Reader - Medinetz Leipzig
Transcrição
Reader - Medinetz Leipzig
Zeitung der Medinetze Medibüros und Medizinischen Flüchtlingshilfen Ausgabe 1 Krank ohne Papiere? Chory i bez dokumentów? Hasta ve belgesiz? Bolestan/bolesna i bez izprave? Ốm đau và không có giấy tờ? Болни сте и нямате документи? Болен и без документов? Impressum: Artikel: Alex Rosen, Anna Kühne, Charlotte Konwisorz, Katharina Thilke, Rosi Bogner, Sonja MüllerTribbensee, Stephan Bialas, Ulrike Mölle, Initiativkreises für die Integration von AsylbewerberInnen in Leipzig, Abschiebungshaftgruppe Leipzig Photos: Ina Müller uvm. Deckblatt: Florian Hesselbarth Redaktion: Stephan Bialas, Alexandro Hoyer, Katharina Willuweit, Katharina Thilke, Alex Rosen Layout: Alex Rosen Druck: Uni-Center Düsseldorf, www.uni-copycenter.de V.i.S.d.P: Alex Rosen, Krefelder Str. 97a, 5670 Köln Inhalt Grußwort Seite 1 Photos vom Leipziger Bundestreffen Seite 2 Impressionen eines Teilnehmers Seite 3 Vortrag von Dr. Martin Merbach Seite 5 Anonymer Krankenschein Seite 7 Die neue Verwaltungsvorschrift Seite 9 Schwanger und keine Papiere Seite 11 Med. Versorgung von EU-MigrantInnen Seite 13 Nexweş û bê ewraq? Seite 15 Was ist Frontex? Seite 16 MediNetz-Demo in Leipzig Seite 19 Redebeitrag Abschiebungshaftgruppe Seite 20 Redebeitrag Medinetz Leipzig Seite 21 Redebeitrag „Schluss mit Rassismus“ Seite 23 Grußwort Liebe Medinetzinteressierte und natürlich liebe Medinetzler_innen! Im Juni letzten Jahres fand das bundesweite Treffen der Medinetze in Leipzig statt. Auf dem Treffen entstand unter anderem die Idee, eine gemeinsame Zeitung mit Informationen über die Probleme und Neuigkeiten der Medinetzarbeit herauszubringen. Es ist viel Zeit vergangen und manch eine_r wird mittlerweile vielleicht sogar überrascht sein, diese Zeitung nun wirklich in den Händen zu halten. Auch wir als Redaktion hätten wohl nicht damit gerechnet, dass Schwierigkeiten, wie die Hunderte von Kilometern zwischen uns oder der alltägliche Klausur-, Arbeits- oder Promotionsstress so viel Zeit für dieses Projekt rauben können. Wie auch immer! Was lange währt... Letztendlich ist eine, wie wir denken, informative und interessante Zeitung entstanden. Die meisten Texte handeln von den Themen der Workshops des Bundestreffen, so dass auch diejenigen, die nicht nach Leizig kommen konnten, davon profitieren können. Wir haben zum Teil die zugeschickten Protokolle sehr gewissenhaft in, wie wir hoffen, gut lesbare Texte umgeschrieben ohne einen Informationsverlust zu riskieren. Wir erhoffen uns so einen besser nutzbaren Überblick über die Diskurse und Problematiken der Medinetzarbeit und vielleicht auch, dass es etwas mehr Freude beim Lesen bereitet als es das Durchgehen von tabellarischen Protokollen mit sich bringen würde. Wir hoffen Euch gefällt diese Zeitung und, noch wichtiger, Euch helfen die Informationen bei der weiteren Medinetzarbeit! Auf www.medibueros.org gibt es übrigens auch eine 'Online-Version' dieser Zeitung. Zuletzt bleibt noch ein riesengroßes Dankeschön an alle Mitwirkenden: An die Protokollant_innen und Autor_innen und auch an die Workshopleiter_innen, die die Texte nochmals Korrektur gelesen haben. Im Namen der Redaktion, Stephan Bialas Leipzig Worum geht es hier eigentlich? Für Leser_innen, die noch gar nicht wissen, was Medinetze, MFHs oder Medibüros eigentlich sind, hier ein paar Sätze dazu: Medinetze/Medibüros/MFHs sind nichtstaatliche Organisationen, die versuchen, Menschen, die vom Staat illegalisiert werden, den Zugang zu einer medizinischen Versorgung zu ermöglichen. Diese Menschen haben durch die strikte Gesetzgebung nur sehr limitierten Zugang zu medizinischen Leistungen und selbst diese sind mit weitreichenden Konsequenzen, die viel zu oft zu Abschiebungen führen können, verknüpft. Medinetze bzw. Medibüros bieten eine regelmäßige Sprechstunde an, bei der illegalisierte Menschen an vertrauenswürdige Ärztinnen und Ärzte weitervermittelt werden um so eine adäquate und diskrete Behandlung zu ermöglichen. . Weiterhin setzen wir uns in unserer politischen Arbeit dafür ein, die unmenschliche Praxis der Illegalisierung und die damit einhergehende medizinische Unterversorgung von Menschen zu stoppen und diese Missstände öffentlich zu machen. Die Organisationen teilen keinen gemeinsamen Namen, meist heißen sie Medinetz, Medibüro oder medizinische Flüchtlingshilfe. Zur Einfachheit wird in dieser Zeitung meist von Medinetz oder Medibüro gesprochen, gemeint ist jedoch die gleiche Struktur. Für ausführlichere Informationen sei auf die Seite www.medibueros.org verwiesen. Noch kurz was zum Geschlecht... In den meisten Texten werdet ihr den sogenannten 'Gender-Gap' (z.B. Migrant_innen) finden. Dies ist ein Mittel der sprachlichen Darstellung aller sozialen Geschlechtsidentitäten, auch jener abseits der gesellschaftlich hegemonialen Zweigeschlechtlichkeit. Die Intention ist, durch den Unterstrich einen Hinweis auf diejenigen Menschen zu geben, welche nicht in das ausschließliche Frau/Mann-Schema hineinpassen oder nicht hineinpassen wollen. Seite 1 Photos vom Bundestreffen in Leipzig Seite 2 Impressionen eines Teilnehmers MediNetz Leipzig Freitag Morgen, gleich nach der Frühbesprechung... eine aufreibende Nachtdienstwoche mit einem latenten Schlafdefizit hinter mir, und voller Vorfreude auf das anstehende Wochenende, schwing ich mich aufs Rad und fahr zum Bahnhof. Fahrrad abgestellt, Mietwagen abgeholt, noch schnell eine große Tasse Kaffee geschlürft und schon treffen die MitfahrerInnen an - Medizinstudies und eine Kranken-schwester aus Düsseldorf und dem Ruhrgebiet. Zu fünft zwängen wir uns in die kleine Mietskutsche und düsen quer durch die Republik. Ziel: Leipzig! Dort erwartet uns ein Wochenende voller neuer Eindrücke. Aus ganz Deutschland werden engagierte Menschen anreisen, die sich für die medizinische Versorgung von Flüchtlingen und MigrantInnen einsetzen. Nach dem ersten bundesweiten Treffen in Bochum 2008 und einem Folgetreffen in Freiburg letztes Jahr, findet nun schon zum dritten Mal ein solches gemeinsames Wochenende der Medibüros, MediNetze und Medizinischen Flüchtlingshilfen statt, diesmal organisiert vom MediNetz Leipzig. Während wir uns durch Rheinland, Taunus und Thüringischen Wald schlängeln, kreisen die Gespräche immer wieder um die Arbeit der MediNetze und unsere Erwartungen an das Wochenende. Am nächsten Morgen weckt der Duft von frisch gebrühtem Kaffee die TeilnehmerInnen. Nach einem sonnigen Frühstück im Hof geht es zur ersten Plenarsitzung, wo das Programm des Wochenendes vorgestellt wird und anschließend in die ersten Workshops. Unsere Gruppe teilt sich strategisch auf, damit wir möglichst viel mitbekommen. Das thematische Angebot reicht von informativen Vorträgen über die Situation der EU-StaatsbürgerInnen aus Osteuropa oder das europäische „Flüchtlingsabwehrnetz“ Frontex über Workshops, die sich mit praktischen Lösungsansätzen für Schwangere ohne Papiere oder andere „Alltagssorgen“ der Medizinischen Flüchtlingshilfen befassen, bis hin zu eher organisatorischen Workshops, beispielsweise zur Öffentlichkeitsarbeit oder der besseren Vernetzung der Initiativen untereinander. So kommt jedeR auf seine Kosten – die Neulinge lernen viel über die rechtlichen und sozialen Hintergründe der Menschen die in ihre Sprechstunde kommen, die Erfahreneren bemühen sich um eine Verbesserung der Zusammenarbeit und des Austauschs. Am späten Nachmittag kommt unser Rhein-RuhrMobil dann schließlich in Leipzig an. Wir fahren durch ein altes Industriegebiet, geprägt von Backsteingebäuden und Schornsteinen, aber auch von Zeichen einer alternativen linken Szene, die es sich hier gemütlich gemacht hat. Auch unser Tagungsort, das Kulturelle Zentrum zur Förderung emanzipatorischer Gesellschaftskritik und Lebensart, ist ein selbstverwaltetes Areal, dessen leicht anarchisches Wesen beste Voraussetzungen für einen offenen und freien Diskurs schafft. Wie so oft bei solchen Wochenenden erweisen sich die Pausen als die Zeiten der intensivsten Arbeit – hier wird gemeinsam über die Erkenntnisse der Workshops diskutiert, hier werden Ideen gesponnen und Pläne gemacht. Vor allem die noch relativ frisch gegründeten MediNetze profitieren enorm durch den Austausch mit den MitarbeiterInnen der lang aktiven Initiativen und es bilden sich spontane Diskussionsgruppen während des Mittagsessen – das Interesse am Erfahrungsaustausch ist groß. Das Lagerfeuer brennt schon, als wir unsere Rucksäcke durch das gusseiserne Tor hieven. In den kommenden Stunden füllt sich dann der quirlige Innenhof mit immer mehr Leuten. Sie kommen aus Erlangen, Rostock, Berlin, Freiburg, München, Hamburg oder Göttingen, aus Dresden, Gießen und Mainz – am Ende werden es knapp 100 TeilnehmerInnen aus 23 Städten sein, die für dieses Wochenende anreisen. Die Leipziger Gastgeber geben sich Mühe, alle gebührend zu empfangen und zu ihren Schlafplätzen in der alten Gießerei zu dirigieren. Ganz nebenbei haben viele TeilnehmerInnen währenddessen ihre erste Erfahrungen mit veganer Küche und stellen (oft zu ihrem eigenen Erstaunen) fest, wie schmackhaft und gesund diese sein kann. Das Gesamtkonzept des Küchenchefs scheint aufzugehen – selbst das abendliche Barbecue bestreitet er gänzlich auf Sojabasis – und alle sind begeistert. Der Freitag Abend dient vor allem dem Kennenlernen und dem Austausch. Bis weit nach Mitternacht wird sich am Feuer gewärmt und über die Erfahrungen in den verschiedenen Initiativen berichtet. Für die meisten ist es das erste Mal, dass sie über die Grenzen ihres lokalen Projekts hinausblicken und feststellen, dass in ganz Deutschland Menschen mit ähnlichen Problemen konfrontiert sind, ähnlich pragmatische Lösungen gefunden haben und mit ähnlichen Fragen nach Leipzig gekommen sind. Seite 3 In den Plenarsitzungen wird dann allerdings auch deutlich, wie weit, aller Gemeinsamkeiten zum Trotz, die politischen Vorstellungen der unterschiedlichen Initiativen doch auseinander liegen. Während vor allem die neuen MediNetze noch sehr mit der Organisation des Alltags beschäftigt sind, streben die Erfahreneren nach politischen Lösungen und mehr Kooperation. Am Sonntag dann noch der krönende Abschluss dieses Wochenendes: mit Hunderten von AktivistInnen und UnterstützerInnen, einem großen Lautsprecherwagen und Tausenden von informativen Flugblättern ziehen wir durch die Leipziger Innenstadt und demonstrieren lautstark für eine Gesellschaft, in der jedeR, unabhängig seines rechtlichen Status, Zugang zu den Grundbedürfnissen des Lebens hat – eben auch zu medizinischer Hilfe. Es könnte auch so zusammenfassen gefasst werden: während die einen damit beschäftigt sind, sich gerade zu gründen, bemühen sich die anderen, sich gerade abzuschaffen. Dass es trotz dieser grundlegenden Unterschiede immer fair und konstruktiv zugeht, darf auch als riesiges Lob an die Moderation der OrganisatorInnen gesehen werden. Am Ende steht fest, dass es allen eigentlich um das selbe geht und wir es mit so vielen Initiativen in unterschiedlichen Phasen ihrer Existenz halt einfach schwer haben, alle unter einen Hut zu bekommen. Die LeipzigerInnen nehmen uns wahr und hören interessiert zu – mit diesen positiven Bildern im Kopf machen wir uns auf den Heimweg. Es gibt viel zu tun – neue Ideen haben sich im Laufe des Wochenendes herauskristallisiert, ehrgeizige Vorhaben gebildet und Lösungsansätze für einige Probleme gefunden. Bis zum nächsten Treffen ist es noch lange hin, aber diese Zeit werden wir auch brauchen, um all das zu verarbeiten, was wir dieses Wochenende erlebt und erfahren haben. Bis nächstes Jahr in Mainz also... Eine gemeinsame Internetplatform, ein Onlineforum, eine Presse-erklärung, ein bundesweites Kunstprojekt, ein gemeinsamer Reader und ein Folgetreffen in Mainz im nächsten Jahr sind dabei die sichtbarsten, aber bei weitem nicht einzigen Zeichen der bundesweiten Kooperation. Alex Rosen Düsseldorf MediNetz Leipzig Seite 4 „Offen für Alle“ Vortrag von Dr. Martin Merbach Vorbereitungs, Migrationsakt, Überkompensierung, Dekompensation, generationsübergreifende Anpassung und Integration. Eine Einordnung der jeweiligen Person kann für den Beratenden eine Hilfe darstellen, können doch die einzelnen Phasen mit spezifischen Belastungsfaktoren beschrieben werden. MediNetz Leipzig „Wie kann das gesundheitliche Versorgungssystem / Wie kann unser Angebot an die Bedürfnisse der migrantischen Nutzer_innen angepasst werden?“ Dieser Frage war der erste Abend des bundesweiten Medinetztreffens gewidmet und viele Zuhörer_innen, unter ihnen sowohl Teilnehmer_innen des Treffens als auch interessierte Leipziger_innen, konnten sich bei dem Vortrag Dr. Martin Merbachs ein Bild von der aktuellen Lage migrationssensibler gesundheitlicher Versorgung in Deutschland machen, aber auch einige Anregungen für die eigene Praxis mitnehmen. Merbach ist Psychologe an der Uni Leipzig und befasst sich schwerpunktmäßig mit Migration und Gesundheit und interkultureller Beratung. Charlotte Konwisorz hat sich für uns die Mühe gemacht und seine Rede hier auf zwei Seiten zusammengefasst. Betrachten wir nun den Zusammenhang zwischen Gesundheit und Migration, so ist es sinnvoll, verschiedene Ebenen zu unterscheiden: einerseits die körperliche Gesundheit und auf der anderen Seite das psychische Wohlbefinden von Menschen mit Migrationshintergrund. Was den körperlichen Zustand angeht, so stellt sich die Befundlage als recht widersprüchlich dar, beispielsweise bezüglich der Prävalenzrate. Einige Studien belegen eine bessere gesundheitliche Verfassung von Migrant_innen im Vergleich zur Bevölkerung im Ankunftsland, andere kommen zu umgekehrten Schlüssen. Betrachten wir dahingegen den psychischen Gesundheitszustand werden eindeutigere Zusammenhänge sichtbar. So attestiert die Forschung den Migrant_innen eine signifikant schlechtere psychische Verfassung. Diese Befunde variieren jedoch stark je nach Herkunftsregion und -kultur. Als Gründe hierfür können neben krank machenden Lebensbedingungen, beispielsweise traumatisierenden Erlebnissen, auch der kulturspezifische Umgang mit Krankheit bzw. Beschwerdeäußerung genannt werden. Eine pauschale Aussage zur Gesundheit von Migrant_innen kann also eigentlich nicht getroffen werden. Trotzdem sollen hier zwei Ergebnisse benannt werden: zum einen stellt sich ein positiver Zusammenhang zwischen sozialer Integration und Gesundheit heraus, zum anderen können negative Zusammenhänge zwischen Diskriminierung und Gesundheit festgestellt werden. 1. Analyse der Zielgruppe Zunächst fällt bei der näheren Betrachtung der eigentlichen Zielgruppe (Menschen mit Migrationshintergrund) unwillkürlich ins Auge, dass es sich hier um eine sehr heterogene Gruppe handelt, die sich nicht nur hinsichtlich ihres jeweiligen Herkunftsgebiets unterscheiden, sondern auch hinsichtlich Aufenthaltsdauer, Aufenthaltsstatus etc. unterschiedliche Voraussetzungen mitbringen. Daraus ergeben sich weiterhin Unterschiede hinsichtlich Sprachkompetenz, kulturspezifisch normierten Verhaltensregeln, etc. Eine sehr naheliegende Einsicht – jedoch muss diese Diversität berücksichtigt werden, wenn ich mein jeweiliges Angebot optimieren und den Bedürfnissen meiner Klient_innen gerecht gestalten möchte. 2. Analyse der Beziehungsgestaltung Zu einem „maßgeschneiderten“ und bedürfnis-orientierten Angebot trägt nicht alleine der sensible und differenzierte Blick auf die Person, die es nutzen möchte, bei. Auch eine kritische Sicht auf das eigene Agieren, die eigenen Fähig- und Fertigkeiten ist unerlässlich. Dazu gehört auch, sich mit der Beziehungsgestaltung zwischen Berater_in und Nutzer_in auf verschiedenen Ebenen auseinanderzusetzen. Hierzu werden wir uns beziehungs-dynamischer Aspekte der Psychoanalyse bedienen: Im konkreten Beratungsfall bietet es sich zudem an, sich (zur Nachvollziehbarkeit der individuellen Situation des / der zu Behandelnden bzw. Beratenden) mit deren/dessen Migrations-Geschichte auseinander zu setzen. Hier bringt Merbach den Begriff der Akkulturation ins Spiel: Der Prozess des im Ankunftsland Ankommens und Lebens kann modellhaft in unterschiedliche Phasen eingeteilt werden: In jede zwischenmenschliche Beziehung werden von beiden Seiten unterschiedliche Erfahrungen aus der individuellen Vergangenheit und damit auch Erwartungen an das Gegenüber eingebracht. Seite 5 Das bedeutet also, dass wir unser Gegenüber, dessen Verhalten und Äußerungen niemals vollkommen vorbehaltslos begegnen, sondern das wir auf ihn oder sie unsere Beziehungserfahrungen übertragen, die wiederum stark von der jeweiligen Kultur in der wir aufwachsen geprägt ist. Auf der anderen Seite können in der Interaktion auch eigene Wünsche und Ängste geweckt oder sogar (unbeabsichtigt) das eigene Wertesystem in Frage gestellt werden, was eine Abwehrreaktion hervorrufen kann. Durch die verschiedene kulturelle Referenzrahmen (z.B. der unterschiedliche Umgang mit Krankheit und Ausdruck von Beschwerden) und Sprachbarrieren stößt die interkulturelle Begegnung letztendlich an ihre Grenzen. 3. Welche politischen Forderungen können aus der bisherigen Analyse folgen? Einerseits werden immer wieder Stimmen laut, die eine interkulturelle Öffnung der Regeldienste fordern. Dies bedeutet eine Entwicklung bestehender Einrichtung, beispielsweise durch die Steigerung interkultureller Kompetenzen oder die Einstellung von muttersprachlichen Fachkräften. Es werden also gleiche Institutionen für alle geschaffen. Für die Beziehungsgestaltung im Beratungskontext kann dies also bedeuten, dass unbeabsichtigt Konflikte auftreten, die beispielsweise die Themen Autonomie-Abhängigkeit, Versorgung-Benachteiligung und Individuation beinhalten, was wiederum schwerwiegende Folgen für den gesamten Beratungsausgang haben kann. Für die professionelle, helfende Seite bedeutet dies, sich bewusst mit solchem Konfliktpotential und dessen Folgen auseinander zu setzen und einen sensiblen Umgang damit zu pflegen. Auf der anderen Seite finden sich Befürworter der migrantenspezifischen Versorgung. Dies würde eine separate gesundheitliche Versorgung bedeuten, also die Schaffung spezieller Angebote und Einrichtungen für unterschiedliche Herkunftsgruppen. Über die Bewusstwerdung eigener Stereotype hinaus ist es für ein tieferes Verständnis der BeratungsBeziehung sinnvoll, sich mit der Funktion und dem Umgang mit dem Fremden auseinanderzusetzen. So wird das Fremde zur Konstruktion des Eigenen, sozusagen als Gegenpart unerlässlich – als Ersehntes, Begehrtes aber auch als Unerwünschtes und NichtGewolltes. Es wird von drei kollektiven Mechanismen im Umgang mit diesem Fremden ausgegangen: Entfremdung (Anpassung des Frem-den), Verwertung (Ökonomisierung des Fremden) und Idealisierung. Beide Meinungen haben sicherlich ihre Berechtigung und es ist schwer, ein abschließendes Urteil darüber zu finden. Erinnern wir uns an die anfänglich beschriebene Heterogenität, die unterschiedlichen Bedürfnisse von Menschen mit (aber auch ohne) Migrationshintergrund, so scheint eine zweigleisige Entwicklung des gesundheitlichen Versorgungssys-tems sinnvoll – die Notwendigkeit einer Weiterentwicklung des deutschen Gesundheits-systems steht nach der hier geschehenen Analyse jedoch außer Frage. Charlotte Konwisorz Leipzig Kunze 1998 Die komplette Rede von Dr Merbach findet man übrigens auf unsere Homepage: http://medibueros.m-bient.com/index.php?id=46 Seite 6 Anonymer Krankenschein Lösungskonzept 2: Durchsetzung des „anonymen Krankenscheins“ www.bundestag.de Konzept des anonymen Krankenscheins Da es Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus in der Bundesrepublik auf Grund des sog. „Denunziationsparagraphen“ (§87 AufenthG) derzeit nahezu unmöglich ist, angemessene medizinische Versorgung zu erhalten, ohne dabei eine Abschiebung zu riskieren, besteht seit Jahren die Forderung nach dem Konzept eines „anonymen Krankenscheins“. Es soll Menschen ohne Aufenthaltsstatus Zugang zu ambulanten und stationären Behandlungen erleichtern. Dabei würde eine unter ärztlicher Leitung stehende Anlauf- und Beratungs-stelle im Auftrag der Sozialämter „anonyme“ Krankenscheine an bedürftige Papierlose verteilen, so dass diesen daraufhin die gleiche medizinische Versorgung offen stünde wie „Regelversicherten mit deutscher Staatszugehörigkeit“. Die personenbezogenen Daten dürften NICHT weiter an die Ausländerbehörde übermittelt werden. Die entsprechenden ärztlichen Berater_Innen sollten eine Art „Gate Keeper“ und „Case Manager“ Funktion innehaben. Sie sollten nicht nur fachlich erfahren sein, sondern darüber hinaus eine profunde Rechts- und Sozialberatung erteilen können, mit dem Sozialamt kooperieren, möglichst sogar staatlich oder kommunal finanziert werden. Zum Schutz vor Missbrauch müssten sie eine Bedürftigkeitsprüfung bei jeder_m Patient_Innen / Anwärter_Innen durchführen. Ein Kriterienkatalog zur Erfassung der Bedürftigkeit müsste dazu erarbeitet werden. Mit Hilfe des anonymen Krankenscheins könnte dann jeder Papierlose den/die Ärzt_In seiner Wahl aufsuchen und wäre in die „Regelversorgung“ eingegliedert. Über die Abrechnung herrscht noch Uneinigkeit. Das Konzept des anonymen Krankenscheins ist in seiner Grundidee bislang in Deutschland nicht verwirklicht und unterscheidet sich zum Teil zwischen den verschiedenen Städten (hier Hamburg – Berlin). Mögliche Ansätze zur Finanzierung eines solchen Systems wären: ● Staatlich/kommunal/städtische Finanzierung ● EBM (einheitlich Bewertungsmaßstab) ● GOÄ (Gebührenordnung für Ärzt_Innen) ● Ähnlich wie bei Privatversicherten Die Anforderungen sind: ● Rechtsanspruch - jeder Mensch muss ein Recht auf Gesundheitsversorgung haben ● Gesicherte Finanzierung (am besten staatlich) ● Schutz vor Abschiebung für Patienten ohne Status ● Einbindung in die Regelversorgung ● Politische Durchsetzbarkeit Aus diesem zweiten Lösungsansatz ergaben sich weitere Fragestellungen: ● Wie sollte man eine Bedürftigkeit bei Illegalisierten feststellen, wenn diese doch wahrscheinlich keine Nachweise liefern könnten? ● Sollten Ausgabestellen staatlich finanziert werden? Dann würde eventuell immer ein finanzieller Druck von oben vorherrschen. ● Was passiert mit Migrant_Innen der neuen EU-Länder, die sich zwar legal in Deutschland aufhalten, jedoch oft keine Krankenversicherung haben? Diese fallen derzeit nicht unter das Asylbewerberleistungsgesetz. ● Wie bewertet man die Arbeit der karitativen Einrichtungen? Zur Verbesserung der medizinischen Versorgung Papierloser wären zwei Lösungskonzepte denkbar: Lösungskonzept 1. Abschaffung des §87 AufenthG und des AsylbLG Die Abschaffung der Übermittlungspflicht in Zusammenhang mit der Inanspruchnahme medizinischer Leistungen, nicht nur für Krankenhausaufenthalte, sondern auch im ambulanten Sektor. Außerdem ist eine Abschaffung des von Ärzt_Innen viel kritisierte Asylbewerberleistungsgesetz vorgesehen, welches nur eingeschränkte medizinische Leistungen für eine kleine Personengruppe ermöglicht. Fazit: Dieses Konzept ist in Realität nur sehr schwer durchsetzbar und benötigt hohen politischen Einsatz. Seite 7 Alternative Konzepte : Der anonyme Krankenschein als polit. Forderung Münchner Konzept Der anonyme Krankenschein hat Vor- und Nachteile, wobei das Konzept bislang nur einem kleinen Fachpublikum zugänglich ist. Teils wird es als utopisch angesehen, teils besitzen einige Städte bereits eine breite Lobby, um den Eingang in die Politik zu meistern. In München funktioniert die Zusammenarbeit mit der Stadt besonders gut. Es gibt hier das Amt für Wohnen und Migration, welches sich unter anderem um die Obdachlosenunterkünfte und die Sozialbetreuung kümmert. Es bleibt ein Konstrukt, hinter dem viele Forderungen stehen. In Berlin wird bereits versucht, den individuellen Rechtsanspruch politisch durchzusetzen. Für uns relevant sind vor allem zwei Arbeitskreise: ● AG für die Gesundheitsversorgung von neuen EU-Bürger_Innen ● AG für die Gesundheitsversorgung von Illegalisierten (seit 1998, Café 104) In Städten wie Freiburg ist das Konzept des Anonymen Krankenscheins mühsam ausgearbeitet worden und im Immigrationsausschuss abgelehnt worden. Hier könnte die Forderung nach Abschaffung des „Denunziationsparagraphen“ auf mehr Motivation stoßen. In München werden medizische Nothilfe sowie stationäre Aufenthalte aus einem staatlichen Fond mit einem Jahresbudget von 100.000 € finanziert. Dieser Fond gilt jedoch lediglich für Personen ohne Aufenthaltsstatus, es konnte aber bislang noch jedem_r Neu-EU-Bürger_In nach einer Bedürftigkeitsprüfung geholfen werden. Bei ambulanter Behandlung werden nur die Kosten für Medikamente übernommen, Arzthonorare werden nicht finanziert. Auch eine Öffentlichkeitskampagne zur Kritisierung der Gesundheitshierarchie oder eine erneute Petition könnte derzeit hilfreich sein, vor allem aber muss die Aufklärungsarbeit von Sozialämtern, Krankenhäusern und Migrant_Innen vorangetrieben werden. Immer wieder sollten Stadträte angesprochen werden, damit Politiker_Innen eine Meinung zu diesem bundesweiten Thema entwickeln. Seit Anfang 2010 konnten somit sämtliche anfallende Entbindungen übernommen werden, ohne dass dabei Namen angegeben werden mussten. Man bemüht sich kontinuierlich um Infoveranstaltungen mit Krankenhauspersonal, um über Abrechnung und Meldepflicht aufzuklären. Der Staat darf sich nicht auf der Arbeit der Malteser und Medibüros ausruhen. Es darf sich auch keine Parallelgesellschaft auf gesundheitlicher Ebene etablieren. Das Ziel eines funktionierenden Medinetzes sollte es sein, Aufwand und Kosten an den Staat abzugeben. Medinetze dürften nicht zum Platzhalter für eine ambulante Versorgungslücke werden! Bremer Konzept Das Medinetz Bremen hatte zusammen mit dem Migrationsbeauftragten Forderungen an das Gesundheitsamt aufgestellt, welche 2007 in den Koalitionsvertrag der rot-grünen Regierungskoalition der Stadt aufgenommen wurden. Fazit: Der Aufenthaltsstatus muss vom Gesundheitsstatus getrennt werden! Wie das im Einzelnen zu erreichen ist, bleibt jedem Medinetz/Medibüro selbst überlassen. Ein bundesweites Konzept kommt derzeit nicht zu Stande. Da Sozialämter in kommunaler Verwaltung liegen, kann der Anonyme Krankenschein lokal durchzusetzen sein. Die Frage, die sich für jedes Medinetz/Medibüro nun stellt, ist welches Lösungskonzept in ihrer Stadt am besten politisch zu vertreten ist. Seitdem finanziert das Sozialressort/Gesundheitsamt 3 Jahre lang eine „Clearing Stelle“, die 10 Stunden pro Woche von einer Person der Med. Flüchtlingshilfe besetzt wird. Sie ist Anlaufstelle für Menschen ohne Aufenthaltsstatus, erteilt soziale und rechtliche Beratung, gibt Auskünfte in allen Lebenslagen und leitet an Fachärzt_Innen weiter. Finanziert wird mit 35.000 € jedoch nicht nur die Clearing-Stelle, sondern auch anfallende Kosten für Medikamente, Diagnostik und Fallpauschalen. Die Clearing-Stelle ist nicht direkt ans Gesundheitsamt angegliedert und muss nach 3jähriger Limitierung an NGOs abgegeben werden. Nachteile dieses Konzepts sind die hohe Schwelle für die Papierlose, da es sich beim Gesundheitsamt um eine öffentliche Einrichtung handelt, das begrenzte Budget für KH-Aufenthalte und die fehlende Bezahlung fachärztlicher Behandlungen. Rosi Bogner Erlangen Seite 8 Die neue Verwaltungsvorschrift Hintergrund Vorgehen bei Notfällen In der Arbeitsgruppe Verwaltungsvorschriften wurden relevante Gesetze vorgestellt. Besonders die neue allgemeine Verwaltungsvorschrift (AVV) zum Aufenthaltsgesetz war dabei ein wichtiges Thema. Diese Regelung betrifft den verlängerten Geheimnisschutz: Die übliche Meldepflicht der Sozialämter an die Ausländerbehörden gilt demnach nicht, wenn die Daten dem verlängerten Geheimnisschutz unterliegen, also zum Beispiel ein Arzt-Patient-Verhältnis geschützt werden soll. Das gilt seit der neuen Verwaltungsvorschrift explizit auch für Daten, die von der Krankenhausverwaltung an das Sozialamt weitergegeben wurden. Wird also nach erfolgter Behandlung von einem Arzt oder vom Verwaltungspersonal des Krankenhauses ein Antrag auf Kostenübernahme auf Grundlage des Asylbewerberleistungsgesetz gestellt, dürfen diese Daten vom Sozialamt NICHT an Ausländerbehörde oder Polizei weiter gegeben werden. Im Falle eines Notfalls kann der Antrag auf Kostenübernahme an das Sozialamt nach erfolgter Behandlung gestellt werden, und zwar durch denArzt_die-Ärztin oder das damit betraute Verwaltungspersonal in Krankenhaus oder Arztpraxis. Das gilt auch für ambulante Vorstellungen. Leider dürfte es für eine durchschnittliche Arztpraxis allerding einfacher sein, die Kosten selbst zu tragen als zu versuchen, das Geld vom Sozialamt einzutreiben. Das Sozialamt darf die Daten nicht weitergeben, die Meldeplicht entfällt. Wenn wir das flächendeckend verbreiten, könnte das einen Zugang zu Notfall-versorgung mit Kostenübernahme für Illegalisierte bedeuten. Vorgehen bei nicht notfallmäßiger Behandlung: Üblicherweise wird gesagt, dass für nicht notfallmäßige Behandlung der_die Patient_In vorher beim Sozialamt einen Krankenschein besorgen muss. Das geht natürlich nicht für Illegalisierte. Für den verlängerten Geheimnisschutz ist es irrelevant, ob es um ambulante oder stationäre Versorgung geht. Wichtig ist eher, es sich um eine Notfallversorgung handelt oder nicht. Noch genauer: es geht darum, ob der_die Patient_In den Antrag auf Kostenübernahme selbst stellt (üblich bei Nichtnotfallversorgung) oder ob sein_ihr behandelnder Arzt_Ärztin bzw. das Krankenhaus diesen Antrag stellt (üblich bei Notfallversorgung). Nur dann gilt der verlängerte Geheimnisschutz. Dies geht zurück auf einen Paragraphen aus dem Sozialhilfegesetz, der besagt, dass Gelder nur für gegenwärtige oder zukünftige Leistungen bewilligt werden können, es sei denn es besteht ein Notfall, dann geht es auch für Leitstungen in der Vergangenheit. Im Asylbewerberleistungsgesetz selbst steht kein Wort davon, wann wer diese Leistungen beantragen muss. Es gibt allerdings Gerichtsurteile (Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht 17.10.2001 Aktenzeichen 4LB 1109/01 und Oberverwaltungsgericht NordrheinWestfalen 28.05.2008 Aktenzeichen 12A 702/07) die besagen, dass dieser Paragraph aus dem Sozialhilfegesetz nicht analog für das Asylbewerberleistungsgesetz gilt, weil das Asylbewerberleistungsgesetz primär kein Sozialhilfegesetz ist, sondern ein Gesetz dass aufenthaltsrechtliche Belange regelt. Die Urteile bestätigen in beiden Fällen einen Leistungsanspruch bei elektiven Behandlungen im Krankenhaus, bei denen erst im Nachhinein durch das Krankenhaus die Kostenübernahme beim Sozialamt nach Asylbewerberleistungsgesetz beantragt wurde. In beiden Fällen bekam das Krankenhaus recht und das Sozialamt musste zahlen. Würde der_die Patient_In den Antrag auf Kostenübernahme nach erfolgter Notfallbehandlung, sei es im Krankenhaus oder ambulant, selbst stellen, wird an die Ausländerbehörde gemeldet. Es geht beim verlängerten Geheimnisschutz um den Schutz des Arzt-Patient-Verhältnisses, also weder um Notfälle generell noch stationäre Behandlung. Stellt der_die Patient_In nach Notfallbehandlung im Krankenhaus selbst einen Antrag, wird der Ausländerbehörde gemeldet. Beantragt ein Arzt die Kostenübernahme für eine Behandlung, egal ob Notfall oder nicht und egal ob stationär oder ambulant, darf der Ausländerbehörde nicht gemeldet werden. Die Daten sind nur geschützt, wenn sie von einem unter Schweigepflicht stehendem an das Sozialamt gegeben werden, bzw. von seinem Verwaltungspersonal. Das bedeutet für die Praxis: Ärzte, bzw. Krankenhäuser können versuchen, auch elektive Behandlungen im nachhinein beim Sozialamt zur Abrechnung einzureichen. Der verlängerte Geheimnisschutz müsste gelten und ein Rechtsanspruch besteht nach o. g. Gerichtsurteilen auch. Der_die Arzt_Ärztin, bzw. das Krankenhaus, müssen alle Daten des-Patienten_der-Patientin weitergeben. Das Sozialamt braucht alle Daten, aber das Sozialamt darf sie nicht weitergeben. Es ist nicht das Krankenhaus, welches Daten nicht weitergeben muss, sondern das Sozialamt, dass alle Daten bekommt, sie aber nicht weitergeben darf. . Allgemeinen Verwaltungsvorschrift der Bundesregierung zum Aufenthaltsgesetz (DS 669/09) http://bitURL.net/669-09 . Seite 9 Umsetzung der neuen AVV Die Mainzer_Innen haben einen Brief an die Sozialämter Mainz und Wiesbaden gesendet, in dem nach dem Umgang mit der Verwaltungsvorschrift gefragt wurde. Wiesbaden sagte zu, dass sie das Übermittlungsverbot einhalten würden. Die Kosten würden sie allerdings nicht übernehmen, da diese nicht personengebunden abgerechnet werden könnten. Das Mainzer Medinetz akzeptiert diese Einschränkung nicht. Auch hier gab es Probleme mit einem Krankenhaus. Dieses meldete die betroffenen Personen direkt an die Ausländerbehörde. Allgemein gibt es Probleme mit der Umsetzung der neuen Verwaltungsvorschrift. Teilweise sind die Sozialämter nicht ausreichend informiert oder setzen sie nicht um. Einzelne Städtegruppen berichteten von ihren Erfahrungen mit der neuen AVV: In Freiburg gab es ein Gespräch mit dem Leiter der Ausländerbehörde und dem Sozialamt. Dabei kam von seiten der Ausländerbehörde die Frage auf, um welche Daten es sich bei dem grundsätzlichen Übermittlungsgebot (Artikel 88) handle. Sie wandten ein, dass nur die krankheitsbezogenen Daten dem „verlängerten Geheimnisschutz“ unterliegen und die Personendaten (Name, Herkunft) immer noch weitergegeben werden könnten. Diese Frage wurde daraufhin an die Regierung des Landes weiter geleitet. Das Hamburger Medibüro schilderte Fälle, in denen das Krankenhaus gegen die Vorschrift verstoßen hat. Das sei vor allem in Asklepios-Kliniken vorgekommen, wo die Polizei mehrfach direkt auf der Station erschien. Vom Gesundheitssenator wurde eine Weisung verlangt, die von diesem allerdings abgelehnt wurde. Außerdem wurde ein Anwalt zu Rate gezogen. Dieser bestätigte, dass auch die nicht notfallmäßige Versorgung mit unter die AVV fällt und dass ein Krankenschein, der diese sichert, auch von einer anderen Person geholt werden könne. Die Berliner_Innen hatten zusammen mit der Bundesärztekammer ein Faltblatt bezüglich der neuen Verwaltungsvorschrift erstellt. In Göttingen hatten sich schon Mitglieder der Grünen an das Sozialamt gewendet, ob die Vorschrift bekannt ist. In der Antwort wurden sie von Juristen informiert, dass die Sozialämter die AVV umgehen können. Ausblick: Es wurden Möglichkeiten gesucht, die aufgetretenen Probleme zu beheben. Die Sozialämter sowie Krankenhäuser müssen besser informiert werden. Es soll ein Archiv erstellt werden mit Flyern und Anschreiben, die die Städtegruppen von anderen übernehmen können. Die Bremer_Innen hingegen haben gute Erfahrungen gemacht. Die betreffenden Stellen waren gut informiert. In Essen kam es zu drei Notfallbehandlungen im Krankenhaus, wobei hier die Vorschrift nicht bekannt war. Hier kam der Vorschlag, die Krankenhäuser extra zu informieren. Funktioniert die Umsetzung der neuen Verwaltungsvorschrift prinzipiell, wäre es wünschenwert, diese auch auf die nicht notfallmäßige Versorgung auszuweiten. Denkbar wäre, dass Ärzt_Innen und Krankenhäuser bei elektiven Behandlungen den Behandlungsbedarf feststellen und als ärztliche Vertreter_Innen ihrer Patient_Innen für die medizinisch notwendige Behandlung die Kostenerstattung beantragen. In dem Szenario müsste der verlängerte Geheimnissschutz gelten, da die Ärzte nicht als Privatpersonen sonderm im Rahmen des Arzt-Patient-Verhältnisses im Auftrag des Patienten_ der Patientin handeln Beim Tübinger Medibüro hat sich eine eigene Gruppe für dieses Thema gebildet die Szenarios über mögliche Verläufe erstellt. Hingegen gab es in Dresden ein Gespräch mit dem Sozialamt. Dieses war noch nicht informiert. Es wurde das Problem erwähnt, das in ländlichen Gebieten manchmal das Sozialamt und die Ausländerbehörde in einer Stelle vereinigt sind, was natürlich Probleme bei der Umsetzung der AVV aufwirft. Bei der Wahl eines Krankenhauses ist auf die Vertrauenswürdigkeit zu achten! Eventuell kommt in einzelnen Städten eine Sammelklage gegen das Krankenhaus in Frage. Bei möglichen Präzedenzfällen wäre eine Berichterstattung nützlich. Bei der Übermittlung von Daten von Krankenhäusern an die Ausländerbehörde spielt vermutlich das Finanzielle eine große Rolle. Dies wäre vielleicht ein Angriffspunkt, um mit den Krankenhäusern zu verhandeln. Verbindungen zu Ärztekammern und KV'en können eventuell von großem Nutzen sein. Das Medinetz Leipzig berichtete von einem Fall, bei dem die Polizei zur Identitätsklärung auf die Station gerufen wurde, da der Patient einige Wochen nicht ansprechbar war. Dies stellt ein weiteres Problem dar. In Düsseldorf wartet das MediNetz weiterhin auf ein Antwortschreiben des Sozialamts auf ihre Anfrage zur Umsetzung der neuen AVV In Bochum wurde eine Flashmob organisiert, bei dem im Sozialamt unter jeder Tür ein Infozettel durch geschoben wurde. Bis jetzt ist keine Weiterleitung von Daten bekannt. Sonja Müller-Tribbensee, Erlangen Anna Kühne, Leipzig Seite 10 Schwanger und keine Papiere Der Workshop „Schwangerschaft in der Illegalität“ wurde von der Medizinischen Flüchtlingshilfe Göttingen gehalten. Teilgenommen haben VertreterInnen der Medinetze/-büros Leipzig, Erlangen, Tübingen, Berlin, Göttigen, Bochum, Düsseldorf, Freiburg, Hamburg, Essen, Dresden, Rostock, Mainz und Münster. Der Workshop beleuchtete sowohl die Themen Schwangerschaft und Geburt in der Illegalisierung als auch die Risiken, die mit dem Erstellen einer Geburtsurkunde einhergehen. Mit dieser Problematiken werden die Medinetze regelmäßig konfrontiert, da ein Großteil des weiblichen Klientels der Medibüros auf Grund einer Schwangerschaft vorstellig wird. © Nico Gläser Die Betreuung während Schwangerschaft und Geburt stellt ein wichtiges Element in der medizinischen Flüchtlingsversorgung dar, wie auch eine Studie zu Schwangerschaft und Geburt aus Colorado, USA zeigt. Das Risiko von Geburtskomplikationen (z.B. Blutungen, fetal distress) ist dort bei Müttern ohne Aufenthaltstitel signifikant erhöht . In Deutschland haben Schwangere, die einen Aufenthaltstitel haben, Anspruch auf eine medizinische Versorgung, also z.B. auf Vorsorge und Impfungen. Frauen ohne sicheren Aufenthaltsstatus könnten diese theoretisch ebenfalls in Anspruch nehmen. In der Realität suchen jedoch viele Schwangere die Sprechstunde der Medinetze häufig erst im dritten Trimenon bzw. kurz vor dem Entbindungstermin auf. Eine Geburt stellt immer einen medizinischen Notfall dar. Dies bedeutet für die Gebärende, dass eine Entbindung in einem Krankenhaus möglich ist, unabhängig von ihrem Aufenthaltstitel. Die Kosten der Geburtshilfe trägt in diesem Fall das Sozialamt. Die Verwaltung des Krankenhauses muss in der Notfallversorgung nicht die Identität der Mutter übermitteln. Es ist günstig, wenn die Abrechnung des Krankenhausaufenthaltes erst dann erfolgt, wenn die Mutter und ihr Neugeborenes bereits entlassen worden sind. Im Fall, dass eine Frau die Sprechstunde zu Beginn der Schwangerschaft aufsucht, wird der werdenden Mutter angeboten alle Vorsorgeuntersuchungen in Anspruch zu nehmen. Die Kosten betragen bei einer Schwangerschaft ohne Komplikationen zwischen 300 bis 600 Euro. Im Falle einer so genannten „anonymen Geburt“ hat die Schwangere die Möglichkeit, bereits vor der Entbindung in speziellen staatlichen Einrichtungen zu wohnen. Historisch wurden diese Einrichtungen geschafften, um die Rate der ausgesetzten und getöteten Neugeborenen zu reduzieren. Den Frauen wird nach der Geburt die Möglichkeit gegeben, dass Kind zur Adoption frei zu geben. In einem Zeitraum von sechs Wochen ist es den Frauen möglich, ihre Entscheidung rückgängig zu machen. Problematisch ist dann jedoch, dass die illegalisierten Frauen Angaben zu ihren Personalien machen müssten. Besonders hervorgehoben wurden die psychische Belastung mit der die werdenden Mütter konfrontiert sind. Auf Grund des enormen psychosozialen Drucks ist es seitens der behandelnden Frauenärztin oder Frauenarztes legitim, eine Schwangerschaft in der Illegalität als Risikoschwangerschaft zu klassifizieren. Das Bestehen einer fortgeschrittenen Schwangerschaft stellt ein Abschiebehindernis dar. Spezifische, zeitliche Regelungen werden durch das jeweilige Landesgesetz des Bundeslandes bestimmt. Es bestehen Duldungen von vier Wochen vor der Geburt bis zu drei Monaten nach der Entbindung. Einige Medibüros haben gute Erfahrungen mit Familienplanungeszentren wie ProFamilia oder kirchlichen Einrichtungen wie der Caritas gemacht. Teilweise konnten auch Absprachen mit den Krankenhäusern getroffen werden und so die Chance auf eine anonyme Geburt erhöht werden. Die Kosten für die Geburt variieren. Sie belaufen sich von 500 Euro bei einer Hausgeburt, über durchschnittlich ca. 700 Euro bei einer spontanen Geburt auf bis zu knapp 3000 Euro bei einem Kaiserschnitt. Im Falle einer ärztlich bestätigten Risikoschwangerschaft verlängert sich dieser Zeitraum. In der medizinischen Beratung von illegalisierten Frauen kann folglich auch immer die Möglichkeit des „Auftauchens“ im Rahmen der Schwangerschaft in Betracht gezogen werden. Seite 11 Kooperationen mit Hebammen bzgl. der Vorsorge haben sich in der Vergangenheit als hilfreich erwiesen. Es gilt jedoch zu berücksichtigen, dass im Falle von Komplikationen, sowohl während der Schwangerschaft als auch unter der Geburt, medizinische Hilfe von Nöten ist. Diese sollte immer im Vorfeld organisiert sein. Es besteht in verschiedenen Städten die Möglichkeit der Ausstellung einer Bescheinigung über die Geburt.. Dieses Dokument ist jedoch nicht gleichwertig mit einer Geburtsurkunde. Die Mutter kann damit dennoch im Zweifelsfall nachweisen, dass es sich um ihr leibliches Kind handelt. Im Falle einer drohenden Abschiebung dürften sie nicht getrennt werden. Wenn die Mutter keinerlei Papiere besitzt, gestaltet sich auch die Ausstellung einer Bescheinigung der Geburt als schwierig. Laut der UN Kinderrechtskonvention Artikel 7 hat jedes Kind ein Recht auf eine Geburtsurkunde. Die Konvention galt in Deutschland lange nur für Kinder mit deutschem Pass. Seit Mai 2010 gilt das Recht uneingeschränkt, d.h. unabhängig vom Pass des Kindes. In der Realität ist es Eltern ohne Aufenthaltsstatus jedoch immer noch nahezu unmöglich, eine Geburtsurkunde für ihr Kind zu bekommen. Nach dem Vortrag wurden im weiteren Verlauf des Workshops insbesondere die Versorgung von Mutter und Kind nach der Geburt diskutiert. Eine Betreuung der Mütter durch eine Hebamme i.S. der Nachsorge wurde als erstrebenswert erachtet. Außerdem wurde die weitere Versorgung durch den Kinderarzt diskutiert. Die Mütter müssten über U-Untersuchungen und Impfungen aufgeklärt werden. Außerdem wurde die Geburtsurkunde vertiefend thematisiert. Es stellte sich die Frage, wie sich rechtliche Regelung in anderen Ländern der EU im Bezug auf Geburt und Staatsangehörigkeit gestalten. In Deutschland stellt das Standesamt die Geburtsurkunde Neugeborener aus. Dazu erhält es die Unterlagen des Krankenhauses, d.h. die Geburtsbescheinigung. Die Hebamme stellt in diesem Prozess eine Schlüsselfigur dar. Sie ist rechtlich gegenüber dem Standesamt verpflichtet die Geburt zu melden. Das Standesamt unterrichtet dann das Einwohnermeldeamt über die statt gefundene Geburt. Als Fazit ist zu berichten, dass im Bereich der Schwangerschaftsvorsorge und Geburt von illegalisierten Frauen nicht zu tolerierende Defizite bestehen. Die Zuhörerschaft arbeitete insbesondere die Problematik der Ausstellung der Geburtsurkunde als gravierend und inakzeptabel heraus. Das Standesamt wiederum hat eine Meldepflicht gegenüber der Ausländerbehörde. Die Registrierung der Geburt eines Kindes, dessen Mutter keinen Aufenthaltstitel hat, birgt folglich die Gefahr der Abschiebung. Der Umgang mit solchen Fällen obliegt dem jeweiligen Standesamt. Eine einheitliche Regelung bzgl. dieser Problematik besteht derzeit nicht. Katharina Thilke Münster MediNetz Leipzig Seite 12 Anspruch auf medizinische Versorgung von EU-MigrantInnen www.aerteblatt.de Menschen, die zwar EU-Staatsbürger sind und sich somit legal in Deutschland aufhalten dürfen, aber über keinen Krankenversicherungsschutz verfügen, stehen im Krankheitsfall oft vor scheinbar unlösbaren Problemen. Dieser Bericht des Workshops „Anspruch auf mediziniche Versorgung von EU-MigrantInnen“ auf dem Leipiger Bundestreffen soll praktische Lösungsansätze für diese Menschen aufzeigen. Neu eingereiste EU-BürgerInnen sind jedoch prinzipiell in den ersten drei Monaten ihres Aufenthaltes vom ALG II ausgeschlossen – es sei denn sie arbeiten selbständig oder sind angestellt, wobei ein Angestelltenverhältnis auf Grund der stark beschränkten ArbeitnehmerInnenfreizügigkeit äußerst unwahrscheinlich ist. Ist dies dennoch der Fall, so können sie ALG II bereits von Beginn ihres Aufenthaltes an ergänzend beantragen. Besitzen sie das Aufenthaltsrecht ausschließlich zur „Arbeitssuche“, so werden sie auch über die ersten drei Monate hinaus vom ALG II ausgeschlossen. Selbständige oder ArbeitnehmerInnen, die unverschuldet ihre Arbeit verlieren, können ALG II in Anspruch nehmen. Waren sie länger als ein Jahr tätig, so steht ihnen ALG II ebenso zu wie deutschen Staatsangehörigen, d.h. Ihre Freizügigkeit bleibt erhalten. Waren sie weniger als ein Jahr tätig, so erhalten sie ALG II für maximal 6 Monate. Danach entfällt sowohl das ALG II als auch die Freizügigkeit. Ausgenommen von diesen Beschränkungen sind alle ArbeitnehmerInnen die länger als ein Jahr einem legalen Arbeitsverhältnis nachgegangen sind, Menschen, die sich länger als 3 Jahre legal in Deutschland aufhalten, bzw. 5 Jahre inklusive der Studienzeiten, die nur teilweise angerechnet werden. Diese Menschen haben allesamt eine unbeschränkte Arbeitsberechtigung in der EU. Für im Heimatland Versicherte gilt: Eine European Health Insurance Card (EHIC) muss vor Reiseantritt beantragt werden und ist je nach Land zwei Monate bis unbegrenzt gültig. Versicherungsschutz besteht für akute Erkrankungen, sowie die fortlaufende Behandlung von chronischen Erkrankungen, wobei keine Einreise zum Zweck medizinischer Behandlung erfolgen darf. Ebenfalls ausgenommen sind planbare Eingriffe (Geburt am Termin ist strittig!). In der Praxis wird die EHIC vorgelegt und das Formular 81 ausgefüllt, wobei eine hiesige Krankenkasse ausgewählt wird, die dann mit der Krankenkasse im Heimatland abrechnet (meist AOK). Eine weitere Ausnahme bilden Studierende, die 90 ganze bzw. 180 halbe Tage im Jahr arbeiten dürfen und nach einem Jahr regelmäßiger Tätigkeit ebenfalls unbeschränkten Zugang zum europäischen Arbeitsmarkt genießen. Hochschulabsolventen/Innen jedweder Herkunft haben sofort volle Arbeitnehmerfreizügigkeit, sollten sie einer dem Abschluss adäquaten Tätigkeit nachgehen und für diese angemessen bezahlt werden. Der Job muss dabei nicht zur Lebensunterhaltssicherung reichen. Für im Heimatland nicht Versicherte gilt: Bei akuten Erkrankungen kann in jedem Falle ein Antrag auf Nothilfe gemäß §25 SGBXII beim Sozialamt gestellt werden. Sollte der Patient / die Patientin als selbständig gemeldet sein, so ist ein Antrag auf ergänzendes ALG II beim Jobcenter möglich. Es umfasst die selben Leistungen und gilt vorerst für drei Monate ab der Antragsstellung. Praxisempfehlung bei inaktiven Unionsbürgern im Krankheitsfall: ● Arbeitsmarktbeschränkungen: ● Die Freizügigkeit neuer EU-BürgerInnen ist beschränkt, d.h. MigrantInnen aus Estland, Lettland, Litauen, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechien und Ungarn genießen erst ab 04/11 und EinwandererInnen aus Bulgarien und Rumänien erst ab 12/13 volle Freizügigkeit in der EU. Die Arbeit als SelbständigeR ist dabei immer unter Vorlage der Steuernummer möglich, wobei aus juristischer Sicht kein Nachweis einer Krankenversicherung verlangt wird, die Behörden dies jedoch in zunehmenden Maße fordern. ● ● Seite 13 Meldung als arbeitssuchend oder selbständig bei der Arbeitsagentur Aktive Stellenbewerbung Nach 3 Monaten aktiver Tätigkeit Antrag auf ALG II Bei Ablehnung: Eilantrag zum Sozialgericht (nur, wenn ein Grund für den Verbleib besteht bzw. Geld für die Heimreise besteht) Eintritt in die deutsche GKV nach SGB V Versicherungsbedingungen in drei EU-Ländern Die Vorversicherungszeiten der Betroffenen werden gemäß Artikel 6EG VO 883/2004 mit Hilfe des Formulars E104 berücksichtigt. Dieses Formular muss von der Herkunftskasse ausgefüllt werden, sonst ist nur ein Eintritt in eine private Krankenversicherung möglich, die ca. 600 € pro Monat kostet und keine Familienversicherung anbietet. Mit nachgewiesener Hilfebedürftigkeit nach SGB II oder SGB XII wird der Beitragssatz auf knapp 300 € gesenkt. Bulgarien Es besteht eine beitrags- und steuerfinanzierte Pflichtversicherung. Beiträge in Höhe von 6% des Einkommens werden in den National Health Insurance Fonds (NHIF) eingezahlt. Problematisch stellt sich die Versicherungssituation von Menschen ohne Geburtsurkunde dar, da sich diese auf Grund fehlender Dokumente nicht in den NHIF einschreiben können. Der NHIF trägt u.a. Impfungen, Schwangerenbetreuung, Kindervorsorgeuntersuchungen und die Behandlung von Infektionskrankheiten (inkl. HIVTherapie). Sollte mehr als ein Jahr keine Beitragszahlung erfolgt sein, so besteht der Versicherungsschutz erneut bei Nachzahlung von 12 Monatsbeiträgen. Umgekehrt erlischt dieser bei weniger als 9 Beitragszahlungen in den vergangenen 12 Monaten. Die Versicherungspflicht wird ausgesetzt, sollte sich der/die bislang Versicherte mehr als die Hälfte des Jahres im Ausland aufhalten. Dabei besteht erneuter Versicherungsschutz nach 6 Beitrags-monaten nach der Rückkehr nach Bulgarien. Selbständige oder ArbeitnehmerInnen, die in zwei oder mehr Mitgliedsstaaten tätig sind, unterliegen den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedsstaates, wenn dort mindestens 25% der Tätigkeit ausgeübt wird. Handlungsspielraum in sozialen Notlagen JedeR EU-BürgerIn hat Anspruch auf Nothilfe (§25 SGB XII). In Notlagen sollte zunächst der Antrag auf Nothilfe beim Sozialamt/Jobcenter gestellt werden. Sollte von dort keine Leistungsbewilligung gewährt werden, muss mit einem Anwalt / einer Anwältin ein Eilantrag beim Sozialgericht gestellt werden. Dies betrifft sowohl die Krankenbehandlung als auch die Grundsicherung. Polen Es handelt sich um eine freiwillige Krankenversicherung durch den Nationalen Gesundheitsfonds (NFZ), wobei ArbeitnehmerInnen sowie Arbeitslose und deren Familienangehörige automatisch versichert sind. Der Mindestbeitrag für eine freiwillige Versicherung beträgt ca. 73 € monatlich. Voraussetzung ist stets der unabweisbar dringende Bedarf (eine Bedürftigkeitsprüfung) und ein zuvor gestellter Antrag beim Sozialamt oder Jobcenter, ohne dass von dort eine hinreichende Leistung erfolgte. Bei Antragsablehnung muss der Patient / die Patientin selbst für die Leistungen aufkommen. Rumänien Hier wird ein monatlicher Beitrag von 6,5 % des Einkommens gezahlt. Alle Bürger sind pflichtversichert. SozialhilfeempfängerInnen und Arbeitslose sind bei regelmäßiger Meldung beim Arbeitsamt krankenversichert. Die EHIC (s.o.) wird maximal für 6 Monate ausgestellt! Schwangerschaftsabbruch Nach Art. 5, §1 SFHändG sind bei einem Einkommen von unter 351€ + Miete alle Frauen in Deutschland zu einem staatlich finanziertem Schwangerschaftsabbruch berechtigt. Dabei wählt die Frau eine Krankenkasse, die die Kostenübernahme ausstellt und mit dem jeweiligen Bundesland abrechnet, da ein Schwangerschaftsabbruch eine versicherungsfremde Leistung ist. Voraussetzungen: eine Meldeadresse sowie eine Bedürftigkeitsprüfung (Bedürftigkeit kann z.B. durch ein Zentrum für sexuelle Gesundheit und Familienplanung, d.h. eine öffentliche Gesundheitsamtsstelle bescheinigt werden – zumindest in Berlin) Ulrike Mölle Leipzig Schwangerschaft im Studium Nach §21 SGB II kann bei Schwangerschaft im Studium ohne BAföG ein Anspruch auf Mehrbedarf bzw. den Leistungen für Alleinerziehende geltend gemacht werden. Nach §23 SGB II besteht Anspruch auf einmalige Leistungen sowie Sozialgeld für das Kind. Zu den konkreten Versicherungsbedingungen der einzelnen EU-Staaten gibt es eine gute Internetseite: www.ec.europa.eu/missoc www.ippnw-students.org Seite 14 Nexweş û bê ewraq? Stell dir vor, du gehst an einem Sonntag Nachmittag durch deine Straße und siehst plötzlich ein Schild, das dir vorher noch nie aufgefallen war. Auf dem Schild steht in großen Buchstaben Nexweş û bê ewraq? „Was will uns das Straßenverkehrsamt damit wohl sagen?“ Du schlenderst weiter durch die Stadt und siehst erneut ein Schild, das du vorher noch nicht gesehen hattest. Es sieht völlig gleich aus – ein Strichmännchen und der Text. Diesmal steht dort fragend: „Bolnav si fara acte?“ Sonderbar. Beim dritten Schild (mit dem vielsagenden Text „mara lafiya kuma mara takardu?“) entscheidest du dich dann doch, einmal genauer hinzusehen: www.medibueros.org steht am rechten Rand des Schildes. Was es mit dieser Sache wohl auf sich hat? Du beschließt, dir diese Seite heute Abend mal anzusehen. Im Café, wo du deine Freunde triffst, berichten auch sie von den wundersamen Beschilderungen – einer sagt, er habe den Text entziffern können: „Krank und ohne Papiere?“ hätte auf Hindi auf einem der Schilder gestanden. Ohne Papiere – was das wohl bedeutet? So wie dir würde es wahrscheinlich vielen Leute gehen, wenn es nach Boran Burchhardt ginge. Der Aktionskünstler hat gegonnen, auf der Rückseite von Parkverbotsschildern Aufkleber mit dem Spruch „Krank und ohne Papiere?“ anzubringen – in über 50 verschiedenen Sprachen... Unter dem Motto „Krankheit und Identität – Öffentlicher Raum und Anonymität“ hat er vor, Städte in ganz Deutschland in dieses Projekt einzubinden. Dass gerade Parkverbotsschilder dazu genutzt werden sollen, hat natürlich eine symbolische Dimension. Boran selbst schreibt dazu: Für dieses Projekt „habe ich einen Ort im öffentlichen Raum gesucht, an dem sich öffentlicher Raum und nicht öffentlicher Raum kreuzen. Einen öffentlichen Ort, der jene betrifft, die den öffentlichen Raum offen queren und gleichzeitig an jene gerichtet ist, die diesen Raum nicht ganz so selbstverständlich offen in Anspruch nehmen können.“ Boran Burchhardt Als Kooperationspartner steht das berühmte Essener Folkwang-Museum an Borans Seite. Einige Ruhrgebietsstädte haben bereits zugesagt, in anderen Städten läuft derzeit die Bewilligung. Neben dem künstlerischen Aspekt hat das Projekt das Ziel, Menschen auf das Problem der Gesundheitsversorgung von Papierlosen aufmerksam zu machen – ja überhaupt erst einmal mit der Tatsache zu konfrontieren, dass es Menschen ohne Papiere in Deutschland gibt und wie ihre Lebenswelt aussieht. Um die Leute dazu zu bewegen, auf die Homepage der Medibüros zu gehen, irritiert Boran durch die fremdsprachigen Texte. Diese werfen erst einmal mehr Fragen auf, als sie Antworten geben. Borans Homepage ist mittlerweile mit unserer bundesweiten Internetseite verlinkt. Wir hoffen, bald in der ganzen Republik Hinweise auf unsere Arbeit für Menschen ohne Papiere sehen zu können – auf der Rückseite von Tausenden von Parkverbotsschildern... Alex Rosen Düsseldorf Seite 15 Was ist Frontex ? www.imi-online.de FRONTEX steht für frontières extérieurs – eine Agentur zum „Schutz der Außengrenzen“ der Europäischen Union, die im Oktober 2004 geschaffen wurde. An welcher Stelle kommt Frontex ins Spiel? Mit nur 130 Mio € Gesamtbudget und 200 fest angestellten Mitarbeitern wirkt die Agentur mit Sitz in Warschau eher unbedeutend als EU-weite Grenzschutzbehörde. Ihre Stärke liegt jedoch in der Koordination und nicht der tatsächlichen Aktion. Frontex entwickelt das umfassende Konzept für den Grenzschutz, erstellt sogenannte „Risikoanalysen“ zur Migration und initiiert Studien zur Aufnahme biometrischer Daten an Grenzen. Techniken zur Überwachung über Drohnen und spezielle biofeldgesteuerte Kameras werden perfektioniert, wobei FRONTEX eng mit Rüstungsfirmen zusammenarbeitet. Exekutives Regierungshandeln, gegen das rechtlich vorgegangen werden könnte, überlässt die Agentur jedoch stets den Beamten der Mitgliedsstaaten. Jene „Beratungsfunktion“ ist in ihrer Suggestion sehr schnell überzeugend, denn Frontex ist Auftraggeber für wichtige und vor allem einflussreiche Konzerne wie z.B. Siemens. FRONTEX bietet die technische „Lösung“ für Abschiebungen. Um Widerstand von MigrantInnen und vor allem Mitreisender zu dämpfen, chartert FRONTEX seit 2008 Flugzeuge samt Arzt, Juristen und UNHCR-Mitlied speziell für die legale Rückführung der MigrantInnen in welches Land auch immer bereit ist, die Eingewanderten aufzunehmen. Das tatsächliche Herkunftsland wird mangels Papiere der Betroffenen selten identifiziert und in Frage kommende Staaten weigern sich häufig, die Betroffenen aufzunehmen. Um sich der Eingereisten legal entledigen zu können, muss deren Staatsbürgerschaft “geklärt“ werden. Erst dann ist das Herkunftsland verpflichtet, seine Bürger aufzunehmen. Deshalb arbeitet FRONTEX seit 2006/07 intensiv an der Identifikation von Illegalisierten und ihrer Staatsbürgerschaft. Dazu werden sogenannte Botschaftsanhörungen angesetzt, die nicht immer die tatsächlichen Botschafter der vermuteten Herkunftsländer zum Vorsitz haben. Vielmehr werden auf diesem Wege Papiere für die Betroffenen auf legalem Wege gekauft um diese dann ins deklarierte Herkunftsland abzuschieben. Was ist Frontex? Eine martialische Grenztruppe? Eine humanitäre Organisation? Tatsächlich agiert FRONTEX vornehmlich im Hintergrund in Form einer gigantischen Vernetzungsmaschinerie und leitet so die Akteure, also die Staaten, an. FRONTEX hält sich bedeckt. Ein 25minütiger Dokumentarfilm der studentischen Gruppe „Grenzräume Europas“ bietet einen guten Einstieg in die Philosophie dieser ominösen Agentur und lässt die Unverhältnismässigkeit ihres Einflusses erahnen. Man erkennt einen hochtechnologischen Grenzschutzapparat, der nicht nur an den Grenzen der EU sondern auch darüber hinaus agiert: Zum Schutze der EU bedürfe es einer Pufferzone in den benachbarten Drittstaaten. Über „readmission agreements“ wird sichergestellt, dass vom Schengengebiet abgewiesene MigrantInnen dorthin verwiesen werden, wo sie in erster oder zweiter Instanz herkommen – in den Puffergürtel. Die Drittstaaten akzeptieren diese Rücknahmeregelung u.a. in der Hoffnung auf einen EU-Beitritt aber auch auf verbesserte Handels- und Visa-Bedingungen oder Ausrüstungs- und Ausbildungshilfe für ihre Polizeien. Die Mauern werden immer stärker und MigrantInnen harren in Menschenlagern oder illegalisiert und von Fremdenfeindlichkeit und täglichem Überlebenskampf bedroht, in den Drittstaaten aus. FRONTEX ist sehr freigiebig mit seinen Erfahrungen wenn es darum geht, die Grenzen der EU abzudichten. Um EU-weit die verantwortlichen Behörden zu informieren, werden spezielle Schulungen angesetzt: Ab September 2007 wurde - durch FRONTEX im Rahmen des EU-“Return“-Programms initiiert - ein Projekt zur „Identifizierung und Rückführung von Drittstaatsangehörigen“ durch die deutsche Bundespolizei durchgeführt. Auf den Kanarischen Inseln sowie in Andalusien fanden Lehrgänge von deutschen Experten für spanische Grenzschützer statt mit dem Ziel, Illegalisierte besser identifizieren und „rechtmäßig“ abschieben zu können. Systematisch wird es MigrantInnen und Flüchtlingen verwehrt, in Europa Schutz zu finden: militärisch aufgerüstete EU-Außengrenzen und Druck auf die ärmeren Grenzländer verhindern zusammen mit den Brutalisierungstendenzen in der Abschiebungspolitik jedwede Form von menschenwürdigem Asyl in Europa. Seite 16 www.syndikalismus.tk Bevor die Staatsangehörigkeit der Betroffenen identifiziert ist, wird auf völlige Abschottung der Aufgegriffenen gesetzt. In Marokko werden Illegalisierte in der Wüste interniert, in Lybien gibt es gefürchtete Menschenlager, in denen sowohl Menschen die auf einen Asylbescheid als auch jene, die auf ihre Abschiebung warten, gleichsam untergebracht werden. Damit werden systematisch Kontakte und Abschiebungshindernisse – zum Beispiel Heirat – unterbunden. Um Betroffene in Abschiebegefängnissen wie jenen Containerschiffen im Hafen von Rotterdam zu internieren, müssen kriminelle Tatbestände vorliegen. Diese sind jedoch bereits dann gegeben, wenn sich die Einwanderer falsche Papiere gekauft oder Schlepperbanden bezahlt haben – beides wird bereits als „international organisierte Kriminalität“ eingestuft und ist damit ein ausreichendes Kriterium, Illegalisierte zu entrechten. Ein derartiges Risiko (nicht selten kentern die Boote, bevor sie von Grenzpatrouillen entdeckt werden) scheint beispielsweise gegenüber Afghanen besonders makaber. Obwohl sie gute Chancen haben, hier als Flüchtlinge anerkannt zu werden, gilt ihre Einreise als illegal. Das gilt überhaupt für die meisten anerkannten Flüchtlinge: Sie müssen illegal einreisen und ihr Leben dabei aufs Spiel setzen, um legal hier sein zu dürfen. Nach vollzogener Abschiebung übernimmt der abschiebende Staat keinerlei Verantwortung für die mitunter verheerenden Folgen: In die Migration eines Einzelnen hat oft die gesamte Familie oder Dorfgemeinschaft investiert. Ohne je Geldsendungen aus dem verheißungsvollen Ausland in die Heimat geschickt zu haben, zwingt die Scham die Abgeschobenen in die anonymen Großstädte. FRONTEX zieht die Fäden und bleibt unangreifbar dabei. Die äußerlich so wirren und ungerichteten bürokratischen Hürden für MigrantInnen sind Teil eines systemischen Rassismus, einer zunehmenden Abriegelung der europäischen Festung. Die dahinterstehenden Werte spiegeln sich in der Lissabon-Agenda zur wirtschaftlichen Entwicklung der EU wieder: gewünscht sind ausschließlich die Eliten, globale Kompetenzen sollen zur EU strömen. Dass ein Bevölkerungswachstum von Nöten ist, blieb schließlich niemandem verborgen, nur ist Migrant nicht gleich Migrant. Dem Import von studierten Führungs- und Fachkräften hält ein expandierender Export von Kontrolltechnologien die Waage, so dass weit über die europäischen Grenzen hinaus Daten von Migrationsbewegungen registriert werden. Die Vorgehensweise von FRONTEX lässt sich exemplarisch am Beispiel der 2007 auf den Vorschlag der Agentur hin erlassenen RABIT-Verordnung zur Schaffung so genannter „Rapid Border Intervention Teams“ zeigen. Es handelt sich hierbei um einen Erlass zur Bildung von Soforteinsatzteams, falls sich eine EU-Grenze „massiven Zustrom von Drittstaatsangehörigen gegenübersieht, die versuchen, illegal in sein Hoheitsgebiet einzureisen, was unverzügliches Handeln erfordert, und wenn die Entsendung eines Soforteinsatzteams für Grenzsicherungszwecke zu einer angemessenen Reaktion beitragen würde.“ (Artikel 1, Absatz 7) Jene Soforteinsatzteams haben den Vorteil, langwierigen Prozessen und kostenspieligen Recherchen bzw. Botschaftsanhörungen aus dem Weg zu gehen, indem die Einreise der MigrantInnen direkt als Bedrohung wahrgenommen wird, gegen die in „Notwehr“ (Artikel 6, Absatz 7) vorgegangen wird. Die tatsächlichen Befugnisse der Einsatzteams werden sehr vage formuliert: „Die bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben und Befugnisse getroffenen Maßnahmen sollten, gemessen an den damit verfolgten Zielen, verhältnismäßig sein.“ (Artikel 1, Absatz 16) Sollte bei einer „unverhältnismäßigen Notwehr“ tatsächlich eine Beanstandung der Tat folgen, haftet natürlich nicht FRONTEX sondern der die Einsatzkräfte entsendende Mitgliedsstaat entsprechend seiner nationalen Rechtsvorschriften für die während der Operation verursachten Schäden. (Artikel 10, Absatz 1) Auffällig ist, dass die Initiative zu diesem Apparat zum Großteil aus Deutschland kommt. Dies hat offenbar nichts mit der faktischen Sachlage zu tun, da Deutschland als Binnenstaat der EU weit weniger Migrantenströme als zum Beispiel Spanien „fürchten“ muss. Weiterhin entspricht die Einwanderungsquote der Auswanderungsquote, es ist also nicht so, dass die Einreisenden die deutschen Bürger „verdrängen“. Auch die Finanzen sprechen gegen die deutsche Xenophobie: die akribische Abriegelung aller Grenzen mit allen Kontrollinstanzen kostet mehr als die Eingliederung von MigrantInnen. Es scheint, dass hierzulande die Angst vor einer Überfremdung, einhergehend mit Kontrolllosigkeit übermächtig ist. Eine Initiative für „mehr Sicherheit“ nahm bereits mit Ex-Bundeskanzler Helmut Kohl als Befürworter des Schengen-Abkommens von 1985 seinen Anfang. Ein gemeinschaftlicher Wirtschaftsraum ohne Handelsbarrieren in ein neoliberales Programm gebettet, wird zum neuen Asylkorsett, denn was innen freier wird, wird plötzlich nach aussen hin umso mehr abgeriegelt. Dem gegenüber steht die steigende Anzahl an benötigten Arbeitern in Deutschland die auf die traditionelle Fremdenfeindlichkeit stoßen. Schlepperbanden begegnen diesen militarisierten Institutionen mit einer noch gefährlicheren Einreise als je zuvor: die Boote, auf denen MigrantInnen transportiert werden, sind meist nicht völlig seetüchtig. Dieser Umstand erleichtert die Einreise insofern, als dass von einer „Bedrohung“ oder gar einem „Angriff“ nicht die Rede sein kann und die Anrainerstaaten gemäß Seerecht sogar zur Rettung der Schiffbrüchigen verpflichtet sind. Seite 17 Resultierend opponiert eine unerbittliche Industrie, die ohne immer billiger werdende und immer öfter illegal arbeitende Kräfte ihr Gewinnsoll nicht erreicht, einer fiktiven deutschen Leitkultur, die sich nur in harten Grenzen denken kann und auch nur so „deutsch“ sein kann. Gezielte Meinungsbildung kreiert ein bürgerliches Schutzbedürfnis vor dem Unbekannten. Das Arsenal, von FRONTEX geschaffen, wird zu einem surrealen Selbstbedienungsladen und das Unbekannte zunehmend zu jedem Bürger selbst. Der hochtechnologische Ansatz zur Sicherheit, sei es vor den anonymen MigrantInnen, sei es vor dem deutschen Bürger selbst, verschleiert dessen Konsequenz, die wir mehr und mehr hinterfragen müssen. Der Workshop hat spürbar zahlreichen Teilnehmern Anstoß gegeben, wachsamer zu sein. Auch im Workshop, der zum Thema „Frontex“ am 05.06.2010 im Rahmen des bundesweiten Medinetztreffens in Leipzig unter der Leitung von Christoph Marischka statt fand, kommen wir schwer auf einen grünen Zweig. Die deutsche Xenophobie scheint auf den ersten Blick alles andere als rational motiviert und auf den zweiten initiiert und propagiert. Tatsächlich gehört die 'Methode FRONTEX' zu einer Form des neuen Regierens, dass vorläufig an den Schwächsten ausprobiert wird. Es entstehen zwei künstliche Migrantengruppen: die „guten“ und die „schlechten“ Migranten – letztere werden unter Inkaufnahme von Menschenrechtsverletzung abgewehrt. Die Handlungsmöglichkeiten, die sich für den Einzelnen ergeben sind zum einen natürlich die Nutzung aller zur Verfügung stehender Informationen und der kritische Umgang mit Ihnen. Öffentlich-keitsarbeit und Präzedenzfälle können helfen, mehr Bewusstsein für die Gefahr zu schaffen, die von einer Vermischung von Industrie und Staat durch FRONTEX und vergleichbare Agenturen mit ausgedehntem Handlungsspielraum und Einfluss ausgeht. Daraus ergibt sich die perverse Situation der Verteidigung bestehender Ansprüche. So wird es unsere Aufgabe, auf juristischem Wege Präzedenzfälle im Umgang mit Asylbewerbern und Immigration zu initiieren so dass sich der hochtechnologisch anonymisierte Grenzschutzapparat mit allen staatlichen Beteiligungen und Rüstungsfirmen unter spür-barem Rechtfertigungsdruck wiederfindet und selbst kontrolliert wird. Grundsätzlich ist dies eine mühsame Arbeit aus der gefühlten Machtlosigkeit heraus, die jedoch schon durch verbreitete Wachsamkeit und Aufklärung sinnhaft wird. Dieses Denken wird deutlich durch Frontex forciert und initiiert und schürt damit ein Sicherheitsbedürfnis, das in einem EU-weiten Entry- und Exit-Kontrollsystem zur Ausprägung kommt. Die Migrationsströme werden damit jedoch lediglich umgeleitet und gehen nunmehr mit Lebensgefahr für die illegal Einreisenden – zum Beispiel auf seeuntauglichen Booten oder in Schleppertransporten – einher. Spannungen werden auf die Drittstaaten verlagert und damit die Hierarchie innerhalb der EU nur noch verstärkt. Um all dies zu realisieren bedarf es eines gewaltigen Machtapparats, der durch eine diskrete Verschmelzung von Staat und Industrie gesichert wird. Zusätzliche zum Grenzschutz werden dabei auch die Kontrolltechnologien im Inneren gefördert und in den Alltag der Bürger integriert – der öffentliche Raum wird immer mehr kontrolliert, Demonstranten registriert, Personendateien angelegt, Bewegungsprofile erstellt und Risikogruppen identifiziert. Schließlich stellt sich die Frage, wer Schutz vor wem gewährleistet. Ich empfehle also, alle zur Verfügung stehenden Informationen zu Nutzen und den unzulänglichen Überblick, den dieser Artikel bietet, auszuweiten (siehe Infobox) Ulrike Mölle Leipzig Infomaterial 25-minütiger Film von einer Berliner Studentengruppe: http://www.littleurl.net/5214ba Broschüren über FRONTEX http://www.imi-online.de/download/FRONTEX-Broschuere.pdf http://www.imi-online.de/download/frontex2009-web.pdf http://de.indymedia.org Seite 18 MediNetz-Demo in Leipzig Rund 150 Menschen folgten am 6.Juni 2010 dem Aufruf „Es gibt nichts Gesundes im Kranken“ zu einer gesundheitspolitischen, antirassistischen Demonstration durch die Leipziger Innenstadt. MediNetz Leipzig „Ohne Pass = Ohne Rechte? Für Gesundheit ohne Grenzen!“ lautete der Slogan auf dem Fronttransparent der Demonstration, die bei strahlendem Sonnenschein am Hauptbahnhof mit dem Redebeitrag des Medinetz Leipzig begann. Dort konnten viele Innenstadtbesucher_innen durch Flyer, Gespräche und gute Musik auf rassistische und weitere nicht hinnehmbare Missstände im deutschen Gesundheitssystem aufmerksam gemacht werden. Die weitere Route durch den östlichen Teil der Innenstadt, in der viele Menschen mit Migrantionshintergrund leben, bot eine weitere gute Möglichkeit, Aufmerksamkeit für die Arbeit des Medinetzes zu wecken; vielleicht aber auch um intern zu verdeutlichen, dass die meisten Teilnehmer_innen der Demonstration 'weiße', 'deutsche' und zukünftige Akademiker_innen waren, und die Mobilisierung oder das Konzept des Protestes wahrscheinlich zu wenig Menschen außerhalb dieser Kreise erreicht hat. Als sich der Demozug mit Lautsprecherwagen in Richtung Zentrum-Ost in Bewegung setzte, waren auch erfreulich viele Medinetzler_innen aus dem ganzen Bundesgebiet mit dabei, die es sich nach dem anstrengenden Bundestreffen und vor ihrer teilweise sehr weiten Heimfahrt nicht nehmen ließen, mit dabei zu sein. Das Leipziger Medinetz sprach in seinem Redebeitrag die gegenwärtige Situation von illegalisierten Menschen an, bei denen das Einfordern selbst grundlegender Menschenrechte wie einer medizinischen Versorgung mit der Gefahr verbunden ist, abgeschoben zu werden. Die ansonsten völlig friedliche und bunte Demonstration wurde leider noch bei der Abschlusskundgebung kurzzeitig von der Polizei gestört, indem sie einen Teilnehmer aus der Menge zog und festhielt. Dadurch musste der Redebeitrag des 'Initiativkreises für die Integration von Asylbewerber_innen Leipzig' kurzzeitig unterbrochen werden. Der Arbeitskreis fand sich 2009 zusammen, um sich gegen den Plan der Stadt Leipzig einzusetzen, Asylbewerber_innen in einer weit abgelegenen „Systembau“-Unterkunft unterzubringen. Nachdem dies erfolgreich verhindert wurde, tritt die Organisation nun für eine Verbesserung der Lebensverhältnisse von Asylbewerber_innen und gegen die Vielzahl rassistischer Gesetzen ein. Es wurde gefordert, dass Menschenrechte und Menschenwürde weder von Hautfarbe noch vom Aufenthaltsstatus abhängig sein dürfen und daran erinnert, dass das staatliche System die Verantwortung hat, jedem Menschen risikolose gesundheitliche Versorgung zu ermöglichen. In diesem Zusammenhang wurde dazu aufgerufen, das Asylbewerberleistungsgesetz und die Meldepflicht abzuschaffen. Auch durch die Beiträge des 'Initiativkreises für die Integration von Asylbewerber_innen in Leipzig' und der 'Abschiebehaftgruppe Leipzig' wurde deutlich, dass es bei der Demonstration nicht allein um das unzureichende Gesundheitssystem dieses Landes ging, sondern gegen Rassismus als strukturelles Problem in dieser Gesellschaft und ihrer staatlichen Organisation. (siehe Folgeseiten) Nach diesem Beitrag wurden die letzten eiligen HeimfahrerInnen anderer Medinetze mit Jubel verabschiedet und die Demonstration offiziell beendet. Dass die TeilnehmerInnenzahl insgesamt recht überschaubar war, lag sicherlich nicht alleine an den unangenehm heißen Temperaturen oder dem Sonntag Nachmittag. Es zeigt leider auch, dass gesundheitspolitische Forderungen momentan nicht den angemessenen Stellenwert im politischen Diskurs einnehmen. Für unser Anliegen stellte die Demonstration trotz allem einen Erfolg dar: wie konnten unsere gesundheitspolitischen Forderungen auf die Straße tragen und auf die Situation illegalisierter Menschen aufmerksam machen. Und, wer weiß, vielleicht war diese Demonstration ja ein kleiner Schritt in Richtung eines breiteren Protestes für die Gleichbehandlung aller Menschen, egal ob mit oder ohne Pass - nicht nur im ärztlichen Wartezimmer... Stephan Bialas Leipzig Der Zufall wollte es, dass der Redebeitrag der Abschiebehaftgruppe in unmittelbarer Nähe einer Eisdiele gehalten wurde, die den Demonstrant_innen bei den hochsommerlichen Temperaturen zur ersehnten Abkühlung verhalf. Die Abschiebehaftgruppe unterstützt seit 15 Jahren Abschiebehäftlinge in der JVA Leipzig. Sie arbeitet für die Einhaltung aller rechtsstaatlichen und menschenrechtlichen Grundsätze während der Abschiebehaft, bis ihre primäre Forderung, diese abzuschaffen, realisiert ist. Seite 19 Demo-Redebeitrag Abschiebungshaftgruppe Leipzig Welcher Umgang sie aber im Falle der Entdeckung erwartet, dass können wir von der Abschiebungshaftgruppe Leipzig im Detail erläutern. Angesichts des begrenzten zeitlichen Rahmens der Veranstaltung, werde ich mich auf wenige, in unseren Augen elementare und für das System bezeichnende Aspekte konzentrieren. MediNetz Leipzig Zunächst möchte ich die Gelegenheit nutzen und Euch für Eure Arbeit danken. Menschen den Zugang zu medizinischer Versorgung, zu Gesundheit zu ermöglichen und ihnen damit vielleicht etwas Angst zu nehmen und ihnen ein Stück ihrer Würde zurückzugeben – das ist eine wichtige Arbeit. Wird eine Person abgeschoben, werden ihm/ihr grundlegende Rechte vorenthalten. So gibt es kein faires Verfahren, wie es in Artikel 6 der europäischen Menschenrechtskonvention vorgesehen ist. Denn die Verhandlung ist zum einen nicht öffentlich und zum anderen ist es häufig der Fall, dass Haftantrag und Haftbeschluss in einem Zug überreicht und vollzogen werden. Selbstverständlich geschieht dies selten in einer für die Gefangenen verständlichen Sprache und ohne das ein Rechtsbeistand beigeordnet wird. Ebenfalls verletzt wird der sogenannte „Richtervorbehalt“ nach Art. 104 GG. Dieser besagt, dass eine Person unverzüglich nach der Festnahme (in der Praxis bedeutet das spätestens nach vier Stunden) einem Richter vorgeführt werden muss. Doch selbst wenn man all diese Verfahrensfehler aufdeckt, hilft es wenig. Umso häufiger Fehler gemacht werden, desto seltener kann man sie vor Gericht geltend machen. Dies gilt im Besonderen für die Haft an sich. Sie verstößt gegen die EURückführungsrichtlinie, die Vorgaben des Anti-FolterKomitees und der Verfassung mangels richterlich überprüfbarer, gesetzlicher Ausgestaltung. Gleichzeitig sollte es uns aber auch nachdenklich stimmen, dass wir heute hier stehen und für das elementare Recht von Menschen auf medizinische Versorgung demonstrieren müssen. Es ist ein Unding, dass es in einem demokratischen Staat Organisationen wie Medinetz oder der Abschiebehaftgruppe bedarf, damit einer ganzen, erschreckend großen, Gruppe von Menschen wenigstens einige Rechte zuteil werden. Hannah Arendt hat einmal festgestellt: „Das bedeutendste Recht des Menschen liegt darin, Rechte zu haben.“ Betrachtet man das deutsche Aufenthaltsgesetz, so wird deutlich, dass dieses Recht eben nicht allen Menschen zuerkannt wird. Denn mit §11 des Gesetzes wird die Voraussetzung geschaffen, den bloßen Aufenthalt von Menschen auf dem Territorium der Bundesrepublik unter Strafe zu stellen. Er besagt, dass „ein Ausländer“, der ausgewiesen, zurückgeschoben oder abgeschoben worden ist, nicht erneut in das Bundesgebiet einreisen und sich darin aufhalten darf. Ihm wird auch bei Vorliegen der Voraussetzungen eines Anspruchs nach diesem Gesetz kein Aufenthaltstitel erteilt. So gibt es hier in Leipzig keinerlei Besserstellung der Abschiebehäftlinge gegenüber den regulären Gefangenen. Sie leben unter den gleichen Bedingungen: zwei Stunden Aufschluss, sowie eine Stunde Hofgang, insgesamt 21 Stunden Einschluss. Gefangene ohne Deutschkenntnisse befinden sich oft in einer sprachlichen Isolation. All dies hilft natürlich überhaupt nicht, die eh schon angespannte Lebenssituation erträglicher zu machen. Was wohl dazu führt, dass die Betroffenen zu der Gefängnispopulation mit der höchsten Selbstmordrate gehören. Sie liegt beim neunfachen des allgemeinen Durchschnitts. Dieser kleine Exkurs in die Lebensrealität deutscher Abschiebegefangener zeigt, dass ein Umdenken in der sogenannten Ausländerpolitik dringend notwendig ist, um diese institutionalisierte Diskriminierung von Menschen, deren „Verbrechen“ darin besteht, nicht die deutsche Staatsangehörigkeit zu besitzen, zu beenden. Jedem Menschen ungeachtet seiner Herkunft müssen gewisse Grundrechte zugestanden werden, sei es auf medinzinische Behandlung oder auf eine faire und gleiche Behandlung vor dem Gesetz. Dies muss eigentlich der Anspruch eines demokratischen Staates sein. Solange dies nicht der Fall ist, müssen wir uns dafür einsetzen. Dieser Rechtsausschluss lässt schon erahnen, dass nicht nur bereits ausgewiesen Personen von elementaren Rechten ausgeschlossen werden, sondern auch solche die sich bereits in diesem Prozess befinden und denen noch nie Rechte zugesprochen wurden. Diese Verfahrensweise ist bezeichnend für die deutsche Asylund Ausländergesetzgebung. Welche Nöte und Ängste Menschen haben, die im ständigen Bewusstsein leben müssen, im Falle ihrer Entdeckung durch Behörden abgeschoben zu werden – das können wir nur versuchen uns vorzustellen. Seite 20 Demo-Redebeitrag MediNetz Leipzig MediNetz Leipzig Warum sind wir hier? Die Medinetze organisieren anonyme medizinische Unterstützung für Menschen, die keine Papiere besitzen. Diese Menschen haben die unterschiedlichsten Grün-de warum sie sich in diesem Land aufhalten. Uns wird es jetzt nicht darum gehen, zu klären warum das so ist, weil es müßig ist zu rechtfertigen, warum ein Mensch das Bedürfnis verspürt, seinen Wohnort zu wählen. Vielmehr wollen wir feststellen, dass diese Menschen ohne Papiere sich im alltäglichen Leben mit Widrigkeiten konfrontiert sehen, die die deutsche Gesellschaft hervorbringt. Körperliche Gesundheit ist eine wesentliche Voraussetzung für ein würdevolles Leben und darf unter keinen Umständen an den Aufenthaltsstatus, die Hautfarbe, das Einkommen und weiterer Diskriminierungsgrundlagen geknüpft werden. Dies geschieht dennoch tagtäglich und im massiven Ausmaß direkt nebenan. In Leipzig leben Tausende von Menschen ohne gesicherten Aufenthaltsstatus. Keiner von Ihnen hat Zugang zum Gesundheitswesen, der ihm, wenn auch indirekt, so doch umso entschiedener verwehrt wird. Wie kann es zu einer derartigen Ungleichheit in einer demokratischen Gesellschaft mit angeblicher Achtung vor den grundlegendsten Menschenrechten kommen? Diese immense Benachteiligung von Papierlosen in der medizinischen Versorgung ist gemeinsam mit zahlreichen weiteren Ungerechtigkeiten, die Illegalisierte zu Vogelfreien ohne Arbeitsrechte unter Ausschluss aus dem Bildungssystem machen, eindeutiger Ausdruck eines institutionellem Rassismus, der es eben nicht vorsieht, dass allen Menschen in diesem Land die gleichen Rechte zugesprochen werden und damit verhindert, dass jeder Mensch in diesem Land ein Recht auf gesundheitliche Versorgung hat. Wenn wir von Rassismus reden, meinen wir Markierungen von Unterschieden zwischen Menschen, die genutzt werden, um sich gegenüber anderen abzugrenzen. Diese Markierungen wiederum dienen dazu, soziale, politische und wirtschaftliche Handlungen zu begründen, um bestimmte Gruppen vom Zugang zu materiellen und symbolischen Ressourcen auszuschließen und dadurch der ausschließenden Gruppe einen privilegierten Zugang zu diesen Ressourcen zusichern. Entscheidend ist dabei, dass die Gruppen aufgrund willkürlich gewählter Kriterien gebildet werden (wie etwa Herkunft oder Hautfarbe), und dass mit diesen Einteilungen eine bestimmte Zielsetzung verfolgt wird. Juristisch werden Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylBLG) zugeordnet und haben damit Anspruch auf medizinische Versorgung bei akuten oder schmerzhaften Erkrankungen (§ 4) oder auf Leistungen, die zur Aufrechterhaltung der Gesundheit unerlässlich sind (§ 6). Die im AsylBLG festgeschriebene Minimalbehandlung ist jedoch eine völlig unzureichende Gesundheitsversorgung, da sie keinerlei chronische Krankheiten zu behandeln vorsieht, die nicht mit akuten Schmerzen verbunden sind. Damit verstößt sie gegen das Menschenrecht auf Gesundheit (UN-Sozialpakt Art. 12), welches einen gleichberechtigten Zugang für alle Menschen zu medizinischer Versorgung vorsieht. Doch damit nicht genug. Komplettiert wird diese Form der Ausgrenzung noch von einem strukturellen Rassismus, der in Deutschland seit den heftigen Pogromen in den neunziger Jahren dazu geführt hat, dass die Zuwanderung und Aufnahme von Flüchtlingen zurückgeht. Deutschland ist kein Einwanderungsland mehr und die Kampagnen zur Stärkung des Nationalbewusstseins wie „Du bist Deutschland“ lügen, wenn sie Deutschland als ein gastfreundliches Land beschreiben. Ein normaler Arztbesuch, über den wir keinen weiteren Gedanken verschwenden würde, wird für Menschen ohne gesicherten Aufenthaltsstatus zur Quelle uneinschätzbarer Gefahren. Illegalisierte können medizinische Versorgung in der Regel nur um den Preis der Abschiebung in Anspruch nehmen. Versuchen Krankenhäuser beim Sozialamt die Behandlungskosten lebensnotwendiger Behandlung einzufordern, meldet das Sozialamt die Daten der Schutzlosen in aller Regel der Ausländerbehörde. Dies geschieht nach wie vor trotz einer gesetzlich vorgeschriebenen verlängerten Schweigepflicht des Sozialamts. Diese Demonstration soll allen zeigen, dass es uns gibt. Wir haben keine Lust, tatenlos dabei zu zusehen, was hier vor sich geht. Wir haben keine Lust auf eine Gesellschaft, in der es darum geht, Menschen in jedweder Form zu bewerten und zu kategorisieren. Hier geht es um die Wichtung eines Menschen nach seiner Herkunft und seiner Verwertbarkeit! Seite 21 Menschen werden abgeschoben, weil sie festgefügte Strukturen und deren Produktivität bedrohen – wir fordern eine Rückbesinnung auf den Menschen dahinter, seine Wünsche und seine Biographie! Niemand hat es verdient, so behandelt zu werden wie es den Verlierern unseres Systems ergeht. Wir als Medinetz wollen keine staatliche Aufgabe übernehmen! Wir versuchen eine praktische Unterstützungen der Leidtragenden indem wir medizinische Versorgung vermitteln. Darum darf es aber langfristig nicht gehen! Unser Ziel ist unsere Selbstabschaffung, denn erst wenn jeder Mensch seine Gesundheit nicht mit seiner Entscheidungsfreiheit und Zukunft erkaufen muss sondern der öffentliche Zugang zur medizinischen Versorgung für jedermann geschaffen ist, erst dann ist unser Ziel erreicht. Und trotzdem, trotz Abschiebung und hohen bürokratischen Mauern und Polizeiaufgebot: Menschen arbeiten und leben hier ohne Aufenthaltsstatus, lassen sich täglich demütigen. An dieser Stelle treten die widersprüchlichen Interessen des Staates, der seine Bürger vor Arbeitslosigkeit bewahren will, und dem Unternehmertum, das die Produktionskosten niedrig halten will, ans Tageslicht. Leidtragende beider Interessen bleiben die Menschen, die zu den 98,4 % aller Asylantragsteller gehören, deren Antrag auf Asyl abgelehnt wurde und der grauen Ziffer derer, die sich erst gar nicht um Asyl bemühen. Eine gerade mal vorläufige Aufenthaltsgenehmigung wird im Hinblick auf den Urwald von Bedingungen, Anforderungen, Auflagen und bürokratischem Gewirr völlig unwirklich und unerschwinglich. Wir arbeiten politisch, da dieses Problem nie symptomatisch und damit oberflächlich lösbar sein wird. Wir sind hier um auf einen gewaltigen Missstand aufmerksam zu machen, der sich unter anderem in einer völlig ungerechten Gesundheitsversorgung zeigt, aber auch zahlreiche weitere Früchte trägt. Wir rufen euch auf, derartige Früchte zu verschmähen oder wenigstens zu hinter-fragen! Jedweder Änderung geht eine Bewusst-seinsänderung hervor. Schaut genau hin und nehmt nicht alles fraglos an, was euch geboten wird. Und vor allem: Redet, Streitet darüber! Ulrike Mölle Leipzig MediNetz Leipzig Seite 22 Demo-Redebeitrag „Schluss mit Rassismus“ Im Namen des Initiativkreises für die Integration von AsylbewerberInnen in Leipzig grüße ich alle DemonstrationsteilnehmerInnen und danke für die Möglichkeit, auf eurer Demo sprechen zu können. Auch dem Initiativkreis geht es in seinem Engagement um die Lebenssituation von Menschen ohne deutschen Pass; Menschen, die aus ganz verschiedenen Gründen hier Zuflucht und ein besseres Leben suchen. Die Standortwahl erfolgte auf der Grundlage handfester rassistischer Kriterien: so müsse das Domizil laut Sozialamt „außerhalb von Wohngebieten“ und „insbesondere entfernt von Kindergärten, Schulen und Spielplätzen“ liegen. Das Grundstück sollte „einzäunbar“ sein, schließlich wäre die Unterbringung von an die 300 männlichen Asylsuchenden „mit vielfältigen sozialen Problemlagen“ in einem Wohngebiet ungeeignet. Ein konstruiertes störendes, abnormales Verhalten der Betroffenen wurde hier einmal mehr der Vorstellung eines kulturell homogenen, harmonischen Wohngebiets entgegengesetzt. Genau so werden soziale Probleme der Flüchtlinge naturalisiert anstatt sie als Folge der belastenden Lebensumstände und der restriktiven Asylgesetzgebung zu benennen. Nach einer oft lebensgefährlichen Flucht über die tödlichen Außengrenzen Europas werden sie tagtäglich mit staatlichem Rassismus in Form von Asylbewerberleistungsgesetz, Residenzpflicht, Arbeitsveboten, Sammellagern, Sachleistungs- und Gutscheinsystem konfrontiert. Hinzu kommt ein stark verbreiteter gesellschaftlicher Rassismus. Zahlreiche Bewohner des tristen und verfallenen Heims in der Torgauer Strasse erinnern sich mit Schrecken an das Wohnen im Container auf dem heute brach liegenden Gelände der Wodanstrass 17a. In Leipzig leben derzeit 800 AsylbewerberInnen und geduldete Menschen, ca. 300 davon in so genannten Asylbewerberheimen. Ihre Lebenssituation war und ist kaum Gegenstand öffentlichen Interesses – wenn es dann mal öffentliche Aufmerksamkeit gibt, dann zumeist im Zusammenhang mit negativem, z.B. Kriminalitätsdelikten oder Verstößen gegen die deutschen Kultur und Normvorstellungen. In letzter Minute ersetzte die Stadtverwaltung den Passus „Containerunterkunft“ auf Grund des aufkeimenden Protestes in „Unterkunft in Systembauweise“ im entsprechenden Beschlussvorschlag. In der Wodanstrasse sollten an die 300 Personen untergebracht werden – in den existenten Heimen waren es jeweils 175, bzw 100 gewesen. Im vergangenen Jahr allerdings kochte die Debatte um die konkreten Lebensumstände von Flüchtlingen in Leipzig hoch, als der Plan der Stadt bekannt wurde, die beiden bestehenden AsylbewerberInnenWohnheime zu schließen und dafür eine neue Sammelunterkunft in der Wodanstrasse zu errichten. Das Leben in Sammelunterkünften bedeutet für die Betroffenen eine Verschlechterung der ohnehin prekären Lebensbedingungen und einen weiteren Schritt hin zur Desintegration – den zwangsweisen Verzicht auf Privatsphäre, auf Anbindung an das soziale Leben und permanente soziale Kontrolle durch Wachmenschen und auch MitbewohnerInnen. Mit den Stimmen von CDU, FDP und SPD gab der Stadtrat im Juni 2009 diesem Plan grünes Licht – unter Protest zahlreicher Anwesender. Stein des Anstoßes für das Vorhaben war das Interesse eines privaten Investors den Standort eines der bestehenden Heime wirtschaftlich zu nutzen und in diesem Zusammenhang 100 Arbeitsplätze zu schaffen, und – so äußerte eine Mitarbeiterin des städtischen Sozialamtes in der Leipziger Volkszeitung – „Arbeitsplätze haben in Leipzig nun mal Priorität“. Die gute Nachricht ist: die Wodanstrasse wird nicht gebaut. Im November 2009 wurde bekannt, dass die finanziellen Vorstellungen von potentiellen Betreibern und Stadt Leipzig so weit auseinander gingen, dass es nicht zum Vertragsabschluss über die Errichtung und Betreibung des geplanten Heimes kam. Die Proteste, die der Initiativkreis für die Integration von AsylbewerberInnen in Leipzig von Beginn an gegen das Vorhaben initiiert hatte, hatten einen gewichtigen Anteil am Scheitern des Vorhabens. Der Standort Wodanstraße befindet sich kurz vor der Autobahnauffahrt zur A 14, in einem Gewerbegebiet ca. 9km vom Stadtzentrum entfernt. Seite 23 Am 16.6. wird im Leipziger Stadtrat nun über die Zukunft der Unterbringung von Asylsuchenden in Leipzig debattiert. Ein Antrag von Grüner und Linksfraktion fordert die Stadt auf, dafür ein ganzheitliches Konzept zu erarbeiten, das einerseits Priorität auf dezentrale Wohnungsunterbringung legt und andererseits gemeinsam mit Vereinen und Initiativen der Flüchtlingsarbeit erstellt wird. Zum Ende des Jahres hin könnte auf Grundlage dieses Antrages eine Trendwende zumindest bei der Wohnsituation von Aslysuchenden eingeleitet werden - ein kleiner Baustein um diesen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Wann ist ein Mensch wert, gut leben zu können? Unsere Antwort lautet: Jedem Menschen, egal wo er geboren ist, ob er körperlich oder psychisch beeinträchtigt, ob er zu Arbeit bereit ist oder nicht, hat einen Anspruch auf ein gutes, auf ein würdiges Leben. Die menschenunwürdige Unterbringung in Sammelunterkünften, drastisch auch Lager genannt, ist dabei „nur“ ein Teilproblem, ebenso wie die Residenzpflicht, Paketversorgung, die unzureichende medizinische Versorgung oder die minimale sozialstaatliche Absicherung von Asylsuchenden – das Grundproblem ist und bleibt der Kapitalismus in seiner nationalstaatlichen Konstitution. Wie vor einem Jahr ruft der Initiativkreis zur Teilnahme an der Stadtratssitzung auf. Gemeinsam wollen wir a 16.6. demonstrieren, dass wir keine Ruhe geben, wenn es um die Belange derer geht, die weitestgehend unbeachtet am Rande dieser Gesellschaft leben! Ein Gesellschaftssystem, das Teilhabe – insbesondere in Deutschland – an der geburtsmäßigen Herkunft festmacht, … ein Gesellschaftssystem, das NichtDeutschen eine Existenzberechtigung nur dann zugesteht wenn sie besonders qualifizierte oder aber besonders erniedrigenden Arbeiten ausführen, ein System, das Menschen abschiebt, wenn sie Verfolgung im Heimatland nicht adäquat nachweisen können - dieses System muss ein Ende haben. Das Ringen um verbesserte Lebensbedingungen von Asylsuchenden, von Illegalisierten, von Menschen, die nicht der rassistischen Grundidee des deutschen Staatsbürgerschaftsrechtes entsprechen darf sich aus unserer Sicht allerdings nicht auf den Kampf um kleine Verbesserungen beschränken - es geht vielmehr um eine grundlegend humanistische Frage, die mit einer Kritik am kapitalistischen System zu verknüpfen ist. In diesem Sinne: Weg mit Sammelunterkünften, Schluss mit Abschiebungen, Schluss mit jeder Form von Rassismus. Denn Menschenwürde ist nicht teilbar. MediNetz Leipzig Seite 24