweg maßgeblich geprägt hat? Matthew Barneys kinematografische Materialschlachten vielleicht, die intimen Szene-Fotografien von Wolfgang Tillmanns auf jeden Fall. Für mich ist es aber vor allem die Arbeit des Künstlers Rirkrit Tiravanija. Er zählt zu denjenigen, die überzeugend die Idee der Kunst als sozialen Raum, als soziale Handlung in die Welt brachten. Seine Settings sind nur schwer an Konsequenz zu überbieten. Sie sind konzeptionell, ästhetisch ausgefeilt und aktionistisch: Er tippt die erste Kugel an, andere machen weiter. Auf die Frage wer er sei, lässt er anlässlich seiner Teilnahme an der 4. berlin biennale das Stadtmagazin zitty wissen: »Ich bin ein Tramper, der in einem intergalaktischen Raumschiff )XXXDINGHEISSTKUNST verstaut wurde und zwischen den intergalaktischen Planeten BOB und DRUFUS im Handschuhfach des Schiffskapitäns Nichtgutfürnichts hin und her reist.« 10 Jahre zuvor, 1996, kündigte der Kurator Jan Winkelmann den Künstler, der damals in Deutschland nur wenigen bekannt war, durch eine Pressemitteilung an. Der Titel der darin in Aussicht gestellten Arbeit »Untitled (Schupfnudeln)« war Programm: In der Küche seiner noch nicht bezogenen Münchner Wohnung in der Kazmairstraße 39 sollte Jan Winkelmann zur Vernissage und zwei darauf folgenden Abenden Schupfnudeln für die Besucher kochen. Ursprünglich hatte Tiravanija diese Arbeit für die Ausstellung »fast nichts/almost invisible«, die im Sommer 1996 im ehemaligen Umspannwerk in Singen stattfand, konzipiert. Auch dafür beauftragte er den Ausstellungsmacher, während der Eröffnung für die Gäste ein für die Region typisches Gericht zuzubereiten. Als zwei Jahre später im September 1998 die 1. berlin biennale eröffnete, luden die drei Kuratoren den Künstler ein, etwa tausend Gäste in der großen Halle des Postfuhramtes zu bewirten. Für viele war das »the place to be«. Eine informelle Plattform für lokale und internationale Kulturproduzenten war mit einfachen, aber effektiven Mitteln geschaffen. Sein erstes »food piece« machte Tiravanija 1989 für eine Gruppenausstellung mit dem Titel »Outside the Clock: Beyond Good and Elvis«. Er versprach damit wirkliche Teilhabe des Publikums. Von der Überlegung ausgehend, dass eine der Möglichkeiten von Kunst darin besteht, sie unmittelbar zu erleben, stellte er die für alle Menschen grundlegenden Bedürfnisse nach Essen, Trinken und Kommunikation ins Zentrum seiner Arbeiten. Bei solchen Settings tritt er weniger als Autor, sondern mehr als Initiator in Erscheinung. Er schafft angenehme Rahmenbedingungen, in die jeder als unmittelbar Handelnder einbezogen wird. Konsequent nennt er bei den Materialangaben seiner Arbeiten: »lots of people«. In einem Interview lässt er uns wissen: »Mit neunzehn Jahren verließ ich Thailand und ging nach Kanada. Damals verließ ich auch die Highschool in der Absicht, Fotojournalist zu werden: Ich stelle es mir nämlich wunderbar vor, nirgendwo sesshaft zu sein und viel herumzureisen.« Auch wenn er heute nicht als Fotojournalist arbeitet, so ist er durch seine künstlerischen Aktionen und seine internationale Anerkennung doch seit vielen Jahren ständig zwischen den Kontinenten unterwegs. Fern vom eigenen Atelier erzeugt er auf seinen Reisen Situationen in den Ausstellungen, die mit den Schlagwörtern »Kunst als Dienstleistung« oder auch »Kunst und Gemeinschaft« umrissen werden können. Zur Erzeugung nutzt Tiravanija bevorzugt den institutionellen Ort, will ihn für Besucher zugänglich machen, indem er den White Cube des Ausstellungsraums erweitert. Er zielt mit seinen Angeboten auf das Hier und Jetzt, betont den Willen zur Gemeinschaft und die Flüchtigkeit der Handlungen. Vor allem fasziniert ihn, wie wir Zeit in einem Raum verbringen: »Es ist interessant, wie die Leute zu dem Punkt gelangen, in einer bestimmten Umgebung die Initiative zu übernehmen – das könnte zu Chaos führen, aber irgendwie spielt es sich eher auf der Ebene von Kreativität und Anarchie ab: Die Leute verschieben etwa die Sitzkissen und machen Skulpturen daraus, aber sie verbrennen sie nicht.« Tiravanija schafft in seinen Settings Modelle der Realität, die – ganz nach Rainer Werner Fassbinders anti-illusionistischer Idee des Kinos – wirklicher als die Wirklichkeit sind. Bei der Ausstellung »ein|räumen. ARBEITEN IM MUSEUM« im Jahr 2000 stellte er eine Art Campingwagen, der mit einer Kochplatte, Töpfen und einem Fernseher eingerichtet war, in den Lichthof der Galerie der Gegenwart der Hansestadt Hamburg. Die Arbeit trug den paradigmatischen Titel »Untitled (Mobile Home)«. Fortan konnte dieser transitorische Ort in Absprache mit dem Team der Gruppenausstellung als Bühne genutzt werden. Seine Hamburger-Setzung ist vergleichbar mit seiner Arbeit »Untitled (Angst essen Seele auf)« von 1994: eine Bar, in der man trinken, einen Film sehen oder auch Radio hören konnte. Hier wie da war wie die Ausstattung der Räume spartanisch, gerade so, dass die Funktion erkennbar blieb. Beide Behausungen erinnern an eine fragile Theaterbühne, deren Bretter die Welt bedeuten, vorausgesetzt die Beteiligten und Besucher ergänzen sie durch ihre Auftritte, Konzerte, Lesungen und vieles mehr. Um seine Ausstellung im Jahr 2001 anzukündigen, ließ er seiner Berliner Galerie neugerriemschneider ein weißes Blatt verschicken, auf dem handgeschrieben die situationistische Losung »ne travaillez jamais«, nie wieder arbeiten, stand. In der Galerie war die Ergänzung an der weißen Wand zu lesen: »Zeit ist mein Kapital«. Hier wie auch in den anderen erwähnten Arbeiten geht es neben Kommunikation auch um Ökonomie und symbolischen Tausch. In den »food pieces« ist sein Kapital vor allem die verbrachte Zeit mit den Gästen, Freunden und Kollegen, weniger die Akkumulation der Requisiten und schon gar nicht die Essenstischreste à la Daniel Spoerrie für den Kunstmarkt. Bis heute pflegt Tiravanija die Gesetze der Gastfreundschaft wie kein anderer. Auf die Frage, wohin er gehe, antwortete er vor ein paar Jahren lakonisch: »Fischen auf dem Mars.« Ihn heute beim Fischen anzutreffen, halte ich nicht für unwahrscheinlich. Petra Reichensperger, Kunstwissenschaftlerin und Kuratorin, gehörte dem Team der Ausstellung ein|räumen in der Hamburger Kunsthalle an. Siehe Katalog ein|räumen. ARBEITEN IM MUSEUM, Ostfildern/Ruit: Hatje Cantz 2000. EGBERT HÖRMANN WOLFGANG TILLMANS – FOTOS VON DEN POST-BABYBOOMERN Soll man es nun mit Oscar Wilde halten: »Frühreif sein heißt vollkommen sein«? Oder doch mit Ingeborg Bachmann: »Jede Jugend ist die dümmste«? Jedenfalls ist nichts so sehr dazu angetan, die Medien in einen Interpretationsrausch zu schicken wie die Frage: Was ist mit unserer Jugend los? Besonders interessant in dieser Diskussion waren die Post-Babyboomer, also jene Generation der inzwischen Mitte bis Ende Dreißigjährigen. Ihnen hat der amerikanische Autor Douglas Coupland mit seiner Kult-Bibel »Generation X« ein bleibendes Denkmal gesetzt, wie es vor ihm Hemingway, Fitzgerald, Kerouac, Salinger und Sagan für andere Generationen getan haben. Was zeichnete diese Generation nun besonders aus? Douglas Coupland berichtete damals : »Meine Krise war nicht nur der Verfall von Jugend, sondern auch das Scheitern von Klasse, Geschlecht, Zukunft und Was-weiß-ich-noch-Allem.« Es war nach den Yuppie-Achtzigern der wirtschaftliche Abschwung, die Rezession, die Verarmung der Mittelklasse zu verzeichnen. Die Post-Babyboomer mussten sich auf eine ökonomische Dauerkrise einstellen und auf die Tatsache, dass – ein historisches Novum – ihr Lebensstandard den ihrer Eltern nicht übertreffen, sondern dass er eher noch sinken würde, obwohl sie wesentlich besser ausgebildet waren als vorherige Generationen. Gleichzeitig bedeutete das Ende des Ostblocks ironischerweise das Ende des amerikanischen Zeitalters und die Verflüchtigung der Utopien. Es gibt wenige Kinder, die fähig sind, für eine Bevölkerungsgruppe, für eine Subkultur zu sprechen, oder zum richtigen Zeitpunkt über sie etwas auszusagen: In den siebziger und achtziger Jahren ist dies in der Fotografie vor allem Larry Clark mit seinen verstörenden Meldungen aus dem Teenage-Brachland gelungen, aber auch Nan Goldin mit der »Ballade von der sexuellen Hörigkeit«, die präzise den vergangenen Lebensstil einer urban geprägten, westlichen Jugendkultur dokumentierte. Der 1968 geborene deutsche Fotograf Wolfgang Tillmans hat in den 1990ern ein ähnliches Talent vorgelegt, mit lakonischer Intensität die Fülle und die Vielfalt seiner Generation vorzuführen. Modestudenten, Raver, Schwule, Punks, Aktivisten, Grunge-Typen, Arbeitslose et cetera finden sich hier in höchst subjektiven Aufnahmen, die die Grenzen zwischen Reportage und inszenierter Fotografie verwischen. Tillmans arbeitet seit 1990 für Musik- und Trendzeitschriften in Europa und den USA, vor allem für die Stil-Bibeln »The Face« und »i-D«. Von daher lässt sich sein fast ethnologisches Interesse an der Clubkultur, an Kleidung und Mode erklären, die ihm Katalysator und Übermittler von Inhalten sind. Tillmans dokumentiert alle Facetten der Generation-X-Szene und als den Schlüssel zu seiner Ästhetik könnte man die Beiläufigkeit bezeichnen – eine für die Generation typische Indifferenz gegen den Sinn, eine schlafwandlerische Abwesenheit und Distanz, aber nicht Distanzierung. Die meistens in Farbe entstandenen Aufnahmen sind »realistischer« vom Farbschema als bei der »barocken« Goldin und haben etwas von den seltsam-verblüffenden Farben, wie man sie nur vom Farbkopierer oder von bestimmten Polaroidfilmen bekommt. Tillmans mag von der Ästhetik der Style-Magazine beeinflusst sein, aber er versagt sich deren exzentrischeren Aspekten, um zu einem »armen« Look zu kommen, einer Beschränkung auf das Alltägliche, Zufällige und Häusliche. Auf den reduzierten Einsatz ästhetischer Mittel und auf die formale Strenge ist es zurückzuführen, dass diese jungen Männer und jungen Frauen, in privater Umgebung und oft in einer intimen Situation aufgenommen, auf den Betrachter treffen, ohne ihn zum Voyeur zu machen. Er ist ihnen egal. Tillmans selbst verwendet gern das Wort »Parallelität«, um sein Verständnis von der Komplexität seiner Modelle und des Individuums zu beschreiben, und er betont, dass ein Foto nur einen Aspekt einer Person wiedergeben kann, niemals die ganze Wahrheit, was ihn radikal von Portraitisten wie August Sander unterscheidet. Als Angehöriger der TV- und Mediengeneration kann sein Verständnis von der Identität und vom Individuum nur ein ironisches sein. Im Zeitalter des Spektakulären verwischen sich die Grenzen zwischen Sinn und Nicht-Sinn, dem Realen und der Illusion, dem Wahren und dem Falschen. Es geht aus diesen kunstvoll »gewöhnlichen« Aufnahmen hervor, dass die Modelle mit all ihren Stimmungen dem Fotografen vertrauen und dieser uns genügend vertraut, um uns in seine und ihre Welt zu lassen. Anders bei Goldin, deren Modelle etwas älter sind, sind diese Kids noch nicht gebrochen, auch wenn sie wie Goldins Generation ungehemmte Erfahrung – politisch, sexuell, spirituell – zu ihrer Lebensbasis und zu ihrer Ästhetik gemacht haben. Spielerisch, aber gleichzeitig ernsthaft stellt Tillmans die Rave-Generation vor, wobei er nie moralisierend wird. Das was geschieht, scheint weder per se schlecht noch gut, sondern eher situationsbedingt zu sein, Ausdruck eines neugierigen und wachen, wenn auch skeptischen Lebenshungers. Sie sind noch »Wilde«, Romantiker, mit einem starken Verlangen »anders« zu leben. Die Geschlechtergrenzen scheinen – zumindest äußerlich – bei diesen jungen Menschen aufgelöst zu sein. Ist ihre Sexualität fixiert oder ein noch zu schreibendes Kapitel? Es ist nicht überraschend, dass im Zeitalter von Aids Sex mehr im Bereich des Theaterhaften stattfindet als auf dem Schlachtfeld der Aktion, aber was auch immer Sex sein mag, es ist nicht mehr der definitive Akt zwischen zwei Menschen. Die von Tillmans dargestellte Post-Aids-Generation setzt, wie in den Raves oder auf den Love Parades der 90er Jahre zu beobachten war, verstärkt auf die »Gemeinschaft« als eine militante Kraft, die in der Gruppe Sicherheit und Familienzugehörigkeit findet. Natürlich gibt es hier Heterosexuelle, Schwule, Lesben und alle anderen möglichen Orientierungen; sie nach ihrer Sexualität befragen zu wollen, erscheint trotzdem ein ziemlich überholter Gedanke zu sein. Egbert Hörmann lebt als freier Autor, Filmkritiker und Übersetzer in Berlin und St. Petersburg. Zuletzt erschien »Cruising mit den Wonderboys und andere schwule Erkenntnisse« im Querverlag 2007. INKE ARNS IRATIONAL’S FINEST – ÜBER DIE KUNST DER BEWEGUNG IM RAUM Fast täglich lesen wir Meldungen über den Anbau von Genmais, der jahrelang versteckt gehalten wurde, über Flüssigsprengstoff in Flugzeugen und Bombenkoffer in Zügen, über Forderungen nach flächendeckender Videoüberwachung, wir verfolgen die globale Ausbreitung der Vogelgrippe und fragen uns, wann sie denn unser Land erreicht, wir begreifen die inzwischen spürbaren Auswirkungen von Hartz IV, sehen die Folgen des Klimawandels und können uns des Eindrucks nicht erwehren: Das Leben ist härter geworden. Die Künstlergruppe irational, 1996 in Großbritannien gegründet, wusste das schon vor über zehn Jahren. Treffsicher formuliert irational seit 1996 Themen und macht darüber hinaus eigensinnige Lösungsvorschläge. 2006 organisierte ich zusammen mit Jacob Lillemose die Ausstellung The Wonderful World of irational.org, in der ihre Arbeiten im öffentlichen (Netz-)Raum umfassend präsentiert wurden. Irational gründete zum Beispiel Firmen, die – wie Technologies to the People – den Zugang zu neuen Technologien als ein Menschenrecht definiert wissen wollen, oder Unternehmen, die für ein »besseres Leben« – Mejor Vida Corporation – mit einem »menschlichen Interface« plädieren. Irational organisierte Mailinglisten wie American Express und 7-11 oder agierte als Agentur für kulturellen Terrorismus, die aktuelle Formen performativer Ideologie und Rhetorik unterwandert, indem sie einen neuen Londoner Bezirk gründet und dort anschließend einen Wahlkampf veranstaltet oder ein »genetisch modifiziertes antikapitalistisches Unkraut« vertreibt. Diesem Unkraut wurde eine Resistenz gegen Unkrautvernichtungsmittel von Monsanto angezüchtet, was den profitablen Einsatz genmanipulierter Getreidearten bedroht. Neben der Kritik des leichtfertigen Umgangs mit gentechnisch veränderten Organismen dachte irational außerdem über konkrete Verhaltensmaßnahmen im Falle einer globalen Grippe-Pandemie nach. Zunehmend prekären Arbeitsverhältnissen (die jedoch in den 1990er Jahren noch nicht mit einem heute fast modischen Schlagwort bezeichnet wurden) wurde mit Slogans wie »Zeitarbeiter aller Welt vereinigt Euch – Turning Shit into Gold« oder Lösungsvorschlägen zur kostenlosen Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel und dem flächendeckenden Ausstellen von Studentenausweisen begegnet. Überhaupt, Reisen: Mitglieder von irational überwinden Zäune und Mauern mit einfachsten Hilfsmitteln, zum Beispiel mit selbst geknüpften Netzen und Klettertechniken und überqueren internationale Grenzen unter Umgehung offizieller Grenzkontrollen. Immer geht es darum, den Raum neu zu erfahren, zum Beispiel im spielerischen gemeinsamen Auf-Bäume-Klettern während des jährlichen, unter dem Motto »Liberate the Horizontal!« stattfindenden International Tree Climbing Day oder der Weltmeisterschaft im Abfahrts-Skateboarding mit drei Teilnehmern im britischen Bristol. Irational als Reiseunternehmen der anderen Art hat nicht zuletzt deshalb das Logo der International Air Transport Association IATA übernommen: ein stilisierter geflügelter Globus, der globale Kommunikation und globalen Verkehr symbolisiert. Mit dem Zusatz »irational« wird daraus ein Qualitätssiegel für eine Kunst der besonderen Bewegung im Raum. Irational ist eine lose Gruppierung von sechs internationalen Netz- und MedienkünstlerInnen, die sich um den 1996 von dem britischen Netzkünstler Heath Bunting gegründeten Server irational.org zusammengefunden haben und die frühe Netzkunst Mitte der 1990er Jahre entscheidend mitgeprägt haben: Daniel Garcia Andújar / Technologies to the People (Valencia/E), Rachel Baker (London/GB), Kayle Brandon (Bristol/GB), Heath Bunting (Bristol/GB), Minerva Cuevas / Mejor Vidas Corporation (Mexico City/MEX) und Marcus Valentine (Bristol/GB). Mit trockenem Humor und minimaler Ästhetik kommentierte irational den sich ab Mitte der 90er Jahre entwickelnden InternetHype und konkurrierte mit der ab 1996/97 hochschlagenden Kommerzialisierungseuphorie des Neuen Marktes durch die Entwicklung eigener Pseudo-Firmen. Kunst war im Netz unmittelbar, ohne den Bedarf und die Sicherheit eines Vermittlungsraumes bzw. einer Vermittlungsinstanz. Daher geriet irational in dieser Zeit auch öfters an humorlose Markenrechtsanwälte, die irational den Gebrauch von Firmennamen wie 7-11, American Express, Sainsburys und Tesco untersagen wollten. Diese Aus- einandersetzungen waren nur ein Vorspiel dessen, was sich heute im Rahmen von Urheberrecht, Copyright und Markenschutz abspielt. Heath Bunting ging 1997 weltweit als erster Netzkünstler in den »Ruhestand«. Er beendete seine ausschließliche Arbeit im Netz und wandte sich nun wieder verstärkt der Arbeit im öffentlichen Raum zu, zu dessen wichtigem Bestandteil das Internet ja heute geworden ist. Haben sich die Aktivitäten von irational in der »Netzphase« der Hinterfragung virtueller Grenzen gewidmet, so experimentieren die Mitglieder von irational heute mit der Befragung und Überwindung realräumlicher – ökonomischer, politischer, sozialer – Grenzziehungen und schaffen mitunter recht unterhaltsame Abhilfe. Die mehr als zehnjährige Arbeit von irational deckt eine weites Spektrum von heute sehr aktuellen und relevanten gesellschaftlich-politischen Themen ab: Bereits früh verhandelte die Gruppe Themen wie das wachsende Gefühl von Un-Sicherheit, das sich in einer zunehmend auf Technologie basierenden Welt ausbreitet, Fragen von Überwachung und Datenerhebung (irational bedient sich hierbei zum Beispiel »irationaler« Fragebögen und setzt Kundenkarten von Unternehmen zweckentfremdet ein), Branding und Markenrechtsschutz, prekäre Arbeitsverhältnisse sowie DIY-Kulturen, -Medien und -Ökonomien. Mit der Verlagerung des Arbeitsschwerpunktes vom Netz in den Raum steht die Arbeit von irational außerdem zu einem frühen Zeitpunkt singulär und paradigmatisch für das, was heute in der Medienkunst zu beobachten ist: Es geht zunehmend weniger um die Medien und Technologien selbst, als vielmehr um ein gesteigertes Interesse an gegenwärtigen Räumen, die auf komplexe Art und Weise über diese Technologien miteinander verlinkt sind und von medialen Netzen durchzogen werden. In den letzten zehn Jahren ist ausführlich (jedoch bis heute nicht abschließend) darüber diskutiert worden, ob und wie Netzkunst auszustellen ist. Man erinnere sich nur an unglückliche Bürosituationen wie die auf der documenta X 1997 oder an die Inszenierung von Internetcafé-Settings in der Ausstellung net_condition am ZKM 2000/01. Irational selbst wurde vor ein paar Jahren von Sarah Cook und Steve Dietz im kanadischen Banff als riesiges, mit Kreide geschriebenes Wandschema plus einem Online-Computer ausgestellt. Im Gegensatz zu diesen Ausstellungspraktiken haben wir – Jacob Lillemose und ich – uns 2006 dafür entschieden, die von uns ausgewählten 54 Arbeiten von irational aus dem Internet »herauszuholen« und für jede dieser Arbeiten im Dialog mit den KünstlerInnen eine Umsetzung für den Ausstellungsraum der PHOENIX Halle des Hartware Medienkunstvereins in Dortmund zu entwickeln. Für jedes einzelne Konzept haben wir – teilweise unabhängig vom ursprünglich benutzten Medium wie dem Internet – eine im Medium der Ausstellung erfahrbare Umsetzung konzipiert. Nun könnte man gerade dies der Ausstellung vorwerfen: dass sie die Netzkunst, die immer stolz auf ihren direkten Bezug zum Netz-Rezipienten war, in einen »institutionellen« Vermittlungsraum zurückholt und sie damit – indem sie sie eindeutig zu »Kunst« erklärt, was im Netz nie so klar war – eines Teils ihrer vielfältigen Bedeutungen beraubt. Wir sind jedoch der Meinung: Auch – und vielleicht gerade – die Netzkunst braucht einen dezidierten Raum der Vermittlung (ganz abgesehen davon, dass Kunst ohne Vermittlung eine Utopie ist). Netzkunst hätte über ihr Medium, nämlich das Internet, ein potenziell globales und potenziell sehr großes Publikum erreichen können – was sie nicht getan hat. Sie hat ein kleines spezialisiertes Publikum erreicht und manchmal auch nichts ahnende Internetnutzer irritiert. Wir meinen, dass es zu schade wäre, diese klugen Projekte einfach dem Netz zu überlassen und entschieden uns aus diesem Grund für diese Form der Umsetzung. Insofern ging es in dieser Ausstellung auch nicht um Netzkunst. Man könnte weitergehen und behaupten: Irational selbst war nie Netzkunst. Die Themen von irational reichen weit über die Grenzen des jeweiligen Mediums hinaus. Es geht durchweg um Projekte, die auf sehr kluge Art und Weise über gegenwärtige Themen sprechen. Ob diese nun im Netz oder offline verhandelt und umgesetzt werden, ist zweitrangig. Insofern versuchte die Ausstellung, die konzeptuellen roten Fäden von irational in etwas mehr als einem halben Dutzend thematischer Bereiche zu bündeln: Sprache als Eigentum, alternative Formen von Ökonomien, Überwindung von Grenzen, Hinterfragung von Sicherheitstechnologien und Bio- und Gentechnologie, die Weitergabe von Wissen in partizipativen Projekten sowie die Ermöglichung neuer Raumerfahrungen. Mehr noch: In fast allen Projekten geht es um die Kunst der Bewegung im (erweiterten) Raum. Und immer ging und geht es darum, die Handlungsmöglichkeiten des Subjektes zu erweitern – im Sinne einer Taktik der Ermächtigung des Einzelnen. Irational formuliert eine Politik und Poetik des räumlichen Ungehorsams. Darum: Reisen Sie mit dem Unternehmen Ihres Vertrauens! Fly irational! Inke Arns, geboren 1968, künstlerische Leiterin des Hartware MedienKunstVerein Dortmund (www.hmkv.de), dort zuletzt u.a. »History Will Repeat Itself« (2007); seit 1993 freie Kuratorin und Autorin mit den Schwerpunkten Medienkunst, Netzkulturen, Osteuropa, www.inkearns.de TIM HOLTORF REALITY BITES Als 1989 die Mauer fiel, wurde auch ich 400 Kilometer weiter westlich Zeuge dieses Ereignisses. Zu Hause auf dem Sofa. Die Bilder hierzu lieferte mir der Fernseher. Dieselben Bilder sahen auch viele andere zur gleichen Zeit, in anderen Städten, anderen Ländern und auch unmittelbar vor Ort. Nachdem die Mauerteile von Bulldozern weggetragen waren, zerbrachen nach den ganzen Projektionen auch die Feindbilder beider Seiten. Wo waren sie hin, all die bösen Sowjets, die fiesen Amis, die rote Gefahr und die Menschenfresser aus dem Westen? Kein Wunder, dass James Bond zu dieser Zeit für sechs Jahre untertauchte und erst Mitte der Neunziger wieder auf der Bildfläche erschien. Jahrzehntelang hatten beide Seiten mit der Fiktion einer Welt gelebt, in der auf der anderen Seite etwas lauerte, das niemand so recht nachprüfen konnte und das daher nur durch Repräsentationen in mehr oder weniger fiktionalen Inhalten existierte. Da scheint es nur nachvollziehbar, dass nun Realität eingefordert wurde. Was kam? Der Fernseher zeigte uns verstärkt Menschen, die scheinbar unmaskiert nichts anderes zur Schau stellten als sich selbst. In Talksendungen erzählten sie von ihren privaten Problemen, Nöten und Ängsten. Wir sahen zu, wie es bei anderen zu Hause aussah, was die Tochter gegen Akne tut und auf welche Weise kleine Kinder in Provinzseen ertrinken können. Was gezeigt wurde, war »Normalität«, geboren aus der Anonymität des Alltäglichen. Das Motto der Stunde lautete: »Sometimes truth is stranger than fiction.« Reality-TV war ein Segen für die Fernsehmacher. Es schien ein bisher unentdecktes Begehren des Zuschauers entdeckt zu haben: den ungezügelten Voyeurismus. Und den zu bedienen war billig: Keine Autoren für Drehbücher, keine professionellen Schauspieler und keine aufwendigen Studiosets mussten finanziert werden. Der Mensch vor der Kamera sollte keine Schauspielkunst, sondern performative Akte des Privaten liefern. Die 90er boten viel reales Leben im TV. Es gab wilde Verfolgungsjagden auf US-Highways wie in der Serie »COPS«, es gab Heimvideos, auf denen irgendein Hochzeitspaar beim Tanz zu Boden ging und so bei »Verstehen Sie Spaß?« auftauchte. Es gab Verbrechen, die bei »Aktenzeichen XY« nachgestellt wurden. Es gab »Notruf«, »Hans Meiser«, »Ilona Christen«, »Sabine Christiansen«, »Versteckte Kamera«, »Familien-Duell« und viele Menschen, die vor Kameras standen – nonstop. Nachdem in den Neunzigern Schluss mit dem Sendeschluss gemacht wurde, konnte das Projekt Totale Unterhaltung vollendet werden. Am Ende der Dekade wurde dies ausgereizt und die Programmproduzenten steckten einen Haufen Leute in einen Container, zogen einen Zaun drum herum und statteten alles mit Kameras aus, sodass alle anderen immer wussten, was wer, wann, mit wem machte. Dies ist noch gar nicht all zu lange her, und dennoch erscheint es seltsam, dass Millionen eingesperrten Leuten dabei zuzusahen, wie sie leben. Es erscheint weiterhin seltsam, dass sich eine Debatte im Parlament darüber entzündet hatte, ob das moralisch zulässig sei. Und am Ende ging sogar Guido Westerwelle in den Container und nutzte diesen Auftritt zur Eigenwerbung, was seine Partei dann allerdings nicht die prophezeiten 18, sondern nur 8 Prozent der Wählerstimmen bei der darauf folgenden Bundestagswahl brachte. Mit Reality-TV wurde in den Neunzigern in gewisser Weise die Fiktion auf der Ebene der Realität entdeckt. Als Begriff ist Reality-TV ein Paradox. Denn sobald eine Kamera in der Nähe ist, reagiert jeder theatral: Das Bewusstsein eines Publikums provoziert eine Verhaltensänderung, und sei es bloß Winken oder das Victory-Zeichen. Den Programmmachern war klar, dass die Wirklichkeit im Fernsehen eigenen Regeln folgt. Der Realität musste auf die Sprünge geholfen werden, indem immer stärker auf Dramaturgie und Inszenierung der Realität geachtet wurde. Wie alle Innovationen und vor allem jene des Medienbetriebes, unterlag auch Reality-TV einfachen Abnutzungserscheinungen. Wir, das Publikum, waren schon gewöhnt an die Pseudorealitäten der Bildmaschinen, als 2001 das World Trade Center einstürzte. Dank der 24-Stunden-Nachrichtenkanäle war auch ich 6000 Kilometer östlich unweigerlich Zeuge der Ereignisse. Das, was passierte, wurde im Staffellauf der Nachrichtenverbreitung über den gesamten Erdball geschickt. Man darf den Verursachern unterstellen, den Zeitpunkt ihres Angriffs wohl überlegt zu haben, mit dem Ziel, ein möglichst breites Fernsehpublikum der westlichen Industriestaaten mit ihrer Bot- schaft zu erreichen. Am Ende stand es also nach Christoph Schlingensief »1:0 für die Terroristen« und wenn wir Karl-Heinz Stockhausen glauben wollen, war »das größte Kunstwerk aller Zeiten« geschaffen. Egal wer, egal wo: Überall wurden die selben Bilder immer und immer wieder gezeigt, wie ein Mantra schoben sich die Einschläge der Flugzeugkörper und die brennenden Türme, die wie Räucherkerzen vor sich hin qualmten, aus dem Fernseher in die Köpfe der Zuschauer. Was zu sehen war, war »wie im Film«. Dass das, was passierte, durchaus real war und eben nicht fiktional, war für einen Zuschauer, dessen Auge jahrelang darauf geschult war, hinter dem neuen Realen die Fiktion zu erkennen, nicht mehr ganz so leicht zu identifizieren. Auch die stumpfe Wiederholung der Bilder holt den unschuldigen Glauben an das, was man sieht, nicht wieder. Wir trauen unseren Augen nicht mehr. Tim Holtorf, geboren 1979, lebt und arbeitet in Berlin. MAX GLAUNER HISTORIENBILDER – TIM-EITEL-FOTOS IM FANZINE Tim Eitel ist heute einer der bekanntesten Maler Deutschlands – manchem Rezensenten gilt er als der wichtigste der in den frühen siebziger Jahren Geborenen. Erst vor zwei Wochen eröffnete die Kunsthalle Tübingen eine umfangreiche Werkschau mit Arbeiten der vergangenen vier Jahre – über Dänemark tourt sie bis November nach Kiel. Als ich Tim Eitel – wie vor ihm die Künstler Albert Weis, Daniel Knorr und Bettina Allamoda – darum bat, unser Fanzine frei zu gestalten, war klar, dass ich keine Abbildungen seiner Malerei oder Ausschnitte daraus erwartete. Über den Umstand hinaus, dass Gemälde ihre Wirkung immer erst im Original entfalten, wirkt seine Malerei, grafisch linear und vom Motiv her reduziert, in der Reproduktion oft glatt und – wenn man das sagen kann – zu perfekt. Eine schwarze Fläche wie auf dem nahezu drei auf zwei Meter großen Gemälde »Zwei Männer« nimmt man zur Kenntnis. Ihre Tiefe und ihr Sog entwikkeln sich erst, wenn man vor dem Bild steht und sich Zeit lässt. Jedem ist selbst überlassen, wie lange er sich mit einem Objekt auseinandersetzt, wie lange er vor einem Video sitzt, ein Buch liest, oder zum Beispiel in diesem Fanzine blättert. Doch im Gegensatz zu einer Kino- oder Theateraufführung, aus der man selten vor Schluss geht, geben Bilder ein eigensinniges Zeitmaß vor. Wenn Hegel richtig vermerkt, dass man heute eine Mariendarstellung noch schön finde, jedoch das Knie nimmermehr vor ihr beuge, ist damit auch eine verändertes Zeitverhältnis zum Bild gemeint: Es gibt niemanden mehr, der einem vorschreibt, wie lange man davor Einkehr zu halten habe und was dabei zu denken sei. Es gibt natürlich die Hingucker, wie man in der Werbung sagt. Und man ist gar nicht so weit weg, wenn man die verlorenen Figuren, Tütenberge und Müllcontainer auf Eitels Bildern zunächst so versteht. Sie wollen Aufmerksamkeit erzeugen. Doch spannend wird es auf der formalen, malerischen Seite. Und die hat ihre eigene Zeit, die Spannung von Figur zum Raum, von Körper zur Fläche, von Farbe zu Grau, Schwarz und Weiß. Tim Eitels Bilder geben einen eigenen Takt vor, aus dem die Figuren eine neue Geschichte erzählen kön- nen – Geschichten, die eng mit den 1990er Jahren, ihrem Lebensgefühl der Befreiung und des Aufbruchs, aber auch mit Vereinzelung und Vereinsamung zu tun haben. Seine Bilder verwenden entweder das Kleinformat des Genre- oder das Großformat des Historienbildes, halten sich erst auf den zweiten Blick an deren inhaltliche Gattungsvorgabe: Monumentalbildwürdig ist ihm ein Müllcontainer mit Tauben, den man mit einem Marienaltar in Beziehung bringen kann, ebenso wie ein liegender junger Mann, der bewusst an Manets toten Torero erinnert oder die müde Schulklasse in der Black Box eines Museums an Géricaults Jahrhundertbild »Das Floß der Medusa«. Tim Eitel ist damit ein eigensinniger Chronist der Nachwendezeit. »Friedensvertrag« für die einstigen Gegner auf dem Europäischen Kriegsschauplatz, machte den Weg für die Wiedervereinigung Deutschlands frei. In gewisser Weise endet erst zu diesem Zeitpunkt die »Nachkriegszeit«: Die Deutschen wurden in die Souveränität entlassen, sie konnten im – parallel verhandelten – Einigungsvertrag vom 31. August 1990 eigenständig die Modalitäten für die Wiedergewinnung der staatlichen Einheit festlegen. Die Bestimmungen im Einzelnen lauten in Textauszügen wie folgt: Eitel schlug für das 90er Jahre »Deutschlandsaga«-Fanzine vor, aus seinen Fotos dieser Zeit eine Auswahl zu treffen und im Fanzine anzuordnen. In seinem Katalog »A Stage« 2006 hatte er querformatige Schnappschüsse aus seiner digitalen Fotokamera unter einen Interviewtext gesetzt: Menschen auf der Straße, im Supermarkt, auf einer Messe, klaustrophobe Architekturen, Habseligkeiten von Obdachlosen. Aus diesen privaten und zufälligen Fotografien – blätterte man im Katalog weiter – stammten offensichtlich einige der Motive, Figuren und Sets seiner Bilder. Der Fotoserie in unserem Fanzine fehlt zunächst jeglicher Belegcharakter. Sie wurden nie Vorlagen für sein malerisches Werk. Und aus dem Schuhkarton gekramt, besitzen die Aufnahmen in Farb- und Schwarz-Weiß-Abzügen unterschiedlichster Größe und Qualität keinen künstlerischen Anspruch. Sie wirken in der Folge, in der Serie: Tim Eitel ging nach dem Abitur in Stuttgart Anfang der 90er Jahre zum Studium zuerst nach Halle, dann nach Leipzig. Dies findet sich in den Bildern wieder. Die krassen Gegensätze von westdeutschem Kleinstadtmief und ostdeutschem Altbauschmuddel, der durch den Ausbruch der Medienheldenbilder von Kurt Cobain bis Tom Cruise, von Captain Picard bis Kofi Annan und schließlich Bildern New Yorker Urbanität einen Kontrapunkt finden. Sie sind nicht chronologisch oder nach Orten angeordnet – thematisch nur insofern als sich lose Cluster ergeben, die durch Vor- und Zurückblättern erweitert und verdichtet werden können – persönliche Erinnerungsräume, die sich aber einer linearen Erzählung permanent entziehen. Präambel Die Bundesrepublik Deutschland, die Deutsche Demokratische Republik, die Französische Republik, das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland, die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken und die Vereinigten Staaten von Amerika – in dem Bewußtsein, daß ihre Völker seit 1945 miteinander in Frieden leben, eingedenk der jüngsten historischen Veränderungen in Europa, die es ermöglichen, die Spaltung des Kontinents zu überwinden, (…) in Würdigung dessen, daß das deutsche Volk in freier Ausübung des Selbstbestimmungsrechts seinen Willen bekundet hat, die staatliche Einheit Deutschlands herzustellen, um als gleichberechtigtes und souveränes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, in der Überzeugung, daß die Vereinigung Deutschlands als Staat mit endgültigen Grenzen ein bedeutsamer Beitrag zu Frieden und Stabilität in Europa ist, mit dem Ziel, die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland zu vereinbaren, (…) sind wie folgt übereingekommen: Max Glauner, freier Autor und Kulturjournalist, Chefredakteur des »Deutschlandsaga«-Fanzines, lebt in Berlin. DER »ZWEI-PLUS-VIER-VERTRAG« Der Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland zwischen der DDR und der Bundesrepublik Deutschland sowie Frankreich, den USA, dem Vereinigten Königreich und der Sowjetunion, wurde am 12. September 1990 in Moskau unterzeichnet und trat am 15. März 1991 in Kraft. Die vier Siegermächte des Zweiten Weltkrieges verzichteten in diesem Vertrag auf sämtliche Rechte, die sie sich in den Waffenstillstandsvereinbarungen mit dem Deutschen Reich vom 8. Mai 1945 in Bezug auf »Deutschland als Ganzes« vorgehalten hatten. Der »Zwei-plus-Vier-Vertrag«, faktisch der Zwei-plus-Vier-Vertrag – vom 12. September 1990 (BGBl. 1990 II S. 1317) Artikel 1 (1) Das vereinte Deutschland wird die Gebiete der Bundesrepublik Deutschland, der Deutschen Demokratischen Republik und ganz Berlins umfassen. Seine Außengrenzen werden die Grenzen der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland sein und werden am Tage des Inkrafttretens dieses Vertrags endgültig sein. Die Bestätigung des endgültigen Charakters der Grenzen des vereinten Deutschland ist ein wesentlicher Bestandteil der Friedensordnung in Europa. (2) Das vereinte Deutschland und die Republik Polen bestätigen die zwischen ihnen bestehende Grenze in einem völkerrechtlich verbindlichen Vertrag. (3) Das vereinte Deutschland hat keinerlei Gebietsansprüche gegen andere Staaten und wird solche auch nicht in Zukunft erheben. (4) … (5) Die Regierungen der Französischen Republik, der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland und der Vereinigten Staaten von Amerika nehmen die entsprechenden Verpflichtungen und Erklärungen der Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik förmlich entgegen und erklären, daß mit deren Verwirklichung der endgültige Charak- ter der Grenzen des vereinten Deutschland bestätigt wird. Artikel 2 Die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik bekräftigen ihre Erklärungen, daß von deutschem Boden nur Frieden ausgehen wird. Nach der Verfassung des vereinten Deutschland sind Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten, verfassungswidrig und strafbar. Die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik erklären, daß das vereinte Deutschland keine seiner Waffen jemals einsetzen wird, es sei denn in Übereinstimmung mit seiner Verfassung und der Charta der Vereinten Nationen. Vereinbarungen, Beschlüsse und Praktiken beendet und alle entsprechenden Einrichtungen der Vier Mächte aufgelöst. Artikel 3 (1) Die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik bekräftigen ihren Verzicht auf Herstellung und Besitz von und auf Verfügungsgewalt über atomare, biologische und chemische Waffen. Sie erklären, daß auch das vereinte Deutschland sich an diese Verpflichtungen halten wird. Insbesondere gelten die Rechte und Verpflichtungen aus dem Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen vom 1. Juli 1968 für das vereinte Deutschland fort. Auswahl und Hervorhebungen durch Fettdruck von Friedrich Barner. (2) … (3) … Artikel 4 (1) Die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland, der Deutschen Demokratischen Republik und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken erklären, daß das vereinte Deutschland und die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken in vertraglicher Form die Bedingungen und die Dauer des Aufenthalts der sowjetischen Streitkräfte auf dem Gebiet der heutigen Deutschen Demokratischen Republik und Berlins sowie die Abwicklung des Abzugs dieser Streitkräfte regeln werden, der bis zum Ende des Jahres 1994 im Zusammenhang mit der Verwirklichung der Verpflichtungen der Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik, auf die sich Absatz 2 des Artikels 3 dieses Vertrags bezieht, vollzogen sein wird. (2) … Artikel 5 … Artikel 6 … Artikel 7 (1) Die Französische Republik, die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland und die Vereinigten Staaten von Amerika beenden hiermit ihre Rechte und Verantwortlichkeiten in bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes. Als Ergebnis werden die entsprechenden, damit zusammenhängenden vierseitigen (2) Das vereinte Deutschland hat demgemäß volle Souveränität über seine inneren und äußeren Angelegenheiten. Artikel 8 … Artikel 9 … Artikel 10 … CHRISTIAN KUPKE RÜCKBLICK AUF DAS ENDE DER GESCHICHTE II ODER DIE NICHT ENDEN WOLLENDE GESCHICHTE VOM ENDE DER GESCHICHTE Wenn man über das Ende der Geschichte nachdenkt, sollte man nicht vergessen, in welchem Jahr, in welchem Jahrzehnt oder sogar in welchem Jahrhundert man das tut. In vielleicht 10 oder 20 Jahren dürfte eine Deutschlandsaga schon ganz andere Schwerpunkte setzen als die, an der hier und heute gestrickt wird. Wir haben jetzt das Jahr 2008, das vierte Jahrzehnt, nachdem in der Studentenbewegung der 68er das erste Mal vom »Ende der Geschichte« die Rede war. Seitdem ist sehr oft und in wechselnden, ja geradezu entgegengesetzten Kontexten von einem solchen Ende gesprochen worden; ich habe darüber berichtet. Aber der Grundgedanke ist immer derselbe geblieben: Die geschichtliche Entwicklung nimmt, meist veranlasst durch oder verkörpert in einem Ereignis – dem Ende des Zweiten Weltkriegs, die Schüsse auf Benno Ohnesorg, dem Fall der Mauer, der Attacke auf das World Trade Center – eine paradigmatische Wende, in der etwas zum Ende kommt, dessen Ende vorher undenkbar schien – nur eines nicht: die Geschichte vom Ende der Geschichte. Noch in den 80er Jahren schien vielen undenkbar, was dann im Herbst 1989 und schließlich auch formell im Oktober 1990 Wirklichkeit wurde: der Fall der Mauer und das Ende des Kalten Krieges. Jean Baudrillard hatte Anfang der 80er Jahre noch lauthals das »Ende des Sozialen« verkündet und damit gemeint, es gebe keine »demokratischen Massen« mehr, die noch irgendetwas bewegen oder ausrichten, geschweige denn so etwas wie eine »Revolution« anzetteln könnten. Nun musste er einsehen, dass er unrecht hatte und stellte in seinem Buch »Die Illusion des Endes oder Der Streik der Ereignisse« 1992 selbstkritisch fest: Die atomare Abschreckung habe ihr Ziel erreicht, sie sei »gelungen«, und deshalb müsse man sich fortan an den Gedanken gewöhnen, dass es kein Ende mehr gebe, dass es kein Ende mehr geben werde und dass die Geschichte selber endlos geworden sei. »Das ›Ende des Politischen‹? Das ›Ende der Ideologien‹? Das ›Ende des Sozialen‹ etc.? Nichts von alledem ist wahr.« Nur scheinbar schien Baudrillard mit diesen Thesen Francis Fukuyama zu widersprechen, der im selben Jahr in seinem Aufsehen erregenden Buch »The End of History and the Last Man« an die auch für Baudrillard so wichtigen Überlegungen Kojèves wieder anknüpfte und vor seinem erstaunten intellektuellen Publikum einen nahezu zwingend erscheinenden Argumentationsbogen entfaltete: So wie mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges – an dem Kojève seine Thesen erstmalig entwickelt hatte – der eine Gegner der liberalen Demokratie, der Faschismus, besiegt worden war, so sei nun mit dem Ende des Kalten Krieges ihr zweiter – und im Übrigen letzter – Gegner, der Kommunismus, besiegt worden. Keine einzige politische Ideologie und kein einziges ihr zugehöriges, ob nun real, irreal oder surreal existierendes politisches System könne, was ihren rechtsstaatlichen und sozialökonomischen Status anbelange, fortan der liberalen Demokratie, »the final form of human government«, das Wasser reichen. Und eben deshalb sei die Menschheit am Ende ihrer Geschichte angelangt: »that there would be no further progress in the development of underlying principles and institutions, because all of the really big questions had been settled.« Alles, was noch folgen könnte, so Fukuyama, seien Reformen an diesem einen und einzig legitimen System der kapitalistischen Demokratie bzw. eine Globalisierung, die dieses System – das »Empire«, so Hardt und Negri im Jahr 2000 – über den ganzen Erdball als frohe Botschaft verkünde. Es bedarf heute, kaum zwei Jahrzehnte später, keiner besonderen historischen Sensibilität, um zu erkennen, dass das ein kapitales Fehlurteil war. Und vor allem: dass das, was hier »Globalisierung« genannt wird (man kann sich darunter durchaus auch noch etwas anderes vorstellen), kein progressiver und schon gar nicht ein natürlicher oder evolutionärer, sondern ein äußerst regressiver und repressiver Prozess ist. Denn es haben sich seit dem neuen Jahrtausend ganz andere und äußerst mächtige Gegner zurückgemeldet, die nicht zuletzt auf genau jenen christlichen und menschenrechtlichen Fundamentalismus reagieren, der in diesen apokalyptischen Phrasen vom Ende der Geschichte immer wieder fröhliche Urständ feiert. Und die so genannte »liberale« oder »neoliberale« Demokratie ist sogar mittlerweile zu ihrem eigenen Gegner geworden, indem sie sich neuerdings, wie Fukuyama selber in seinem letzten, vor kurzem erst ins Deutsche übersetzten Buch »America at the Crossroads. Democracy, Power, and the Neoconservative Legacy« schreibt, »leninistischer« Methoden bedient – z.B. in Guantánamo oder im Irak, wo der Prozess der Globalisierung mal eben ein wenig beschleunigt wird: indem man den Leuten dort die Menschenrechte mit Folterwerkzeugen und Gewehrsalven eintrichtert. Wohlgemerkt, nicht nur im Namen der liberalen Demokratie, sondern auch legitimiert durch den Wählerwillen dieser Demokratie, durch den demokratischen Souverän höchstpersönlich. Aber auch ein zweiter Punkt ist im Rückblick durchaus überraschend: Die Thesen Fukuyamas und Baudrillards – vom Ende der Geschichte und vom Ende dieses Endes – sind einander auf verblüffende Weise ähnlich. Denn das Baudrillard’sche Ende vom Ende ist immer noch ein Ende, so wie die Hegel’sche Negation der Negation immer noch eine Negation ist. Schaut man sich nämlich, so Baudrillard, mal etwas genauer an, was sich da am Beginn der 90er hinter dem alten eisernen Vorhang durchzusetzen begann, so war es doch eigentlich nur die Wiederkehr, das »Recycling« dessen, was wir längst schon kannten: Demokratie, Rechtstaatlichkeit, Menschenrechte und all der andere damit verbundene Firlefanz: »Die Demokratie selbst, diese weltweite Demokratie der Menschenrechte, ist bereits nichts als ein gigantisches Recycling auf der Ebene unseres Planeten. Sie besteht aus dem Bodensatz, der bei der Zersplitterung aller reellen Freiheiten übrig blieb, sie ist ein Konglomerat, ein Syntheseprodukt, das im Vergleich zum filigranen Wesen der Demokratie dieselben Charakteristika aufweist wie Recyclingpapier.« Die Wahrheit dieses »Recyclings« ist: Die Rede vom Ende ist, so wie die mythische Rede vom Anfang, in sich paradox. Sie ist selber mythisch. Denn entweder ist das Ende ein neuer Anfang und damit seine eigene Selbstwiderlegung: Das Ende der Geschichte ist der Anfang einer neuen. Oder aber das Ende ist und bleibt das Ende, aber dann ist das Ende selbst die Geschichte: Das Ende der Geschichte ist eine endlose Geschichte. Niemand, und schon gar nicht die in sich selbst, d.h. in ihre eigenen Übertreibungen: Hyperbeln, Hyperkritiken und Hypostasierungen verliebten Hyper-Philosophen wie Baudrillard und Fukuyama können sich einer solchen Logik entziehen. Indem sie mit einer nur aufs »Ende« projizierten onto- und ursprungslogischen Figur operieren, werden sie selber zu Verurteilten einer Geschichte, über die sie sich als Ganze zu urteilen erlauben. Es bedarf nur irgendeines Ereignisses in dieser eben endenden oder nie enden wollenden Geschichte, z.B. des Falls der Mauer oder des Anschlags auf das World Trade Center, um ihre Theorien jenem Mülleimer zu überantworten, zu dem schließlich Baudrillard die Geschichte selbst erklärt hat: »Wenn es keine Mülleimer der Geschichte mehr gibt – denn das Ende der Geschichte, das ist auch das Ende der Mülleimer der Geschichte – dann deshalb, weil die Geschichte selbst zum Mülleimer geworden ist.« Summa summarum: Der intellektuelle Müll, mit dem man sich seit den 90er Jahren als Philosoph verstärkt herumschlagen muss, stellt offenbar ein noch viel größeres Problem dar als der sonstige, und nichts kann uns offenbar vom Bodensatz der Dummheit des vergangenen Jahrhunderts befreien (eben deshalb setze ich auf das soeben begonnene Jahrhundert und freue mich schon auf die nächste »Deutschlandsaga«). Denn die nicht enden wollende Geschichte vom Ende der Geschichte zeigt uns lediglich die Resistenz einer ontologischen Formel: eben die vom »Ende«. Sie zeigt uns die Sprache als eine phraseologische Hohlform, in die sich jeder verkriechen kann, der immer noch daran glaubt, etwas Starkes, etwas Endgültiges, eben etwas Ontologisches behaupten zu können – und sei es auch nur, dass es die Ontologien sind, die an ihr »Ende« gekommen seien. Die Geschichte vom Ende hört offenbar nie auf – und widerlegt sich eben damit selbst. Christian Kupke, geboren 1959, lebt und arbeitet als freier Autor und Philosoph in Berlin.