Topographien des System

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Topographien des System
Anne Fuchs
Topographien des System-Verfalls
Nostalgische und dystopische Raumentwürfe in
Uwe Tellkamps Der Turm
I.
Einleitung
Uwe Tellkamps epischer Roman Der Turm offeriert ein breit gefächertes gesellschaftliches Panorama des Lebensalltags in der DDR von 1982 bis zum Mauerfall. Im Mittelpunkt des Romans steht die Familie Hoffmann und mit ihr das
privilegierte Dresdner Bürgertum, das auf der Loschwitzhöhe in den verfallenden Villen der Belle Époque eine bildungsbürgerliche Existenz unter den Bedingungen des real existierenden Sozialismus zu führen versucht. Das große Thema des Romans ist die Interdependenz von Konformität und Resistenz gegenüber einem maroden System, das sich aus der Perspektive der Akteure zwar im
steten Verfall befindet, davon jedoch keine politische Kursänderung zu erwarten ist. Tellkamps Leistung besteht nun jedoch nicht nur in der Thomas Mannschen Entfaltung eines äußerst differenzierten Sozialpanoramas, das von den
überzeugten Parteifunktionären über das konformistisch-skeptische Bürgertum
bis hin zur oppositionellen Jugendkultur bzw. dem brutalen Soldatenalltag in
der NVA reicht, sondern vor allem in der topographischen Repräsentation von
politischer Ideologie und historischen Erfahrungen. Der Hauptschauplatz des
Romans ist Dresden und damit ein symbolisch aufgeladener Ort, an dem sich
die Erinnerungspolitik der Nachkriegszeit von der deutschen Teilung bis zur
Wiedervereinigung verfolgen lässt.1 Mehr als jeder anderen im Zweiten Weltkrieg bombardierten Stadt kommt Dresden seit der Wiedervereinigung der
Status eines deutschen und globalen Erinnerungsortes für die Bewältigung der
traumatischen Folgen von Krieg und Gewalt zu. So standen die Feierlichkeiten
um die Einweihung der wieder aufgebauten Frauenkirche im Jahr 2005 im
Zeichen einer Dramaturgie der Erinnerung, die das Trauma der Zerstörung in
einen transnationalen Versöhnungsdiskurs zu überführen suchte. Diese symbolische Überdeterminiertheit Dresdens bildet den Kontext für Tellkamps topo1
Zum Dresden-Diskurs und -Mythos vgl. die Beiträge in Greve, Anna/Lupfert, Gilbert/ Plaßmeyer, Peter (Hg.): Der Blick auf Dresden: Die Frauenkirche und das Werden der Dresdner Stadtsilhouette. Dresden: Deutscher Kunstverlag 2005; Deutsches Hygiene-Museum Dresden (Hg.):
Mythos Dresden: Eine kulturhistorische Revue. Weimar/Köln/Wien: Böhlau 2006. Zur deutschen
Erinnerungskultur seit der Vereinigung vgl. Fuchs, Anne / Cosgrove, Mary / Grote,
Georg (Hg.): German Memory Contests: The Quest for Identity in Literature, Film and Discourse since
1990. Rochester: Camden House 2006.
Germanistische Mitteilungen 70 / 2009
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graphische Vermessung der Endzeit der DDR, bei der die thematisierten Örtlichkeiten und Räume eben nicht nur die realistische Staffage für die Romanhandlung bilden, sondern als symbolische Umschlagplätze bzw. Verhandlungsorte für konträre geschichtsphilosophische Entwürfe und Erfahrungen fungieren. Die Einsicht, dass Räume weit mehr sind als der natürliche Unterboden
für Kultur, vielmehr als “Produkt sozialer und historischer Bezüge, medialer
Repräsentationen und als Effekt körperlicher Praktiken” zu verstehen sind, bildet die Voraussetzung für die im Folgenden zu leistende Analyse der räumlichen Relationen und chronotopischen Symbolik in Tellkamps Roman.2 Auch
Jurij M. Lotmans Feststellung, dass “die Struktur des Raumes eines Textes zum
Modell der Struktur des Raumes der ganzen Welt”3 wird, lässt sich insofern an
Tellkamps Romanwelt nachweisen, als hier die Raumsemantik die entscheidende Ordnungsinstanz des gesamten Textes darstellt.
Ein wichtiges topologisches Merkmal des Raumes ist die Grenze, die den
Wohnsitz der Dresdner Nomenklatura – ironisch als „Ostrom‟ bezeichnet –
von dem angrenzenden Wohnviertel der Dresdner Bürger trennt.4 Während das
von der Alltagswelt der DDR-Bürger völlig abgeschottete Ostrom die von
Berührungsängsten und Phobien charakterisierte Einstellung der Nomenklatura
vorführt, zeichnet sich das im Verfall begriffene und von den Hoffmanns,
ihren Freunden und Verwandten bewohnte Villenviertel durch eine gesteigerte
Form der Geschichtsnostalgie aus, welche sich von der Prosaik der sozialistischen Alltagswelt abgrenzt. Der im Roman von den Dresdner Bürgern geführte
nostalgische Erinnerungsdiskurs verwandelt die Topographie der Stadt in eine
Zitatlandschaft, welche die Entauratisierung der Wirklichkeit in der von Versorgungsengpässen charakterisierten DDR der 80er Jahre im Rückzug auf eine
poetisierte und mythisierte Vorkriegsvergangenheit zurücknehmen will. Während den Bewohnern dieser Zitatlandschaft ihr „nostalgischer turn‟ als einzig
mögliche Form der Opposition zur bestehenden Ordnung erscheint, bewahrt
Tellkamps Erzähler jedoch ironischen Abstand zum topographischen Erinnerungsdiskurs seiner Protagonisten, da diese in ihrer latenten Feindseligkeit
gegenüber der DDR-Politik den problematischen Mythos Dresdens als passives
Opfer geschichtlicher Störungen bemühen. Es ist damit eine der großen
Leistungen des Autors, die nostalgische Konstruktion des Erinnerungsortes
Dresden im Kontext der DDR-Geschichte zur Darstellung gebracht zu haben.
Allerdings ist diese Nostalgie nicht nur als Verlangen nach Rückkehr zu einem
2
Johannsen, Anja K.: Kisten, Krypten, Labyrinthe: Raumfigurationen in der Gegenwartsliteratur –
W.G. Sebald, Anne Duden, Herta Müller. Bielefeld: transcript 2008. S. 14. Johannsen liefert
einen prägnanten Überblick über den Stand der kulturwissenschaftlichen Raumdebatte, ebd.,
S. 14-22.
3
Lotman, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte. Übersetzt von Rolf-Dietrich Keil. München:
Fink 21981. S. 312.
4
Zur Grenze vgl. Lotman: Die Struktur literarischer Texte, S. 327f.
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ursprünglichen und mythisch überdeterminierten Ort der Beheimatung zu
verstehen (nostos), sondern auch als Akt der Rebellion gegen die Verwerfungen
der modernen Geschichtlichkeit. Wie Svetlana Boym gezeigt hat, versucht der
Nostalgiker, die von Gewalt, Krieg und Revolution geprägten Geschichtserfahrungen der Moderne in eine kollektive Mythologie zu verwandeln, um so
den geschichtlichen Wandel in seiner scheinbaren Irreversibilität zu hinterfragen.5 Die der Nostalgie eingeschriebene negative Bezugnahme auf eine von
Diskontinuitäten und Beschleunigungsprozessen geprägte Geschichtlichkeit
macht diese zu einem Nebenprodukt genau jener modernen Fortschrittsideologien, die den Begriff der Erneuerung zum Telos geschichtlicher Prozesse machen.6 Während die marxistische Geschichtsschreibung den historischen Fortschritt als einen universell gültigen Geschichtsentwurf in den Blick rückt, dessen Horizont die Zukunft der ganzen Menschheit ist, zieht sich die anti-moderne Geschichtsnostalgie im Gegenzug dazu auf die Partikularität einer lokalen
Vergangenheit zurück. So zelebrieren Tellkamps bürgerliche Protagonisten ein
mythisiertes Vorkriegs-Dresden, das es in dieser Hochglanzfassung nie gegeben
hat, weil sich darin ihr Anspruch auf eine ortsgebundene, partikuläre Identität
geltend machen kann, die sich der offiziellen Geschichtsvision der sozialistischen Gesellschaft widersetzt. Wir werden im Folgenden sehen, wie die Nostalgie durch den mythischen Bezug auf das verlorene Dresden dieses zum eigentlichen Ort der kulturellen Identität macht.
II. Der Raum als Zitatlandschaft
Der memoriale Raumentwurf zeigt sich bereits am Auftakt des Romans, als
Christian Hoffmann, Internatsschüler und Sohn des Chirurgen Richard Hoffmann und seiner Frau Anne, über das Blaue Wunder und den Körnerplatz
kommend in Richtung Grundstraße geht, um dann mit der Standseilbahn die
vertraue Strecke auf die Loschwitzhöhe zu fahren, wo seine Familie und Verwandten leben. Die Wegbeschreibung des ersten Kapitels unterstreicht zum
einen die von Martina Löw in ihrer Raumsoziologie thematisierte Verwobenheit von Raum und Körperwelt und damit die Abhängigkeit der außertextlichen
Raumerfahrung von körperlichen Kulturpraktiken, wie etwa dem Gehen oder
Fahren.7 Zum anderen aber illuminiert die Detailliertheit der Beschreibung,
dass es auf der innertextlichen Ebene hierbei um die Etablierung einer entscheidenden Ordnungsinstanz geht, welche die Räume in symbolische Umschlagplätze konträrer Geschichtserfahrungen und -interpretationen verwandelt. So
5
Boym, Svetlana: The Future of Nostalgia. New York: Basic Books 2001. S. XV.
6
Boym bemerkt ganz richtig: “Nostalgic manifestations are side effects of the teleology of
progress”. Boym: The Future of Nostalgia, S. 10.
7
Löw, Martina: Raumsoziologie. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2001. S. 34.
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registriert Christian während seiner Fahrt mit der Standseilbahn nicht nur die
an ihm gerade eben vorbeiziehende Umwelt, seine Wahrnehmungen werden
vielmehr von Erinnerungsfragmenten an die Vergangenheit durchschossen. Als
Christian etwa auf seiner Fahrt das vom Maler Vogelstrom bewohnte Spinnwebhaus passiert, steigen in ihm Kindheitserinnerungen an die Besuche bei
dem Maler in Begleitung seines Onkels Meno Rhode auf.8 Gerade die Beschreibung nicht sichtbarer, aber vorhandener Realitätselemente, wie etwa des Brunnens mit dem steinernen Brunnenwels, der Christian an seine kindliche Furcht
vor dem Tier erinnert (DT, 20), etabliert den durchfahrenen Raum als eine
Erinnerungslandschaft, die sich gleichermaßen aus Erlebtem, Wahrgenommenem und poetischen Zitaten zusammensetzt. Tellkamp bemüht hier offensichtlich ein dem poetischen Realismus entlehntes Verfahren, um die Verwandlung
des durchfahrenen Raums in eine magische Zitatlandschaft zu signalisieren. So
wird Christians Erinnerung an die Gespräche seines Onkels mit dem Maler von
einer Reihe literarischer und künstlerischer Motive überformt, die von der
Tannhäuser-Sage (DT, 18) über die schöne Magelone (DT, 20) bis zu Vogelstroms Radierung für Poes Geschichte The Masque of the Red Death reichen
(DT, 22).
Die Topographie der Wegbeschreibung akzentuiert damit die topologische
Signifikanz der von den „Türmern‟ bewohnten Loschwitzhöhe: Ihre Häuser
und Einrichtungen sind als psychotopologisch besetzte Räume zu verstehen,9
die nicht nur die individuelle psychische Verfasstheit der Figuren zum Ausdruck bringen, sondern vor allem eine kollektive Geschichtsnostalgie, die sich
dem Modernisierungs- und Erneuerungseifer der DDR-Führung widersetzt.
Dass die Türmer eine nostalgische Zitatlandschaft bewohnen, welche die
Prosaik der sozialistischen Gegenwart wenigstens im privaten Raum abwehrt,
zeigt die Lektüre zweier entscheidender Intertexte, E.T.A. Hoffmanns Der
goldene Topf und Fritz Löfflers Bildband Das alte Dresden aus dem Jahr 1956.
Die bereits im Familiennamen des Protagonisten angedeutete Präsenz
E.T.A. Hoffmanns in der Lebenswelt der Hauptfiguren manifestiert sich im
dritten Kapitel, das sich der Beschreibung des von Christians Onkel Meno
Rhode bewohnten Tausendaugenhauses widmet. Christian betritt in Menos
Wohnung ein mit Hoffmannschen Motiven ausgestattetes Interieur:
Sein Blick wanderte langsam über die vertrauten und ihn doch immer wieder
verwundernden Dinge: die gründunkle, etwas verschossene Stofftapete des
Flurs mit den Pflanzen- und Salamandermotiven, den ovalen Spiegel, dessen
8
Tellkamp, Uwe: Der Turm. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2008. S. 20. Im Folgenden werden Zitate
unter der Sigle „DT‟ im Text angeführt.
9
Zum Konzept der Psychotopologie vgl. Bronfen, Elisabeth: Der literarische Raum. Eine
Untersuchung am Beispiel von Dorothy M. Richardsons Romanzyklus Pilgrimage. Tübingen: Niemeyer 1986. S. 18-24.
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Versilberung an einigen Stellen blind geworden war und eine bleiige Tönung angenommen hatte, den aus rohem Kiefernholz gefügten Kleiderschrank neben
der Treppe, in dem er sich als Kind manchmal zwischen Kartons mit Ersatzglühbirnen und Arbeitskleidung vor Robert und Ezzo versteckt hatte, wenn sie
„Räuber und Gendarm‟ gespielt hatten; über den Flurleuchter mit dem grünen
Tukan aus Ton, der reglos an einem Bindfaden hing und mit seinen traurig wirkenden, aufgemalten Knopfaugen nach Peru sehen mochte. (DT, 32-33)
LeserInnen von Hoffmanns Der goldene Topf erkennen unschwer im Salamandermotiv den aus dem Geschlecht der Elementargeister stammenden Archivarius
Lindhorst, der in Hoffmanns Geschichte in einem entlegenen Dresdner Haus
lebt, wo er lokalen Gerüchten nach in seiner Bibliothek oder einem chemischen
Labor arbeiten soll. Als der Student Anselmus, der sich in Lindhorsts Tochter
Serpentina verliebt hat und von Lindhorst zum Abschreiben geheimnisvoller
Manuskripte angestellt wird, das Haus zum ersten Mal betritt, trifft er auf ein
magisch beleuchtetes und mit Blumen, Bäumen und Blüten zugewachsenes
Gewächshaus, in dem wunderliche Figuren aus Marmorbecken emporsteigen
und Kristallstrahlen verspritzen.10 Über das Tapetenmuster hinaus setzt sich die
Hoffmannsche Motivkette fort in dem versilberten Spiegel – in Hoffmanns
“Märchen aus der neuen Zeit” ein von der alten Hexe für Veronika kreierter
Zauberspiegel, der ihr helfen soll, Anselmus zurückzugewinnen – und dem
grünen Tukan, welcher an den brillentragenden Papagei Lindhorsts gemahnt.
Was sich zunächst als witzige Spielerei mit einem kanonisierten Intertext
ausnehmen mag, erweist sich als entscheidendes psychotopologisches Verfahren, welches das Tausendaugenhaus und Menos Wohnung zum Statthalter
einer poetisierten Wirklichkeitswahrnehmung macht, die sich der entzauberten
Prosaik der DDR-Alltagswelt entgegensetzt. In Hoffmanns Märchen findet der
im Aufeinanderprallen von Anselmus‟ poetischer Weltsicht und dem Philistertum der Dresdner Bürger artikulierte Konflikt zwischen Poesie und Prosa der
Wirklichkeit am Ende eine poetische Aufhebung in Anselmus‟ märchenhafter
Verbindung mit Serpentina in dem sagenhaften Atlantis. Für die Protagonisten
von Tellkamps Roman hingegen kann es nicht mehr um die romantische Überbietung der Realität mittels der poesiefähigen Imagination gehen; ihnen liegt
vielmehr an der Bewahrung eines privaten Rückzugsortes, der von den politischen Anforderungen ihrer öffentlichen Rolle ausgenommen zu sein scheint.
So stehen die Einrichtungsgegenstände in den Villen für eine durch den
täglichen Gebrauch generierte Privatheit, welche die Möglichkeit des Rückzugs
in einen depolitisierten Raum suggeriert. Dass diese Privatisierung der Existenz
jedoch ein äußerst fragiles Konstrukt ist, wird sich noch im Verlauf der weiteren Analyse zeigen.
10 Hoffmann, E.T.A.: Der goldene Topf. In: Mattis-Brandau, L. M. (Hg.): E.T.A. Hoffmann: Das
Fräulein Scuderi und andere Erzählungen. Bayreuth: Gondrom 1980. S. 191.
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Die nostalgische Überdeterminierung des Hauses als Ort der mythischen
Erinnerung und Imagination zeigt sich auch an dem von Christians zweitem
Onkel, Niklas Tietze, bewohnten Haus Abendstern, dem Veranstaltungsort von
regelmäßigen Musikabenden und Kaffeekränzchen, bei denen es um die ReInszenierung Dresdens im Paradigma der barocken Kultur- und Residenzstadt
geht. Eine entscheidende Rolle bei den von Niklas und seinen Freunden
regelmäßig veranstalteten kollektiven Nostalgiefesten übernimmt Fritz Löfflers
architekturgeschichtlicher Bildband Das alte Dresden. Schauplatz dieser Veranstaltungen ist das Musikzimmer der Tietzes, das mit zahlreichen signierten Porträts der großen Sänger und Konzertmeister aus der Vorkriegszeit geschmückt
ist und als musischer Erinnerungsort für die kollektiven Zeitreisen in eine von
jedweden sozialen und politischen Konflikten bereinigte Vorkriegsrealität fungiert (DT, 343). Für Niklas Tietze, den passionierten Opern- und Musikliebhaber und Sammler historischer Einspielungen, “schien die Gegenwart eine Möglichkeit unter anderen zu sein, in der man leben konnte, und nicht die angenehmste: weshalb er sie mied” (DT, 344). Meno Rhode, der in seinem Tagebuch den Part des ironischen Kommentators à la Thomas Mann übernimmt,
fasst die auf Gegenwartsverdrängung gerichtete nostalgische Lebenseinstellung
von Niklas und den anderen Türmern wie folgt zusammen:
Und so sind hier oben alle, am liebsten würden sie im Alten Dresden leben, dieser fein-barocken Puppenstube und pseudoitalienischen Zuckerbäckerei, sie
seufzen “Frauenkirche!” und “Taschenbergpalais!” Und “Hach, die Semperoper!”, aber nie “Außentoiletten! Die herrlichen cholerabefördernden Sanitärbedingungen” oder “Die Synagoge!” oder “Die befreienden Wohnverhältnisse
früher, zehn Mann auf eine Mietskasernenwohnung!”, sie sagen nie “die Nazis”,
sondern “die Tiefflieger”, reden vom “Morgenstern der Jugend” und “wer das
Weinen verlernt hat, der lernt es wieder beim Untergang Dresdens” […].
(DT, 347)
Menos Tirade gegen eine kollektive Geschichtsnostalgie zitiert hier zum einen
die stereotypen Topoi, welche den Diskurs über Dresden seit Kriegsende im
Gefolge von Gerhart Hauptmanns Trauerworten über den tragischen Untergang Dresdens maßgeblich geprägt haben. Kurz vor seinem Tod verfasste der
alte Dichter, der den Untergang Dresdens vom Weißen Hirsch aus erlebt hatte,
eine elegische Aufzeichnung, die im deutschen Rundfunk noch vor Kriegsende
verlesen wurde und seither zum festen Repertoire des deutschen DresdenDiskurses gehört :
Wer das Weinen verlernt hat, der lernt es wieder beim Untergang Dresdens.
Dieser heitere Morgenstern der Jugend hat bisher der Welt geleuchtet. Ich weiß,
daß in England und Amerika gute Geister genug vorhanden sind, denen das
göttliche Licht der Sixtinischen Madonna nicht fremd war und die vom Erlöschen dieses Sternes allertiefst schmerzlich getroffen weinen. Und ich habe den
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Untergang Dresdens unter den Sodom- und Gomorra-Höllen der englischen
und amerikanischen Flugzeuge persönlich erlebt. 11
Menos Angriff auf die falsche Sentimentalität der Türmer richtet sich gegen
einen Diskurs, der mit seinen zu Clichés geronnenen Zitaten eine kritische
Sicht auf die massive Verwicklung der Stadt in den Nationalsozialismus verstellt
und damit ein historisches Verständnis der eigentlichen Ursachen ihrer
Zerstörung verweigert. Er bedient sich hierbei auch jener Argumente, die von
den sozialistischen Reformern in der Nachkriegszeit in der Diskussion um den
Neuaufbau Dresdens gegen einen rekonstruktiven Wiederaufbau des historischen Stadtbildes vorgebracht worden waren. Da dieser Disput sowohl die Einstellungen der Protagonisten als auch die symbolische Raumordnung maßgeblich prägt, erscheint ein kurzer Exkurs zu dieser im Dresden der Nachkriegszeit
vehement geführten Debatte angebracht.
III. Dresden zwischen Neubauideologie und urbaner Nostalgie
In Dresden stellte sich wie in vielen zerbombten deutschen Städten nach
Kriegsende die Frage nach dem Umgang mit der zerstörten Bausubstanz. Das
Ausmaß der Trümmermenge, das auf 15 000 000 bis 20 000 000 Kubikmeter
geschätzt wurde – pro Einwohner ergibt das durchschnittlich 35 Kubikmeter
Trümmer12 –, machte die sogenannte „Enttrümmerung‟, die Reparatur der
Infrastruktur und die Freilegung der Hauptverkehrsadern sowie die Sicherung
der Ruinen zur obersten Priorität der Phase nach Kriegsende. Die damit
verbundenen logistischen Herausforderungen wurden jedoch von der neuen
sozialistischen Führung rasch ins Politische gewendet, indem die Beseitigung
der Trümmer nun als carte blanche für den Aufbau einer modernen sozialistischen Stadt umgedeutet wurde. Bereits am 5. Januar 1946 präsentierte der kommunistische Bürgermeister Walter Weidauer der Öffentlichkeit den ersten
Dresdner Aufbauplan, dessen architektonisches Leitbild sich programmatisch
vom Image der Stadt als kunst- und kulturgeprägter Residenzstadt distanzierte.
So findet sich auf der inneren Umschlagseite des Pamphlets eine düstere
Tuschezeichnung, die die Trümmer der Frauenkirche vor dem Hintergrund
ihrer silhouettenhaft angedeuteten vormaligen Größe darstellt und die von den
mahnenden Worten “Das Erbe der 12 Jahre Hitlerherrschaft” umrahmt wird.13
Diese ikonographisch recht krud ausgeführte Repräsentation der Trümmer als
11 Hass, Hans Egon (Hg.): Gerhart Hauptmann: Sämtliche Werke. Berlin: Propyläen 1962ff.
Bd. 11: Nachgelassene Werke. S. 1205f.
12 Die Angaben folgen Lerm, Matthias: Abschied vom alten Dresden. Verluste historischer Bausubstanz
nach 1945. Rostock: Hinstorff 22001. S. 35.
13 Vgl. das Pamphlet 1946: Rat der Stadt Dresden (Hg.): Das erste Jahr des großen Dresdner Aufbauplans’, Referat des 1. Bürgermeisters Walter Weidauer auf der Sondersitzung des Rates der Stadt am
5. Januar 1946 in der Tonhalle. Dresden 1946.
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Manifestation einer Kollektivschuld bildet den Rahmen für Weidauers dann
folgende Gleichsetzung des sozialistischen Neuaufbaus mit einem Abtragen der
noch unbearbeiteten Kollektivschuld. Weidauer, ein vehementer Vertreter des
Neuaufbaus, sah in der beschädigten Bausubstanz vorwiegend ein
problematisches Erbe, das es durch ein radikales Enttrümmerungsprogramm
zu beseitigen galt:
Was nützt dem Mensch die Tradition, wenn er dadurch in eine Zwangsjacke
gesteckt wird, wenn er unbequem wohnt und den Krankheiten Vorschub leistet.
Besser wohnen wollen wir, schöner und freier soll unser Leben sich gestalten.
Keine Paläste für die Reichen und Hütten für die Armen, sondern Demokratie
auch im Wohnungsbau. Je besser und zweckmäßiger der Mensch wohnt und
lebt, um so größer seine Leistungsfähigkeit. Nicht eine Residenzstadt mit ihrem
parasitären Einschlag, sondern eine Stadt der Arbeit, Kultur, des Wohlstandes
für alle muß Dresden werden.14
Die sozialistische Philosophie des Neuaufbaus fand schließlich legislativen
Niederschlag in den „Sechzehn Grundsätzen des Städtebaus‟, die nach der
Gründung der DDR und einer Studienreise einer ostdeutschen Delegation in
die Sowjetunion verabschiedet wurden.15 Das Dokument unterstreicht die
wirtschaftliche und politische Rolle der Stadt, insbesondere ihre Funktion, als
politischer Mittelpunkt für die Bevölkerung zu fungieren. So fordert etwa der 6.
Grundsatz die Errichtung von monumentalen Gebäuden im Stadtzentrum bzw.
die Schaffung von Aufmarschplätzen für politische Großdemonstrationen und
Volksfeiern,16 eine Forderung, die in Dresden in der Bebauung des Altmarkts
umgesetzt wurde. Vor dem Hintergrund der offiziellen Doktrin des
sozialistischen Neuaufbaus standen die Vertreter der Denkmalpflege damit
unter ständiger Beweisnot gegenüber den sozialistischen Stadtplanern, die beim
Neuaufbau auf die historischen Gegebenheiten weitgehend verzichten wollten.
Im Dresden der 50er Jahre zerstörte die mit großen finanziellen Mitteln
betriebene Großflächenenttrümmerung zahlreiche Barockruinen, wie etwa das
Coselpalais, das Oppenheimpalais, das Hoymsche Palais, das ehemalige Hotel
Stadt Rom, das Hotel Bellevue, Antons Markthalle oder die Bürgerhäuser der
Großen Meißner Straße bzw. die Barockhäuser der Rampischen Straße, um nur
einige herausragende Gebäude zu nennen.17 Dass sich das Projekt der
Großberäumung längst nicht mehr aus den Zwängen einer von Versorgungs14 Ebd., S. 10.
15 Vgl hierzu Durth, Werner/ Düwel, Jörn/ Gutschow, Niels: Architektur und Städtebau der DDR
– die frühen Jahre. Berlin: Jovis 2007. S. 142-162.
16 Die Grundsätze sind im Wortlaut nachzulesen in Durth/Düwel/Gutschow: Architektur und
Städtebau der DDR, S. 173.
17 Zum Verlust der historischen Bausubstanz vgl. die detaillierte Übersicht in Lerm: Abschied
vom alten Dresden.
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nöten geprägten Nachkriegsrealität motivierte, zeigt der folgende Kommentar
des Amtes für Großberäumung: “Man muß die zerstörten Städte als einen
großen Steinbruch betrachten, aus dem die massiven Baustoffe für den Neubau
der Stadt gewonnen werden müssen […].”18
Tellkamps Roman spielt zu einem Zeitpunkt, als die Vernichtung der
historischen Bausubstanz (mit Ausnahme der zentralen historischen Bauten im
Altstadtzentrum) und der Aufbau eines neuen sozialistischen Dresdens am
Altmarkt, in der Pirnaischen Vorstadt bzw. der Prager Straße seine Realisierung
gefunden hatte. Angesichts einer Realität, in der “viele Brachflächen, häßliche
Magistralen, zugige Plattenbaugebiete, Fünfzehngeschosser, wie grobe Klötze
eingerammt in die berühmte, jetzt lückenhafte Canaletto-Silhouette” (DT, 368)
das Stadtbild dominieren, umgeben sich die Türmer mit Insignien einer
Vergangenheit, die von den Spuren der Geschichte des 20. Jahrhunderts völlig
bereinigt sind. Im Erinnerungsarchiv der Türmer – von Meno Rhode ironisch
als “Planetensystem Heiliger Schriften” (DT, 363) bezeichnet – spielt Fritz
Löfflers Architekturgeschichte Das alte Dresden eine so zentrale Rolle, weil der
mit hunderten von schwarz-weiß Fotos bebilderte Band eine Geschichte der
architektonischen Vervollkommnung von den frühesten Quellen über das
Mittelalter, die Renaissance, das Barock und Rokoko bis zum 19. Jahrhundert
und Sempers Bauten erzählt.19 Löffler war ein bedeutender Architekturhistoriker, der sich in der Nachkriegszeit mit den Vertretern des Denkmalamtes für
die Erhaltung des Großteils der historischen Bausubstanz eingesetzt hatte. Im
Kontext der fortschreitenden Beräumung der Innenstadt lieferte sein architekturgeschichtlich fundierter Bildband der Dresdner Nachkriegsleserschaft ein
Bildarchiv, das die Kluft zwischen der architektonischen Fülle der Vorkriegszeit
und der beräumten Welt der Gegenwart zur Darstellung brachte. Vor diesem
Hintergrund wird deutlich, warum der Bildband in Tellkamps Roman “die
heiligste” Schrift der Türmer ist. Die von Bildern gestützte Repräsentation der
Stadtgeschichte als Kette architektonischer Meisterleistungen macht das im
Titel genannte alte Dresden zum Zentrum eines Kulturbegriffs, der aus der
Perspektive der Türmer keinerlei Verbindung zur politischen Stadtgeschichte
im Nationalsozialismus hat. In der nostalgischen Rezeption von Löfflers Band
gerinnt die bebilderte Darstellung der architektonischen Glanzleistungen vergangener Epochen unter der Hand zum Beweis der historischen Unschuld
einer Stadt, die ihre traumatische Zerstörung als Signatur eines blinden historischen Geschehens begreift. Die von Niklas und seinen Freunden kultivierte
restaurative Nostalgie speist sich damit aus ihrer Verdrängungsfunktion. Deshalb blenden sie genau die geschichtlichen Verwerfungen von ihrem Wahrnehmungshorizont aus, die den historischen Untergrund ihrer Nostalgie darstellen.
18 Zit. in Lerm: Abschied vom alten Dresden, S. 50.
19 Löffler, Fritz: Das alte Dresden. Geschichte seiner Bauten. Dresden: Sachsenverlag 1956.
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Die Beständigkeit ihrer Nostalgie gründet hierbei auch in der ideologisch
motivierten Fortsetzung der Zerstörung des alten Dresden in der DDR. Gerade
weil das alte Dresden dem doppelten Angriff des Luftkrieges und des sozialistischen Propagandakrieges erlag, muss es im ritualisierten Austausch immer wieder beschworen werden. Wenn Niklas und seine Freunde den Bildband regelmäßig ansehen und kommentieren, dann bringen sie dadurch ihren Anspruch
auf eine „höhere‟ kulturelle Ordnung zum Ausdruck, die sich den sozialen, politischen und ökonomischen Zwängen der DDR-Gesellschaft verweigern will.
Meno Rhode kommentiert den Verdrängungseffekt des nostalgischen Erbschaftsdiskurses seiner Freunde und Verwandten so:
Der Nebel zog durch ihre Zimmer, laugte an den Häusern, machte den Dresdner Sandstein porös, überkrustete die Dächer, fraß an den Schornsteinen, ließ
die Kittfasungen der Fenster brüchig werden, aber die Türmer hörten Tannhäuser in sieben verschiedenen Aufnahmen und verglichen sie miteinander um sich
über die „beste, die höchste, die schönste, die Standardaufnahme‟ zu streiten, sie
maßen das Kurländer Palais nach, in Gedanken und auf dem Papier, während
ihre Wohnungen mürbe wurden und das Holz der Dachstühle zundrig, und so
kannte ich es aus der ganzen Stadt, diesem zerschossenen Barockschiff im
Waschzuber des Elbtals, dieser schimmernden Frucht gefangen im Uterus seiner eigenen, parallelen Zeit, überall, wo ich hinkam, war es das gleiche: Kaffeetafeln, Eierschecke, DAS ALTE DRESDEN. (DT, 363)
Für die Türmer hat der Neubau der Stadt im Sinne einer sozialistischen Modellstadt ein hässliches „Dresdengrad‟20 produziert und damit eine prosaische Unwirtlichkeit, in der sich die wenigen restaurierten Gebäude als auratische
Erinnerungsinseln ausnehmen.
Eine dieser im Roman ausführlich beschriebenen Erinnerungsinseln ist die
Semper-Oper, deren Ruine in den Jahren zwischen 1948 und 1953 notdürftig
gesichert worden war und die nach der Grundsteinlegung im Jahr 1977 weitgehend originalgetreu aufgebaut und am 40. Jahrestag der Luftangriffe mit
einem großen Festakt eröffnet wurde. Tellkamps Roman thematisiert die
Eröffnung der Oper im 42. Kapitel aus der Perspektive Richard Hoffmanns,
der den Feierlichkeiten als diensthabender Arzt beiwohnen darf. Tellkamp verzahnt in diesem Kapitel Richards Besichtigung der Oper und den Festakt mit
der Beschreibung der Ausreise Regines, einer Freundin der Hoffmanns, die
nach Jahren abschlägiger Ausreiseanträge über Nacht aus der DDR ausgewiesen wird. Die Verschränkung der beiden Ereignisse macht die deutsche Teilung
zum Hintergrund einer Veranstaltung, bei der es auch um die demonstrative
Aneignung des Kulturerbes durch die DDR geht. Als Richard vor dem Beginn
20 Zum Begriff „Dresdengrad‟ vgl. Deckert, Renatus: Gespräch mit Durs Grünbein. In: Deckert
(Hg.): Die wüste Stadt. Sieben Dichter über Dresden. Frankfurt/M.: Insel 2005. S. 203. Die
Metapher des zerschossenen Barockschiffs ist ebenfalls Grünbein entlehnt: Der erste Vers
von Gedicht über Dresden lautet: “Scheintote Stadt, Barockwrack an der Elbe”, in: ebd., S. 214.
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der Feierlichkeiten die Oper besichtigt, bietet sich ihm ein phantasmagorisches
Spektakel dar, das die ungebrochene Kontinuität zwischen der vorsozialistischen Kulturgeschichte der Stadt und der Gegenwart suggeriert:
Was er kannte, war die Ruine des Opernhauses, die bäumchenbewachsen, mit
eingestürztem Giebel, ausgebranntem Zuschauersaal und vermauerten Türen
über Jahrzehnte das Bild des Theaterplatzes bestimmt hatte. Mit offenem Mund
blieb er auf der Treppe stehen und sah sich um. Dann lief er die Treppe wieder
hinunter, um die festliche Perspektive des Aufgangs noch einmal auf sich wirken zu lassen, lief hinauf, tastete über die Marmorsäulen, verschlang Bilder,
Ornamente, die im wie Champagner moussierenden Licht hunderter Lampen
frisch gewaschen und neugeboren ihre Augen öffneten, mit hungrigen Blicken.
Da war dieses Bild, dieses Blau, dort eine Szenerie aus Gralsrittern, beflügelten
Madonnen und Schwänen; in den Lünetten bukolische Landschaften; Namen
von Opern blinkten in Blattgold […]. (DT, 584)
Die architektonische Fülle der rekonstruierten Oper inszeniert eine restaurative
Nostalgie, welche die kollektive Erinnerung an das Dresden der Vorkriegszeit
nun in den Dienst der offiziellen Geschichtsauffassung stellen will. So repräsentiert das Opernhaus insofern die Instrumentalisierung der Nostalgie, als
seine architektonische Phantasmagorie die sozialistische Gegenwart nun zum
eigentlichen Erfüllungsort der Vergangenheit macht. Es entspricht der Logik
von Tellkamps psychotopologischer Ordnung, dass die politische Symbolik
dieser Inzenierung nicht von Richard Hoffmann als Vertreter der Türmer,
sondern von den Repräsentanten der DDR durchschaut wird. Als Richard die
Pracht des Hauses noch mit “hungrigen Blicken verschlingt” (DT, 584), nimmt
Arbogast eine nüchterne Optik ein: Für ihn ist der Bau im wesentlichen ein
kostspieliges Zitat, das dem Dresdner Hang zu einem wirklichkeitsfernen Eklektizismus entgegenkommt (DT, 585). Es ist jedoch Rechtsanwalt Sperber, der
in seiner Unterhaltung mit Richard den Prachtbau offen als symbolischen
Beweis für die Konkurrenzfähigkeit der DDR interpretiert: “‟Ist das nicht eine
Leistung, die unser kleines Land vollbracht hat?‟, fragt Sperber ohne Richards
Antwort abzuwarten” (DT, 589). Beim Wiederaufbau der Signaturbauten
Dresdens geht es somit ganz wesentlich um den ideologischen Wettbewerb
zwischen den beiden Systemen.
IV. Die Topographie Ostroms und die
Entauratisierung der Lebenswelt
Die von Tellkamp ausführlich beschriebenen Interieurs der Villen der Türmer,
sei es das Tausendaugenhaus, die Karavelle, das Haus Abendstern oder das
Haus Zu den Meerkatzen, lassen sich in vieler Hinsicht mit Gaston Bachelards
Poetik des Raumes als Zentren von Intimität lesen.21 Bachelard entwarf in seiner
21 Bachelard, Gaston: La poétique de l’espace. Paris: PUF 82004.
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Anne Fuchs
im Jahr 1957 erschienenen und inzwischen klassischen Abhandlung das Haus
als eine vertikales, mit Keller, Giebel, Dachboden und geheimnisvollen Erkern
ausgestattetes Gebäude, dessen topographische Ordnung die Welt des Traumes, der Imagination bzw. der nostalgischen Reflexion vor dem Zugriff der
feindlichen Ordnung der Moderne schützt. Bachelard entwarf vor allem das
Haus der Kindheit als einen intimen Erinnerungsort jenseits der urbanen
Realität der modernen Städte und der Favorisierung des Planquadrats als
Grundeinheit der Architektur.
Auch in Tellkamps Roman antworten die Türmer den ideologischen Anforderungen in den öffentlichen Lebensbereichen der DDR mit einer nostalgiegesättigten Lebensführung, die als Pastiche einer großbürgerlichen Vorkriegsexistenz lesbar ist. Die symbolische Raumordnung zeigt jedoch, dass diese
Spaltung in ein authentisches Privatleben und eine inauthentische, öffentliche
Front (E. Goffman) ein äußerst fragiles Konstrukt bleibt. Obwohl Ostrom, der
Sitz der Nomenklatura, von der Welt der Türmer durch eine überwachte Grenze abgeschottet ist, die mit ihren Wachtürmen und Kontrollposten die DDRGrenze zur Bundesrepublik imitiert, dringt der Staat auch in die privatesten
Rückzugsorte vor. Die Omnipräsenz Ostroms deutet sich bereits im ersten Kapitel an, als Christian in der eingangs diskutierten Szene der Fahrt mit der
Standseilbahn eben nicht nur die romantischen Loschwitzhänge sieht, sondern
im Hintergrund bereits die Wachtürme Ostroms und die Brücke registriert,
“über die Soldaten dem Kontrollpunkt am Oberen Plan zustrebten” (DT, 20).
Der latenten Bedrohlichkeit Ostroms entspricht es, dass die idealisierte
häusliche Ordnung des Tausendaugenhauses bald schon durch die Einquartierung der Kaminski-Zwillinge, die einer einflussreichen Familie aus den Kreisen
der Nomenklatura entstammen, erheblich gestört wird. Während die Zwillinge
bei ihrem Einzug zunächst auf die Mitbenutzung des Wintergartens pochen, so
erfahren wir im 66. Kapitel, dass sie inzwischen ihr alleiniges Nutzungsrecht
gegen die anderen Hausbewohner durchgesetzt haben (DT, 879). Dazwischen
liegt der Einzug des Genossen Pedro Honich und seiner Frau Babett, die die
Einführung eines Hausbuches zur Registrierung aller Besucher fordern und
vom Ehrgeiz getrieben sind, “die „goldene Hausnummer‟ im sozialistischen
Wettbewerb zu erringen” (DT, 578). Tellkamps satirische Schilderung der von
Pedro Honich geleiteten Hausgemeinschafts-Versammlung exponiert dann
nicht nur die Diskrepanz zwischen Honichs sozialistischen Idealen und einer
von Engpässen und Verteilungskämpfen charakterisierten Alltagswirklichkeit,
sondern solche Episoden dienen auch dazu, die Fragilität der von den Türmern
gepflegten Privatsphäre in Szene zu setzen.
Das an die Welt der Türmer angrenzende, aber von ihnen so weit wie möglich gemiedene Ostrom wird immer dann thematisiert, wenn der als Lektor
arbeitende Meno Rhode dort beruflichen bzw. privaten Verpflichtungen nachkommt. Meno ist damit eine entscheidende Mittler- und Reflektorfigur, die Zu-
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Topographien des System-Verfalls
gang zu beiden Welten hat und ihre Grenzen in beide Richtungen überschreiten
kann. Die erste Begehung Ostroms findet im 7. Kapitel statt, als Meno den als
„Alten vom Berg‟ apostrophierten Autor Georg Altberg wegen eines Manuskriptes besuchen muss. Nachdem Meno die zwei Kontrollposten passiert hat,
bleibt er auf dem Oberen Plan stehen, um die ihm von früheren Besuchen bekannte Anlage in den Blick zu nehmen. Seine Wahrnehmungen werden hierbei
begleitet von dem Bewusstsein, selber Objekt der eingehenden Beobachtung
durch die Wachposten zu sein. So haben ihre Gesichter einen “teilnahmslosen
Ausdruck, und dennoch, das wußte er, beobachteten sie jede seiner Bewegungen. Auch den Blick des Hauptmanns spürte er hinter dem spiegelnden Fenster
des Kontrolldurchlasses, das auf den Platz ging” (DT, 107). Die sich solcherart
überkreuzenden Blickachsen verwandeln den Raum in ein Foucaultsches
Überwachungssystem mit einem panoptischen Effekt. Nun speist sich die
Bedrohlichkeit dieser Raumordnung nicht nur aus der Position der Beobachterposten, sondern vor allem auch aus der Erwartungshaltung des Besuchers, der
die Allgegenwart der Überwachung in dieser Miniatur-DDR bereits voraussetzt
und sein Verhalten entsprechend adaptiert. Die eigentliche Pointe von Tellkamps Beschreibung liegt jedoch in dem krassen Missverhältnis zwischen dem
Aufwand der Überwachung und Abschottung Ostroms einerseits und der
dahinter liegenden Lebensrealität andererseits:
Taxushecken, zu lotrechten Mauern geschnitten, schirmten eine Reihe zweistöckiger Einfamilienhäuser ab, die alle den gleichen hellgrauen Rohputz trugen, je
eine Garage und am Gartenzaun Briefkästen in Form von Kuckucksuhren besaßen, die mit Tannenreisern und kleinen Jahresendflügelfiguren – so sagte man
hier angeblich, erinnerte sich Meno, durch die Nase lachend – geschmückt waren. Neben den säuberlich getrennten und mit Splitt bestreuten Vorgartenwegen
wuchs in jedem Grundstück eine Douglaskiefer, in den Ästen hatte man jeweils
eine Vogelbirne und einen Meisenring befestigt, aus dem Schnee unter dem
Stamm lugten Gartenzwerge in den Ausführungen mit Pfeife, Schubkarre und
mit Spaten hervor, die roten Füßchen hatte der schelmisch lachende Zwerg auf
das Blatt gestützt. Über der Eingangstür eines jeden Hauses steckten zwei Fahnen: rechts die Fahne der Republik, links die der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution (DT, 108-109).
Dies Inventar aus normierten Douglaskiefern, Briefkästen in Form von Kuckucksuhren, Gartenzwergen im Vorgarten nebst den obligatorischen Fahnen
weist die Bewohner Ostroms als kleinbürgerliche Parteifunktionäre aus, deren
Stillosigkeit die grundlegende Verfasstheit der Nomenklatura symbolisiert.
Tellkamps satirische Tendenz gegenüber der sozialistischen Realität manifestiert sich damit in einer symbolischen Raumordnung, die das Machtzentrum als
einen Ort der normierten Eintönigkeit, Tristesse und Phantasie- bzw. Geschmacklosigkeit entblößt. Selbst die sozialistische Plastik der Aufrechten
Kämpfer vor dem Haus der Kultur, die “ihre granitenen Fäuste in den Morgen
reckten” (DT, 109), erscheint nur als derivatives Imitat einer aufs Monumentale
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Anne Fuchs
angelegten konventionalisierten sozialistischen Kunstsprache. Anders als in den
nostalgischen Häusern der Türmer gibt es – sieht man einmal von der besseren
Versorgungslage in Ostrom ab – hier absolut nichts, was begehrenswert wäre.
Als Zentrum einer entvitalisierten Lebensform ist Ostrom damit ein anti-nostalgischer Ort, an dem eine nach außen gekehrte kollektive Front jedwede Zeichen einer partikularen Identität gelöscht hat. Im Unterschied zu der von den
Türmern bewohnten Loschwitzhöhe, die als ein romantisierter Erinnerungsraum der kulturellen Fülle fungiert, gründet die Geheimnishaftigkeit Ostroms
einzig in der aufwändigen Überwachungsanlage. Und obwohl Menos Besuch
bei Altberg bzw. den Londoners im 54. Kapitel dann Einblick gibt in die
widersprüchlichen und komplexen Innenwelten der überzeugten Parteifunktionäre und Staatsträger, so verdeutlichen gerade diese sympathisch gezeichneten Figuren eine dem System Ostroms eingeschriebene phobische Denkstruktur. So erscheint das Haus Londoner, in dem verschiedene West-Zeitungen und
Schriften frei ausliegen, zwar als Ort der Intellektualität, aber dennoch wird
diese Offenheit umklammert von der allgegenwärtigen Furcht vor Überwachung und Verfolgung: “Nichts Handschriftliches im Hause herumliegen lassen, keine Adressen, keine mißverständlichen Notizen!: verinnerlichte Maxime
aus der Zeit im Untergrund” (DT, 740).
V. Oktober 1989 und die Revitalisierung der Stadt
Diese dystopische Prägung politischer Orte und Räume geht im Roman weit
über die Topographie Ostroms hinaus. Im letzten Drittel wird sie zur Signatur
von Christians Erfahrungen in der Militärstrafvollzugsanstalt Schwedt, die dem
Petrolchemischen Kombinat angeschlossen ist, wo Christian und Pfannkuchen
ihren zwölfmonatigen Strafarrest in der schwerindustriellen Karbidproduktion
abarbeiten müssen. Als Christian einmal wegen eines Vergehens eine Woche in
einer fensterlosen, winzigen Strafzelle, dem so genannten U-Boot, einsitzt, realisiert er, “daß er nun im Innersten des Systems angekommen sein mußte”
(DT, 827). Die Erfahrung des Selbst als “bare[s], blanke[s] Ich” (DT, 827)
innerhalb eines Camp-Systems zerstört endgültig die restaurative Macht der
Nostalgie, mit der Christian als Türmer aufgewachsen war. Als er nach seiner
Entlassung aus dem Strafarrest schließlich im Winter 1988 auf Urlaub nach
Dresden zurückkehrt, charakterisiert sich seine Stadtwahrnehmung durch eine
neue anti-nostalgische Nüchternheit, die nichts mehr mit der vormaligen “Märchenhaftigkeit der Erinnerung” (DT, 697) zu tun hat. Angesichts der dystopischen Geschichtserfahrungen ist der durchfahrene Raum keine reichhaltige
Erinnerungslandschaft mehr, sondern eine kalte, fremde und bereits untergegangene Stadt:
Das Kronentor des Zwingers, der Flügel der Porzellansammlung trauerten im
frechen Schein einiger Baulampen, die Reihe der Putten auf der Langgalerie war
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Topographien des System-Verfalls
lückenhaft, auf dem Zwingergraben schwammen Schnapsflaschen und enttäuscht wirkende Schwäne. Rom: dachte Christian. Nein, Troja. Das hier ist
Troja. Die Stadt kam ihm so kalt und fremd vor wie noch nie, die Heimfahrenden saßen mit gesenkten Köpfen, zermürbt von Sorgen und ihrer Tage Arbeit,
in den Sitzschalen, die Haltestellenschilder aus Preßpappe klapperten, schlugen
gegen die zerkratzten Plexiglas-Fensterscheiben; einsteigen, aussteigen, Spülicht
der Lichter, des Menschendunsts, getaktet von der teilnahmslos die Haltestellen
ansagenden Stimme des Fahrers. (DT, 878)
Diese dystopische Trostlosigkeit wird dann durch die Bürgerbewegung ein Jahr
später überwunden, die schließlich auch die Türmer mitreißt. Hatten die
sozialistischen Stadtplaner der Nachkriegszeit das Stadtzentrum für die von der
Parteiführung orchestrierten politischen Großveranstaltungen konzipiert, so
verwandelt die Bürgerbewegung im Herbst 1989 die Stadt in einen Ort der
Revolution von unten. Nach Honeckers historischer Entscheidung, die Prager
Botschaftsflüchtlinge über den Dresdner Hauptbahnhof in den Westen zu leiten, um Störungen der 40-Jahr-Feier zu vermeiden, war es Anfang Oktober am
Dresdner Hauptbahnhof zu gewaltsamen Angriffen der Polizei auf Ausreisewillige gekommen, die versuchten, auf die Züge aufzuspringen. Tellkamp beschreibt die Geschehnisse am Bahnhof aus der Perspektive Menos, der mit der
Menschenmenge aus dem Bahnhof getrieben wird und den Zusammenprall der
Demonstranten mit den Sicherheitskräften in der Prager Straße zunächst als befreiende Revitalisierung erlebt und dann als bedrohliche Entfesselung von Gewalt (DT, 954 u. DT 957). Christian, dessen Kompanie inzwischen in der Prager Straße Aufstellung genommen hat, muss zu seinem Entsetzen beobachten,
wie seine Mutter Anne vor seinen Augen niedergeknüppelt wird. Sein Freund
Pfannkuchen kann ihn nur mit Mühe davon abhalten, sich auf den verantwortlichen Polizisten zu stürzen. Am nächsten Morgen kommt es zu einem erneuten Verhör, das nun allerdings die Erosion der Staatsmacht reflektiert. So wird
Christian zu seiner eigenen Verblüffung nicht nach Schwedt zurückversetzt,
sondern vom Dienst beurlaubt (DT, 962). Am Ende treten alle Akteure aus
ihren Rollen: Auch die Türmer verlassen ihre Elfenbeintürme auf der Loschwitzhöhe, um ins Zentrum zu ziehen und sich dort der friedlichen Großdemonstration anzuschließen.22
22 Nach dem brutalen Vorgehen der Sicherheitskräfte hatte sich am 8. Oktober wieder ein
großer Demonstrationszug gebildet, der sich mit Sprechchören in Richtung Altmarkt bewegte, am Postplatz zum Theaterplatz abzweigte, um von dort aus in Richtung Dimitroff-Brücke
weiterzuziehen, um schließlich zum Ausgangspunkt der Demonstration zurückzukehren. Als
sich am Abend ein weiterer harter Polizeieinsatz gegenüber den nun eingekesselten Demonstranten in der Prager Straße abzeichnete, bildete sich die “Gruppe der Zwanzig”, die den
Dialog mit dem Oberbürgermeister Dresdens suchte und damit die Eruption der Gewalt
verhinderte. Vgl. hierzu Starke, Holger (Hg.): Keine Gewalt! Revolution in Dresden 1989. Dresden:
Sandsteinverlag 2009.
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Anne Fuchs
Viele Menschen waren unterwegs. Auf allen Gesichtern lag die Angst der vergangenen Tage, Trauer und Unruhe, aber auch etwas Neues: Glanz. Das waren,
sah Richard, nicht mehr die bedrückten, tiefschultrigen Menschen der vergangenen Jahre, die ihres Weges geschlichen waren, einander gegrüßt und vorsichtig
zugenickt und allzu langen Blickkontakt vermieden hatten, sie hatten die Köpfe
erhoben, noch beklommen atmend, doch schon voller Stolz, daß es möglich
war, dieses Geradeaus, daß sie aufrecht gingen und sich bekannten, wer sie waren, was sie wollten und was nicht, daß sie mit wachsender Festigkeit gingen
und die gleiche elementare Freude empfanden wie Kinder, die aufgestanden
sind und laufen lernen. Schwedes und Orrés henkelten die Bewohner des Glyzinienhauses unter, von Haus Ulenburg, der Karavelle benachbart, kam die kinderreiche Familie des Kohlenhändlers Hauschild (“wie die Orgelpfeifen”, sagte
Barbara) und schien den ganzen Wintervorrat an Kerzen angezündet zu haben,
Herr Griesel, mit Frau und Briefträger Glodde eben von der Arbeit gekommen,
schloß seinen Trabant ab, bei Tischlermeister Rabe verstummten die Sägen, der
Meister wischte sich die Hände an einem Putzlappen sauber, pfiff den Lehrlingen, klaubte einen Kerzenstummel aus seiner Manchesterhose. (DT, 967)
An die Stelle der nostalgischen und dystopischen Raumordnungen tritt damit
eine revitalisierte und in der Gegenwart angekommene demokratische Erfahrung der Stadt als öffentlicher Raum. Ihr utopisches Potenzial liegt in einer unbekannten Spontanität, die sowohl das Dogma der sozialistischen Geschichtsphilosophie als auch die verkrustete Geschichtsnostalgie verabschiedet hat.
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