Reader - Medinetz Leipzig

Transcrição

Reader - Medinetz Leipzig
Zeitung der Medinetze
Medibüros und
Medizinischen
Flüchtlingshilfen
Ausgabe 1
Krank ohne Papiere?
Chory i bez dokumentów?
Hasta ve belgesiz?
Bolestan/bolesna i bez izprave?
Ốm đau và không có giấy tờ?
Болни сте и нямате документи?
Болен и без документов?
Impressum:
Artikel: Alex Rosen, Anna Kühne, Charlotte Konwisorz, Katharina Thilke, Rosi Bogner, Sonja MüllerTribbensee, Stephan Bialas, Ulrike Mölle, Initiativkreises für die Integration von AsylbewerberInnen in
Leipzig, Abschiebungshaftgruppe Leipzig
Photos: Ina Müller uvm.
Deckblatt: Florian Hesselbarth
Redaktion: Stephan Bialas, Alexandro Hoyer, Katharina Willuweit, Katharina Thilke, Alex Rosen
Layout: Alex Rosen
Druck: Uni-Center Düsseldorf, www.uni-copycenter.de
V.i.S.d.P: Alex Rosen, Krefelder Str. 97a, 5670 Köln
Inhalt
Grußwort
Seite 1
Photos vom Leipziger Bundestreffen
Seite 2
Impressionen eines Teilnehmers
Seite 3
Vortrag von Dr. Martin Merbach
Seite 5
Anonymer Krankenschein
Seite 7
Die neue Verwaltungsvorschrift
Seite 9
Schwanger und keine Papiere
Seite 11
Med. Versorgung von EU-MigrantInnen
Seite 13
Nexweş û bê ewraq?
Seite 15
Was ist Frontex?
Seite 16
MediNetz-Demo in Leipzig
Seite 19
Redebeitrag Abschiebungshaftgruppe
Seite 20
Redebeitrag Medinetz Leipzig
Seite 21
Redebeitrag „Schluss mit Rassismus“
Seite 23
Grußwort
Liebe Medinetzinteressierte und natürlich liebe Medinetzler_innen!
Im Juni letzten Jahres fand das bundesweite Treffen der Medinetze in Leipzig statt. Auf dem Treffen entstand unter
anderem die Idee, eine gemeinsame Zeitung mit Informationen über die Probleme und Neuigkeiten der Medinetzarbeit
herauszubringen. Es ist viel Zeit vergangen und manch eine_r wird mittlerweile vielleicht sogar überrascht sein, diese
Zeitung nun wirklich in den Händen zu halten. Auch wir als Redaktion hätten wohl nicht damit gerechnet, dass Schwierigkeiten, wie die Hunderte von Kilometern zwischen uns oder der alltägliche Klausur-, Arbeits- oder Promotionsstress
so viel Zeit für dieses Projekt rauben können. Wie auch immer! Was lange währt...
Letztendlich ist eine, wie wir denken, informative und interessante Zeitung entstanden. Die meisten Texte handeln von
den Themen der Workshops des Bundestreffen, so dass auch diejenigen, die nicht nach Leizig kommen konnten,
davon profitieren können. Wir haben zum Teil die zugeschickten Protokolle sehr gewissenhaft in, wie wir hoffen, gut
lesbare Texte umgeschrieben ohne einen Informationsverlust zu riskieren. Wir erhoffen uns so einen besser nutzbaren
Überblick über die Diskurse und Problematiken der Medinetzarbeit und vielleicht auch, dass es etwas mehr Freude
beim Lesen bereitet als es das Durchgehen von tabellarischen Protokollen mit sich bringen würde. Wir hoffen Euch
gefällt diese Zeitung und, noch wichtiger, Euch helfen die Informationen bei der weiteren Medinetzarbeit! Auf
www.medibueros.org gibt es übrigens auch eine 'Online-Version' dieser Zeitung.
Zuletzt bleibt noch ein riesengroßes Dankeschön an alle Mitwirkenden: An die Protokollant_innen und Autor_innen und
auch an die Workshopleiter_innen, die die Texte nochmals Korrektur gelesen haben.
Im Namen der Redaktion,
Stephan Bialas
Leipzig
Worum geht es hier eigentlich?
Für Leser_innen, die noch gar nicht wissen, was Medinetze, MFHs oder Medibüros eigentlich sind, hier ein paar Sätze
dazu: Medinetze/Medibüros/MFHs sind nichtstaatliche Organisationen, die versuchen, Menschen, die vom Staat
illegalisiert werden, den Zugang zu einer medizinischen Versorgung zu ermöglichen. Diese Menschen haben durch die
strikte Gesetzgebung nur sehr limitierten Zugang zu medizinischen Leistungen und selbst diese sind mit
weitreichenden Konsequenzen, die viel zu oft zu Abschiebungen führen können, verknüpft. Medinetze bzw. Medibüros
bieten eine regelmäßige Sprechstunde an, bei der illegalisierte Menschen an vertrauenswürdige Ärztinnen und Ärzte
weitervermittelt werden um so eine adäquate und diskrete Behandlung zu ermöglichen. .
Weiterhin setzen wir uns in unserer politischen Arbeit dafür ein, die unmenschliche Praxis der Illegalisierung und die
damit einhergehende medizinische Unterversorgung von Menschen zu stoppen und diese Missstände öffentlich zu
machen. Die Organisationen teilen keinen gemeinsamen Namen, meist heißen sie Medinetz, Medibüro oder medizinische Flüchtlingshilfe. Zur Einfachheit wird in dieser Zeitung meist von Medinetz oder Medibüro gesprochen, gemeint ist
jedoch die gleiche Struktur.
Für ausführlichere Informationen sei auf die Seite www.medibueros.org verwiesen.
Noch kurz was zum Geschlecht...
In den meisten Texten werdet ihr den sogenannten 'Gender-Gap' (z.B. Migrant_innen) finden. Dies ist ein Mittel der
sprachlichen Darstellung aller sozialen Geschlechtsidentitäten, auch jener abseits der gesellschaftlich hegemonialen
Zweigeschlechtlichkeit. Die Intention ist, durch den Unterstrich einen Hinweis auf diejenigen Menschen zu geben,
welche nicht in das ausschließliche Frau/Mann-Schema hineinpassen oder nicht hineinpassen wollen.
Seite 1
Photos vom Bundestreffen
in Leipzig
Seite 2
Impressionen eines Teilnehmers
MediNetz Leipzig
Freitag Morgen, gleich nach der Frühbesprechung...
eine aufreibende Nachtdienstwoche mit einem
latenten Schlafdefizit hinter mir, und voller Vorfreude
auf das anstehende Wochenende, schwing ich mich
aufs Rad und fahr zum Bahnhof. Fahrrad abgestellt,
Mietwagen abgeholt, noch schnell eine große Tasse
Kaffee geschlürft und schon treffen die MitfahrerInnen
an - Medizinstudies und eine Kranken-schwester aus
Düsseldorf und dem Ruhrgebiet. Zu fünft zwängen wir
uns in die kleine Mietskutsche und düsen quer durch
die Republik. Ziel: Leipzig!
Dort erwartet uns ein Wochenende voller neuer
Eindrücke. Aus ganz Deutschland werden engagierte
Menschen anreisen, die sich für die medizinische
Versorgung von Flüchtlingen und MigrantInnen
einsetzen. Nach dem ersten bundesweiten Treffen in
Bochum 2008 und einem Folgetreffen in Freiburg
letztes Jahr, findet nun schon zum dritten Mal ein
solches gemeinsames Wochenende der Medibüros,
MediNetze und Medizinischen Flüchtlingshilfen statt,
diesmal organisiert vom MediNetz Leipzig. Während
wir uns durch Rheinland, Taunus und Thüringischen
Wald schlängeln, kreisen die Gespräche immer
wieder um die Arbeit der MediNetze und unsere
Erwartungen an das Wochenende.
Am nächsten Morgen weckt der Duft von frisch
gebrühtem Kaffee die TeilnehmerInnen. Nach einem
sonnigen Frühstück im Hof geht es zur ersten
Plenarsitzung, wo das Programm des Wochenendes
vorgestellt wird und anschließend in die ersten
Workshops. Unsere Gruppe teilt sich strategisch auf,
damit wir möglichst viel mitbekommen. Das
thematische Angebot reicht von informativen
Vorträgen über die Situation der EU-StaatsbürgerInnen aus Osteuropa oder das europäische
„Flüchtlingsabwehrnetz“ Frontex über Workshops, die
sich mit praktischen Lösungsansätzen für Schwangere ohne Papiere oder andere „Alltagssorgen“ der
Medizinischen Flüchtlingshilfen befassen, bis hin zu
eher organisatorischen Workshops, beispielsweise zur
Öffentlichkeitsarbeit oder der besseren Vernetzung
der Initiativen untereinander. So kommt jedeR auf
seine Kosten – die Neulinge lernen viel über die
rechtlichen und sozialen Hintergründe der Menschen
die in ihre Sprechstunde kommen, die Erfahreneren
bemühen sich um eine Verbesserung der
Zusammenarbeit und des Austauschs.
Am späten Nachmittag kommt unser Rhein-RuhrMobil dann schließlich in Leipzig an. Wir fahren durch
ein altes Industriegebiet, geprägt von Backsteingebäuden und Schornsteinen, aber auch von Zeichen
einer alternativen linken Szene, die es sich hier
gemütlich gemacht hat. Auch unser Tagungsort, das
Kulturelle Zentrum zur Förderung emanzipatorischer
Gesellschaftskritik und Lebensart, ist ein selbstverwaltetes Areal, dessen leicht anarchisches Wesen
beste Voraussetzungen für einen offenen und freien
Diskurs schafft.
Wie so oft bei solchen Wochenenden erweisen sich
die Pausen als die Zeiten der intensivsten Arbeit – hier
wird gemeinsam über die Erkenntnisse der Workshops diskutiert, hier werden Ideen gesponnen und
Pläne gemacht. Vor allem die noch relativ frisch
gegründeten MediNetze profitieren enorm durch den
Austausch mit den MitarbeiterInnen der lang aktiven
Initiativen und es bilden sich spontane Diskussionsgruppen während des Mittagsessen – das Interesse
am Erfahrungsaustausch ist groß.
Das Lagerfeuer brennt schon, als wir unsere
Rucksäcke durch das gusseiserne Tor hieven. In den
kommenden Stunden füllt sich dann der quirlige
Innenhof mit immer mehr Leuten. Sie kommen aus
Erlangen, Rostock, Berlin, Freiburg, München,
Hamburg oder Göttingen, aus Dresden, Gießen und
Mainz – am Ende werden es knapp 100 TeilnehmerInnen aus 23 Städten sein, die für dieses Wochenende anreisen. Die Leipziger Gastgeber geben sich
Mühe, alle gebührend zu empfangen und zu ihren
Schlafplätzen in der alten Gießerei zu dirigieren.
Ganz nebenbei haben viele TeilnehmerInnen
währenddessen ihre erste Erfahrungen mit veganer
Küche und stellen (oft zu ihrem eigenen Erstaunen)
fest, wie schmackhaft und gesund diese sein kann.
Das Gesamtkonzept des Küchenchefs scheint aufzugehen – selbst das abendliche Barbecue bestreitet er
gänzlich auf Sojabasis – und alle sind begeistert.
Der Freitag Abend dient vor allem dem Kennenlernen
und dem Austausch. Bis weit nach Mitternacht wird
sich am Feuer gewärmt und über die Erfahrungen in
den verschiedenen Initiativen berichtet. Für die
meisten ist es das erste Mal, dass sie über die
Grenzen ihres lokalen Projekts hinausblicken und
feststellen, dass in ganz Deutschland Menschen mit
ähnlichen Problemen konfrontiert sind, ähnlich
pragmatische Lösungen gefunden haben und mit
ähnlichen Fragen nach Leipzig gekommen sind.
Seite 3
In den Plenarsitzungen wird dann allerdings auch
deutlich, wie weit, aller Gemeinsamkeiten zum Trotz,
die politischen Vorstellungen der unterschiedlichen Initiativen doch auseinander liegen. Während vor allem
die neuen MediNetze noch sehr mit der Organisation
des Alltags beschäftigt sind, streben die Erfahreneren
nach politischen Lösungen und mehr Kooperation.
Am Sonntag dann noch der krönende Abschluss
dieses Wochenendes: mit Hunderten von AktivistInnen und UnterstützerInnen, einem großen Lautsprecherwagen und Tausenden von informativen Flugblättern ziehen wir durch die Leipziger Innenstadt und
demonstrieren lautstark für eine Gesellschaft, in der
jedeR, unabhängig seines rechtlichen Status, Zugang
zu den Grundbedürfnissen des Lebens hat – eben
auch zu medizinischer Hilfe.
Es könnte auch so zusammenfassen gefasst werden:
während die einen damit beschäftigt sind, sich gerade
zu gründen, bemühen sich die anderen, sich gerade
abzuschaffen. Dass es trotz dieser grundlegenden
Unterschiede immer fair und konstruktiv zugeht, darf
auch als riesiges Lob an die Moderation der OrganisatorInnen gesehen werden. Am Ende steht fest, dass
es allen eigentlich um das selbe geht und wir es mit so
vielen Initiativen in unterschiedlichen Phasen ihrer
Existenz halt einfach schwer haben, alle unter einen
Hut zu bekommen.
Die LeipzigerInnen nehmen uns wahr und hören
interessiert zu – mit diesen positiven Bildern im Kopf
machen wir uns auf den Heimweg. Es gibt viel zu tun
– neue Ideen haben sich im Laufe des Wochenendes
herauskristallisiert, ehrgeizige Vorhaben gebildet und
Lösungsansätze für einige Probleme gefunden.
Bis zum nächsten Treffen ist es noch lange hin, aber
diese Zeit werden wir auch brauchen, um all das zu
verarbeiten, was wir dieses Wochenende erlebt und
erfahren haben. Bis nächstes Jahr in Mainz also...
Eine gemeinsame Internetplatform, ein Onlineforum,
eine Presse-erklärung, ein bundesweites Kunstprojekt,
ein gemeinsamer Reader und ein Folgetreffen in
Mainz im nächsten Jahr sind dabei die sichtbarsten,
aber bei weitem nicht einzigen Zeichen der
bundesweiten Kooperation.
Alex Rosen
Düsseldorf
MediNetz Leipzig
Seite 4
„Offen für Alle“
Vortrag von Dr. Martin Merbach
Vorbereitungs, Migrationsakt, Überkompensierung,
Dekompensation, generationsübergreifende Anpassung und Integration. Eine Einordnung der jeweiligen
Person kann für den Beratenden eine Hilfe darstellen,
können doch die einzelnen Phasen mit spezifischen
Belastungsfaktoren beschrieben werden.
MediNetz Leipzig
„Wie kann das gesundheitliche Versorgungssystem /
Wie kann unser Angebot an die Bedürfnisse der
migrantischen Nutzer_innen angepasst werden?“
Dieser Frage war der erste Abend des bundesweiten
Medinetztreffens gewidmet und viele Zuhörer_innen,
unter ihnen sowohl Teilnehmer_innen des Treffens als
auch interessierte Leipziger_innen, konnten sich bei
dem Vortrag Dr. Martin Merbachs ein Bild von der
aktuellen Lage migrationssensibler gesundheitlicher
Versorgung in Deutschland machen, aber auch einige
Anregungen für die eigene Praxis mitnehmen.
Merbach ist Psychologe an der Uni Leipzig und
befasst sich schwerpunktmäßig mit Migration und
Gesundheit und interkultureller Beratung. Charlotte
Konwisorz hat sich für uns die Mühe gemacht und
seine Rede hier auf zwei Seiten zusammengefasst.
Betrachten wir nun den Zusammenhang zwischen
Gesundheit und Migration, so ist es sinnvoll, verschiedene Ebenen zu unterscheiden: einerseits die körperliche Gesundheit und auf der anderen Seite das psychische Wohlbefinden von Menschen mit Migrationshintergrund.
Was den körperlichen Zustand angeht, so stellt sich
die Befundlage als recht widersprüchlich dar, beispielsweise bezüglich der Prävalenzrate. Einige Studien belegen eine bessere gesundheitliche Verfassung von Migrant_innen im Vergleich zur Bevölkerung
im Ankunftsland, andere kommen zu umgekehrten
Schlüssen.
Betrachten wir dahingegen den psychischen
Gesundheitszustand werden eindeutigere Zusammenhänge sichtbar. So attestiert die Forschung den
Migrant_innen eine signifikant schlechtere psychische
Verfassung. Diese Befunde variieren jedoch stark je
nach Herkunftsregion und -kultur. Als Gründe hierfür
können neben krank machenden Lebensbedingungen, beispielsweise traumatisierenden Erlebnissen,
auch der kulturspezifische Umgang mit Krankheit bzw.
Beschwerdeäußerung genannt werden.
Eine pauschale Aussage zur Gesundheit von
Migrant_innen kann also eigentlich nicht getroffen
werden. Trotzdem sollen hier zwei Ergebnisse
benannt werden: zum einen stellt sich ein positiver
Zusammenhang zwischen sozialer Integration und
Gesundheit heraus, zum anderen können negative
Zusammenhänge zwischen Diskriminierung und
Gesundheit festgestellt werden.
1. Analyse der Zielgruppe
Zunächst fällt bei der näheren Betrachtung der
eigentlichen Zielgruppe (Menschen mit Migrationshintergrund) unwillkürlich ins Auge, dass es sich hier
um eine sehr heterogene Gruppe handelt, die sich
nicht nur hinsichtlich ihres jeweiligen Herkunftsgebiets
unterscheiden, sondern auch hinsichtlich Aufenthaltsdauer, Aufenthaltsstatus etc. unterschiedliche Voraussetzungen mitbringen. Daraus ergeben sich weiterhin
Unterschiede hinsichtlich Sprachkompetenz, kulturspezifisch normierten Verhaltensregeln, etc. Eine sehr
naheliegende Einsicht – jedoch muss diese Diversität
berücksichtigt werden, wenn ich mein jeweiliges
Angebot optimieren und den Bedürfnissen meiner
Klient_innen gerecht gestalten möchte.
2. Analyse der Beziehungsgestaltung
Zu einem „maßgeschneiderten“ und bedürfnis-orientierten Angebot trägt nicht alleine der sensible und
differenzierte Blick auf die Person, die es nutzen
möchte, bei. Auch eine kritische Sicht auf das eigene
Agieren, die eigenen Fähig- und Fertigkeiten ist unerlässlich. Dazu gehört auch, sich mit der Beziehungsgestaltung zwischen Berater_in und Nutzer_in auf
verschiedenen Ebenen auseinanderzusetzen. Hierzu
werden wir uns beziehungs-dynamischer Aspekte der
Psychoanalyse bedienen:
Im konkreten Beratungsfall bietet es sich zudem an,
sich (zur Nachvollziehbarkeit der individuellen
Situation des / der zu Behandelnden bzw. Beratenden)
mit deren/dessen Migrations-Geschichte auseinander
zu setzen. Hier bringt Merbach den Begriff der
Akkulturation ins Spiel: Der Prozess des im Ankunftsland Ankommens und Lebens kann modellhaft in
unterschiedliche Phasen eingeteilt werden:
In jede zwischenmenschliche Beziehung werden von
beiden Seiten unterschiedliche Erfahrungen aus der
individuellen Vergangenheit und damit auch Erwartungen an das Gegenüber eingebracht.
Seite 5
Das bedeutet also, dass wir unser Gegenüber, dessen
Verhalten und Äußerungen niemals vollkommen
vorbehaltslos begegnen, sondern das wir auf ihn oder
sie unsere Beziehungserfahrungen übertragen, die
wiederum stark von der jeweiligen Kultur in der wir
aufwachsen geprägt ist. Auf der anderen Seite können
in der Interaktion auch eigene Wünsche und Ängste
geweckt oder sogar (unbeabsichtigt) das eigene
Wertesystem in Frage gestellt werden, was eine
Abwehrreaktion hervorrufen kann.
Durch die verschiedene kulturelle Referenzrahmen
(z.B. der unterschiedliche Umgang mit Krankheit und
Ausdruck von Beschwerden) und Sprachbarrieren
stößt die interkulturelle Begegnung letztendlich an ihre
Grenzen.
3. Welche politischen Forderungen können aus
der bisherigen Analyse folgen?
Einerseits werden immer wieder Stimmen laut, die
eine interkulturelle Öffnung der Regeldienste fordern.
Dies bedeutet eine Entwicklung bestehender
Einrichtung, beispielsweise durch die Steigerung
interkultureller Kompetenzen oder die Einstellung von
muttersprachlichen Fachkräften. Es werden also
gleiche Institutionen für alle geschaffen.
Für die Beziehungsgestaltung im Beratungskontext
kann dies also bedeuten, dass unbeabsichtigt
Konflikte auftreten, die beispielsweise die Themen
Autonomie-Abhängigkeit, Versorgung-Benachteiligung
und Individuation beinhalten, was wiederum schwerwiegende Folgen für den gesamten Beratungsausgang haben kann. Für die professionelle, helfende
Seite bedeutet dies, sich bewusst mit solchem Konfliktpotential und dessen Folgen auseinander zu
setzen und einen sensiblen Umgang damit zu pflegen.
Auf der anderen Seite finden sich Befürworter der
migrantenspezifischen Versorgung. Dies würde eine
separate gesundheitliche Versorgung bedeuten, also
die Schaffung spezieller Angebote und Einrichtungen
für unterschiedliche Herkunftsgruppen.
Über die Bewusstwerdung eigener Stereotype hinaus
ist es für ein tieferes Verständnis der BeratungsBeziehung sinnvoll, sich mit der Funktion und dem
Umgang mit dem Fremden auseinanderzusetzen. So
wird das Fremde zur Konstruktion des Eigenen, sozusagen als Gegenpart unerlässlich – als Ersehntes,
Begehrtes aber auch als Unerwünschtes und NichtGewolltes. Es wird von drei kollektiven Mechanismen
im Umgang mit diesem Fremden ausgegangen:
Entfremdung (Anpassung des Frem-den), Verwertung
(Ökonomisierung des Fremden) und Idealisierung.
Beide Meinungen haben sicherlich ihre Berechtigung
und es ist schwer, ein abschließendes Urteil darüber
zu finden. Erinnern wir uns an die anfänglich beschriebene Heterogenität, die unterschiedlichen Bedürfnisse
von Menschen mit (aber auch ohne) Migrationshintergrund, so scheint eine zweigleisige Entwicklung
des gesundheitlichen Versorgungssys-tems sinnvoll –
die Notwendigkeit einer Weiterentwicklung des
deutschen Gesundheits-systems steht nach der hier
geschehenen Analyse jedoch außer Frage.
Charlotte Konwisorz
Leipzig
Kunze 1998
Die komplette Rede von Dr Merbach findet man übrigens auf unsere Homepage:
http://medibueros.m-bient.com/index.php?id=46
Seite 6
Anonymer Krankenschein
Lösungskonzept 2:
Durchsetzung des „anonymen Krankenscheins“
www.bundestag.de
Konzept des anonymen Krankenscheins
Da es Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus in der
Bundesrepublik auf Grund des sog. „Denunziationsparagraphen“ (§87 AufenthG) derzeit nahezu
unmöglich ist, angemessene medizinische Versorgung
zu erhalten, ohne dabei eine Abschiebung zu riskieren, besteht seit Jahren die Forderung nach dem
Konzept eines „anonymen Krankenscheins“. Es soll
Menschen ohne Aufenthaltsstatus Zugang zu ambulanten und stationären Behandlungen erleichtern.
Dabei würde eine unter ärztlicher Leitung stehende
Anlauf- und Beratungs-stelle im Auftrag der
Sozialämter „anonyme“ Krankenscheine an bedürftige
Papierlose verteilen, so dass diesen daraufhin die
gleiche medizinische Versorgung offen stünde wie
„Regelversicherten mit deutscher Staatszugehörigkeit“. Die personenbezogenen Daten dürften NICHT
weiter an die Ausländerbehörde übermittelt werden.
Die entsprechenden ärztlichen Berater_Innen sollten
eine Art „Gate Keeper“ und „Case Manager“ Funktion
innehaben. Sie sollten nicht nur fachlich erfahren sein,
sondern darüber hinaus eine profunde Rechts- und
Sozialberatung erteilen können, mit dem Sozialamt
kooperieren, möglichst sogar staatlich oder kommunal
finanziert werden.
Zum Schutz vor Missbrauch müssten sie eine
Bedürftigkeitsprüfung bei jeder_m Patient_Innen /
Anwärter_Innen durchführen. Ein Kriterienkatalog zur
Erfassung der Bedürftigkeit müsste dazu erarbeitet
werden.
Mit Hilfe des anonymen Krankenscheins könnte dann
jeder Papierlose den/die Ärzt_In seiner Wahl
aufsuchen und wäre in die „Regelversorgung“
eingegliedert. Über die Abrechnung herrscht noch
Uneinigkeit.
Das Konzept des anonymen Krankenscheins ist in
seiner Grundidee bislang in Deutschland nicht
verwirklicht und unterscheidet sich zum Teil zwischen
den verschiedenen Städten (hier Hamburg – Berlin).
Mögliche Ansätze zur Finanzierung eines solchen
Systems wären:
●
Staatlich/kommunal/städtische Finanzierung
●
EBM (einheitlich Bewertungsmaßstab)
●
GOÄ (Gebührenordnung für Ärzt_Innen)
●
Ähnlich wie bei Privatversicherten
Die Anforderungen sind:
●
Rechtsanspruch - jeder Mensch muss ein
Recht auf Gesundheitsversorgung haben
●
Gesicherte Finanzierung (am besten staatlich)
●
Schutz vor Abschiebung für Patienten ohne
Status
●
Einbindung in die Regelversorgung
●
Politische Durchsetzbarkeit
Aus diesem zweiten Lösungsansatz ergaben sich
weitere Fragestellungen:
●
Wie sollte man eine Bedürftigkeit bei Illegalisierten feststellen, wenn diese doch wahrscheinlich keine Nachweise liefern könnten?
●
Sollten Ausgabestellen staatlich finanziert
werden? Dann würde eventuell immer ein
finanzieller Druck von oben vorherrschen.
●
Was passiert mit Migrant_Innen der neuen
EU-Länder, die sich zwar legal in Deutschland
aufhalten, jedoch oft keine Krankenversicherung haben? Diese fallen derzeit nicht unter
das Asylbewerberleistungsgesetz.
●
Wie bewertet man die Arbeit der karitativen
Einrichtungen?
Zur Verbesserung der medizinischen Versorgung
Papierloser wären zwei Lösungskonzepte denkbar:
Lösungskonzept 1.
Abschaffung des §87 AufenthG und des AsylbLG
Die Abschaffung der Übermittlungspflicht in Zusammenhang mit der Inanspruchnahme medizinischer Leistungen, nicht nur für Krankenhausaufenthalte, sondern
auch im ambulanten Sektor.
Außerdem ist eine Abschaffung des von Ärzt_Innen
viel kritisierte Asylbewerberleistungsgesetz vorgesehen, welches nur eingeschränkte medizinische Leistungen für eine kleine Personengruppe ermöglicht.
Fazit: Dieses Konzept ist in Realität nur sehr schwer
durchsetzbar und benötigt hohen politischen Einsatz.
Seite 7
Alternative Konzepte :
Der anonyme Krankenschein als polit. Forderung
Münchner Konzept
Der anonyme Krankenschein hat Vor- und Nachteile,
wobei das Konzept bislang nur einem kleinen
Fachpublikum zugänglich ist. Teils wird es als utopisch
angesehen, teils besitzen einige Städte bereits eine
breite Lobby, um den Eingang in die Politik zu
meistern.
In München funktioniert die Zusammenarbeit mit der Stadt besonders gut. Es
gibt hier das Amt für Wohnen und
Migration, welches sich unter anderem
um die Obdachlosenunterkünfte und die
Sozialbetreuung kümmert.
Es bleibt ein Konstrukt, hinter dem viele Forderungen
stehen. In Berlin wird bereits versucht, den
individuellen Rechtsanspruch politisch durchzusetzen.
Für uns relevant sind vor allem zwei Arbeitskreise:
●
AG für die Gesundheitsversorgung von neuen
EU-Bürger_Innen
●
AG für die Gesundheitsversorgung von
Illegalisierten (seit 1998, Café 104)
In Städten wie Freiburg ist das Konzept des Anonymen Krankenscheins mühsam ausgearbeitet worden
und im Immigrationsausschuss abgelehnt worden.
Hier könnte die Forderung nach Abschaffung des
„Denunziationsparagraphen“ auf mehr Motivation
stoßen.
In München werden medizische Nothilfe sowie
stationäre Aufenthalte aus einem staatlichen Fond mit
einem Jahresbudget von 100.000 € finanziert. Dieser
Fond gilt jedoch lediglich für Personen ohne
Aufenthaltsstatus, es konnte aber bislang noch
jedem_r Neu-EU-Bürger_In nach einer Bedürftigkeitsprüfung geholfen werden. Bei ambulanter Behandlung
werden nur die Kosten für Medikamente übernommen, Arzthonorare werden nicht finanziert.
Auch eine Öffentlichkeitskampagne zur Kritisierung
der Gesundheitshierarchie oder eine erneute Petition
könnte derzeit hilfreich sein, vor allem aber muss die
Aufklärungsarbeit von Sozialämtern, Krankenhäusern
und Migrant_Innen vorangetrieben werden. Immer
wieder sollten Stadträte angesprochen werden, damit
Politiker_Innen eine Meinung zu diesem bundesweiten
Thema entwickeln.
Seit Anfang 2010 konnten somit sämtliche anfallende
Entbindungen übernommen werden, ohne dass dabei
Namen angegeben werden mussten. Man bemüht
sich kontinuierlich um Infoveranstaltungen mit
Krankenhauspersonal, um über Abrechnung und
Meldepflicht aufzuklären.
Der Staat darf sich nicht auf der Arbeit der Malteser
und Medibüros ausruhen. Es darf sich auch keine
Parallelgesellschaft auf gesundheitlicher
Ebene
etablieren. Das Ziel eines funktionierenden Medinetzes sollte es sein, Aufwand und Kosten an den
Staat abzugeben. Medinetze dürften nicht zum Platzhalter für eine ambulante Versorgungslücke werden!
Bremer Konzept
Das Medinetz Bremen hatte zusammen
mit dem Migrationsbeauftragten Forderungen an das Gesundheitsamt aufgestellt, welche 2007 in den Koalitionsvertrag der rot-grünen Regierungskoalition der Stadt aufgenommen wurden.
Fazit:
Der Aufenthaltsstatus muss vom Gesundheitsstatus getrennt werden! Wie das im Einzelnen zu
erreichen ist, bleibt jedem Medinetz/Medibüro
selbst überlassen. Ein bundesweites Konzept
kommt derzeit nicht zu Stande. Da Sozialämter in
kommunaler Verwaltung liegen, kann der
Anonyme Krankenschein lokal durchzusetzen
sein.
Die
Frage,
die
sich
für
jedes
Medinetz/Medibüro nun stellt, ist welches
Lösungskonzept in ihrer Stadt am besten politisch
zu vertreten ist.
Seitdem finanziert das Sozialressort/Gesundheitsamt
3 Jahre lang eine „Clearing Stelle“, die 10 Stunden pro
Woche von einer Person der Med. Flüchtlingshilfe
besetzt wird. Sie ist Anlaufstelle für Menschen ohne
Aufenthaltsstatus, erteilt soziale und rechtliche
Beratung, gibt Auskünfte in allen Lebenslagen und
leitet an Fachärzt_Innen weiter. Finanziert wird mit
35.000 € jedoch nicht nur die Clearing-Stelle, sondern
auch anfallende Kosten für Medikamente, Diagnostik
und Fallpauschalen. Die Clearing-Stelle ist nicht direkt
ans Gesundheitsamt angegliedert und muss nach
3jähriger Limitierung an NGOs abgegeben werden.
Nachteile dieses Konzepts sind die hohe Schwelle für
die Papierlose, da es sich beim Gesundheitsamt um
eine öffentliche Einrichtung handelt, das begrenzte
Budget für KH-Aufenthalte und die fehlende
Bezahlung fachärztlicher Behandlungen.
Rosi Bogner
Erlangen
Seite 8
Die neue Verwaltungsvorschrift
Hintergrund
Vorgehen bei Notfällen
In der Arbeitsgruppe Verwaltungsvorschriften wurden
relevante Gesetze vorgestellt. Besonders die neue
allgemeine
Verwaltungsvorschrift
(AVV)
zum
Aufenthaltsgesetz war dabei ein wichtiges Thema.
Diese
Regelung
betrifft
den
verlängerten
Geheimnisschutz: Die übliche Meldepflicht der
Sozialämter an die Ausländerbehörden gilt demnach
nicht,
wenn
die
Daten
dem
verlängerten
Geheimnisschutz unterliegen, also zum Beispiel ein
Arzt-Patient-Verhältnis geschützt werden soll. Das gilt
seit der neuen Verwaltungsvorschrift explizit auch für
Daten, die von der Krankenhausverwaltung an das
Sozialamt weitergegeben wurden. Wird also nach
erfolgter Behandlung von einem Arzt oder vom
Verwaltungspersonal des Krankenhauses ein Antrag
auf
Kostenübernahme
auf
Grundlage
des
Asylbewerberleistungsgesetz gestellt, dürfen diese
Daten vom Sozialamt NICHT an Ausländerbehörde
oder Polizei weiter gegeben werden.
Im Falle eines Notfalls kann der Antrag auf
Kostenübernahme an das Sozialamt nach erfolgter
Behandlung gestellt werden, und zwar durch denArzt_die-Ärztin oder das damit betraute Verwaltungspersonal in Krankenhaus oder Arztpraxis. Das gilt
auch für ambulante Vorstellungen. Leider dürfte es für
eine durchschnittliche Arztpraxis allerding einfacher
sein, die Kosten selbst zu tragen als zu versuchen,
das Geld vom Sozialamt einzutreiben. Das Sozialamt
darf die Daten nicht weitergeben, die Meldeplicht
entfällt. Wenn wir das flächendeckend verbreiten,
könnte das einen Zugang zu Notfall-versorgung mit
Kostenübernahme für Illegalisierte bedeuten.
Vorgehen bei nicht notfallmäßiger Behandlung:
Üblicherweise wird gesagt, dass für nicht
notfallmäßige Behandlung der_die Patient_In vorher
beim Sozialamt einen Krankenschein besorgen muss.
Das geht natürlich nicht für Illegalisierte.
Für den verlängerten Geheimnisschutz ist es
irrelevant, ob es um ambulante oder stationäre
Versorgung geht. Wichtig ist eher, es sich um eine
Notfallversorgung handelt oder nicht. Noch genauer:
es geht darum, ob der_die Patient_In den Antrag auf
Kostenübernahme
selbst
stellt
(üblich
bei
Nichtnotfallversorgung) oder ob sein_ihr behandelnder
Arzt_Ärztin bzw. das Krankenhaus diesen Antrag stellt
(üblich bei Notfallversorgung). Nur dann gilt der
verlängerte Geheimnisschutz.
Dies geht zurück auf einen Paragraphen aus dem
Sozialhilfegesetz, der besagt, dass Gelder nur für
gegenwärtige oder zukünftige Leistungen bewilligt
werden können, es sei denn es besteht ein Notfall,
dann geht es auch für Leitstungen in der
Vergangenheit. Im Asylbewerberleistungsgesetz selbst
steht kein Wort davon, wann wer diese Leistungen
beantragen
muss.
Es gibt allerdings Gerichtsurteile (Niedersächsisches
Oberverwaltungsgericht 17.10.2001 Aktenzeichen 4LB
1109/01 und Oberverwaltungsgericht NordrheinWestfalen 28.05.2008 Aktenzeichen 12A 702/07) die
besagen, dass dieser Paragraph aus dem
Sozialhilfegesetz nicht analog für das Asylbewerberleistungsgesetz
gilt,
weil
das Asylbewerberleistungsgesetz primär kein Sozialhilfegesetz ist,
sondern ein Gesetz dass aufenthaltsrechtliche
Belange regelt. Die Urteile bestätigen in beiden Fällen
einen Leistungsanspruch bei elektiven Behandlungen
im Krankenhaus, bei denen erst im Nachhinein durch
das Krankenhaus die Kostenübernahme beim
Sozialamt nach Asylbewerberleistungsgesetz beantragt wurde. In beiden Fällen bekam das Krankenhaus
recht und das Sozialamt musste zahlen.
Würde der_die Patient_In den Antrag auf Kostenübernahme nach erfolgter Notfallbehandlung, sei es
im Krankenhaus oder ambulant, selbst stellen, wird an
die Ausländerbehörde gemeldet. Es geht beim
verlängerten Geheimnisschutz um den Schutz des
Arzt-Patient-Verhältnisses, also weder um Notfälle
generell noch stationäre Behandlung. Stellt der_die
Patient_In nach Notfallbehandlung im Krankenhaus
selbst einen Antrag, wird der Ausländerbehörde
gemeldet. Beantragt ein Arzt die Kostenübernahme
für eine Behandlung, egal ob Notfall oder nicht und
egal ob stationär oder ambulant, darf der Ausländerbehörde nicht gemeldet werden. Die Daten sind nur
geschützt, wenn sie von einem unter Schweigepflicht
stehendem an das Sozialamt gegeben werden, bzw.
von seinem Verwaltungspersonal.
Das bedeutet für die Praxis: Ärzte, bzw. Krankenhäuser
können
versuchen,
auch
elektive
Behandlungen im nachhinein beim Sozialamt zur
Abrechnung einzureichen. Der verlängerte Geheimnisschutz müsste gelten und ein Rechtsanspruch besteht
nach o. g. Gerichtsurteilen auch.
Der_die Arzt_Ärztin, bzw. das Krankenhaus, müssen
alle Daten des-Patienten_der-Patientin weitergeben.
Das Sozialamt braucht alle Daten, aber das Sozialamt
darf sie nicht weitergeben. Es ist nicht das Krankenhaus, welches Daten nicht weitergeben muss,
sondern das Sozialamt, dass alle Daten bekommt, sie
aber nicht weitergeben darf.
.
Allgemeinen Verwaltungsvorschrift der Bundesregierung zum Aufenthaltsgesetz (DS 669/09)
http://bitURL.net/669-09
.
Seite 9
Umsetzung der neuen AVV
Die Mainzer_Innen haben einen Brief an die
Sozialämter Mainz und Wiesbaden gesendet, in dem
nach dem Umgang mit der Verwaltungsvorschrift
gefragt wurde. Wiesbaden sagte zu, dass sie das
Übermittlungsverbot einhalten würden. Die Kosten
würden sie allerdings nicht übernehmen, da diese
nicht
personengebunden
abgerechnet
werden
könnten. Das Mainzer Medinetz akzeptiert diese
Einschränkung nicht. Auch hier gab es Probleme mit
einem Krankenhaus. Dieses meldete die betroffenen
Personen direkt an die Ausländerbehörde.
Allgemein gibt es Probleme mit der Umsetzung der
neuen Verwaltungsvorschrift. Teilweise sind die
Sozialämter nicht ausreichend informiert oder setzen
sie nicht um. Einzelne Städtegruppen berichteten von
ihren Erfahrungen mit der neuen AVV:
In Freiburg gab es ein Gespräch mit dem Leiter der
Ausländerbehörde und dem Sozialamt. Dabei kam
von seiten der Ausländerbehörde die Frage auf, um
welche Daten es sich bei dem grundsätzlichen
Übermittlungsgebot (Artikel 88) handle. Sie wandten
ein, dass nur die krankheitsbezogenen Daten dem
„verlängerten Geheimnisschutz“ unterliegen und die
Personendaten (Name, Herkunft) immer noch
weitergegeben werden könnten. Diese Frage wurde
daraufhin an die Regierung des Landes weiter geleitet.
Das Hamburger Medibüro schilderte Fälle, in denen
das Krankenhaus gegen die Vorschrift verstoßen hat.
Das sei vor allem in Asklepios-Kliniken vorgekommen,
wo die Polizei mehrfach direkt auf der Station
erschien. Vom Gesundheitssenator wurde eine
Weisung verlangt, die von diesem allerdings
abgelehnt wurde. Außerdem wurde ein Anwalt zu Rate
gezogen. Dieser bestätigte, dass auch die nicht
notfallmäßige Versorgung mit unter die AVV fällt und
dass ein Krankenschein, der diese sichert, auch von
einer anderen Person geholt werden könne.
Die Berliner_Innen
hatten zusammen mit der
Bundesärztekammer ein Faltblatt bezüglich der neuen
Verwaltungsvorschrift erstellt.
In Göttingen hatten sich schon Mitglieder der Grünen
an das Sozialamt gewendet, ob die Vorschrift bekannt
ist. In der Antwort wurden sie von Juristen informiert,
dass die Sozialämter die AVV umgehen können.
Ausblick:
Es wurden Möglichkeiten gesucht, die aufgetretenen
Probleme zu beheben. Die Sozialämter sowie
Krankenhäuser müssen besser informiert werden. Es
soll ein Archiv erstellt werden mit Flyern und
Anschreiben, die die Städtegruppen von anderen
übernehmen können.
Die Bremer_Innen hingegen haben gute Erfahrungen
gemacht. Die betreffenden Stellen waren gut
informiert.
In Essen kam es zu drei Notfallbehandlungen im
Krankenhaus, wobei hier die Vorschrift nicht bekannt
war. Hier kam der Vorschlag, die Krankenhäuser extra
zu informieren.
Funktioniert die Umsetzung der neuen Verwaltungsvorschrift prinzipiell, wäre es wünschenwert, diese
auch auf die nicht notfallmäßige Versorgung auszuweiten. Denkbar wäre, dass Ärzt_Innen und Krankenhäuser bei elektiven Behandlungen den Behandlungsbedarf feststellen und als ärztliche Vertreter_Innen
ihrer Patient_Innen für die medizinisch notwendige
Behandlung die Kostenerstattung beantragen. In dem
Szenario müsste der verlängerte Geheimnissschutz
gelten, da die Ärzte nicht als Privatpersonen sonderm
im Rahmen des Arzt-Patient-Verhältnisses im Auftrag
des Patienten_ der Patientin handeln
Beim Tübinger Medibüro hat sich eine eigene Gruppe
für dieses Thema gebildet die Szenarios über
mögliche Verläufe erstellt.
Hingegen gab es in Dresden ein Gespräch mit dem
Sozialamt. Dieses war noch nicht informiert. Es wurde
das Problem erwähnt, das in ländlichen Gebieten
manchmal das Sozialamt und die Ausländerbehörde in
einer Stelle vereinigt sind, was natürlich Probleme bei
der Umsetzung der AVV aufwirft.
Bei der Wahl eines Krankenhauses ist auf die
Vertrauenswürdigkeit zu achten! Eventuell kommt in
einzelnen Städten eine Sammelklage gegen das
Krankenhaus in Frage. Bei möglichen Präzedenzfällen
wäre eine Berichterstattung nützlich. Bei der Übermittlung von Daten von Krankenhäusern an die Ausländerbehörde spielt vermutlich das Finanzielle eine
große Rolle. Dies wäre vielleicht ein Angriffspunkt, um
mit den Krankenhäusern zu verhandeln. Verbindungen
zu Ärztekammern und KV'en können eventuell von
großem Nutzen sein.
Das Medinetz Leipzig berichtete von einem Fall, bei
dem die Polizei zur Identitätsklärung auf die Station
gerufen wurde, da der Patient einige Wochen nicht
ansprechbar war. Dies stellt ein weiteres Problem dar.
In Düsseldorf wartet das MediNetz weiterhin auf ein
Antwortschreiben des Sozialamts auf ihre Anfrage zur
Umsetzung der neuen AVV
In Bochum wurde eine Flashmob organisiert, bei dem
im Sozialamt unter jeder Tür ein Infozettel durch
geschoben wurde. Bis jetzt ist keine Weiterleitung von
Daten bekannt.
Sonja Müller-Tribbensee, Erlangen
Anna Kühne, Leipzig
Seite 10
Schwanger und keine Papiere
Der Workshop „Schwangerschaft in der Illegalität“
wurde von der Medizinischen Flüchtlingshilfe Göttingen gehalten. Teilgenommen haben VertreterInnen
der Medinetze/-büros Leipzig, Erlangen, Tübingen,
Berlin, Göttigen, Bochum, Düsseldorf, Freiburg, Hamburg, Essen, Dresden, Rostock, Mainz und Münster.
Der Workshop beleuchtete sowohl die Themen
Schwangerschaft und Geburt in der Illegalisierung als
auch die Risiken, die mit dem Erstellen einer Geburtsurkunde einhergehen. Mit dieser Problematiken
werden die Medinetze regelmäßig konfrontiert, da ein
Großteil des weiblichen Klientels der Medibüros auf
Grund einer Schwangerschaft vorstellig wird.
© Nico Gläser
Die Betreuung während Schwangerschaft und Geburt
stellt ein wichtiges Element in der medizinischen
Flüchtlingsversorgung dar, wie auch eine Studie zu
Schwangerschaft und Geburt aus Colorado, USA
zeigt. Das Risiko von Geburtskomplikationen (z.B.
Blutungen, fetal distress) ist dort bei Müttern ohne
Aufenthaltstitel signifikant erhöht .
In Deutschland haben Schwangere, die einen
Aufenthaltstitel haben, Anspruch auf eine medizinische Versorgung, also z.B. auf Vorsorge und Impfungen. Frauen ohne sicheren Aufenthaltsstatus könnten diese theoretisch ebenfalls in Anspruch nehmen. In
der Realität suchen jedoch viele Schwangere die
Sprechstunde der Medinetze häufig erst im dritten
Trimenon bzw. kurz vor dem Entbindungstermin auf.
Eine Geburt stellt immer einen medizinischen Notfall
dar. Dies bedeutet für die Gebärende, dass eine
Entbindung in einem Krankenhaus möglich ist,
unabhängig von ihrem Aufenthaltstitel. Die Kosten der
Geburtshilfe trägt in diesem Fall das Sozialamt. Die
Verwaltung des Krankenhauses muss in der
Notfallversorgung nicht die Identität der Mutter
übermitteln. Es ist günstig, wenn die Abrechnung des
Krankenhausaufenthaltes erst dann erfolgt, wenn die
Mutter und ihr Neugeborenes bereits entlassen
worden sind.
Im Fall, dass eine Frau die Sprechstunde zu Beginn
der Schwangerschaft aufsucht, wird der werdenden
Mutter angeboten alle Vorsorgeuntersuchungen in
Anspruch zu nehmen. Die Kosten betragen bei einer
Schwangerschaft ohne Komplikationen zwischen 300
bis 600 Euro.
Im Falle einer so genannten „anonymen Geburt“ hat
die Schwangere die Möglichkeit, bereits vor der
Entbindung in speziellen staatlichen Einrichtungen zu
wohnen. Historisch wurden diese Einrichtungen
geschafften, um die Rate der ausgesetzten und
getöteten Neugeborenen zu reduzieren. Den Frauen
wird nach der Geburt die Möglichkeit gegeben, dass
Kind zur Adoption frei zu geben. In einem Zeitraum
von sechs Wochen ist es den Frauen möglich, ihre
Entscheidung rückgängig zu machen. Problematisch
ist dann jedoch, dass die illegalisierten Frauen
Angaben zu ihren Personalien machen müssten.
Besonders hervorgehoben wurden die psychische
Belastung mit der die werdenden Mütter konfrontiert
sind. Auf Grund des enormen psychosozialen Drucks
ist es seitens der behandelnden Frauenärztin oder
Frauenarztes legitim, eine Schwangerschaft in der
Illegalität als Risikoschwangerschaft zu klassifizieren.
Das Bestehen einer fortgeschrittenen Schwangerschaft stellt ein Abschiebehindernis dar. Spezifische,
zeitliche Regelungen werden durch das jeweilige
Landesgesetz des Bundeslandes bestimmt. Es bestehen Duldungen von vier Wochen vor der Geburt bis
zu drei Monaten nach der Entbindung.
Einige Medibüros haben gute Erfahrungen mit
Familienplanungeszentren wie ProFamilia
oder
kirchlichen Einrichtungen wie der Caritas gemacht.
Teilweise konnten auch Absprachen mit den
Krankenhäusern getroffen werden und so die Chance
auf eine anonyme Geburt erhöht werden. Die Kosten
für die Geburt variieren. Sie belaufen sich von 500
Euro bei einer Hausgeburt, über durchschnittlich ca.
700 Euro bei einer spontanen Geburt auf bis zu knapp
3000 Euro bei einem Kaiserschnitt.
Im Falle einer ärztlich bestätigten Risikoschwangerschaft verlängert sich dieser Zeitraum. In der medizinischen Beratung von illegalisierten Frauen kann
folglich auch immer die Möglichkeit des „Auftauchens“
im Rahmen der Schwangerschaft in Betracht gezogen
werden.
Seite 11
Kooperationen mit Hebammen bzgl. der Vorsorge
haben sich in der Vergangenheit als hilfreich erwiesen.
Es gilt jedoch zu berücksichtigen, dass im Falle von
Komplikationen,
sowohl
während
der
Schwangerschaft als auch unter der Geburt,
medizinische Hilfe von Nöten ist. Diese sollte immer
im Vorfeld organisiert sein.
Es besteht in verschiedenen Städten die Möglichkeit
der Ausstellung einer Bescheinigung über die Geburt..
Dieses Dokument ist jedoch nicht gleichwertig mit
einer Geburtsurkunde. Die Mutter kann damit dennoch
im Zweifelsfall nachweisen, dass es sich um ihr
leibliches Kind handelt. Im Falle einer drohenden
Abschiebung dürften sie nicht getrennt werden. Wenn
die Mutter keinerlei Papiere besitzt, gestaltet sich auch
die Ausstellung einer Bescheinigung der Geburt als
schwierig.
Laut der UN Kinderrechtskonvention Artikel 7 hat
jedes Kind ein Recht auf eine Geburtsurkunde. Die
Konvention galt in Deutschland lange nur für Kinder
mit deutschem Pass. Seit Mai 2010 gilt das Recht
uneingeschränkt, d.h. unabhängig vom Pass des
Kindes. In der Realität ist es Eltern ohne Aufenthaltsstatus jedoch immer noch nahezu unmöglich, eine
Geburtsurkunde für ihr Kind zu bekommen.
Nach dem Vortrag wurden im weiteren Verlauf des
Workshops insbesondere die Versorgung von Mutter
und Kind nach der Geburt diskutiert. Eine Betreuung
der Mütter durch eine Hebamme i.S. der Nachsorge
wurde als erstrebenswert erachtet. Außerdem wurde
die weitere Versorgung durch den Kinderarzt diskutiert. Die Mütter müssten über U-Untersuchungen und
Impfungen aufgeklärt werden. Außerdem wurde die
Geburtsurkunde vertiefend thematisiert. Es stellte sich
die Frage, wie sich rechtliche Regelung in anderen
Ländern der EU im Bezug auf Geburt und Staatsangehörigkeit gestalten.
In Deutschland stellt das Standesamt die Geburtsurkunde Neugeborener aus. Dazu erhält es die
Unterlagen des Krankenhauses, d.h. die Geburtsbescheinigung. Die Hebamme stellt in diesem Prozess
eine Schlüsselfigur dar. Sie ist rechtlich gegenüber
dem Standesamt verpflichtet die Geburt zu melden.
Das Standesamt unterrichtet dann das Einwohnermeldeamt über die statt gefundene Geburt.
Als Fazit ist zu berichten, dass im Bereich der
Schwangerschaftsvorsorge und Geburt von illegalisierten Frauen nicht zu tolerierende Defizite bestehen.
Die Zuhörerschaft arbeitete insbesondere die Problematik der Ausstellung der Geburtsurkunde als
gravierend und inakzeptabel heraus.
Das Standesamt wiederum hat eine Meldepflicht
gegenüber der Ausländerbehörde. Die Registrierung
der Geburt eines Kindes, dessen Mutter keinen Aufenthaltstitel hat, birgt folglich die Gefahr der Abschiebung. Der Umgang mit solchen Fällen obliegt dem jeweiligen Standesamt. Eine einheitliche Regelung bzgl.
dieser Problematik besteht derzeit nicht.
Katharina Thilke
Münster
MediNetz Leipzig
Seite 12
Anspruch auf medizinische
Versorgung von EU-MigrantInnen
www.aerteblatt.de
Menschen, die zwar EU-Staatsbürger sind und sich
somit legal in Deutschland aufhalten dürfen, aber über
keinen Krankenversicherungsschutz verfügen, stehen
im Krankheitsfall oft vor scheinbar unlösbaren
Problemen. Dieser Bericht des Workshops „Anspruch
auf mediziniche Versorgung von EU-MigrantInnen“ auf
dem
Leipiger
Bundestreffen
soll
praktische
Lösungsansätze für diese Menschen aufzeigen.
Neu eingereiste EU-BürgerInnen sind jedoch
prinzipiell in den ersten drei Monaten ihres
Aufenthaltes vom ALG II ausgeschlossen – es sei
denn sie arbeiten selbständig oder sind angestellt,
wobei ein Angestelltenverhältnis auf Grund der stark
beschränkten ArbeitnehmerInnenfreizügigkeit äußerst
unwahrscheinlich ist. Ist dies dennoch der Fall, so
können sie ALG II bereits von Beginn ihres
Aufenthaltes an ergänzend beantragen. Besitzen sie
das
Aufenthaltsrecht
ausschließlich
zur
„Arbeitssuche“, so werden sie auch über die ersten
drei Monate hinaus vom ALG II ausgeschlossen.
Selbständige
oder
ArbeitnehmerInnen,
die
unverschuldet ihre Arbeit verlieren, können ALG II in
Anspruch nehmen. Waren sie länger als ein Jahr tätig,
so steht ihnen ALG II ebenso zu wie deutschen
Staatsangehörigen, d.h. Ihre Freizügigkeit bleibt
erhalten. Waren sie weniger als ein Jahr tätig, so
erhalten sie ALG II für maximal 6 Monate. Danach
entfällt sowohl das ALG II als auch die Freizügigkeit.
Ausgenommen von diesen Beschränkungen sind alle
ArbeitnehmerInnen die länger als ein Jahr einem
legalen
Arbeitsverhältnis
nachgegangen
sind,
Menschen, die sich länger als 3 Jahre legal in
Deutschland aufhalten, bzw. 5 Jahre inklusive der
Studienzeiten, die nur teilweise angerechnet werden.
Diese Menschen haben allesamt eine unbeschränkte
Arbeitsberechtigung in der EU.
Für im Heimatland Versicherte gilt:
Eine European Health Insurance Card (EHIC) muss
vor Reiseantritt beantragt werden und ist je nach Land
zwei Monate bis unbegrenzt gültig. Versicherungsschutz besteht für akute Erkrankungen, sowie die
fortlaufende Behandlung von chronischen Erkrankungen, wobei keine Einreise zum Zweck medizinischer Behandlung erfolgen darf. Ebenfalls ausgenommen
sind planbare Eingriffe (Geburt am Termin ist strittig!).
In der Praxis wird die EHIC vorgelegt und das
Formular 81 ausgefüllt, wobei eine hiesige
Krankenkasse ausgewählt wird, die dann mit der
Krankenkasse im Heimatland abrechnet (meist AOK).
Eine weitere Ausnahme bilden Studierende, die 90
ganze bzw. 180 halbe Tage im Jahr arbeiten dürfen
und nach einem Jahr regelmäßiger Tätigkeit ebenfalls
unbeschränkten Zugang zum europäischen Arbeitsmarkt genießen. Hochschulabsolventen/Innen jedweder Herkunft haben sofort volle Arbeitnehmerfreizügigkeit, sollten sie einer dem Abschluss adäquaten Tätigkeit nachgehen und für diese angemessen
bezahlt werden. Der Job muss dabei nicht zur
Lebensunterhaltssicherung reichen.
Für im Heimatland nicht Versicherte gilt:
Bei akuten Erkrankungen kann in jedem Falle ein
Antrag auf Nothilfe gemäß §25 SGBXII
beim
Sozialamt gestellt werden. Sollte der Patient / die
Patientin als selbständig gemeldet sein, so ist ein
Antrag auf ergänzendes ALG II beim Jobcenter
möglich. Es umfasst die selben Leistungen und gilt
vorerst für drei Monate ab der Antragsstellung.
Praxisempfehlung bei inaktiven
Unionsbürgern im Krankheitsfall:
●
Arbeitsmarktbeschränkungen:
●
Die Freizügigkeit neuer EU-BürgerInnen ist beschränkt, d.h. MigrantInnen aus Estland, Lettland,
Litauen, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechien und
Ungarn genießen erst ab 04/11 und EinwandererInnen aus Bulgarien und Rumänien erst ab 12/13 volle
Freizügigkeit in der EU. Die Arbeit als SelbständigeR
ist dabei immer unter Vorlage der Steuernummer
möglich, wobei aus juristischer Sicht kein Nachweis
einer Krankenversicherung verlangt wird, die Behörden dies jedoch in zunehmenden Maße fordern.
●
●
Seite 13
Meldung als arbeitssuchend oder
selbständig bei der Arbeitsagentur
Aktive Stellenbewerbung
Nach 3 Monaten aktiver Tätigkeit Antrag
auf ALG II
Bei Ablehnung: Eilantrag zum
Sozialgericht (nur, wenn ein Grund für den
Verbleib besteht bzw. Geld für die
Heimreise besteht)
Eintritt in die deutsche GKV nach SGB V
Versicherungsbedingungen in drei EU-Ländern
Die Vorversicherungszeiten der Betroffenen werden
gemäß Artikel 6EG VO 883/2004 mit Hilfe des
Formulars E104 berücksichtigt. Dieses Formular muss
von der Herkunftskasse ausgefüllt werden, sonst ist
nur ein Eintritt in eine private Krankenversicherung
möglich, die ca. 600 € pro Monat kostet und keine
Familienversicherung anbietet. Mit nachgewiesener
Hilfebedürftigkeit nach SGB II oder SGB XII wird der
Beitragssatz auf knapp 300 € gesenkt.
Bulgarien
Es besteht eine beitrags- und steuerfinanzierte
Pflichtversicherung. Beiträge in Höhe von 6% des
Einkommens werden in den National Health Insurance
Fonds (NHIF) eingezahlt. Problematisch stellt sich die
Versicherungssituation von Menschen ohne Geburtsurkunde dar, da sich diese auf Grund fehlender
Dokumente nicht in den NHIF einschreiben können.
Der NHIF trägt u.a. Impfungen, Schwangerenbetreuung, Kindervorsorgeuntersuchungen und die
Behandlung von Infektionskrankheiten (inkl. HIVTherapie). Sollte mehr als ein Jahr keine Beitragszahlung erfolgt sein, so besteht der Versicherungsschutz erneut bei Nachzahlung von 12 Monatsbeiträgen. Umgekehrt erlischt dieser bei weniger als 9
Beitragszahlungen in den vergangenen 12 Monaten.
Die Versicherungspflicht wird ausgesetzt, sollte sich
der/die bislang Versicherte mehr als die Hälfte des
Jahres im Ausland aufhalten. Dabei besteht erneuter
Versicherungsschutz nach 6 Beitrags-monaten nach
der Rückkehr nach Bulgarien.
Selbständige oder ArbeitnehmerInnen, die in zwei
oder mehr Mitgliedsstaaten tätig sind, unterliegen den
Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedsstaates, wenn
dort mindestens 25% der Tätigkeit ausgeübt wird.
Handlungsspielraum in sozialen Notlagen
JedeR EU-BürgerIn hat Anspruch auf Nothilfe (§25
SGB XII). In Notlagen sollte zunächst der Antrag auf
Nothilfe beim Sozialamt/Jobcenter gestellt werden.
Sollte von dort keine Leistungsbewilligung gewährt
werden, muss mit einem Anwalt / einer Anwältin ein
Eilantrag beim Sozialgericht gestellt werden. Dies
betrifft sowohl die Krankenbehandlung als auch die
Grundsicherung.
Polen
Es handelt sich um eine freiwillige Krankenversicherung durch den Nationalen Gesundheitsfonds
(NFZ), wobei ArbeitnehmerInnen sowie Arbeitslose
und deren Familienangehörige automatisch versichert
sind. Der Mindestbeitrag für eine freiwillige
Versicherung beträgt ca. 73 € monatlich.
Voraussetzung ist stets der unabweisbar dringende
Bedarf (eine Bedürftigkeitsprüfung) und ein zuvor
gestellter Antrag beim Sozialamt oder Jobcenter, ohne
dass von dort eine hinreichende Leistung erfolgte. Bei
Antragsablehnung muss der Patient / die Patientin
selbst für die Leistungen aufkommen.
Rumänien
Hier wird ein monatlicher Beitrag von 6,5 % des
Einkommens gezahlt. Alle Bürger sind pflichtversichert. SozialhilfeempfängerInnen und Arbeitslose
sind bei regelmäßiger Meldung beim Arbeitsamt
krankenversichert. Die EHIC (s.o.) wird maximal für 6
Monate ausgestellt!
Schwangerschaftsabbruch
Nach Art. 5, §1 SFHändG sind bei einem Einkommen
von unter 351€ + Miete alle Frauen in Deutschland zu
einem staatlich finanziertem Schwangerschaftsabbruch berechtigt. Dabei wählt die Frau eine
Krankenkasse, die die Kostenübernahme ausstellt
und mit dem jeweiligen Bundesland abrechnet, da ein
Schwangerschaftsabbruch eine versicherungsfremde
Leistung ist. Voraussetzungen: eine Meldeadresse
sowie eine Bedürftigkeitsprüfung (Bedürftigkeit kann
z.B. durch ein Zentrum für sexuelle Gesundheit und
Familienplanung, d.h. eine öffentliche Gesundheitsamtsstelle bescheinigt werden – zumindest in Berlin)
Ulrike Mölle
Leipzig
Schwangerschaft im Studium
Nach §21 SGB II kann bei Schwangerschaft im
Studium ohne BAföG ein Anspruch auf Mehrbedarf
bzw. den Leistungen für Alleinerziehende geltend
gemacht werden. Nach §23 SGB II besteht Anspruch
auf einmalige Leistungen sowie Sozialgeld für das
Kind.
Zu den konkreten Versicherungsbedingungen
der einzelnen EU-Staaten gibt es eine gute
Internetseite:
www.ec.europa.eu/missoc
www.ippnw-students.org
Seite 14
Nexweş û bê ewraq?
Stell dir vor, du gehst an einem Sonntag Nachmittag
durch deine Straße und siehst plötzlich ein Schild, das
dir vorher noch nie aufgefallen war. Auf dem Schild
steht in großen Buchstaben Nexweş û bê ewraq?
„Was will uns das Straßenverkehrsamt damit wohl
sagen?“ Du schlenderst weiter durch die Stadt und
siehst erneut ein Schild, das du vorher noch nicht
gesehen hattest. Es sieht völlig gleich aus – ein
Strichmännchen und der Text. Diesmal steht dort
fragend: „Bolnav si fara acte?“ Sonderbar. Beim dritten
Schild (mit dem vielsagenden Text „mara lafiya kuma
mara takardu?“) entscheidest du dich dann doch,
einmal genauer hinzusehen: www.medibueros.org
steht am rechten Rand des Schildes. Was es mit
dieser Sache wohl auf sich hat? Du beschließt, dir
diese Seite heute Abend mal anzusehen. Im Café, wo
du deine Freunde triffst, berichten auch sie von den
wundersamen Beschilderungen – einer sagt, er habe
den Text entziffern können: „Krank und ohne
Papiere?“ hätte auf Hindi auf einem der Schilder
gestanden. Ohne Papiere – was das wohl bedeutet?
So wie dir würde es wahrscheinlich vielen Leute
gehen, wenn es nach Boran Burchhardt ginge. Der
Aktionskünstler hat gegonnen, auf der Rückseite von
Parkverbotsschildern Aufkleber mit dem Spruch
„Krank und ohne Papiere?“ anzubringen – in über 50
verschiedenen Sprachen... Unter dem Motto
„Krankheit und Identität – Öffentlicher Raum und
Anonymität“ hat er vor, Städte in ganz Deutschland in
dieses
Projekt
einzubinden.
Dass
gerade
Parkverbotsschilder dazu genutzt werden sollen, hat
natürlich eine symbolische Dimension. Boran selbst
schreibt dazu: Für dieses Projekt „habe ich einen Ort
im öffentlichen Raum gesucht, an dem sich
öffentlicher Raum und nicht öffentlicher Raum
kreuzen. Einen öffentlichen Ort, der jene betrifft, die
den öffentlichen Raum offen queren und gleichzeitig
an jene gerichtet ist, die diesen Raum nicht ganz so
selbstverständlich offen in Anspruch nehmen können.“
Boran Burchhardt
Als Kooperationspartner steht das berühmte Essener
Folkwang-Museum
an
Borans
Seite.
Einige
Ruhrgebietsstädte haben bereits zugesagt, in anderen
Städten läuft derzeit die Bewilligung. Neben dem
künstlerischen Aspekt hat das Projekt das Ziel,
Menschen auf das Problem der Gesundheitsversorgung von Papierlosen aufmerksam zu machen
– ja überhaupt erst einmal mit der Tatsache zu
konfrontieren, dass es Menschen ohne Papiere in
Deutschland gibt und wie ihre Lebenswelt aussieht.
Um die Leute dazu zu bewegen, auf die Homepage
der Medibüros zu gehen, irritiert Boran durch die
fremdsprachigen Texte. Diese werfen erst einmal
mehr Fragen auf, als sie Antworten geben. Borans
Homepage ist mittlerweile mit unserer bundesweiten
Internetseite verlinkt. Wir hoffen, bald in der ganzen
Republik Hinweise auf unsere Arbeit für Menschen
ohne Papiere sehen zu können – auf der Rückseite
von Tausenden von Parkverbotsschildern...
Alex Rosen
Düsseldorf
Seite 15
Was ist Frontex ?
www.imi-online.de
FRONTEX steht für frontières extérieurs – eine Agentur zum „Schutz der Außengrenzen“ der Europäischen
Union, die im Oktober 2004 geschaffen wurde.
An welcher Stelle kommt Frontex ins Spiel? Mit nur
130 Mio € Gesamtbudget und 200 fest angestellten
Mitarbeitern wirkt die Agentur mit Sitz in Warschau
eher unbedeutend als EU-weite Grenzschutzbehörde.
Ihre Stärke liegt jedoch in der Koordination und nicht
der tatsächlichen Aktion. Frontex entwickelt das
umfassende Konzept für den Grenzschutz, erstellt
sogenannte „Risikoanalysen“ zur Migration und initiiert
Studien zur Aufnahme biometrischer Daten an
Grenzen. Techniken zur Überwachung über Drohnen
und spezielle biofeldgesteuerte Kameras werden
perfektioniert, wobei FRONTEX eng mit Rüstungsfirmen zusammenarbeitet. Exekutives Regierungshandeln, gegen das rechtlich vorgegangen werden
könnte, überlässt die Agentur jedoch stets den
Beamten der Mitgliedsstaaten. Jene „Beratungsfunktion“ ist in ihrer Suggestion sehr schnell
überzeugend, denn Frontex ist Auftraggeber für
wichtige und vor allem einflussreiche Konzerne wie
z.B. Siemens.
FRONTEX bietet die technische „Lösung“ für
Abschiebungen. Um Widerstand von MigrantInnen
und vor allem Mitreisender zu dämpfen, chartert
FRONTEX seit 2008 Flugzeuge samt Arzt, Juristen
und UNHCR-Mitlied speziell für die legale
Rückführung der MigrantInnen in welches Land auch
immer bereit ist, die Eingewanderten aufzunehmen.
Das tatsächliche Herkunftsland wird mangels Papiere
der Betroffenen selten identifiziert und in Frage
kommende Staaten weigern sich häufig, die
Betroffenen aufzunehmen. Um sich der Eingereisten
legal entledigen zu können, muss deren Staatsbürgerschaft “geklärt“ werden. Erst dann ist das
Herkunftsland verpflichtet, seine Bürger aufzunehmen.
Deshalb arbeitet FRONTEX seit 2006/07 intensiv an
der Identifikation von Illegalisierten und ihrer Staatsbürgerschaft. Dazu werden sogenannte Botschaftsanhörungen angesetzt, die nicht immer die
tatsächlichen Botschafter der vermuteten Herkunftsländer zum Vorsitz haben. Vielmehr werden auf
diesem Wege Papiere für die Betroffenen auf legalem
Wege gekauft um diese dann ins deklarierte
Herkunftsland abzuschieben.
Was ist Frontex? Eine martialische Grenztruppe? Eine
humanitäre
Organisation?
Tatsächlich
agiert
FRONTEX vornehmlich im Hintergrund in Form einer
gigantischen Vernetzungsmaschinerie und leitet so die
Akteure, also die Staaten, an. FRONTEX hält sich
bedeckt. Ein 25minütiger Dokumentarfilm der
studentischen Gruppe „Grenzräume Europas“ bietet
einen guten Einstieg in die Philosophie dieser
ominösen Agentur und lässt die Unverhältnismässigkeit ihres Einflusses erahnen. Man erkennt
einen hochtechnologischen Grenzschutzapparat, der
nicht nur an den Grenzen der EU sondern auch
darüber hinaus agiert: Zum Schutze der EU bedürfe
es einer Pufferzone in den benachbarten Drittstaaten.
Über „readmission agreements“ wird sichergestellt,
dass vom Schengengebiet abgewiesene MigrantInnen
dorthin verwiesen werden, wo sie in erster oder
zweiter Instanz herkommen – in den Puffergürtel. Die
Drittstaaten akzeptieren diese Rücknahmeregelung
u.a. in der Hoffnung auf einen EU-Beitritt aber auch
auf verbesserte Handels- und Visa-Bedingungen oder
Ausrüstungs- und Ausbildungshilfe für ihre Polizeien.
Die Mauern werden immer stärker und MigrantInnen
harren in Menschenlagern oder illegalisiert und von
Fremdenfeindlichkeit und täglichem Überlebenskampf
bedroht, in den Drittstaaten aus.
FRONTEX ist sehr freigiebig mit seinen Erfahrungen
wenn es darum geht, die Grenzen der EU
abzudichten. Um EU-weit die verantwortlichen Behörden zu informieren, werden spezielle Schulungen
angesetzt: Ab September 2007 wurde - durch
FRONTEX im Rahmen des EU-“Return“-Programms
initiiert - ein Projekt zur „Identifizierung und Rückführung von Drittstaatsangehörigen“ durch die deutsche
Bundespolizei durchgeführt. Auf den Kanarischen
Inseln sowie in Andalusien fanden Lehrgänge von
deutschen Experten für spanische Grenzschützer statt
mit dem Ziel, Illegalisierte besser identifizieren und
„rechtmäßig“ abschieben zu können.
Systematisch wird es MigrantInnen und Flüchtlingen
verwehrt, in Europa Schutz zu finden: militärisch
aufgerüstete EU-Außengrenzen und Druck auf die
ärmeren Grenzländer verhindern zusammen mit den
Brutalisierungstendenzen in der Abschiebungspolitik
jedwede Form von menschenwürdigem Asyl in
Europa.
Seite 16
www.syndikalismus.tk
Bevor die Staatsangehörigkeit der Betroffenen
identifiziert ist, wird auf völlige Abschottung der
Aufgegriffenen
gesetzt.
In
Marokko
werden
Illegalisierte in der Wüste interniert, in Lybien gibt es
gefürchtete Menschenlager, in denen sowohl
Menschen die auf einen Asylbescheid als auch jene,
die auf ihre Abschiebung warten, gleichsam
untergebracht werden. Damit werden systematisch
Kontakte und Abschiebungshindernisse – zum
Beispiel Heirat – unterbunden. Um Betroffene in
Abschiebegefängnissen wie jenen Containerschiffen
im Hafen von Rotterdam zu internieren, müssen
kriminelle Tatbestände vorliegen. Diese sind jedoch
bereits dann gegeben, wenn sich die Einwanderer
falsche Papiere gekauft oder Schlepperbanden
bezahlt haben – beides wird bereits als „international
organisierte Kriminalität“ eingestuft und ist damit ein
ausreichendes Kriterium, Illegalisierte zu entrechten.
Ein derartiges Risiko (nicht selten kentern die Boote,
bevor sie von Grenzpatrouillen entdeckt werden)
scheint
beispielsweise
gegenüber
Afghanen
besonders makaber. Obwohl sie gute Chancen haben,
hier als Flüchtlinge anerkannt zu werden, gilt ihre
Einreise als illegal. Das gilt überhaupt für die meisten
anerkannten Flüchtlinge: Sie müssen illegal einreisen
und ihr Leben dabei aufs Spiel setzen, um legal hier
sein zu dürfen.
Nach vollzogener Abschiebung übernimmt der
abschiebende Staat keinerlei Verantwortung für die
mitunter verheerenden Folgen: In die Migration eines
Einzelnen hat oft die gesamte Familie oder
Dorfgemeinschaft investiert. Ohne je Geldsendungen
aus dem verheißungsvollen Ausland in die Heimat
geschickt zu haben, zwingt die Scham die
Abgeschobenen in die anonymen Großstädte.
FRONTEX zieht die Fäden und bleibt unangreifbar
dabei. Die äußerlich so wirren und ungerichteten
bürokratischen Hürden für MigrantInnen sind Teil
eines systemischen Rassismus, einer zunehmenden
Abriegelung
der
europäischen
Festung.
Die
dahinterstehenden Werte spiegeln sich in der
Lissabon-Agenda zur wirtschaftlichen Entwicklung der
EU wieder: gewünscht sind ausschließlich die Eliten,
globale Kompetenzen sollen zur EU strömen. Dass
ein Bevölkerungswachstum von Nöten ist, blieb
schließlich niemandem verborgen, nur ist Migrant
nicht gleich Migrant. Dem Import von studierten
Führungs- und Fachkräften hält ein expandierender
Export von Kontrolltechnologien die Waage, so dass
weit über die europäischen Grenzen hinaus Daten von
Migrationsbewegungen registriert werden.
Die Vorgehensweise von FRONTEX lässt sich
exemplarisch am Beispiel der 2007 auf den Vorschlag
der Agentur hin erlassenen RABIT-Verordnung zur
Schaffung so genannter „Rapid Border Intervention
Teams“ zeigen. Es handelt sich hierbei um einen
Erlass zur Bildung von Soforteinsatzteams, falls sich
eine EU-Grenze „massiven Zustrom von Drittstaatsangehörigen gegenübersieht, die versuchen, illegal in
sein Hoheitsgebiet einzureisen, was unverzügliches
Handeln erfordert, und wenn die Entsendung eines
Soforteinsatzteams für Grenzsicherungszwecke zu
einer angemessenen Reaktion beitragen würde.“
(Artikel 1, Absatz 7) Jene Soforteinsatzteams haben
den Vorteil, langwierigen Prozessen und kostenspieligen Recherchen bzw. Botschaftsanhörungen aus
dem Weg zu gehen, indem die Einreise der
MigrantInnen direkt als Bedrohung wahrgenommen
wird, gegen die in „Notwehr“ (Artikel 6, Absatz 7)
vorgegangen wird. Die tatsächlichen Befugnisse der
Einsatzteams werden sehr vage formuliert: „Die bei
der Wahrnehmung ihrer Aufgaben und Befugnisse
getroffenen Maßnahmen sollten, gemessen an den
damit verfolgten Zielen, verhältnismäßig sein.“ (Artikel
1, Absatz 16) Sollte bei einer „unverhältnismäßigen
Notwehr“ tatsächlich eine Beanstandung der Tat
folgen, haftet natürlich nicht FRONTEX sondern der
die Einsatzkräfte entsendende Mitgliedsstaat entsprechend seiner nationalen Rechtsvorschriften für die
während der Operation verursachten Schäden. (Artikel
10, Absatz 1)
Auffällig ist, dass die Initiative zu diesem Apparat zum
Großteil aus Deutschland kommt. Dies hat offenbar
nichts mit der faktischen Sachlage zu tun, da
Deutschland als Binnenstaat der EU weit weniger
Migrantenströme als zum Beispiel Spanien „fürchten“
muss. Weiterhin entspricht die Einwanderungsquote
der Auswanderungsquote, es ist also nicht so, dass
die Einreisenden die deutschen Bürger „verdrängen“.
Auch die Finanzen sprechen gegen die deutsche
Xenophobie: die akribische Abriegelung aller Grenzen
mit allen Kontrollinstanzen kostet mehr als die
Eingliederung von MigrantInnen. Es scheint, dass
hierzulande die Angst vor einer Überfremdung,
einhergehend mit Kontrolllosigkeit übermächtig ist.
Eine Initiative für „mehr Sicherheit“ nahm bereits mit
Ex-Bundeskanzler Helmut Kohl als Befürworter des
Schengen-Abkommens von 1985 seinen Anfang. Ein
gemeinschaftlicher Wirtschaftsraum ohne Handelsbarrieren in ein neoliberales Programm gebettet, wird
zum neuen Asylkorsett, denn was innen freier wird,
wird plötzlich nach aussen hin umso mehr abgeriegelt.
Dem gegenüber steht die steigende Anzahl an
benötigten Arbeitern in Deutschland die auf die
traditionelle Fremdenfeindlichkeit stoßen.
Schlepperbanden begegnen diesen militarisierten
Institutionen mit einer noch gefährlicheren Einreise als
je zuvor: die Boote, auf denen MigrantInnen transportiert werden, sind meist nicht völlig seetüchtig. Dieser
Umstand erleichtert die Einreise insofern, als dass von
einer „Bedrohung“ oder gar einem „Angriff“ nicht die
Rede sein kann und die Anrainerstaaten gemäß Seerecht sogar zur Rettung der Schiffbrüchigen verpflichtet sind.
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Resultierend opponiert eine unerbittliche Industrie, die
ohne immer billiger werdende und immer öfter illegal
arbeitende Kräfte ihr Gewinnsoll nicht erreicht, einer
fiktiven deutschen Leitkultur, die sich nur in harten
Grenzen denken kann und auch nur so „deutsch“ sein
kann.
Gezielte Meinungsbildung kreiert ein bürgerliches
Schutzbedürfnis vor dem Unbekannten. Das Arsenal,
von FRONTEX geschaffen, wird zu einem surrealen
Selbstbedienungsladen und das Unbekannte zunehmend zu jedem Bürger selbst. Der hochtechnologische
Ansatz zur Sicherheit, sei es vor den anonymen
MigrantInnen, sei es vor dem deutschen Bürger
selbst, verschleiert dessen Konsequenz, die wir mehr
und mehr hinterfragen müssen. Der Workshop hat
spürbar zahlreichen Teilnehmern Anstoß gegeben,
wachsamer zu sein.
Auch im Workshop, der zum Thema „Frontex“ am
05.06.2010 im Rahmen des bundesweiten Medinetztreffens in Leipzig unter der Leitung von Christoph
Marischka statt fand, kommen wir schwer auf einen
grünen Zweig. Die deutsche Xenophobie scheint auf
den ersten Blick alles andere als rational motiviert und
auf den zweiten initiiert und propagiert. Tatsächlich
gehört die 'Methode FRONTEX' zu einer Form des
neuen Regierens, dass vorläufig an den Schwächsten
ausprobiert wird. Es entstehen zwei künstliche
Migrantengruppen: die „guten“ und die „schlechten“
Migranten – letztere werden unter Inkaufnahme von
Menschenrechtsverletzung abgewehrt.
Die Handlungsmöglichkeiten, die sich für den Einzelnen ergeben sind zum einen natürlich die Nutzung
aller zur Verfügung stehender Informationen und der
kritische Umgang mit Ihnen. Öffentlich-keitsarbeit und
Präzedenzfälle können helfen, mehr Bewusstsein für
die Gefahr zu schaffen, die von einer Vermischung
von Industrie und Staat durch FRONTEX und
vergleichbare Agenturen mit ausgedehntem Handlungsspielraum und Einfluss ausgeht. Daraus ergibt
sich die perverse Situation der Verteidigung bestehender Ansprüche. So wird es unsere Aufgabe, auf
juristischem Wege Präzedenzfälle im Umgang mit
Asylbewerbern und Immigration zu initiieren so dass
sich der hochtechnologisch anonymisierte Grenzschutzapparat mit allen staatlichen Beteiligungen und
Rüstungsfirmen unter spür-barem Rechtfertigungsdruck wiederfindet und selbst kontrolliert wird. Grundsätzlich ist dies eine mühsame Arbeit aus der gefühlten Machtlosigkeit heraus, die jedoch schon durch
verbreitete Wachsamkeit und Aufklärung sinnhaft wird.
Dieses Denken wird deutlich durch Frontex forciert
und initiiert und schürt damit ein Sicherheitsbedürfnis,
das in einem EU-weiten Entry- und Exit-Kontrollsystem zur Ausprägung kommt. Die Migrationsströme
werden damit jedoch lediglich umgeleitet und gehen
nunmehr mit Lebensgefahr für die illegal Einreisenden
– zum Beispiel auf seeuntauglichen Booten oder in
Schleppertransporten – einher. Spannungen werden
auf die Drittstaaten verlagert und damit die Hierarchie
innerhalb der EU nur noch verstärkt. Um all dies zu
realisieren bedarf es eines gewaltigen Machtapparats,
der durch eine diskrete Verschmelzung von Staat und
Industrie gesichert wird. Zusätzliche zum Grenzschutz
werden dabei auch die Kontrolltechnologien im
Inneren gefördert und in den Alltag der Bürger
integriert – der öffentliche Raum wird immer mehr
kontrolliert, Demonstranten registriert, Personendateien angelegt, Bewegungsprofile erstellt und Risikogruppen identifiziert. Schließlich stellt sich die Frage,
wer Schutz vor wem gewährleistet.
Ich empfehle also, alle zur Verfügung stehenden
Informationen zu Nutzen und den unzulänglichen
Überblick, den dieser Artikel bietet, auszuweiten (siehe
Infobox)
Ulrike Mölle
Leipzig
Infomaterial
25-minütiger Film von einer Berliner Studentengruppe:
http://www.littleurl.net/5214ba
Broschüren über FRONTEX
http://www.imi-online.de/download/FRONTEX-Broschuere.pdf
http://www.imi-online.de/download/frontex2009-web.pdf
http://de.indymedia.org
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MediNetz-Demo in Leipzig
Rund 150 Menschen folgten am 6.Juni 2010 dem
Aufruf „Es gibt nichts Gesundes im Kranken“ zu einer
gesundheitspolitischen, antirassistischen Demonstration durch die Leipziger Innenstadt.
MediNetz Leipzig
„Ohne Pass = Ohne Rechte? Für Gesundheit ohne
Grenzen!“
lautete
der
Slogan
auf
dem
Fronttransparent der Demonstration, die bei
strahlendem Sonnenschein am Hauptbahnhof mit
dem Redebeitrag des Medinetz Leipzig begann. Dort
konnten viele Innenstadtbesucher_innen durch Flyer,
Gespräche und gute Musik auf rassistische und
weitere nicht hinnehmbare Missstände im deutschen
Gesundheitssystem aufmerksam gemacht werden.
Die weitere Route durch den östlichen Teil der
Innenstadt, in der viele Menschen mit Migrantionshintergrund leben, bot eine weitere gute Möglichkeit,
Aufmerksamkeit für die Arbeit des Medinetzes zu
wecken; vielleicht aber auch um intern zu
verdeutlichen, dass die meisten Teilnehmer_innen der
Demonstration 'weiße', 'deutsche' und zukünftige
Akademiker_innen waren, und die Mobilisierung oder
das Konzept des Protestes wahrscheinlich zu wenig
Menschen außerhalb dieser Kreise erreicht hat.
Als sich der Demozug mit Lautsprecherwagen in
Richtung Zentrum-Ost in Bewegung setzte, waren
auch erfreulich viele Medinetzler_innen aus dem
ganzen Bundesgebiet mit dabei, die es sich nach dem
anstrengenden Bundestreffen und vor ihrer teilweise
sehr weiten Heimfahrt nicht nehmen ließen, mit dabei
zu sein.
Das Leipziger Medinetz sprach in seinem Redebeitrag
die gegenwärtige Situation von illegalisierten
Menschen an, bei denen das Einfordern selbst
grundlegender Menschenrechte wie einer medizinischen Versorgung mit der Gefahr verbunden ist, abgeschoben zu werden.
Die ansonsten völlig friedliche und bunte Demonstration wurde leider noch bei der Abschlusskundgebung kurzzeitig von der Polizei gestört, indem sie
einen Teilnehmer aus der Menge zog und festhielt.
Dadurch musste der Redebeitrag des 'Initiativkreises
für die Integration von Asylbewerber_innen Leipzig'
kurzzeitig unterbrochen werden. Der Arbeitskreis fand
sich 2009 zusammen, um sich gegen den Plan der
Stadt Leipzig einzusetzen, Asylbewerber_innen in
einer weit abgelegenen „Systembau“-Unterkunft unterzubringen. Nachdem dies erfolgreich verhindert
wurde, tritt die Organisation nun für eine Verbesserung der Lebensverhältnisse von Asylbewerber_innen
und gegen die Vielzahl rassistischer Gesetzen ein.
Es wurde gefordert, dass Menschenrechte und Menschenwürde weder von Hautfarbe noch vom Aufenthaltsstatus abhängig sein dürfen und daran erinnert,
dass das staatliche System die Verantwortung hat,
jedem Menschen risikolose gesundheitliche Versorgung zu ermöglichen. In diesem Zusammenhang wurde
dazu aufgerufen, das Asylbewerberleistungsgesetz
und die Meldepflicht abzuschaffen.
Auch durch die Beiträge des 'Initiativkreises für die
Integration von Asylbewerber_innen in Leipzig' und der
'Abschiebehaftgruppe Leipzig' wurde deutlich, dass es
bei der Demonstration nicht allein um das
unzureichende Gesundheitssystem dieses Landes
ging, sondern gegen Rassismus als strukturelles
Problem in dieser Gesellschaft und ihrer staatlichen
Organisation. (siehe Folgeseiten)
Nach diesem Beitrag wurden die letzten eiligen
HeimfahrerInnen anderer Medinetze mit Jubel
verabschiedet und die Demonstration offiziell beendet.
Dass die TeilnehmerInnenzahl insgesamt recht überschaubar war, lag sicherlich nicht alleine an den
unangenehm heißen Temperaturen oder dem Sonntag
Nachmittag. Es zeigt leider auch, dass gesundheitspolitische Forderungen momentan nicht den
angemessenen Stellenwert im politischen Diskurs
einnehmen. Für unser Anliegen stellte die
Demonstration trotz allem einen Erfolg dar: wie
konnten unsere gesundheitspolitischen Forderungen
auf die Straße tragen und auf die Situation
illegalisierter Menschen aufmerksam machen. Und,
wer weiß, vielleicht war diese Demonstration ja ein
kleiner Schritt in Richtung eines breiteren Protestes für
die Gleichbehandlung aller Menschen, egal ob mit
oder ohne Pass - nicht nur im ärztlichen
Wartezimmer...
Stephan Bialas
Leipzig
Der Zufall wollte es, dass der Redebeitrag der
Abschiebehaftgruppe in unmittelbarer Nähe einer
Eisdiele gehalten wurde, die den Demonstrant_innen
bei den hochsommerlichen Temperaturen zur
ersehnten Abkühlung verhalf.
Die Abschiebehaftgruppe unterstützt seit 15 Jahren
Abschiebehäftlinge in der JVA Leipzig. Sie arbeitet für
die Einhaltung aller rechtsstaatlichen und menschenrechtlichen Grundsätze während der Abschiebehaft,
bis ihre primäre Forderung, diese abzuschaffen,
realisiert ist.
Seite 19
Demo-Redebeitrag
Abschiebungshaftgruppe Leipzig
Welcher Umgang sie aber im Falle der Entdeckung
erwartet,
dass
können
wir
von
der
Abschiebungshaftgruppe Leipzig im Detail erläutern.
Angesichts des begrenzten zeitlichen Rahmens der
Veranstaltung, werde ich mich auf wenige, in unseren
Augen elementare und für das System bezeichnende
Aspekte konzentrieren.
MediNetz Leipzig
Zunächst möchte ich die Gelegenheit nutzen und
Euch für Eure Arbeit danken. Menschen den Zugang
zu medizinischer Versorgung, zu Gesundheit zu
ermöglichen und ihnen damit vielleicht etwas Angst zu
nehmen und ihnen ein Stück ihrer Würde
zurückzugeben – das ist eine wichtige Arbeit.
Wird eine Person abgeschoben, werden ihm/ihr
grundlegende Rechte vorenthalten. So gibt es kein
faires Verfahren, wie es in Artikel 6 der europäischen
Menschenrechtskonvention vorgesehen ist. Denn die
Verhandlung ist zum einen nicht öffentlich und zum
anderen ist es häufig der Fall, dass Haftantrag und
Haftbeschluss in einem Zug überreicht und vollzogen
werden. Selbstverständlich geschieht dies selten in
einer für die Gefangenen verständlichen Sprache und
ohne das ein Rechtsbeistand beigeordnet wird.
Ebenfalls
verletzt
wird
der
sogenannte
„Richtervorbehalt“ nach Art. 104 GG. Dieser besagt,
dass eine Person unverzüglich nach der Festnahme
(in der Praxis bedeutet das spätestens nach vier
Stunden) einem Richter vorgeführt werden muss.
Doch selbst wenn man all diese Verfahrensfehler
aufdeckt, hilft es wenig. Umso häufiger Fehler
gemacht werden, desto seltener kann man sie vor
Gericht geltend machen. Dies gilt im Besonderen für
die Haft an sich. Sie verstößt gegen die EURückführungsrichtlinie, die Vorgaben des Anti-FolterKomitees und der Verfassung mangels richterlich
überprüfbarer, gesetzlicher Ausgestaltung.
Gleichzeitig sollte es uns aber auch nachdenklich
stimmen, dass wir heute hier stehen und für das
elementare Recht von Menschen auf medizinische
Versorgung demonstrieren müssen. Es ist ein Unding,
dass es in einem demokratischen Staat Organisationen wie Medinetz oder der Abschiebehaftgruppe
bedarf, damit einer ganzen, erschreckend großen,
Gruppe von Menschen wenigstens einige Rechte
zuteil werden.
Hannah Arendt hat einmal festgestellt: „Das bedeutendste Recht des Menschen liegt darin, Rechte zu
haben.“ Betrachtet man das deutsche Aufenthaltsgesetz, so wird deutlich, dass dieses Recht eben nicht
allen Menschen zuerkannt wird. Denn mit §11 des
Gesetzes wird die Voraussetzung geschaffen, den
bloßen Aufenthalt von Menschen auf dem Territorium
der Bundesrepublik unter Strafe zu stellen. Er besagt,
dass „ein Ausländer“, der ausgewiesen, zurückgeschoben oder abgeschoben worden ist, nicht erneut
in das Bundesgebiet einreisen und sich darin
aufhalten darf. Ihm wird auch bei Vorliegen der
Voraussetzungen eines Anspruchs nach diesem
Gesetz kein Aufenthaltstitel erteilt.
So gibt es hier in Leipzig keinerlei Besserstellung der
Abschiebehäftlinge gegenüber den regulären Gefangenen. Sie leben unter den gleichen Bedingungen: zwei
Stunden Aufschluss, sowie eine Stunde Hofgang,
insgesamt 21 Stunden Einschluss. Gefangene ohne
Deutschkenntnisse befinden sich oft in einer
sprachlichen Isolation. All dies hilft natürlich überhaupt
nicht, die eh schon angespannte Lebenssituation
erträglicher zu machen. Was wohl dazu führt, dass die
Betroffenen zu der Gefängnispopulation mit der
höchsten Selbstmordrate gehören. Sie liegt beim
neunfachen des allgemeinen Durchschnitts.
Dieser kleine Exkurs in die Lebensrealität deutscher
Abschiebegefangener zeigt, dass ein Umdenken in
der sogenannten Ausländerpolitik dringend notwendig
ist, um diese institutionalisierte Diskriminierung von
Menschen, deren „Verbrechen“ darin besteht, nicht die
deutsche Staatsangehörigkeit zu besitzen, zu
beenden. Jedem Menschen ungeachtet seiner Herkunft müssen gewisse Grundrechte zugestanden
werden, sei es auf medinzinische Behandlung oder
auf eine faire und gleiche Behandlung vor dem
Gesetz. Dies muss eigentlich der Anspruch eines
demokratischen Staates sein. Solange dies nicht der
Fall ist, müssen wir uns dafür einsetzen.
Dieser Rechtsausschluss lässt schon erahnen, dass
nicht nur bereits ausgewiesen Personen von
elementaren Rechten ausgeschlossen werden,
sondern auch solche die sich bereits in diesem
Prozess befinden und denen noch nie Rechte
zugesprochen wurden. Diese Verfahrensweise ist
bezeichnend
für
die
deutsche
Asylund
Ausländergesetzgebung.
Welche Nöte und Ängste Menschen haben, die im
ständigen Bewusstsein leben müssen, im Falle ihrer
Entdeckung durch Behörden abgeschoben zu werden
– das können wir nur versuchen uns vorzustellen.
Seite 20
Demo-Redebeitrag
MediNetz Leipzig
MediNetz Leipzig
Warum sind wir hier?
Die Medinetze organisieren anonyme medizinische
Unterstützung für Menschen, die keine Papiere besitzen. Diese Menschen haben die unterschiedlichsten
Grün-de warum sie sich in diesem Land aufhalten.
Uns wird es jetzt nicht darum gehen, zu klären warum
das so ist, weil es müßig ist zu rechtfertigen, warum
ein Mensch das Bedürfnis verspürt, seinen Wohnort
zu wählen. Vielmehr wollen wir feststellen, dass diese
Menschen ohne Papiere sich im alltäglichen Leben mit
Widrigkeiten konfrontiert sehen, die die deutsche
Gesellschaft hervorbringt.
Körperliche Gesundheit ist eine wesentliche Voraussetzung für ein würdevolles Leben und darf unter
keinen Umständen an den Aufenthaltsstatus, die Hautfarbe, das Einkommen und weiterer Diskriminierungsgrundlagen geknüpft werden. Dies geschieht dennoch
tagtäglich und im massiven Ausmaß direkt nebenan.
In Leipzig leben Tausende von Menschen ohne
gesicherten Aufenthaltsstatus. Keiner von Ihnen hat
Zugang zum Gesundheitswesen, der ihm, wenn auch
indirekt, so doch umso entschiedener verwehrt wird.
Wie kann es zu einer derartigen Ungleichheit in einer
demokratischen Gesellschaft mit angeblicher Achtung
vor den grundlegendsten Menschenrechten kommen?
Diese immense Benachteiligung von Papierlosen in
der medizinischen Versorgung ist gemeinsam mit
zahlreichen weiteren Ungerechtigkeiten, die Illegalisierte zu Vogelfreien ohne Arbeitsrechte unter Ausschluss aus dem Bildungssystem machen, eindeutiger
Ausdruck eines institutionellem Rassismus, der es
eben nicht vorsieht, dass allen Menschen in diesem
Land die gleichen Rechte zugesprochen werden und
damit verhindert, dass jeder Mensch in diesem Land
ein Recht auf gesundheitliche Versorgung hat.
Wenn wir von Rassismus reden, meinen wir
Markierungen von Unterschieden zwischen Menschen, die genutzt werden, um sich gegenüber anderen
abzugrenzen. Diese Markierungen wiederum dienen
dazu, soziale, politische und wirtschaftliche Handlungen zu begründen, um bestimmte Gruppen vom
Zugang zu materiellen und symbolischen Ressourcen
auszuschließen und dadurch der ausschließenden
Gruppe einen privilegierten Zugang zu diesen
Ressourcen zusichern. Entscheidend ist dabei, dass
die Gruppen aufgrund willkürlich gewählter Kriterien
gebildet werden (wie etwa Herkunft oder Hautfarbe),
und dass mit diesen Einteilungen eine bestimmte
Zielsetzung verfolgt wird.
Juristisch werden Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylBLG)
zugeordnet und haben damit Anspruch auf medizinische Versorgung bei akuten oder schmerzhaften
Erkrankungen (§ 4) oder auf Leistungen, die zur
Aufrechterhaltung der Gesundheit unerlässlich sind (§
6). Die im AsylBLG festgeschriebene Minimalbehandlung ist jedoch eine völlig unzureichende Gesundheitsversorgung, da sie keinerlei chronische Krankheiten
zu behandeln vorsieht, die nicht mit akuten Schmerzen verbunden sind. Damit verstößt sie gegen das
Menschenrecht auf Gesundheit (UN-Sozialpakt Art.
12), welches einen gleichberechtigten Zugang für alle
Menschen zu medizinischer Versorgung vorsieht.
Doch damit nicht genug. Komplettiert wird diese Form
der Ausgrenzung noch von einem strukturellen
Rassismus, der in Deutschland seit den heftigen Pogromen in den neunziger Jahren dazu geführt hat,
dass die Zuwanderung und Aufnahme von Flüchtlingen zurückgeht. Deutschland ist kein Einwanderungsland mehr und die Kampagnen zur Stärkung des
Nationalbewusstseins wie „Du bist Deutschland“
lügen, wenn sie Deutschland als ein gastfreundliches
Land beschreiben.
Ein normaler Arztbesuch, über den wir keinen weiteren
Gedanken verschwenden würde, wird für Menschen
ohne gesicherten Aufenthaltsstatus zur Quelle uneinschätzbarer Gefahren. Illegalisierte können medizinische Versorgung in der Regel nur um den Preis der
Abschiebung in Anspruch nehmen. Versuchen Krankenhäuser beim Sozialamt die Behandlungskosten
lebensnotwendiger Behandlung einzufordern, meldet
das Sozialamt die Daten der Schutzlosen in aller
Regel der Ausländerbehörde. Dies geschieht nach wie
vor trotz einer gesetzlich vorgeschriebenen verlängerten Schweigepflicht des Sozialamts.
Diese Demonstration soll allen zeigen, dass es uns
gibt. Wir haben keine Lust, tatenlos dabei zu zusehen,
was hier vor sich geht. Wir haben keine Lust auf eine
Gesellschaft, in der es darum geht, Menschen in
jedweder Form zu bewerten und zu kategorisieren.
Hier geht es um die Wichtung eines Menschen nach
seiner Herkunft und seiner Verwertbarkeit!
Seite 21
Menschen werden abgeschoben, weil sie festgefügte
Strukturen und deren Produktivität bedrohen – wir
fordern eine Rückbesinnung auf den Menschen
dahinter, seine Wünsche und seine Biographie!
Niemand hat es verdient, so behandelt zu werden wie
es den Verlierern unseres Systems ergeht.
Wir als Medinetz wollen keine staatliche Aufgabe übernehmen! Wir versuchen eine praktische Unterstützungen der Leidtragenden indem wir medizinische Versorgung vermitteln. Darum darf es aber langfristig
nicht gehen! Unser Ziel ist unsere Selbstabschaffung,
denn erst wenn jeder Mensch seine Gesundheit nicht
mit seiner Entscheidungsfreiheit und Zukunft erkaufen
muss sondern der öffentliche Zugang zur medizinischen Versorgung für jedermann geschaffen ist, erst
dann ist unser Ziel erreicht.
Und trotzdem, trotz Abschiebung und hohen
bürokratischen Mauern und Polizeiaufgebot: Menschen arbeiten und leben hier ohne Aufenthaltsstatus,
lassen sich täglich demütigen. An dieser Stelle treten
die widersprüchlichen Interessen des Staates, der
seine Bürger vor Arbeitslosigkeit bewahren will, und
dem Unternehmertum, das die Produktionskosten
niedrig halten will, ans Tageslicht. Leidtragende beider
Interessen bleiben die Menschen, die zu den 98,4 %
aller Asylantragsteller gehören, deren Antrag auf Asyl
abgelehnt wurde und der grauen Ziffer derer, die sich
erst gar nicht um Asyl bemühen. Eine gerade mal
vorläufige Aufenthaltsgenehmigung wird im Hinblick
auf den Urwald von Bedingungen, Anforderungen,
Auflagen und bürokratischem Gewirr völlig unwirklich
und unerschwinglich.
Wir arbeiten politisch, da dieses Problem nie
symptomatisch und damit oberflächlich lösbar sein
wird. Wir sind hier um auf einen gewaltigen Missstand
aufmerksam zu machen, der sich unter anderem in
einer völlig ungerechten Gesundheitsversorgung zeigt,
aber auch zahlreiche weitere Früchte trägt. Wir rufen
euch auf, derartige Früchte zu verschmähen oder
wenigstens zu hinter-fragen! Jedweder Änderung geht
eine Bewusst-seinsänderung hervor. Schaut genau hin
und nehmt nicht alles fraglos an, was euch geboten
wird. Und vor allem: Redet, Streitet darüber!
Ulrike Mölle
Leipzig
MediNetz Leipzig
Seite 22
Demo-Redebeitrag
„Schluss mit Rassismus“
Im Namen des Initiativkreises für die Integration von
AsylbewerberInnen in Leipzig grüße ich alle
DemonstrationsteilnehmerInnen und danke für die
Möglichkeit, auf eurer Demo sprechen zu können.
Auch dem Initiativkreis geht es in seinem Engagement
um die Lebenssituation von Menschen ohne
deutschen Pass; Menschen, die aus ganz
verschiedenen Gründen hier Zuflucht und ein besseres Leben suchen.
Die Standortwahl erfolgte auf der Grundlage
handfester rassistischer Kriterien: so müsse das
Domizil laut Sozialamt „außerhalb von Wohngebieten“
und „insbesondere entfernt von Kindergärten, Schulen
und Spielplätzen“ liegen. Das Grundstück sollte
„einzäunbar“ sein, schließlich wäre die Unterbringung
von an die 300 männlichen Asylsuchenden „mit
vielfältigen sozialen Problemlagen“ in einem
Wohngebiet ungeeignet. Ein konstruiertes störendes,
abnormales Verhalten der Betroffenen wurde hier
einmal mehr der Vorstellung eines kulturell
homogenen,
harmonischen
Wohngebiets
entgegengesetzt. Genau so werden soziale Probleme
der Flüchtlinge naturalisiert anstatt sie als Folge der
belastenden Lebensumstände und der restriktiven
Asylgesetzgebung zu benennen.
Nach einer oft lebensgefährlichen Flucht über die
tödlichen Außengrenzen Europas werden sie
tagtäglich mit staatlichem Rassismus in Form von
Asylbewerberleistungsgesetz, Residenzpflicht, Arbeitsveboten, Sammellagern, Sachleistungs- und Gutscheinsystem konfrontiert. Hinzu kommt ein stark
verbreiteter gesellschaftlicher Rassismus.
Zahlreiche Bewohner des tristen und verfallenen
Heims in der Torgauer Strasse erinnern sich mit
Schrecken an das Wohnen im Container auf dem
heute brach liegenden Gelände der Wodanstrass 17a.
In Leipzig leben derzeit 800 AsylbewerberInnen und
geduldete Menschen, ca. 300 davon in so genannten
Asylbewerberheimen. Ihre Lebenssituation war und ist
kaum Gegenstand öffentlichen Interesses – wenn es
dann mal öffentliche Aufmerksamkeit gibt, dann
zumeist im Zusammenhang mit negativem, z.B.
Kriminalitätsdelikten oder Verstößen gegen die
deutschen Kultur und Normvorstellungen.
In letzter Minute ersetzte die Stadtverwaltung den
Passus „Containerunterkunft“ auf Grund des
aufkeimenden Protestes in „Unterkunft in Systembauweise“ im entsprechenden Beschlussvorschlag. In
der Wodanstrasse sollten an die 300 Personen
untergebracht werden – in den existenten Heimen
waren es jeweils 175, bzw 100 gewesen.
Im vergangenen Jahr allerdings kochte die Debatte
um die konkreten Lebensumstände von Flüchtlingen
in Leipzig hoch, als der Plan der Stadt bekannt wurde,
die
beiden
bestehenden
AsylbewerberInnenWohnheime zu schließen und dafür eine neue
Sammelunterkunft in der Wodanstrasse zu errichten.
Das Leben in Sammelunterkünften bedeutet für die
Betroffenen eine Verschlechterung der ohnehin
prekären Lebensbedingungen und einen weiteren
Schritt hin zur Desintegration – den zwangsweisen
Verzicht auf Privatsphäre, auf Anbindung an das
soziale Leben und permanente soziale Kontrolle durch
Wachmenschen und auch MitbewohnerInnen.
Mit den Stimmen von CDU, FDP und SPD gab der
Stadtrat im Juni 2009 diesem Plan grünes Licht –
unter Protest zahlreicher Anwesender. Stein des
Anstoßes für das Vorhaben war das Interesse eines
privaten Investors den Standort eines der
bestehenden Heime wirtschaftlich zu nutzen und in
diesem Zusammenhang 100 Arbeitsplätze zu
schaffen, und – so äußerte eine Mitarbeiterin des
städtischen Sozialamtes in der Leipziger Volkszeitung
– „Arbeitsplätze haben in Leipzig nun mal Priorität“.
Die gute Nachricht ist: die Wodanstrasse wird nicht
gebaut. Im November 2009 wurde bekannt, dass die
finanziellen Vorstellungen von potentiellen Betreibern
und Stadt Leipzig so weit auseinander gingen, dass es
nicht zum Vertragsabschluss über die Errichtung und
Betreibung des geplanten Heimes kam. Die Proteste,
die der Initiativkreis für die Integration von
AsylbewerberInnen in Leipzig von Beginn an gegen
das Vorhaben initiiert hatte, hatten einen gewichtigen
Anteil am Scheitern des Vorhabens.
Der Standort Wodanstraße befindet sich kurz vor der
Autobahnauffahrt zur A 14, in einem Gewerbegebiet
ca. 9km vom Stadtzentrum entfernt.
Seite 23
Am 16.6. wird im Leipziger Stadtrat nun über die
Zukunft der Unterbringung von Asylsuchenden in
Leipzig debattiert. Ein Antrag von Grüner und
Linksfraktion fordert die Stadt auf, dafür ein
ganzheitliches Konzept zu erarbeiten, das einerseits
Priorität auf dezentrale Wohnungsunterbringung legt
und andererseits gemeinsam mit Vereinen und
Initiativen der Flüchtlingsarbeit erstellt wird. Zum Ende
des Jahres hin könnte auf Grundlage dieses Antrages
eine Trendwende zumindest bei der Wohnsituation
von Aslysuchenden eingeleitet werden - ein kleiner
Baustein um diesen ein menschenwürdiges Leben zu
ermöglichen.
Wann ist ein Mensch wert, gut leben zu können?
Unsere Antwort lautet: Jedem Menschen, egal wo er
geboren ist, ob er körperlich oder psychisch
beeinträchtigt, ob er zu Arbeit bereit ist oder nicht, hat
einen Anspruch auf ein gutes, auf ein würdiges Leben.
Die menschenunwürdige Unterbringung in Sammelunterkünften, drastisch auch Lager genannt, ist dabei
„nur“ ein Teilproblem, ebenso wie die Residenzpflicht,
Paketversorgung, die unzureichende medizinische
Versorgung oder die minimale sozialstaatliche
Absicherung von Asylsuchenden – das Grundproblem
ist und bleibt der Kapitalismus in seiner
nationalstaatlichen Konstitution.
Wie vor einem Jahr ruft der Initiativkreis zur Teilnahme
an der Stadtratssitzung auf. Gemeinsam wollen wir a
16.6. demonstrieren, dass wir keine Ruhe geben,
wenn es um die Belange derer geht, die
weitestgehend unbeachtet am Rande dieser
Gesellschaft leben!
Ein Gesellschaftssystem, das Teilhabe – insbesondere
in Deutschland – an der geburtsmäßigen Herkunft
festmacht, … ein Gesellschaftssystem, das NichtDeutschen eine Existenzberechtigung nur dann
zugesteht wenn sie besonders qualifizierte oder aber
besonders erniedrigenden Arbeiten ausführen, ein
System, das Menschen abschiebt, wenn sie
Verfolgung im Heimatland nicht adäquat nachweisen
können - dieses System muss ein Ende haben.
Das Ringen um verbesserte Lebensbedingungen von
Asylsuchenden, von Illegalisierten, von Menschen, die
nicht der rassistischen Grundidee des deutschen
Staatsbürgerschaftsrechtes entsprechen darf sich aus
unserer Sicht allerdings nicht auf den Kampf um
kleine Verbesserungen beschränken - es geht
vielmehr um eine grundlegend humanistische Frage,
die mit einer Kritik am kapitalistischen System zu
verknüpfen ist.
In diesem Sinne: Weg mit Sammelunterkünften,
Schluss mit Abschiebungen, Schluss mit jeder Form
von Rassismus. Denn Menschenwürde ist nicht
teilbar.
MediNetz Leipzig
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