FOKUS Spiele FOKUS Spiele FOKUS Spiele
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FOKUS Spiele FOKUS Spiele FOKUS Spiele
F O K U S Spiele F O K U S Spiele S F O K U S Spiele der arbeitsmarkt 5 I 2014 pielen ist Kinderzeugs. Nichts für Erwachsene, schon gar nicht bei der Arbeit. Soweit das gängige Vorurteil. Dabei täten Erwachsene gut daran, ihren Berufsalltag spielerisch anzugehen, moniert der Experte im Interview (Seite 25). Routinearbeiten gingen so leichter von der Hand, und die Kreativität werde angeregt. Entsprechend sollten Unternehmen um eine spielerische Arbeitsatmosphäre bemüht sein. Dass dieser Flow-Zustand, der die Arbeitnehmenden zufrieden macht und länger in den Firmen hält, jedoch von diesen kaum gefördert wird, führt der Psychologe auf den schlechten Ruf des Spielens zurück. Spass zu haben bei der Arbeit, sieht unser Weltbild nicht vor. Wenn nicht im Job, dann zumindest in der freien Zeit: Erwachsene spielen. Selbst wer keine Geduld für Schach aufbringt, Jassen bünzlig findet und Monopoly langweilig, spielt – vielleicht unbewusst: Das kann ein beiläufig in Gedanken gebildetes Wortspiel sein wie eine weitergesponnene, zufällig beobachtete Alltagsszene. Wer solche verspielte Momente zulässt, entwickelt positive Emotionen und entspannt sich. Und mit Spielen kann man seine Brötchen verdienen. Schweizerinnen und Schweizer geben gleich viel aus für Spielzeug, Gesellschafts- und elektronische Spiele wie etwa F O K U S Spiele für ihre Sportbekleidung und ihre Sportgeräte. Das zeigt eine Erhebung des Bundesamts für Statistik. Dann kaufen sie zum Beispiel ein Würfelspiel der Gebrüder Frei. Die drei Berner haben mit ihrem «Icon Poet» einen Welthit gelandet (Seite 22). Ebenfalls bis ins ferne Ausland verkaufen sich die Lokomotiven der Traditionsfirma HAG. Für diese bis ins kleinste Detail originalgetreuen SBB-Modelle aus Stansstad (NW) greifen Sammler tief ins Portemonnaie (Seite 35). Rund eine halbe Million Schweizer Franken kostet der Lokomat, ein Roboter, mit F O K U S Spiele dem Patienten wieder laufen lernen. Und der sie mit einem integrierten Computerspiel länger bei der Stange hält und für Therapieerfolge an der Rehabilitationsklinik eines Zürcher Kinderspitals sorgt (Seite 32). Von wegen «Game over» für vermeintlich schädliche Computerspiele. Diese zu erfinden, programmieren und gestalten, ist seit einigen Jahren sogar eine Studienrichtung. Zum Beispiel an der Zürcher Hochschule der Künste, deren Studenten den Lokomaten mit zum virtuellen Leben erweckt haben (Seite 29). Paola Pitton Fotos: Simone Gloor F O K U S Spiele 5 I 2014 der arbeitsmarkt F O K U S Spiele S P I E L E A U T O R E N Wenn die Arbeit zum Kinderspiel wird Ob mit einer «Pyjamaparty», mit dem gläsernen Berg oder mit Bilderwürfeln: Die Gebrüder Frei aus Bern beglücken Spielfreudige jeden Alters. Ihre Inspirationen holen sie sich unter anderem in der Wüste Afrikas, wo sie auch den Grundstein für ihre Firmengründung legten. Text Miryam Azer Fotos Simone Gloor D as Zusammenspiel der Gebrüder Frei beginnt im strömenden Regen von Tansania. Ein Unwetter kesselt Andreas, Ueli und Lukas Frei auf einer Farm ein, wo sie darauf warten, die Wildnis zu erkunden. Allabendlich vertreiben sie sich die Zeit mit «Die Siedler von Catan», dem Brettspiel, das sie im Gepäck haben. Wer gewinnt, darf seinen Schlafplatz wählen – im Dachzelt auf dem selbst umgebauten Auto oder im Zelt am Boden. Als sie endlich abfahren können, ist das gemeinsame Spielen zum Ritual geworden. Wenig später infiziert sich Ueli Frei mit Malaria und muss ins Spital. Seine Brüder stehen vor einem Problem: «Die Siedler von Catan» benötigt drei oder vier Spieler. Andreas und Lukas Frei adaptieren das Brettspiel so, dass es für zwei Personen funktioniert, und entwickeln damit ihr erstes Werk, das sie – als Ueli zurückkehrt – erneut anpassen. Wieder in der Schweiz, verfolgt jeder der drei Brüder seinen eigenen Berufsweg als Grafikdesigner, Informatiker und Lehrer. Doch das Erlebte lässt sie nicht los: 2006, acht Jahre nach der Safari, reduzieren sie ihre Arbeitspensen und erklären den Freitag zum Spieltag. Sie spielen, diskutieren und tüfteln. Nach einem Jahr des Forschens entstehen die ersten Prototypen, und auf einer Spielemesse in Deutschland findet das erste Brettspiel einen Verlag. Schliesslich gründen sie ihre Firma in Bern und machen die Spieleentwicklung zu ihrem Arbeitsalltag. Spass und Spannung an der «Pyjamaparty» «Jedes Spiel ist eine Miniwelt, die für viele Menschen einen Gegenpol zu ihrer Alltagswelt bildet», erklärt Andreas Frei. Damit diese Spielwelt entstehen kann und funktioniert, müssen gewisse Parameter berücksichtigt werden. Eine stimmige Geschichte beispielsweise, aus der sich die Spielmechanik und die Regeln von selbst erschliessen: Wenn die Kinder nicht ins Bett gehen wollen und herumtollen, steht plötzlich der arbeitsmarkt 5 I 2014 der Vater in der Tür, um nach dem Rechten zu sehen. Diese Alltagsepisode ist das Herzstück des Brettspiels «Pyjamaparty» der Gebrüder Frei. Die Spieler laufen darin als kleine Vampire im Turmzimmer herum, statt zu schlafen. Gewonnen hat, wer sein Bett mit den Kuscheltieren und leckeren Getränken gefüllt hat und sich nicht von Papa Vampir erwischen lässt. Weil jedes Spiel Gewinner und Verlierer brauche, müssten die Geschichten zugespitzt werden, erklärt Andreas «Jedes Spiel ist eine Miniwelt.» Frei. «Wir wissen unterdessen genau, an welchem ‹Faden› wir ziehen müssen, damit der Spielmechanismus funktioniert.» Die drei Brüder möchten mit ihren Konzepten erreichen, dass die Spieler permanent aufmerksam sind: «Wenn ich beim ‹Memory› zehn Sekunden lang nicht hinschaue, verpasse ich alles. Ich vergesse, wo meine Kärtchen sind, und ich weiss nicht, welche Kärtchen die anderen Spieler umgedreht haben», verdeutlicht Andreas Frei. Heute sei die Konzentrationsspanne bei Kindern und Erwachsenen kleiner als früher. Deshalb dauert bei neueren Familienspielen eine Runde weniger lang als früher, was zu mehreren Spieldurchläufen animiert. Damit sich Verlierer in einer neuen Partie verbessern könnten, sei in einem guten Spiel die Siegesstrategie erkennbar. Ebenso wichtig ist der Zufall, der die Spannung und damit den Spass am Spiel erzeugt. Wie viel ein Spiel davon enthalten soll, lässt sich bei der Spieleentwicklung genau steuern. Dafür ist Ueli Frei, der Informatiker im Trio, zuständig. In der Einfachheit liegt die Würze Doch bevor der Zufall ins Spiel kommt, entsteht eine Idee. Das dauert einen Sekundenbruchteil und kann überall passieren: in der Wüste Afrikas, im Kinderzimmer oder auf der Poststelle. «Mir fallen Dinge auf, die andere nicht bemerken», sagt Gebrüder Frei Foto Severin Nowacki In den Berner In den Berner BüroBüroräumlichkeiten räumlichkeiten tüftelt tüftelt Andreas Frei Andreas Frei zusamzusammen mit zwei men mit seinen seinen zwei Brüdern Brüdern an neuen an neuen Spielen. Spielen. GRÜNDUNG Lukas, Ueli und Andreas Frei schlossen sich 2010 zur Firma Gebrüder Frei zusammen. A U F G A B E N T E I L U N G Andreas Frei, 46, ist gelernter Grafikdesigner, hatte eine eigene Designagentur und war für die Regionale Arbeitsvermittlung in der Erwachsenenbildung tätig. In der Firma übernimmt er den kreativen Teil, entwickelt Ideen und Konzepte. Ueli Frei, 44, hat das Lehrerseminar absolviert, später In- der Grafikdesigner Andreas Frei, der die meisten Ideen einbringt. In Simbabwe beobachtete er, wie Schildkröten in einem Wasserloch auf den Rücken von Nilpferden kletterten und weggewaschen wurden, sobald die grossen Tiere untertauchten – der Grundstein für das Brettspiel «Nelly Nilpferd» war gelegt. Der Weg von einer Idee oder Geschichte zum fertigen Spiel dauert bei den Gebrüdern Frei durchschnittlich ein Jahr. Davon nimmt die Spieleentwicklung die meiste Zeit in Anspruch. Sie gipfelt in der Produktion eines Prototyps, den Erwachsene und Kinder testen. «Häufig ist ein Spiel zu kompliziert, weil wir zu viel hineinpacken wollten. Vereinfachen wir es, wird seine Essenz sichtbarer. Ein gutes Spiel muss klar sein.» Manchmal werde in der Testphase ein bestimmter Spielaspekt wichtiger als ursprünglich gedacht: Bei der «Pyjamaparty» hatten die testenden Schulklassen grossen Spass, wenn die Karte mit dem Papa Vampir auftauchte, worauf die Brüder das Spiel so anpassten, dass dies häufiger geschah. Nach der Testphase unterbreiten die Spieleautoren ihren Prototyp den Verlagen und begleiten die Spielproduktion gemeinsam mit diesen bis zum Schluss. PRODUKTE Für den freien Markt und im Auf- Fotos: Michael Wissing, Andrea Campiche Komplexes spielerisch vermitteln Zum Portfolio der Gebrüder Frei gehören nebst Brettspielen unter anderem auch sogenannte Grossspiele, ein Abenteuerspielpfad und ein Spielbuch/Buchspiel. «Wir entwickeln das, was uns Spass macht», lautet die Devise. Das Trio verfolgt jeweils etwa zehn Projekte nebeneinander für ein Publikum jeden Alters. «Da Kinder verglichen mit Erwachsenen weniger Strategien parallel verfolgen können, muss der Mechanismus bei Kinderspielen einfacher sein. Und mit den kindergerechten Faktoren wie Farben, Zahlen und wenig Text Spannung zu erzeugen, ist schwieriger als mit unbegrenzten Möglichkeiten», verdeutlicht Andreas Frei. Eine Herausforderung, der sich die drei Brüder immer wieder gerne stellen. formatik studiert und in der Informatikbranche auch Lehrlinge ausgebildet. In der Firma ist er für die Spielanleitungen zuständig und dafür verantwortlich, dass die Spiele mathematisch austariert sind und getestet werden. Ausserdem unterrichtet er ab dem kommenden Schuljahr erneut das Fach Spieleentwicklung an einer Primarschule. Lukas Frei, 39, hat nach dem Lehrerseminar und einigen Berufsjahren einen Grundkurs für Illustration besucht. In der Firma fungiert er als Springer und illustriert vor allem Prototypen, wobei er eng mit Andreas Frei zusammenarbeitet, der die Gestaltung übernimmt. «Icon Poet» und «Der gläserne Berg» im Alpinen Museum Bern bieten Spass und Spannung. trag verschiedener Institutionen entwickeln die Gebrüder Frei Spiele für Kinder und Erwachsene. Bereits veröffentlicht oder aufgestellt sind nebst Brettspielen auch Museums- und Messespiele, ein Naturschauspiel im Kanton Graubünden, ein Abenteuerspielpfad im Tropenhaus Wolhusen und das Spielbuch/Buchspiel «Icon Poet». Für Schulen und Firmen bieten die Brüder verschiedene Workshops mit «Icon Poet» und zum Thema Spieleentwicklung an. MITARBEITENDE Die Gebrüder Frei beschäf- tigen je nach Auftrag beispielsweise Industriedesigner, Szenographen, Literaten, Metallbauer, Architekten, Grafiker, Werbetexter und Pädagogen. Diese Arbeitseinsätze sind jeweils zeitlich auf ein Projekt beschränkt. www.gebruederfrei.ch UNSER LIEBLINGSSPIEL «Mir gefällt der Spielmechanismus. Er ergibt sich aus der Geschichte über Raben, die Früchte von den Bäumen des Bauern Franz stibitzen. Ausserdem findet während des Spielens ein Strategiewechsel statt, was für Kinderspiele ungewöhnlich und deshalb herausfordernd ist: Erst gehen die Spieler Partnerschaften ein, zum Schluss hin müssen sie alleine kämpfen. Wir drei Brüder spielen es am häufigsten.» Andreas Frei, 46, Spieleautor, Gebrüder Frei Schwierig zu knacken war auch die Lösung eines Auftrags, den das Alpine Museum Bern vergab: Die komplexe Vereinsstruktur des Schweizer Alpen-Clubs sollte familiengerecht dargestellt werden. Entstanden ist das übermannshohe Grossspiel aus Plexiglas, «Der gläserne Berg», das die Museumsbesucher bereits durch seine Erscheinung anzieht und zum Berühren einlädt. Zwei Gegenspieler bauen mit farbigen Holzklötzen Wege zu den unterschiedlichen Hierarchiestufen des Vereins. Wer sein Ziel schneller erreicht, darf seinem Spielpartner die Aufgabe der jeweiligen Kommission vorlesen. «Da die Menschen heute weniger lesen als früher, müssen wir die Informationen richtig portionieren und möglichst raffiniert vermitteln», so Andreas Frei. Das Ziel von Auftragsarbeiten sei häufig, ein komplexes Thema spielerisch zu vermitteln. Erlebnisse ermöglichten einen vereinfachten Wissenszugang. Als Beispiel nennt er die nachhaltige Nutzung natürlicher Energien im neuen Reka-Feriendorf BlattenBelalp, welche die Gebrüder Frei momentan spielerisch umsetzen: Wird sie theoretisch erklärt, verlieren Jugendliche rasch das Interesse. Die Tatsache jedoch, dass sie dank Windenergie Musik hören oder dank Regen Filme anschauen können, verschafft ihnen einen direkten Zugang zur Welt der natürlichen Ressourcen. der arbeitsmarkt 5 I 2014 Aus Bildern wird Poesie Den bisher grössten Erfolg aus der Spielküche der Gebrüder Frei hat das sogenannte Spielbuch/Buchspiel «Icon Poet». Aus fünf gewürfelten Bildern schreiben die Spieler in 180 Sekunden eine Geschichte zu einem definierten Szenario. Dazu gehören beispielsweise ein Heiratsantrag, das Konstruieren eines Alibis in einem Mordfall oder die Ausrede für das Schwarzfahren im Tram. Die Bildzeichen auf den Würfeln, die sogenannten Icons, lassen sich frei interpretieren: Eine Schere kann in der Geschichte als Schnittblume, Crèmeschnitte, Lebensabschnittpartner, Schafscherer, als Schneiden oder Abschneiden auftauchen. Andreas Frei erklärt sich den weltweiten Erfolg durch die einfache Spielmechanik und «Ein gutes Spiel muss klar sein.» damit, dass alle Menschen gerne gute Geschichten hören. Die Idee zum Spiel entstand in Afrika: Die Brüder erlebten auf Safaris, wie die Teilnehmer einander am Lagerfeuer ihre Erlebnisse erzählten und beliebig ausschmückten, um sie abenteuerlicher erscheinen zu lassen. Entgegen der Voraussage, dass Spieleautoren mindestens sieben Jahre brauchen, bis sie einen interessierten Verlag finden, bissen bei der ersten Präsentation 2006 alle grossen Verlage an. Aus dem ursprünglichen Spielkonzept entstand auch eine Theatervariante: Im Cabaret Voltaire in Zürich beweisen vier Schweizer Literaten wie Pedro Lenz oder Thomas Meyer ihre Kreativität. Sind die Würfel gefallen, schreiben alle ihre Geschichten, die sie anschliessend vortragen. Lukas Frei, ehemaliger Lehrer und im Trio für die Illustration der Prototypen zuständig, leitet diese monatlichen Veranstaltungen, bei denen das Publikum mitschreiben und als Ghostwriter fungieren kann. Er arbeitet auch eng mit dem Magazin «NZZ Folio» zusammen, in deren Rubrik «Icon Poet» die spannendsten, von Lesern eingereichten Geschichten veröffentlicht und prämiert werden. Deutschland als Gradmesser Die Gebrüder Frei orientieren sich an der Branche in Deutschland, wo laut Andreas Frei die meisten Brettspiele für den deutschsprachigen Raum produziert werden. Nebst den grossen Verlagen ist auch die Spiele-Autoren-Zunft dort beheimatet, welche die Rechte und Interessen ihrer Mitglieder vertritt. An den beiden grossen Messen in Essen und Nürnberg wie auch am Spieleautorentreffen in Göttingen präsentieren die drei Brüder ihre Prototypen verschiedenen Verlagen und lassen sie vom Publikum testen. Sie informieren sich zudem über noch unveröffentlichte Spiele, um parallele Entwicklungen zu vermeiden. Diesbezüglich lassen sie sich in der Schweiz von verschiedenen Inhabern von Spielwarenläden beraten. Für Andreas Frei ist es heute spannender, Spiele zu entwickeln, als sie zu spielen: «Seit wir uns beruflich damit beschäftigen, spielen wir weniger.» Auf die Frage, was die Inspiration fördere, lautet seine Antwort: «Ein gutes Leben.» Dazu ziehen sich die Brüder regelmässig in die afrikanische Wüste zurück. Die Ruhe sei wichtig, um klar denken zu können. Manchmal nehmen die drei Prototypen mit, oft beginnen sie aber mit einem weissen Blatt Papier, Schere und Sprayleim – ohne Ziel vor Augen. V E R S P I E L T «Extremsport ist eine Reinform des Spielens» Nicht nur Kinder spielen, auch die Erwachsenen tun gut daran, ihre Verspieltheit nicht zu verlieren. Warum Arbeitgeber diese fördern sollten, sagt der Psychologe René Proyer. Interview Florian Schaffner Fotos Simone Gloor René Proyer, Sie beschäftigen sich beruflich mit dem Spielen – spielen Sie auch privat? Ich spiele gerne und oft. Auch wenn ich keine Regelspiele wie zum Beispiel Brett- oder Kartenspiele mag. Meine Kreativität sehe ich dabei eingeschränkt. Lieber versuche ich, spielerische Momente in den Alltag zu integrieren. Auf meinem Arbeitsweg beobachte ich etwa das ungewöhnliche Verhalten einer Person im Tram oder eine missverständlich for- 5 I 2014 der arbeitsmarkt F O K U S Spiele mulierte Schlagzeile in der Zeitung und gestalte daraus ein Wortspiel oder überlege mir: «Was wäre, wenn?» Bei meiner Arbeit analysiere ich Daten und stelle Berechnungen an, auch das kann spielerisch sein: nach anderen Lösungen zu suchen, eine neue Methode auszuprobieren, vielleicht einen anderen Blickwinkel zu entdecken oder eine unkonventionelle Herangehensweise zu entwickeln. Das macht meine Arbeit interessanter und spannender. «Spielend zu arbeiten, hat einen schlechten Ruf.» Warum spielt der Mensch? Wir lernen durch Spielen. Kinder entwickeln so zum Beispiel die Feinmotorik und die Raumvorstellung. Es bereitet auf das Leben vor. Ein Tier lernt durch das Spielen, zu überleben. Auch der Mensch lernt spielerisch für sein Leben. Ist der Lerneffekt das Einzige, wovon wir beim Spielen profitieren? Nein. Beim Spielen entwickeln sich positive Emotionen. Diese sind sehr wichtig, damit wir Ressourcen aufbauen und schwierige Situationen meistern können. Je mehr positive Emotionen wir erleben, umso grösser wird unser Handlungsspielraum. Wir dürfen jedoch das Spielen nicht auf Brett- und Gesellschaftsspiele reduzieren. Wenn Sie an einer Redaktionssitzung keine Ideen für einen Artikel haben, kann Ablenkung – etwa wenn jemand etwas Komisches oder Abwegiges sagt – plötzlich eine neue Idee bringen. Die Kreativität wird ange- regt. Freude oder Lachen, also positive Emotionen, erweitern den Handlungsspielraum aller Beteiligten. Dieses Handeln ist spielerisch. Spielen ist bei Erwachsenen also nicht vor allem zum Zeitvertreib, aus Langeweile? Nein, durchaus nicht nur. Beim Spielen kann sich der Mensch entspannen, was eine Kernfunktion des Spielens ist. Ein Erwachsener setzt das Spielen bewusst ein, um abzuschalten. Ist Spielen auch ein Trieb? Mit dem Spieltrieb sind Sie in tiefenpsychologischen Überlegungen. Sicherlich existiert beim Menschen ein grundlegendes Bedürfnis, zu spielen. Den Triebbegriff finde ich etwas schwierig in diesem Zusammenhang, als ob sich eine Person gegen den Spieltrieb wehren müsste. Im Bedürfnis zu spielen unterscheiden sich Menschen, einige haben es mehr als andere. Was geschieht mit einem Erwachsenen, wenn er spielt? Der soziale Kontakt mit anderen Menschen ist zentral. Bei Gesellschaftsspielen steht nicht nur das Spielen im Vordergrund, sondern auch, dass wir miteinander eine gute Zeit verbringen und Spass haben. Spielen braucht ebenfalls intellektuelle Fähigkeiten. Die verspielteren unter meinen Studierenden erzielen die besseren Prüfungsleistungen. Ihnen gelingt es vermutlich, Lernen spannender zu gestalten. Sie lernen nicht bloss auswendig, sondern versuchen, das Erlernte für sich interessanter und persönlich anregender zu gestalten. Man kann vermuten, dass sie in Prüfungssituationen entspannter sind und der Wettbewerbssituation etwas abgewinnen können und sich dadurch motivieren. Manche lieben das Spielen, manche spielen kaum im Erwachsenenleben. Warum ist das so? René Proyer, gezeichnet von einem Mitarbeiter mit verbundenen Augen. Ich habe zwar kein konkretes Lieblingsspiel. Aber der Alltag liefert mir zuhauf spielerische Anlässe, um daraus etwa Wortspiele zu gestalten.» René Proyer, 38, Psychologe der arbeitsmarkt 5 I 2014 Speziell bei Erwachsenen müssen wir den Begriff des Spielens differenzieren. Jemand, der keine Gesellschaftsspiele mag, kann trotzdem verspielt sein. Ihm liegt möglicherweise eine andere Art von Spielen. Unter Spiel verstehen wir ein konkretes Verhalten, wie beispielsweise ein Brettspiel spielen. Verspieltheit ist hingegen eine stabile Persönlichkeitseigenschaft. Mit ihr gelingt es dem Menschen, den Alltag so zu gestalten, dass dieser ihm häufig erlaubt, Unterhaltung, persönliches Interesse oder intellektuelle Anregung zu erfahren. Manchmal sind dies auch Menschen, die ungewöhnliche Hobbys pflegen oder sich von skurrilen oder grotesken Situationen und Inhalten in Büchern, der Kunst oder Filmen angezogen fühlen. Spielen macht glücklich. Hat ein Mensch, der viel spielt, seien es Gesellschafts-, Brett- oder Computerspiele, eine höhere Lebenszufriedenheit? Der Zusammenhang ist zwar nicht so deutlich, wie ich das zu Beginn meiner Forschung angenommen habe. Im Allgemeinen aber geht eine höhere Verspieltheit mit einer höheren Lebenszufriedenheit einher. Und das physische Wohlbefinden nimmt zu. Wer spielt, fühlt sich vitaler. Wer im Beruf Routinearbeiten spielerisch erledigt, gestaltet die Arbeit wesentlich interessanter. F O K U S Spiele René Proyer, 38, hat an der Universität Wien doktoriert und doziert seit 2004 an der Universität Zürich. Er forscht zu Themen rund um die Positive Psychologie und hat zahlreiche Publikationen zur Verspieltheit bei Erwachsenen verfasst. Er ist Oberassistent der Fachrichtung für Persönlichkeitspsychologie und Diagnostik und wohnt in Zürich. «Wer beim Spielen verliert, lernt, mit negativen Emotionen umzugehen.» 5 I 2014 der arbeitsmarkt F O K U S Spiele Der Psychologe Mihály Csíkszentmihályi hat in den 1970er Jahren geschrieben, dass sich der Mensch beim Spielen in einen «Flow»-Zustand begibt. Das heisst, er kann sich selbständig motivieren und entwickelt eine schöpferische Leidenschaft. Gemäss Csíkszentmihályi kann man auch in anderen Situationen, zum Beispiel bei der Arbeit, den Ist ein Mensch, der spielt, intelligenter als einer, der nicht spielt? Wichtig beim Spielen ist die kreative Intelligenz. Verspielte Menschen sind nicht generell intelligenter. Untersuchen wir jedoch die Kreativität oder den Einfallsreichtum, sehen wir, dass verspielte Menschen höhere Werte aufweisen. «Flow» finden. Wie geht das? Eine wichtige Voraussetzung ist, dass Sie bei Ihrer Tätigkeit weder unterfordert noch überfordert sind. Am leichtesten kommen Sie in den Flow-Zustand, wenn Sie einen Sinn in Ihrer Arbeit erkennen. Das heisst, dass bei Ihrer Anstellung ein optimales Verhältnis zwischen den Anforderungen und Ihren Fähigkeiten besteht. Versuchen Sie, Ihren Arbeitsalltag so zu gestalten, dass Sie Ihre Begabungen einbringen können. Welche Möglichkeiten haben Unternehmen, um die zu verrichtende Arbeit für die Mitarbeitenden spielend zu gestalten, damit sie in den «Flow» finden? Grundlegend ist, dass die Firma eine Atmosphäre schafft, in der Verspieltheit möglich ist; also zum Beispiel eine Führungsperson, die es zulässt, dass bei Sitzungen auch mal Witze oder amüsante Bemerkungen gemacht werden. Oder den Freiraum schafft, dass sich Mitarbeitende auch mal in entspanntem und nicht nur bierernstem Klima austauschen können – etwa in einem eigenen Raum dafür oder beim Tischfussballspielen. Die Arbeitsprozesse sollten zudem so gestaltet sein, dass der Mitarbeiter möglichst individuell handeln kann. So werden Menschen länger im Unternehmen verbleiben, weniger krank sein und Spass bei der Arbeit haben. Spielend zu arbeiten, macht einen Angestellten glücklich, und er leistet mehr für das Unternehmen. Eine Win-winSituation. Warum legen die Firmen nicht mehr Wert auf spielerische Arbeitsprozesse? Spielen hat einen schlechten Ruf. Es ist etwas, was Kinder tun. Unser Weltbild lässt nicht zu, dass wir bei der Arbeit Spass haben. Wir denken, spielen sei albern und dass wir uns auf verspielte Menschen nicht verlassen können. Das ist eine einseitige Betrachtungsweise. Manche Unternehmen, wie zum Beispiel Google, brüsten sich damit, dass sie eine offene «Beim Menschen existiert ein grundlegendes Bedürfnis, zu spielen.» und individuelle Arbeitsatmosphäre ermöglichen. Ob die Arbeit in der Praxis auch wirklich so aussieht, ist schwierig zu beurteilen. Auf unserem Stockwerk an der Universität Zürich hatten wir einen Tischfussballkasten. Beim Spielen verursachten wir Lärm, was andere nervte, und es kostete Zeit, aber wir haben uns dabei auch über die Arbeit ausgetauscht und so manche gute Idee dabei entwickelt oder den Kopf für Neues freibekommen. Mitarbeitende entspannen sich durch das Spielen, und die Teamfähigkeit wird gefördert. Spielerisches Arbeiten kennt jedoch Grenzen. Ein Arzt sollte nach einer Operation keine spielerische Narbe hinterlassen. Gut ist dagegen, wenn er über seine Arbeit witzelt und nicht im Frust der Routine absackt. der arbeitsmarkt 5 I 2014 Computerspiele hatten lange einen schlechten Ruf. Nun haben Forscher herausgefunden, dass sie durchaus förderlich sind. Überwiegen für Sie die positiven oder negativen Aspekte? Die Befundlage hierzu ist etwas dünn. In einem normalen Umgang mit dem Spiel überwiegen die positiven Aspekte. Es gibt Studien, die Computerspielern eine bessere Reaktionsfähigkeit attestieren. Kritiker sagen, dass Computerspiele mit negativem sozialem Verhalten einhergehen. Das hat jedoch mit dem Ausmass des Spielens zu tun, und dieses zu definieren, ist schwierig. Ich glaube weder, dass Spieler vor dem Computer vereinsamen noch dass sie überfordert sind mit dem, was dabei auf sie einprasselt. Bei Menschen, die zu Spielsucht neigen, überwiegen die negativen Aspekte. Verspielte Leute sind auch risikofreudiger, was nicht immer von Vorteil ist. Unter den Extremsportlern finden wir wahrscheinlich viele verspielte Menschen. Extremsport ist gewissermassen eine Reinform des Spielens. Wer spielt, will gewinnen. Warum kann ein Mensch profitieren, wenn er verliert? Wer verliert, lernt, mit negativen Emotionen umzugehen, und kann in schwierigen Alltagssituationen von dieser Erfahrung profitieren. Hierbei müssen wir zwischen Glücksspielen und strategischen Spielen unterscheiden. Ein Spiel, das nicht vom Glück abhängig ist, kann der Mensch trainieren. Er kann so die Gewinnchancen besser einschätzen und erhöhen. Er entscheidet selbst, wie viel Zeit er für dieses Training aufwendet. Frustrierend ist, wenn der Spieler viel Zeit investiert und dann doch verliert. Doch Menschen spielen nicht immer nur, um zu gewinnen. Manche möchten mit dem Spiel lediglich einen schönen Abend erleben. Ein Erwachsener sollte den Drang abschütteln, in einem Spiel unbedingt gewinnen zu müssen. Ich muss nach unserem Gespräch einen Artikel schreiben. Wie komme ich am leichtesten in den «Flow»-Zustand? Versuchen Sie, Ihren Artikel in einer spielerischen Umgebung niederzuschreiben. Meinen Arbeitsplatz würden viele als chaotisch beschreiben, aber wenn ich hier arbeite und mich umschaue, sehe ich immer wieder Dinge, die mich anregen. Für mich ist dies eine spielerische Umgebung. Versuchen Sie, mit Humor an die Arbeit zu gehen. Das macht Ihre Aufgabe viel einfacher. Ich habe schon mehrmals einen weichen Ball auf den Türrahmen meines Büros gelegt, und jedes Mal, wenn jemand hereinkam und durch den herunterfallenden Ball erschrak, hat mich das angeregt. Testen Sie, wie verspielt Sie sind auf www.derarbeitsmarkt.ch/Fokus-Spielen F O K U S Spiele Im Game-Labor der ZHdK feilen Fabienne Osterwalder (links) und Patricia Pollinger an ihrer Bachelorarbeit. G A M E D E S I G N E R Spielend studieren MEIN LIEBLINGSSPIEL Digitale Spiele gehören zu unserem Leben: Pendler spielen auf ihren mobilen Geräten, soziale Plattformen bieten Social Games an, und laufend bringen die Spieleproduzenten Neues auf den Markt. Verantwortlich dafür sind unter anderen die Studierenden des Lehrgangs «Game Design» an der Zürcher Hochschule der Künste. Text Vanessa Kuhn Fotos Simone Gloor S «Dieses Game habe ich mit Studienkollegen entwickelt. Es lässt sich nur zu zweit spielen.» Fabienne Osterwalder, 28, Studentin ZHdK chieb den Kubus lieber hierhin.» «Dann müssen wir die Steuerung umprogrammieren.» «Findest du Violett die passende Farbe für unsere Zielgruppe?» «Das Spiel wirkt besser in 3-D.» Fabienne Osterwalder und Patricia Pollinger diskutieren über ihr neues Spiel mitten im kreativen Chaos des Game-Labors der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK). An einer Wand stapeln sich diverse Konsolenspiele. Dazwischen – wie ein Aussenseiter – stehen ein einsamer Joystick und ein alter Gameboy. Die Game-Poster an den Wänden erinnern an das Zimmer eines Teenagers. Weitere Studierende fachsimpeln gemeinsam oder programmieren an ihren Computern neue Spiele. Die zwei jungen Frauen sitzen an ihrer Bachelorarbeit. Sie haben sich in den letzten fünf Semestern intensiv mit Spielen aller Art auseinandergesetzt. Spiele analysieren Die Studienrichtung «Game Design» gibt es erst seit zehn Jahren an der ZHdK. Am Anfang lag der Fokus eher in Richtung 5 I 2014 der arbeitsmarkt F O K U S Spiele STUDIENRICHTUNG GAME DESIGNER Von Analyse bis Animation Spass und Unterhaltung. Heute sind zudem die sogenannten «Serious Games» etabliert und werden in unterschiedlichsten, interdisziplinären Projekten entwickelt. Zu diesen «ernsthaften Spielen» gehören zum Beispiel Wissensspiele wie Quiz oder E-Learning-Spiele sowie bewegungsgesteuerte Games, die zur Bewegung animieren und so die Fitness des Spielenden unbewusst verbessert (siehe Artikel Seite 32). Der Spassfaktor steht auch hier im Vordergrund. Da stellt sich die Frage, ob das Studium verspielt ist. «Im ersten Semester haben wir tatsächlich viel gespielt. Aber nicht nur um des Spielens willen, sondern um die Spiele zu analysieren und zu lernen, was sie ausmacht», sagt Fabienne Osterwalder. «Es wird also schnell ernst», ergänzt Patricia Pollinger. Die angehenden Game Designer kommen aus unterschiedlichen beruflichen Richtungen. Fabienne Osterwalder ist Grafikerin. Ausschlaggebend war für die 28-Jährige, dass das vielseitige Studium ihre Interessen weitgehend abdeckt. «Ich illustriere und schreibe sehr gern. Spielen ist eine weitere Leidenschaft.» Patricia Pollinger war Fachbuchhändlerin. Sie holte das Gymnasium mit dem Ziel nach, etwas Wissenschaftliches zu studieren. Nach einem Gespräch mit einer Game Designerin änderte die 29-Jährige ihren Plan. «Es war ein Kurzschlussentscheid, den ich noch keine Sekunde bereut habe. Ich möchte gerne therapeutische Spiele entwickeln.» « SE R I O US G A M E S» IN D ER FO RS C H UNG Wenn Spiele einen bestimmten Zweck erfüllen Anna Lisa Martin und Viktoria Kluckner sind an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) als Senior Researcher in unterschiedlichen Projekten tätig. Aktuell erarbeiten sie zusammen mit Studenten bewegungsgesteuerte Games, die als Fitnesstraining für Kinder und Jugendliche eingesetzt werden können, sogenannte Serious Games. Seit 2004 bietet die Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) den Studiengang «Game Designer» an. Der Bachelor dauert sechs Semester, der Master drei weitere Semester. Das Studium ist generalistisch angelegt. Game Design Projects Game Business Game Culture Storytelling Game Engine Programming Game Mechanics Programming Studienfächer Game Conception Usability Design Game Analysis Media Management Character Design 3D Modelling & Animation Visual Technics Ausbildung zu Generalisten Spiele zu entwickeln, hat viel mit Fantasie zu tun. «Aber ohne das Handwerk nützt sie uns nichts», sagt Patricia Pollinger. Neben der Kreativität ist logisches Denken eine wichtige Eigenschaft der Game Designer. Sie müssen die Idee in die Realität umsetzen. «Bevor wir ans Programmieren gehen, Game entwickeln – hat sich in den letzten Jah- geht. So sollen ein andauernder Spielfluss (Flow) ren viel getan. Die Studierenden lernen nicht sowie ein grösserer Spielspass generiert werden. nur, wie sie ein unterhaltsames Spiel kreieren können, sondern setzen sich auch mit dem Sogenannte «Egoshooter», wo ein Effekt eines Spiels auseinander. Der Sektor einzelner Spieler feindliche Kreatu- «Serious Games» ist neben dem weiterhin ren bekämpft, gelten als gewaltver- sehr präsenten Bereich der kommerziellen herrlichend und sollen sich negativ Games wichtiger geworden. auf den Spieler auswirken. Unterstützen Sie diese Aussage? Was verstehen Sie unter einem Anna Lisa Martin: So generell kann diese «Serious Game»? Frage nicht beantwortet werden. Studien Viktoria Kluckner: Ein Spiel, das eine ernst- haben belegt, dass Egoshooter-Games bei- hafte Absicht hat. Mit anderen Worten: wenn spielsweise einen positiven Effekt auf die spielerisch gelernt oder auch motiviert wird. Reaktionsgeschwindigkeit und das räumliche «Serious Games» entstehen in Zusammenar- Orientierungsvermögen der Spieler haben. beit von Game Designern mit Experten aus Man könnte also ganz provokativ behaupten, allen denkbaren Disziplinen. Gemeinsam dass auch diese Spiele gewissermassen erarbeiten sie ein Spiel, das zum Beispiel eine «Serious Games» sind. Ich denke aber, dass monotone Trainingseinheit effektiver und der wirtschaftliche Gedanke beim Realisieren attraktiver gestaltet. dieses Game-Genres ganz klar überwiegt. Anna Lisa Martin: Seit 2008 arbeitet die Vertiefung Game Design mit dem Rehabilitations- Wie steht die Schweiz im interna- zentrum in Affoltern am Albis (siehe Artikel Sei- tionalen Vergleich bei den «Serious te 32) zusammen. Gerade im therapeutischen Games» da? Umfeld bieten sich die sogenannten Rehabilita- Anna Lisa Martin: Die USA sind in der unter- tions-Games als optimale Ergänzung zu tradi- haltenden Game-Industrie führend. Dort sind tionellen Therapieformen an. Nicht nur Kinder, die grössten Produzenten und die meisten Inves- Die Studienrichtung Game Design in sondern auch Erwachsene und Senioren sind toren. In der Erforschung von Games sind die der Schweiz ist noch relativ jung, die nachweislich motivierter, wenn sie monotone Niederlande sehr weit vorne. Wir können aber ZHdK bietet sie seit 2004 an. Hat sie Therapien spielerisch praktizieren können. behaupten, dass die Vertiefung Game Design sich in den letzten Jahren verändert? Anna Lisa Martin: Ja, sehr. Gerade in Richtung und ihre Studenten und Absolventen in all dieWelches ist die neuste Entwicklung? sen Gebieten international ebenfalls ein sehr der interdisziplinären Game-Projekte – also Viktoria Kluckner: Neu sind beispielsweise gutes Ansehen geniessen. Besonders im Bereich wenn zum Beispiel Psychologen, Bewegungs- adaptive Games. Das heisst, dass das Spiel auf audio-visuell anspruchsvolle «Serious Games» therapeuten und Ingenieure zusammen ein die individuellen Bedürfnisse des Spielers ein- setzen wir innovative Standards und Trends. F O K U S Spiele machen wir einen Prototyp aus Papier – eine Art reale Version des Spiels. Meistens verwenden wir einfache Materialien wie Papier oder Stift und spielen dann selbst mit unserem Entwurf. So können wir die Regeln und ihren Sinn überprüfen und sehen, ob das Spiel Spass macht», sagt Patricia Pollinger. Das Studium ist umfassend aufgebaut. Zu den Studienfächern gehört unter anderem das Storytelling, die Kunst, eine Geschichte interessant aufzubauen und zu erzählen. Weiter lernen sie mit Game Conception, ein Spiel so zu konzipieren, dass der Aufbau aufgeht. Oder – damit die Umsetzung grafisch ansprechend daherkommt – Visual Technics. «Wir werden hier zu Generalisten ausgebildet. Das heisst, wir lernen alles rund um das Entstehen eines Spiels. Von der Konzeption über 2-D- und 3-D-Design bis hin zur Programmierung», erklärt Patricia Pollinger. «Wenn ich aber ein grösseres Game entwickeln möchte, würde ich allenfalls einen 3-D-Spezialisten hinzuziehen oder einen Programmierer. Wir sehen uns auch als Bindeglied zwischen Experten und sorgen dafür, dass sich beide Seiten verstehen.» Wenig bekannter Beruf «Aber nicht nur das», ergänzt Fabienne Osterwalder. «Wir können Klarheit schaffen. Etwa, wenn jemand ein Game zu einem bestimmten Thema und mit einem bestimmten Zweck will, aber nicht weiss, was alles möglich ist.» Eine Firma möchte beispielsweise ein Game entwickeln lassen. «Da spielt der visuelle Auftritt des Auftraggebers eine grosse Rolle. Die Firma muss aus dem Game ersichtlich sein. Vielleicht weiss der Auftraggeber schon, was für einen Avatar, also welche virtuelle Spielfigur, er möchte. Oder die Art des Games: Soll es ein puzzleartiges Spiel sein, wie ‹Tetris›, oder eher ein sogenanntes Jump & Run, wie man es von den ‹Mario-Games› kennt?», sagt Patricia Pollinger. Ideen seien meistens mehr als genug da. Die Einschränkungen sowie den Zeitrahmen und das Budget geben die Auftraggeber vor. Im Sommer kommen zusammen mit Fabienne Osterwalder und Patricia Pollinger rund 20 neue Game Designer auf den Arbeitsmarkt. Eine Berufsbezeichnung, die in der Jobbörse nicht sehr häufig ausgeschrieben ist. «Wir müssen den Unternehmen zuerst mitteilen, dass sie uns brauchen», sagt Patricia Pollinger lachend. MEIN LIEBLINGSSPIEL MEIN LIEBLINGSSPIEL «Der Gameboy war mein erstes digitales Spielzeug und begleitet mich heute noch auf Reisen. Ein Kult-Game.» «‹Kinect Adventure› ist ein tolles Spiel, weil ich beim Spielen nicht nur den Kopf, sondern auch den Körper fordern kann.» Viktoria Kluckner, 32, Institut für Designforschung, ZHdK Anna Lisa Martin, 29, Institut für Designforschung & Vertiefung Game Design, ZHdK MEIN LIEBLINGSSPIEL Markt mit Potenzial Die grössten Game-Produzenten sind in den USA. Weder Fabienne Osterwalder noch Patricia Pollinger sehen ihre Zukunft als kleines Rädchen in der grossen Game-Industrie. «Um Erfahrungen zu sammeln und auch als Referenz könnte ich mir schon vorstellen, für die Grossen zu arbeiten», führt Fabienne Osterwalder aus. «Aber ich sehe meine Rolle eher im Bereich der Independent Games. Ich möchte meine eigenen Ideen umsetzen und von A bis Z bei der Entwicklung meiner Games dabei sein.» Die Unterhaltungsindustrie in der Schweiz hat an einem kleinen Ort Platz. Bis jetzt gibt es keine grossen Herausgeber von Videospielen, und auch die Investoren halten sich zurück. Obwohl sich auf dem Sektor viel Geld machen liesse. Die Prognose der Spielindustrie verspricht einen weltweiten Umsatz mit Videogames von 27 Milliarden Franken in diesem Jahr. Im Vergleich dazu: Die Filmindustrie prognostiziert für das Jahr 2014 lediglich 4,3 Milliarden Franken. «Das Nintendo-Game ‹Prince of Persia› von 1992 war meine erste grosse Liebe.» Patricia Pollinger, 29, Studentin ZHdK 5 I 2014 der arbeitsmarkt F O K U S Spiele S E R I O U S G A M E S I N D E R R E H A B I L I TAT I O N Laufen lernen mit dem Avatar In der Therapie von Kindern verwendet das Rehabilitationszentrum Affoltern am Albis «Serious Games». Die computergestützten Geräte helfen den Kindern, ihren Bewegungsapparat spielend zu trainieren. Forscher und Game Designer arbeiten bei der Entwicklung Hand in Hand. Text Vanessa Kuhn Fotos Simone Gloor Z wei weisse Roboterbeine hängen über einem Laufband, davor eine Art Hängesitz. Auf den ersten Blick wirken die Apparate im Trainingsraum des Rehabilitationszentrums Affoltern am Albis (RZA) des Kinderspitals Zürich etwas beängstigend. Es sind Bewegungsroboter mit Namen Lokomat. «Die Roboterbeine werden an den Beinen des Kindes befestigt. Kinder, die eine Einschränkung des Bewegungsapparates haben, lernen so korrekte Bewegungsabläufe», erklärt Huub van Hedel, Leiter Forschung und Therapien am RZA. Der Lokomat wird individuell auf das Kind eingestellt. Sensoren messen, wie stark sich der Patient selber in die Übungen einbringt. Je nach Bedarf unterstützt der Lokomat das Kind mehr oder weniger, indem er das Körpergewicht unterschiedlich entlastet. Doch der Roboter kann mehr: «Um die Wiederholungen spielerisch zu gestalten und die Kinder besser zu motivieren, ist der Lokomat mit einem Serious Game verbunden», sagt Huub van Hedel. Früher sah der Patient auf einem Bildschirm ein schlichtes Smiley. Je intensiver er selber aktiv war, umso grösser wurde das Lachen. Dann ging das Rehazentrum eine Zusammenarbeit mit den Game Designern der Zürcher Hochschule der Künste ein (siehe Seite 29). Heute zeigt der Bildschirm eine ausserirdische Landschaft. Das Kind wird als kleiner Avatar dargestellt, der auf seiner Reise über den Planeten Blumen pflücken muss. Je mehr Kraft und Eigeninitiative das Kind aufbringt, umso grösser und schneller wird der Avatar. Auf dem Bildschirm sieht das Kind den Fortschritt des Spiels. Durch das Spiel angetrieben, wiederholt es nicht nur die Übungen am Roboter öfter. Unter den kleinen Patienten entsteht eine Art Wettbewerb. Sie vergleichen die Punktezahl und spornen sich so gegenseitig an. Roboter ersetzt Mensch nicht Spiele in der Therapie einzusetzen, ist nicht neu. Aber die Computer- und Robotertechnologien erlauben eine andere Herangehensweise. «Rehabilitationstherapien mit Robotern kennen wir seit zirka zehn Jahren. Wir sind dabei, diese «Am Anfang war bei einigen die Angst da, dass Roboter die Therapeuten ersetzen.» immer weiter auszubauen und den Einsatz auf andere Gebiete auszuweiten.» In einem anderen Raum stehen weitere kleinere Roboter, die auf die Therapie von Händen und Oberarmen spezialisiert sind. Auch sie funktionieren mit Serious Games. In den ersten «Games» übten die Patienten vor allem Alltagssituationen wie Zähne putzen oder Karotten schälen. «Seit wir unterhaltsame Serious Games einsetzen, ist die Motivation, die Übungen zu machen, viel grösser.» Aber: «Alltagssituationen am Roboter mit einem Computerspiel zu üben oder in der Realität selbständig – dazwischen liegen Welten.» Die Bewegungen, die die Patienten am der arbeitsmarkt 5 I 2014 Der Lokomat unterstützt die kleinen Patienten dabei, korrekte Bewegungsabläufe zu lernen. F O K U S Spiele Teure Spielereien KAPAZITÄT Das Rehabilitationszen- trum Affoltern am Albis (RZA) des Kinderspitals Zürich führt drei Bettenstationen mit 47 Betten für Kinder und Jugendliche, die in unterschiedliche Bereiche der Rehabilitation aufgeteilt sind. Das RZA bietet die Therapien auch ambulant an. F I N A N Z I E R U N G Die Forschungs- gruppe des RZA gehört zum Kinderspital Zürich, finanziert sich aber zu 100 Prozent über Forschungsgelder, Stiftungen und Sponsoren. R O B O T E R T H E R A P I E Ein Lokomat kostet rund eine halbe Million Franken. Eine Therapieeinheit dauert zirka 45 Minuten, die Auslastung ist sehr hoch. ZERTIFIZIERUNG Die selbstentwickel- ten computergestützten Therapie systeme werden durch die Bundesbehörde Swissmedic und die jeweilige kantonale Ethikkommission in einem ausführlichen Verfahren begutachtet und bewilligt. Diese überprüfen die Geräte auf Sicherheit und ethische Vorgaben für Forschung am Menschen. Besonders streng sind die Richtlinien bei Therapiemethoden für Kinder. F O K U S Spiele In Kombination mit einem «Serious Game» machen sich die Übungen leichter (links). Eine Therapeutin stellt die Roboterbeine des Lokomats auf die Bedürfnisse des Patienten ein. Computer lernen, setzen sie mit den Therapeuten zusammen im Alltag um. Zusammenarbeit verschiedener Disziplinen Die Therapeuten des Rehabilitationszentrums haben die Neuerung durch Roboter und Serious Games in der Rehabilitation gut aufgenommen. «Am Anfang war bei einigen die Angst da, dass die Roboter die Therapeuten ersetzen. Das trifft nicht zu. Wir brauchen immer noch dieselbe Anzahl an qualifiziertem Personal wie vorher. Die Therapien sind eher noch anspruchsvoller geworden, da wir ein sehr hochstehendes Training anbieten.» MEIN LIEBLINGSSPIEL «Im Moment renne ich am liebsten mit meinen Kindern, zwei fünfjährigen Buben und einer bald zweijährigen Tochter, dem Ball nach.» Huub van Hedel, 41, Leiter Forschung und Therapien RZA der arbeitsmarkt 5 I 2014 Das Forschungsteam im Rehabilitationszentrum besteht aus rund 20 Leuten. Darunter befinden sich Bewegungswissenschaftler, Physio- und Ergotherapeuten, Neuropsychologen und Ingenieure. Auch Studenten der Zürcher Hochschule der Künste mit Studienrichtung Game Design sind immer wieder im RZA anzutreffen. Sie lernen vor Ort den klinischen Alltag besser verstehen und erfahren, wie die Kinder die Serious Games spielen. Auch in der Entwicklung solch komplexer Therapiemöglichkeiten wie des Lokomaten arbeiten viele Spezialisten zusammen, von Ingenieuren über Neurowissenschaftler bis hin zu den Game Designern und den Spitälern, die die Geräte einsetzen. Diese Zusammenarbeit funktioniert laut Huub van Hedel sehr gut, auch wenn nicht alle immer die gleiche Sprache sprechen. «Redet ein Ingenieur von ‹aktiv›, meint er das Gerät, der Therapeut hingegen den Patienten. Sind diese Missverständnisse aus dem Weg geräumt, funktioniert’s.» Das Niveau ist hoch; selbst Spitäler in den USA, die technologisch gesehen häufig einen Schritt voraus sind, seien sehr interessiert an den Forschungsarbeiten und den therapeutischen Anwendungen verschiedener Systeme. Durch die digitale Entwicklung wird der Stellenwert dieser Therapiearten zunehmen, für Erwachsene wie für Kinder. Bereits heute hätten Letztere sehr hohe Ansprüche. Die meisten Kinder haben zuhause eine Konsole und kennen sich mit herkömmlichen Spielen aus. «Die Therapie muss attraktiv bleiben. Nur so haben die Spiele einen motivierenden Effekt auf das Kind. Wir sind überzeugt, dass hier noch viel Potenzial vorhanden ist.» Erfolgreich in Kombination Der Erfolg der computergestützten Therapie bei Kindern, zum Beispiel am Lokomat, ist schwierig zu belegen. «Die Patienten sind alle auf einer unterschiedlichen Therapiestufe, und die Rehabilitation ist individuell an sie angepasst. Da es keine standardisierten Abläufe sind, können wir den Erfolg nur schwer abschätzen», räumt Huub van Hedel ein. Doch die Unterstützung des Roboters verhindere, dass die Kinder in ein ungesundes Bewegungsmuster fallen. «Wir würden sehr gerne mehr Informationen aus den Therapien ziehen, aber wir möchten verhindern, dass das Kind von oben bis unten verkabelt wird.» F O K U S Spiele S P I E L Z E U G H E R S T E L L E R Auf kleinen Schienen Die romantische Welt der Modelleisenbahnen: ein originalgetreuer IC2000 der SBB in voller Fahrt. Text Florian Schaffner Fotos Simone Gloor D ie Ampeln wechseln auf Grün. Die Bremsen der Lokomotive lösen sich mit einem dumpfen Pfiff. Langsam kommt die Zugformation ins Rollen, steigert nach den ersten Weichen ihr Tempo, bis sie auf dem geraden Schienennetz ihre Höchstgeschwindigkeit erreicht. In den Waggons sitzen Figuren, welche dank der Innenbeleuchtung keine Probleme hätten, ihre Tageszeitung zu lesen. Hinter den Schienen am Tischrand steht ein Mann an der Lenkzentrale und steuert die Modelleisenbahn: Heinz Urech im Showroom seines Unternehmens HAG Modelleisenbahnen in Stansstad (NW). Unverkennbar echt Die HAG produziert die Mercedes unter den Modelleisenbahnen. Aus der Nähe betrachtet, ist bei den Modelllokomo- tiven kein Unterschied zu den Originalen auszumachen. Besonders stolz ist Heinz Urech auf das Lichtkonzept, welches genau mit dem der SBB übereinstimmt. Kleine LED-Lämpchen leuchten mit Hilfe der Software die Innenräume der Zugwaggons sorgfältig aus. Auch die Front- und Rückscheinwerfer der Züge lassen sich realitätsgetreu steuern. Der Luftkompressor und der bekannte Pfiff einer Lokomotive sind originalgetreu. Die Züge wirken niedlich, wenn sie über die feinen Gleise gleiten. Sogar der neue Starbucks-Wagen fährt auf den Modellgleisen. «Das Logo muss exakt auf dem Wagen platziert sein», erklärt Heinz Urech. Für jedes Logo, das die HAG auf ihre Züge druckt, braucht sie eine Freigabe des betreffenden Unternehmens. Ein junger Mitarbeiter sitzt im Showroom vor den Gleisen und der Lenkzentrale, setzt jede Lokomotive einzeln auf die 5 I 2014 der arbeitsmarkt F O K U S Spiele Genauigkeit ist eine wichtige Voraussetzung für ein einwandfreies Modell. Die Mitarbeitenden lackieren, beschriften und montieren Lok-Bauteile präzise. MEIN LIEBLINGSSPIEL «Seit ich als kleines Kind das erste Mal damit spielte, sind Modelleisenbahnen meine liebste Freizeitbeschäftigung.» Heinz Urech, 55, Inhaber HAG Schienen und überprüft die Funktionen. Alle Steuerwagen werden vor der Auslieferung von Hand getestet. Jede Maschine, die ein Kunde kauft, muss einwandfrei funktionieren. Die HAG stellt nur Schweizer Züge her. Der Massstab von 1:87 macht die Produktion zu einer Herausforderung. Mit den SBB hat die HAG einen Lizenzvertrag, von ihnen bekommt sie die Pläne der Maschinen. Die SBB legen viel Wert darauf, dass die Züge so echt wie möglich aussehen. Die Lenkzentrale läuft vollumfänglich digital, zeitgemäss kann sie mit einem Tablet oder dem Smartphone gekoppelt werden. Mit der ausgeklügelten Software lassen sich mehrere Lokomotiven gleichzeitig steuern. Alle Leuchtsignale und Toneffekte kann der Modelleisenbahnfahrer über einen Touchscreen regeln. Ein Decoder in den Lokomotiven empfängt die Befehle der Lenkzentrale. Qualität als höchstes Gebot «40 Prozent unserer Kunden sammeln die Loks, 60 Prozent spielen damit», schätzt Heinz Urech. Viele seien Nietenzähler, achteten genau darauf, dass sich alle Nieten, alle Fenster und alle Scheinwerfer und Türen an der richtigen Stelle befinden und der Massstab eingehalten wurde. «Auch ich wurde zu einem Nietenzähler», scherzt Heinz Urech. Nur so kann er dem hohen Anspruch seiner Kunden gerecht werden. Der besondere Stolz des Unternehmers ist die Werbelok der SBB, die Re 460, im Volksmund besser bekannt als Lok 2000. Von ihr produziert die HAG zurzeit eine exklusive Lokomotive mit dem Coop-Werbeaufdruck «MiiNi REGiON». In den Waggons fahren kleine Passagiere mit. Bei der Produktion werden der arbeitsmarkt 5 I 2014 die Zugfahrer immer auf verschiedenen Sitzen platziert, so ist jede Zugformation ein Unikat. Die Herstellung der HAG-Lokomotiven ist in der Produktionshalle im Industriegebiet zusammengefasst. An den Tischen sitzen drei Mitarbeiterinnen und setzen die winzigen Einzelteile zu Lokomotiven und Waggons zusammen. Hierbei ist Fingerspitzengefühl gefragt. Die Schnittstellen der Stromkabel sind nur mit ruhiger Hand zu löten. «Meine Mitarbeitenden müssen eine Leidenschaft für die Modelleisenbahn entwickeln», sagt Heinz Urech. In einem eigenen Raum im hinteren Teil der Halle besprüht eine junge Lackiererin die filigranen Lokgehäuse mit Farbe. Mit ihrem weissen Schutzanzug und einer Atemschutzmaske erinnert sie an eine Astronautin. Ihr Arbeitsplatz ist mit dicken, durchsichtigen Plastikplachen geschützt, sodass kein Staubkorn den Weg auf eine frisch lackierte Lokomotive findet. Jedes Gehäuse nimmt sie einzeln in die Hand, um es flächendeckend mit der Spritzpistole einzufärben. 1500 Stück bemalt sie so jedes Jahr, darunter auch Fantasiedrucke. Nachdem der Lack auf den Gehäusen getrocknet ist, kontrolliert ihn die Lackiererin nochmals auf Ungenauigkeiten. Vom Lackieren kommen die Modelle zum Tampondruck. Mit weichen Tamponkissen platziert der Druckspezialist alle Nummern und Schriftzüge präzise auf die Gehäuse. «Der Kunde möchte alles lesen können, auch wenn er dazu eine Lupe braucht», sagt der zuständige Mitarbeiter. Danach erhalten die Gehäuse einen Motor und den Computerchip. Auch Umrüstungen auf das neue Lichtsystem der SBB nehmen die Mitarbeitenden vor. Nach dem Funktionstest ist die Lokomotive bereit, verpackt zu werden. In der Halle herrscht eine konzentrierte Atmosphäre. Eine Lokomotive der HAG Modelleisenbahnen kostet zwischen 700 und 1200 Franken. Das mag ein stolzer Preis sein. «40 Prozent unserer Kunden sammeln die Loks, 60 Prozent spielen damit.» Jedoch kommt das Material für die Produktion zu 75 Prozent aus der Schweiz, und die Produktion findet vollumfänglich in Stansstad statt. Die einzige Schweizer Serienherstellerin von Modelleisenbahnen liefert ihre Zugformationen ins Ausland, von den USA bis Japan, und in der Schweiz zählt ihr Händlernetz 80 Verkaufsstellen. Den Direktverkauf ab Fabrikladen hat sie mit dem Umzug nach Stansstad eingestellt. «Viele unserer Kunden sind pensioniert», sagt Heinz Urech. Dies hatte zur Folge, dass seine Mitarbeitenden oft unerwarteten Besuch von leidenschaftlichen Sammlern erhielten, die spontan in der Produktionshalle vorbeischauten. «Das hat uns viel Zeit gekostet.» Mit Voranmeldung kann man die Produktionsstätte noch heute besichtigen. Im Showroom Jeder Besucher darf im Showroom der Firma die Modellbahn steuern. Der Spassfaktor schnellt in die Höhe, während die Loks über die Schienen gleiten. Durch Knopfdruck begin- F O K U S Spiele nen die Loks zu hupen und die Lichtsignale zu blinken. «Meist vergehen keine fünf Minuten, bis sich der Modellbahnvirus beim Spielen überträgt.» Heinz Urech lenkt bei sich zuhause beinahe jedes Wochenende seine Modellbahn. «Wirklich zum Modelleisenbahnfahren komme ich, wenn ich Besuch habe.» In der übrigen Freizeit bastelt er an seinen Zügen. Bereits als Vierjähriger hatte er begonnen, mit Modelleisenbahnen zu spielen. Sein Traumberuf stand schnell fest: Lokführer. Diesen konnte er «Auch ich wurde Nietenzähler.» zu einem nicht erlernen: Bei der Aushebung für das Militär als untauglich eingestuft, fehlte ihm aus Sicht der SBB damit die Voraussetzung dafür. «Das war ein Riesenfrust», erinnert sich Heinz Urech. Mit ihm hat der Modellbahnmarkt einen Unternehmer mit Herzblut gefunden. «Einige Bahnfahrer interessiert mehr das Technische, andere legen Wert auf eine schön gestaltete Landschaft.» Er gehöre zu Ersteren, anders als ein Kunde, der alle Regionen, in denen er in seinem Leben gewohnt hat, in einer Modellbahnanlage nachstellte und ganze Landschaften nachbaute. Nicht nur die kleinen Bahnen interessieren Heinz Urech, auch die grossen haben es ihm angetan. «Das Schienennetz der Schweiz ist genial.» Obwohl er einen schönen BMW fährt, lässt er diesen öfters stehen und fährt mit dem Zug. HAG Modelleisenbahnen G R Ü N D U N G 1942 gründeten die Gebrüder Gahler ihr Familienunternehmen in St. Gallen. 2013 stand es vor dem Konkurs. Heinz Urech, 55, der mit seiner Firma Polytrona bereits Leiterplatten für HAG-Modelleisenbahnen lieferte, übernahm die Firma und verlegte den Sitz nach Stansstad (NW). P R O D U K T E Zu Beginn stellte das Unternehmen eigene Fantasiemodelle her. Nach einigen Jahren wechselte die Modellrichtung zu Originaltreue und Funktionalität. Kontinuierlich baute die HAG ihre Produktepalette aus. Heute besteht das Sortiment aus originalgetreuen SBB-Lokomotiven und -Wagen. KUNDSCHAFT Die HAG verkauft ihre Modelle auch ins Ausland, von den USA bis Japan. PREIS Eine Lokomotive kostet rund 1000 Franken. MITARBEITENDE Die HAG beschäftigt zwölf Mitarbeitende, davon sind zwei Lehrlinge. 5 I 2014 der arbeitsmarkt