Der Turm des Johannes - Der Weg - Das
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Der Turm des Johannes - Der Weg - Das
Hubert Gaisbauer Festvortrag im Bildungshaus St. Hippolyt am Abend des 50. Todestags von Johannes XXIII. am 3. Juni 2013 „Der Turm des Johannes. Sein Glaube war: Dein Wille geschehe“ Prolog - Der Turm Das Leben des Angelo Giuseppe Roncalli ist befestigt von drei Türmen, einem romanischen Glockenturm, einem gotischenWappenturm und einem mittelalterlichen Befestigungsturm aus der Renaissance. Hoch über Sotto il Monte, seinem Geburtsort, wacht der Rest der Chiesa di San Giovanni, der ehemaligen Kirche, von der heute nur mehr dieser massive Glockenturm existiert. Die Kirche war 1904 abgerissen worden – im selben Jahr in dem Angelo Roncalli in Rom zum Priester geweiht wurde. Doch der Turm steht bis heute, liebevoll restauriert von den Gebirgsjägern von Sotto il Monte, denen der Papst 1959 in einer eigens anberaumten Audienz aufgetragen hatte: „Hütet mir meinen schöne San Giovanni-Turm!“ Das angeblich letzte Foto, das von Papa Giovanni vicesimoterzo existiert, zeigt ihn – mit Camauro – vor einem Gemälde dieses Turmes. Das Wappen Roncallis – Silberner Turm auf rot-weißem Grund – geht zurück auf einen Vorfahren namens Martino –oder Maitino – Roncalli im 15. Jahrhundert, der an den ursprünglichen Mauern der Casa Maitino ein Wappenzeichen mit diesem Turm anbringen ließ, das bei Restaurierungsarbeiten freigelegt worden war. Dieses kurz Camaitino genannte Haus – das der Erzbischof Roncalli, als er ins Ausland geschickt wurde, als sein Heimatdomizil und Feriensitz gemietet hatte – ist heute ein kleines Papa Giovanni-Museum und die Wirkungsstätte des 98-jährigen Erzbischofs Capovilla, des Sekretärs, der dort unermüdlich im Andenken an seinen verehrten Chef wirkt. Dass Roncalli, der Historiker, diesen Turm zu seinem Wappenzeichen erhob, entspricht nach seinen eigenen Aussagen „dem leidenschaftlichen und liebevollen Drang des Erforschens der Heimatgeschichte und keinesfalls dem Verlangen, sich einen adeligen Ursprung zuzulegen“ (aus der Skizze zu einer Selbstbiographie, 1959). Natürlich hat nicht Roncalli sein Wappen dem Wappen Sotto il Montes entlehnt (das auch den Turm der Roncalli im Mittelfeld führt), sondern umgekehrt. Das Faible für einen Turm hat Don Angelo auch als Papst nicht losgelassen; in den Vatikanischen Gärten ließ er einen alten leer stehenden Wehrturm an der leoninischen Mauer – la torre di San Givanni – als ganz persönliche Rückzugsund Einkehrmöglichkeit renovieren und ausstatten. Dorthin ging er um zu beten, zu lesen – und zu arbeiten, z. B. an der Konzils-Eröffnungsansprache. Dieser Turm wird ebenfalls seit jeher „Turm des hl. Johannes“ genannt, weil einst über dem Eingang die Bilder von den zwei Johannes zu finden waren, dem Täufer und dem Evangelisten, dem Propheten, der auf Christus weist – und dem Lieblingsjünger Jesu und Verkünder der Liebe Gottes. Eintragung – spätnachts – im Tageskalender am 11. September 1962: „In aller Frühe und schweigend begleite ich Msgr. Capovilla bei der Überführung der heiligsten Eucharistie von der Vatikankapelle nach der Kapelle im ‹Turm San Giovanni›, wo ich meine persönlichen vorkonziliaren Einkehrtage glücklich beginne.“ Für Johannes XXIII., der ja von den Römern auch gerne Giovanni fuori le mura genannt wurde (in Anspielung auf Johannes‘ Ausflüge in die Vorstädte), war der zeitweilige Rückzug in den alten Turm kein Rückzug in eine „Festungskirche“, im Gegenteil. Gerade in seinen späten und letzten Äußerungen zeigte sich eine Haltung des Verzichts „auf den Schutz durch die eigenen, zur Verteidigung gezogenen Grenzen“ und der „Suche nach den Menschen – dort, wo sie wirklich waren“. 1 „Wer glaubt, zittert nicht“, dieses Jesajawort2 wird in den zahllosen Sammlungen von Roncalli-Zitaten diesem gern in den Mund gelegt. In einer anderen Übersetzung, wo vom „fest verankerten kostbaren Eckstein“, die Rede ist, heißt es „Wer glaubt, bleibt bestehen“ – und lässt an den Turm im Roncalli-Wappen denken: Roncallis Turm war sein Glaube. Deshalb passt auch das Wappen so gut zu ihm. Ähnliches hat ja auch Hannah Arendt empfunden, eine der wichtigsten politischen Theoretikerinnen des 20. Jahrhunderts, als sie 1965 ihre „Bemerkungen zum Geistlichen Tagebuch Angelo Giuseppe Roncalli“ 3 verfasste. „Welch ein merkwürdiges enttäuschendes und merkwürdig faszinierendes Buch!“, schrieb sie. Vermutlich hatte sie, die Jüdin, die Religion schätzte, ihr aber dennoch reserviert gegenüberstand, in dem als Sensation gepriesenen Buch Erhellendes über das „Geheimnis“ des charismatischen Papstes erwartet. 1 Nürnberger 15 2 Jes 28,16 3 Hannah Arendt, "The Christian Pope," New York Review of Books 4/10 (17 June 1965), deutsch im MERKUR Nr. 2/7, April 1966 Gefunden hat sie aber – so Hanna Arendt wörtlich – „ endlos wiederholte fromme Ergüsse und Selbstermahnungen…“. Fasziniert war Hannah Arend aber vom Stolz dieses Angelo Roncalli, „nie irgend eine Versuchung zum Ungehorsam verspürt“ zu haben. Fasziniert gleichzeitig aber auch von der Selbstsicherheit, wie er keinen Augenblick sein eigenes Urteil aufgab, wenn er dem gehorchte, was für ihn ja nicht der Wille seiner Vorgesetzten war, sondern der Wille Gottes. „Sein Glaube war“, resümiert beeindruckt die Philosophin, „sein Glaube war: Dein Wille geschehe! Dieser selbe Glaube gab ihm sein größtes Wort ein, als er im Sterben lag: Jeder Tag ist ein guter Tag geboren zu werden, jeder Tag ist ein guter Tag zu sterben.“ Der Weg Vom Bauernbuben Angelino aus Sotto il Monte zum „vergessenen Gesandten“ am Rande Europas, vom leidenschaftlichen Kirchenhistoriker zum seligen Konzilspapst Johannes XXIII.: Personen, Ereignisse, Erkenntnisse. Den Weg vom Bauernbuben zum Papst, il cammino, kann man auf zwei Spuren verfolgen, einer äußeren und einer inneren Spur. Ich folge einmal – natürlich in der gebotenen Kürze - der äußeren. Geboren als viertes von dreizehn Kindern einer norditalienischen Landarbeiterfamilie, sogenannter mezzadri, Halbpächter, denen nichts gehörte, der magere landwirtschaftliche Ertrag wurde mit Seidenraupenzucht aufgebessert, die Geldnot war chronisch. Wie ein schmerzlicher Faden zieht sie sich durch den Briefwechsel Roncallis mit seiner Familie. Ein Leben lang hat er auch ohne romantische Verklärung von der „Würde“ der Armut gesprochen und hat sich mit Stolz zu seiner Familie bekannt. Kurz vor Eröffnung des Konzils sagte Johannes XXIII. in einer Radioansprache: „Die Kirche stellt sich dar als eine, die sie ist und sein will: nämlich die Kirche aller und besonders die Kirche der Armen.“ Barba Zaverio Als einflussreiche Gestalt im Familienverband stand wohl an erster Stelle der Großonkel Barba Zaverio, der – nachdem bei den Eltern ein neuer Erdenbürger - den Kleinen zu sich in die Kammer genommen hatte. Barba Zaverio war es, der Angelino beten und glauben gelehrt hat. Diese Erziehung ist so prägend, dass sich Roncalli mehr als siebzig Jahre später – als Papst in Rom – noch daran erinnern wird. Der 78-jährige Papst nennt Großonkel Zaverio „ein so wirksames Vorbild, dass der Vorrat an Erbauung nicht nur für einen zukünftigen Priester, sondern sogar für einen Bischof und Papst ausreichen konnte.“ Vielen materiellen Widerständen zum Trotz aber durch die Hartnäckigkeit des Taufpriesters Don Rebuzzini und der Mutter Marianna - und die Wohltätigkeit eines der Grundbesitzer, eines Domherrn von Bergamo, wurde für Angelo der Weg zum Priestertum geebnet. Der Seminarist entspricht auch allen in ihn gesetzten Erwartungen, wird im Juli 1904 zum Doktor der Theologie promoviert und am 10. August zum Priester geweiht. Der Bischofsekretär Kaum ein halbes Jahr nach der Priesterweihe wird der gerade 23 Jahre alte Don Angelo Roncalli Sekretär des neuen Bischofs von Bergamo Giacomo Maria Radini Tedeschi und bleibt es fast zehn heftige Jahre lang. Der Bauernsohn Roncalli – man nennt ihn bald „den Schatten des Löwen von Bergamo“ – hat bei dem weltgewandten Grafen Radini gelernt, dass die Kirche soziale Verantwortung hat, hat weites Denken, kulturelle Offenheit und Toleranz gelernt, hat gelernt, Beziehungen auf nationaler und internationaler Ebene zu knüpfen und zu pflegen, alles in allem: er wurde gefordert und gefördert. Das Vorwort zur Neuauflage 1963 der Biografie, die Roncalli 1916 nach dem Tod „seines“ Bischofs geschrieben hat, spricht vom Modell des Bischofs, nach dem „dieser Bischof von Rom [Roncalli], der er jetzt ist, sich unmerklich gebildet hat.“ 1914 beginnt mit dem Tod seines geliebten Mentors und Bischofs eine unruhige Phase, der Erste Weltkrieg bricht aus – und Roncalli wird Militärseelsorger und Feldkaplan, eine eindrückliche und bittere Lektion in verschiedenen Lazaretten. Nach dem Krieg ruft man ihn nach Rom, als Mitarbeiter an den Päpstlichen Missionswerken, verantwortlich für ganz Italien. Stets auf Reisen lernt er unterschiedliche pastorale Konzepte kennen und schließt wichtige Kontakte, vor allem mit sozial engagierten Bischöfen. Daneben – aber mit Begeisterung eine kurze Lehrtätigkeit als Professor der Patristik an der Lateranuniversität. Der vergessene Gesandte Dann, 1925, wieder eine abrupte Wendung: Pius XI. schickt den hoffnungsvollen Kirchenhistoriker Roncalli plötzlich und völlig unvermutet – im Rang eines Erzbischofs! – an den Rand Europas, nach Bulgarien. Dort ist er für zehn Jahre einer harten Prüfung ausgestzt - als „ein von Rom vergessener Erzbischof“, wie er gerne in dieser Zeit genannt wird. Zehn Jahre Bulgarien – auf Pferdewagen und Eselsrücken erkundet er die Dörfer seiner katholischen Schäfchen, ab 1935 weitere zehn Jahre Delegat in Istanbul mit zusätzlicher Beauftragung für Griechenland. Doch was hat Roncalli am Rande Europas - in Sofia, aber vor allem dann in Istanbul - nicht alles gelernt! Zu allererst die Kenntnis anderer Kulturen, Konfessionen und einer anderen Religion. In einer Biographie heißt es treffend: „Er war hier zwar, wie es schien, am Ende der katholischen Welt, aber mit seinen Erfahrungen seinen Auftraggebern in ihren geschützten vatikanischen Palästen um Längen voraus …“ Doch seine pastoralen Pläne und kirchenpolitischen Vorschläge, die einerseits den Status der Katholiken und andererseits das interkonfessionelle Klima verbessern sollten, wurden von Rom vielfach ignoriert. Roncalli lernte „am Rande Europas“, dass die Antwort auf eine glaubens- oder christentumsferne Umwelt nicht in der Ghettobildung liegen muss, sondern auch im Dialog der unterschiedlichen Konfessionen. Als die Administration Kemal Atatürks im Zuge der strikten Trennung von Religion und Staat das Tragen religiös motivierter Bekleidung verboten hatte, verließ er nicht das Land – wie manche Ordensgemeinschaften – sondern vertauschte widerspruchlos Talar und Bischofshut mit Gehrock und Melone und sah ein wenig aus wie ein wohlbeleibter Fabrikant. Von der neutralen Türkei aus lancierte er umfangreiche Hilfsprogramme für die hungernden Kinder im von Deutschland und Italien besetzten Griechenland. Seine Delegatur in Istanbul war schließlich auch die entscheidende Schaltstelle für den letzten Fluchtweg von Juden aus dem nazibesetzten Europa. Es wird bezeugt, dass Roncalli mindestens „24.000 Juden mit Kleidung, Geld und – gefälschten – Papieren“ zur Flucht verholfen hatte. Eine handschriftliche Notiz Roncallis vom 14. April 1943 in Istanbul lautet: „Arme Söhne Israels, ich höre täglich ihr Stöhnen und tue mein Bestes, um diesen Verwandten und Landsleuten Jesu zu helfen.“ Nuntius in Paris Über die völlig überraschende Bestellung Roncallis – um den Jahreswechsel 1944/45 – zum Apostolischen Nuntius in Paris gibt es viele Vermutungen, allesamt nicht sehr respektvoll. Von einer Notlösung war da die Rede – oder gar von einem subtilen Racheakt von Pius XII. an de Gaulle, der rigoros die Abberufung des früheren Nuntius Valeri wegen dessen Zusammenarbeit mit dem Vichy-Regime durchgesetzt hatte. Roncalli selber glaubte an die Notlösung und kommentierte seinen überraschenden Karrieresprung sarkastisch: „Wenn die Pferde fehlen, müssen eben die Esel laufen“ Für Roncalli bedeutete Paris Erprobung und Erfahrungen auf äußerst schwierigem diplomatischen Parkett in der labilen Nachkriegssituation, nicht nur dem Nuntius, sondern einem großen Teil des französischen Episkopats wurde Nähe zum Vichy-Regime vorgeworfen. Roncalli erreicht mit Bedacht und Zähigkeit eine – offenbar für alle Seiten – verträgliche Lösung. Statt der geforderten dreissig wurden nur drei Bischöfe aus ihrem Amt entfernt. Daneben völlig neue Erfahrungen mit der urbanen, modernen Welt, mit Experimenten in der Seelsorge wie sie die Arbeiterpriester versuchten, mit Säkularisierung und Laizismus, mit moderner Theologie ebenso wie mit atheistischem Intellektualismus. Robert Schuman, in wichtigen Regierungsämtern während der Nuntiatur Roncallis, sagte über ihn: „Er ist der einzige Mensch in Paris, in dessen Gegenwart man körperlich Frieden spürt.“ Endlich Seelsorger Als sich ein Ende seiner Frankreich-Mission abzeichnete, hatte er nur vor einem panische Angst, an die Römische Kurie versetzt zu werden. „Tagein tagaus von Sitzung zu Sitzung gehen, nein, da bin ich nicht gut, ich bin eigentlich Seelsorger.“ Glücklicherweise wurde er aber zum Patriarchen von Venedig ernannt, endlich wieder in der Heimat – noch dazu als Seelsorger! Bei seinem Einzug in die Lagunenstadt waren die Fenster des Rathauses geschlossen – veranlasst durch die starke kommunistische Fraktion. Einem Offiziellen, der sich dafür entschuldigte, sagte der neue Patriarch: „Wir werden versuchen, die Fenster da oben zu öffnen“. Roncalli stand im 72. Lebensjahr - und dachte, dass dies sein letzter Posten sein werde, also hielt er Ausschau nach seinem Platz in der Patriarchengruft. Er sollte sich täuschen. Am späten Nachmittag des 28. Oktober 1958 wird er zu Papst gewählt und nimmt den Namen Johannes XXIII. an; am Fest des heiligen Karl Borromäus wird er – damals noch! – gekrönt. Das Lebensbuch Und nun – ebenso gerafft und unvollständig – wichtige „innere“ Spuren auf diesem Weg. Nach dem plötzlichen Tod seines Taufpriesters und geistlichen Vorbildes in Sotto il Monte Don Rebuzzini konnte sich der 16-jährige Angelo eine Kostbarkeit sichern, die auch den späteren Erzbischof und Papst bis zu seinem Tod nicht verlassen sollte: die täglich von Don Rebuzzini verwendete Ausgabe der „Nachfolge Christi“ – De Imitatione Christi, von Thomas a Kempis, gedruckt zu Venedig 1745. Die Liebe zu dieser Schrift durchzieht Roncallis Leben. Er konnte – nach seinem Selbstzeugnis – ganze Kapitel daraus auswendig hersagen. Mehr als sechs Jahrzehnte hat sie ihn dann begleitet, bis in die letzten Tage seines irdischen Lebens, als im sein Sekretär Don Loris Capovilla immer wieder daraus vorlesen musste. Jedem, der zu ihm kam, berichtete er, welche Wohltat diese Lektüre für ihn sei. Ein Freund, ein Häretiker? Während des ersten Studienjahres 1901 am „Seminario Romano dell’Apollinare“ war Roncallis Studienkollege und Sitznachbar ein gewisser Ernesto Buonaiuti, geboren im selben Jahr 1881, bei Roncallis Priesterweihe assistierte er und hatte die Aufgabe, ihm das Meßgewand anziehen zu helfen und das Messbuch zu halten (wie Roncalli 1946 im Tagebuch vermerkt, nachdem er vom Tod Buonaiutis erfahren hatte. Während Buonaiuti in Rom geblieben war und mit 24 Jahren Professor für die Geschichte des Christentums an der staatlichen Universität geworden war, ging Roncalli als Sekretär des neu ernannten Bischofs von Bergamo in seine Heimat zurück. Buonaiuti wurde ein Wortführer des italienischen Modernismus, gilt als Autor des „Programm der italienischen Modernisten“ (Il programma dei modernisti). Im Zentrum dieses Manifests steht die Betonung der „fortschreitenden Entwicklung der katholischen Lehre, … welche aus dem tiefen Bedürfnis entstanden ist, der neuen religiösen Erfahrung durch die Lehre Christi in wohldurchdachten Ideen ihren natürlichen Halt darzubieten ..…“4 Von seiner Kirche wurde Buonaiuti dann mehrfach mit Lehrverbot belegt, Veröffentlichungen wurden indiziert, er exkommuniziert und wieder aufgenommen, um schließlich 1926 endgültig - als vitandus, d.h.als ein im Umgang zu Meidender - exkommuniziert zu werden. Er ist am Karsamstag des Jahres 1946 gestorben: sine luce et sine cruce, wie Roncalli, damals Nuntius in Paris, in seinem t Tagebuch ief betroffen festhält und schreibt: „natürlich kein Geistlicher, der ihn einsegnet, kein geweihter Platz, der ihn aufnimmt – der Herr möge ihm gnädig sein…“ Buonaiuti schrieb wenige Tage vor seinem Tod sein „Geistliches Testament“, darin heißt es unter anderem: „Ein einziges Ideal hat mein ganzes Leben von Anfang bis Ende beherrscht: die ursprünglichen christlichen Werte wieder zur Geltung zu bringen und zu ihrer Verbreitung innerhalb jener neuen ökumenischen Kultur beizutragen, von der meine schwergeprüfte Generation die ersten Strahlen der Morgenröte am Horizont hat aufleuchten sehen.“ –5 Der Fall Buonaiuti hat Roncalli steht gewiss auch im Hintergrund jener Formulierung in der Eröffnungsrede zum Konzil, wo es heißt: „die Braut Christi möchte lieber das Heilmittel der Barmherzigkeit anwenden als die Waffe der Strenge erheben.“ Die „historische Differenzierung“ Auf der Spurensuche nach Roncallis innerem Weg ist sein Geistliches Tagebuch unverzichtbar. Es verweist immer wieder auf ein markantes Innehalten, wie wenn ein Wanderer den Weg überprüft - und vielleicht die Richtung ändert. So geschehen am 16. Januar 1903, da notiert der 21-jährige jene so „fundamentale Entdeckung“, sodass es ihm „wie Schuppen von den Augen fiel“. Diese Entdeckung stellt die geistliche Selbsterziehung alten Stils im Punkt der getreuen Nachahmung von Vorbildern, der Heiligen zum Beispiel, gründlich in Frage. Er schreibt: „das ist ein falsches System. Von der Tugend der Heiligen muss ich das Wesentliche (la sostanza) und nicht das zeitabhängige Erscheinungsbild (gli accidenti) übernehmen. Ich bin nicht der heilige Aloisius und muss mich nicht genau so heiligen, wie er es getan hat, sondern wie es mein 4 Vgl. Peter Neuner, Der Streit um den katholischen Modernismus, Frankfurt/M und Leipzig 2009; S. 371 5 Vergl.: Ernst Benz (Hg.), Ernesto Buonaiuti, Die exkommunizierte Kirche“, Zürich 1966, S. 21. Siehe dazu auch: Peter Neuner, Der Streit um den katholischen Modernismus, Verlag der Weltreligionen, Frankfurt a.M. 2009, S. 136ff anderes Wesen, mein Charakter, meine unterschiedlichen Lebensbedingungen verlangen. (…) Gott will, dass wir in Nachahmung der Heiligen den lebendigen Saft ihrer Tugend (il succo vitale della virtù) in uns aufnehmen, ihn in unserem Blut umwandeln und unseren besonderen Anlagen und Umständen anpassen (adattare).“ Diese Eintragung ist der erste markante Ansatz zu jener „historischen Differenzierung“, die so wichtig sein wird für Roncallis Reformwillen in Hinblick auf das II. Vatikanische Konzil. In der Konzilseröffnungsrede wird man das fast 60 Jahre später so hören und lesen: „…eines ist die Substanz der tradierten Lehre … etwas anderes ist die Formulierung, in der sie dargelegt ist.“ Im Dezember 1903, in den Exerzitien kurz vor der Diakonatsweihe, stellt Roncalli nochmals das Prinzip der geschichtlichen Differenzierung als ein Grundprinzip seines Lebens auf, Willam nennt es sogar sein Grundprinzip der Verkündigung der Glaubenslehre, in allen theologischen Fragen zuerst die „überlieferte Lehre der Kirche zu erforschen und von dieser Grundlage aus auf die neuen Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung einzugehen.“ Sechzig Jahre später, am Sterbebett wird er diktieren: „Nicht das Evangelium ist es, das sich verändert, wir sind es, die gerade anfangen, es besser zu verstehen.“ 6 Cesare Baronius Im Jahr 1907 – am 4. Dezember – hielt der Bischofsekretär Roncalli, angeregt von seinem Chef, – anlässlich des 300. Todestages – den berühmten Vortrag über Cesare Baronius, einen römischen Kardinal, Mitglied im Oratorium von Philipp Neri. Eine kritische Zeit, denn der Modernismusstreit war auf seinem Höhepunkt angelangt – und Wissenschaft stand noch immer für „kritisch“ und Rechtgläubigkeit für „unkritisch“. Die Würdigung von Cesare Baronius als einen Pionier der wissenschaftlichen Kirchengeschichtsschreibung war daher für den jungen Roncalli eine Gratwanderung. Baronius war als Historiker7 und als Mitglied des Kardinalskollegiums bedingungslos und ungestüm der Wahrheit verpflichtet. (Man verzeihe, dass ich dem gleich die Beschreibung des Menschen Baronius durch den deutschen Historiker Leopold von Ranke anfüge – und dabei an den späteren Roncalli denke: „er speiste mit seinen Hausgenossen regelmäßig an einem Tisch und ließ nur Demut und Gottvertrauen an sich wahrnehmen.“) Roncalli hat 1925seinen bischöflichen Wahlspruch Oboedientia et pax (Gehorsam und Friede) bei Baronius entlehnt, aber bereits im Vortrag von 1907 sagt Roncalli über diese Bedeutung dieser Worte bei Baronius: „Die beiden Worte füllten sich für mich mit einer höchsten Bedeutung: der Friede seines Geistes, seiner Brüder, der von den Irrlehren zerrissenen Kirche, der gesamten menschlichen Gesellschaft, das war sein Traum ….“8 6 Zitiert nach Kaufmann/Klein, Johannes XXIII. Prophetie im Vermächtnis, S. 24 7 12 Bände „Annales Ecclesiastici“, 1588-1593, im Jahr 2008 wurde der Seligsprechungsprozess wie 8 Roncalli, Baronius 1961, S. 61 Für maßgebliche Roncalli-Interpreten werden in diesem Vortrag roncallische Gedankengänge spürbar, denen man später in der Konzilsidee wiederbegegnet. So spricht er – gleichsam unter dem Schutzmantel des unverdächtigen großen Baronius – von „einem Zeichen der Rückkehr zur Reinheit der evangelischen Grundsätze“9 (einem durchaus auch modernistischen Programmpunkt, wie heißt es doch bei Buonaiuti: die ursprünglichen christlichen Werte wieder zur Geltung zu bringen!), plädiert im Geiste von Baronius, dem „Begründer der historischen Kritik“ – gleich zweimal! – für die Wertschätzung der historischen Wahrheit, abseits von apologetischer Einseitigkeit und sagt: „Die Geschichte ist eben die Geschichte und in der wahren und aufrichtigen Geschichte ihres Lebens findet die Kirche ihre beste Apologie“.10 Der Herausgeber der Neuauflage dieses Vortrags im Jahr 1961, Giuseppe de Luca, meint, darin den „Keim für das zu finden, was fünfzig Jahre später der Geist seines Pontifikats werden sollte. (…) In dieser Schule geschah es dem jungen Priester von Bergamo, dass sich in ihm das Herz des künftigen Papstes bildete. Karl Borromäus Eine seiner ersten Messen feierte Roncalli am Grab des heiligen Carlo Borromeo im Dom von Mailand. Dieser heilige Kardinal, der 1584 bereits im Alter von sechsundvierzig Jahren gestorben war, ist eine der großen Gestalten des Konzils von Trient. Bei einem Besuch seines Bischofs in Mailand stöberte Roncalli in einem verstaubten Winkel die Akten der Visitationen Carlo Borromeos in Bergamo auf. Ein unschätzbarer Fund für den jungen Historiker! Ihm widmete Roncalli ab 1918 „seine Freizeit“ und die fünfbändige wissenschaftliche Herausgabe wurde sein kirchenhistorisches Lebenswerk, das er erst 1958 vollendete.11 „In allen Richtungen bereiste er fortwährend seine Diözese, in das höchste Gebirge, in die entlegensten Täler verfügte er sich“, ist darin über Carl Borromäus zu lesen. Später, als Patriarch von Venedig, sollte Roncalli mit ausgedehnten, sich über vier Jahre erstreckenden Pastoralvisitationen seinem Beispiel folgen. Roncallis Bischofsweihe fand also nicht zufällig in der Kirche San Carlo al Corso in Rom statt, wo das Herz des heiligen Carl aufbewahrt wird. Eine Reihe von eindrucksvollen Gestalten müssten hier noch erwähnt werden, historische wie zeitgenössische - denen Roncalli im Geiste verpflichtet war, ich nenne nur Gregorio Barbarigo, den Bischof, Seelsorger und vielseitigen Wissenschafter, den Johannes XXIII. 1960 heiliggesprochen hat, den Philosophen und Theologen Antonio Rosmini-Serbati, den seligen Kardinal von Mailand und väterlichen Freund Andrea Carlo Ferrari, den aufmüpfigen Bischof von Cremona Geremia Bonomelli und andere. Ja, auch einer Frau müsste einmal eingehend gedacht werden: der Signorina Adelaide Coari, einer 9 Ebd. S. 34 10 Roncalli, Baronius, 1961, S. 42 11 « Atti della Visita Apostolica di S.Carlo Borromeo a Bergamo 1575 » katholischen Vorkämpferin der Frauenbewegung, im selben Monat desselben Jahres wie Roncalli geboren, es ist anzunehmen, dass ihr langjähriger Briefwechsel mit Roncalli nicht ganz ohne Einfluss auf die Würdigung der Frau in der Enzyklika „Pacem in terris“ war. Roncalli wünscht einmal in einem Brief aus Sofia Signorina Coari und sich selber – Bischof und Frau gleichsam auf gleicher Augenhöhe – neue Energien für ein gutes Apostelamt..! Das Geheimnis Die Erscheinung von Johannes XXIII. wird als theologischer und kirchenpolitischer Widerspruch wahrgenommen. Er lebte aus der Tradition und eröffnete seiner Kirche gleichzeitig einen neuen Weg in die Zukunft. War sein authentisches Mensch- und Christsein sein „Geheimnis“? Am Abend des 9. August 1904, dem Vorabend des Tags seiner Priesterweihe, pilgerte Roncalli von der Basilika San Giovanni im Lateran zur Basilika Sankt Paul vor den Mauern. Im „Geistlichen Tagebuch“ hält er fest: “Was ich an jenem Abend am Grab des Völkerapostels zum Herrn sagte? ‚Secretum meum mihi – mein Geheimnis gehört mir‘.“12 Von der heiligen Edith Stein erzählte eine Freundin, sie habe sich geweigert, auf die Frage, warum sie 1922 katholisch geworden wäre, zu antworten. Schließlich habe sie einen Zettel genommen und darauf geschrieben: Secretum meum mihi. Alle Nachforschungen bezüglich fassbarer Wurzeln in der Biographie und bezüglich der Quellen des Charismas, der Weltoffenheit und vor allem der glaubwürdigen Frömmigkeit des späteren Papst Johannes XXIII. müssen dort halt machen, wo das Geheimnis dieses Menschen Angelo Roncalli beginnt. Damit bleiben sie im Bereich der Einschätzungen und der Vermutungen.Dennoch hat man immer wieder versucht, seinem inneren Profil auf die Spur zu kommen und zu versuchen, es nachzuzeichnen. 1961 schreibt einer, der Roncalli sehr gut kannte, der inspirierte Priester und inspirierende Publizist Giuseppe de Luca (man darf ihn sogar einen Freund und Ratgeber des Papstes nennen): „Ich gehöre nicht zu denen, die finden, er [Roncalli] sei ein leicht zugänglicher Mensch, leutselig, fügsam (…). Im Gegenteil. Er weiß genau, was er will; er sagt es nicht, und er trägt niemandem auf, es zu sagen. Da kommt er selbst: er lächelt, er scherzt, aber sein Geheimnis bleibt bei ihm selbst. Eine geschlossene Tür – und dahinter sein Gebet, seine Seele - Und wenn man sich auch von seinem liebsten Freund kein offeneres Lächeln und keinen herzlicheren Empfang wünschen könnte, so darf sich doch keiner dem Glauben hingeben, ihn so mit ein paar Worten gefasst zu haben, oder fassen zu 12 Jes 24,16 können. (De Luca im Vorwort zur Neuauflage 1961 des legendären Vortrags von Angelo Roncalli über den Kirchenhistoriker Cesare Baronius)13 De Luca attestiert Roncalli bzw. Johannes XXIII. „ein Gefühl weniger für die Theologie und das Recht als für die Predigt und für das Wirken unter den Menschen [Laien] – kurz die pastorale Kompetenz - die große Beweglichkeit zwischen Unabhängigkeit und Verehrung – all dies und noch viel mehr vermag zu bezeugen, was ich – de Luca – mit genauerer Bezeichnung die tridentinische Frömmigkeit Johannes XXIII. nennen möchte.“ „Aus seinem bergamaskischen Ursprung hat er jene Fähigkeit hergeleitet, die ihm eigen ist: in den Bewegungen des jetzigen Augenblicks gegenwärtig zu sein, kräftig, falls er es will, bis zur höchst drastischen und zu der am wenigsten vermuteten Intervention.“ Die roncallischen Tugenden Capovilla hob in der Einleitung zum „Geistlichen Tagebuch“ hervor, was vielen Menschen – bei aller Bewunderung – ein Rätsel war, und ebenso vielen sogar ein gewisses Ärgernis: „Seine ständige Demut vor Gott und sein klares, so bestürzend klares Bewusstsein seines eigenen Wertes vor den Menschen.“ Gegenüber der römischen Kurie, die ihn mitunter sehr geringschätzig behandelt oder ignoriert hatte, als diplomatischen Anfänger in Bulgarien ebenso wie als Papst, entwickelte er eine Haltung, die „nie auch nur einen Schatten von sklavischer Unterwürfigkeit in sich schließt“, wie de Luca 1961 feststellte. Den vier klassischen Kardinaltugenden – Tapferkeit, Klugheit, Gerechtigkeit, Mäßigkeit – darf man vier Tugenden gegenüberstellen, die man getrost die „roncallischen“ nennen könnte: Geduld, Sanftmut, Frieden und Gehorsam. Auf die allerglaubwürdigste Art werden sie Teil seiner Persönlichkeit und die Seele seines Wesens. Die Briefe und Aufzeichnungen sind randvoll davon, unermüdlich weist er darauf hin - je älter er wurde, umso eindringlicher. In seiner ersten Predigt anlässlich seines feierlichen Einzugs in Venedig am Sonntag Laetare des Jahres 1953 beschreibt er sich selber: „Ich bin ein Mensch wie jeder andere auf dieser Erde. Ich stamme aus einer Familie und von einem bestimmten Ort. Mir ist die Gnade einer guten körperlichen Gesundheit verliehen, ein bisschen gesunder Menschenverstand, der mich die Dinge rasch und deutlich erkennen lässt und eine Neigung zur Menschenliebe.“ Im Geistlichen Tagebuch sind aber auch Eintragungen zu finden, die den – oberflächlichen – Eindruck vom gemütlichen Sanguiniker deutlich relativieren: Jede Form von Misstrauen oder Unhöflichkeit, gegen wen auch immer, vor allem aber gegen die Kleinen, die Armen, die Geringen – jedes absprechende und unüberlegte Urteil bereitet mir Schmerz und tut mir im innersten Herzen weh. Ich schweige, aber das Herz blutet mir.“ Bereits Papst, schreibt er in einer Notiz aus dem Jahr 1959: „Das ist das Geheimnis meines Lebens. Sucht nicht nach anderen Erklärungen: Ich habe mir oft die Worte des hl. Gregor von Nazianz wiederholt: Voluntas tua pax nostra – 13 Vergl. Roncalli, Baronius 1961, S. 22 Dein Wille, Herr, ist unser Friede. Dieselbe Bedeutung haben auch die Worte ‚Oboedientia et pax‘, an die ich mich immer gehalten habe.“ Wenige Tage nach seinem achtzigsten Geburtstag, im Dezember 1961, schreibt er sein „geistliches Testament“ an „die Roncalli“, seine Familie. Zum ersten Mal, wie er mitteilt, mit einer neuen Schreibmaschine, die er – wie in alten Zeiten – in Zukunft „ganz für sich allein“ benutzen will. „Ich weiß, dass ich alt werde…aber für den Augenblick kann ich den guten Dienst für den Herrn und für die heilige Kirche fortsetzen.“ Dann versucht er eine Antwort auf die Frage der Welt, die ihn „mit Sympathie und Achtung umgeben hat“, worin denn wirklich das vielstrapazierte „Geheimnis Roncalli“ bestehe. Und bietet als Lösung an die „Barmherzigkeit des Herrn (…) von der ich mir wünsche, sie möge bis zu meinem Lebensende meine Stütze sein. Meine persönliche Ruhe, die in der Welt so viel Eindruck macht, liegt nur in diesem Vertrauen. Immer bereit sein zu gehorchen, wie ich es immer getan habe – und nicht wünschen oder bitten, länger leben zu dürfen, als bis der Todesengel kommen wird, mich zurufen und mich – wie ich hoffe – in das Paradies heimzuholen.“ „Die Nachfolge“ als Weg Bald nach Kardinal Rocallis Wahl zum Papst war die Bischofstelle von Vittorio Veneto neu zu besetzen. Der ehemalige Patriarch von Venedig erinnerte sich an einen liebenswürdigen und geistreichen Priester, der ihm mehrfach aufgefallen war und den er dann auch im Dezember 1958 selber zum Bischof weihte, sein Name war Albino Luciani.14 Nach der Weihe gab der Papst dem jungen Bischof dann seine eigene Lebensregel mit auf den Weg: die berühmten vier Punkte aus dem dreiundzwanzigsten Kapitel des III. Buches der „Nachfolge Christi“: „Lerne, lieber dem Willen eines anderen nachzuleben, als dem eigenen … Wähle in allem, was vergänglich ist, immer weniger zu haben als zu viel … Suche immer den letzten Platz … Wünsche stets und bete darum, dass der Wille Gottes vollkommen an dir erfüllt werde. So wirst du in das Land des Friedens und der Ruhe gelangen.“ Roncallis Nachsatz: „Darin wirst Du Dein Glück finden, denn auch ich habe meines darin gefunden.“ Diesen dem „Konzilspapst“ Johannes lebenslang so wichtigen Anleitungen scheint eine „nachkonziliare“ Spiritualität nichts mehr abgewinnen zu können, ja sie wirken im säkularen, aber auch im geistlichen Umfeld des 21. Jahrhunderts fast unzumutbar. Das Leben Roncallis zeigt eindrucksvoll, dass die konsequente Befolgung dieser vier Empfehlungen, wenn sie – in ihrem succo vitale für heute – richtig verstanden werden, Frieden und ein hohes Maß an persönlicher Freiheit gewähren. 14 Luciani folgte später Roncalli auf den Patriarchenstuhl von Venedig und schließlich - zwanzig Jahre später für dreiunddreißig Tage auf den Papstthron. Das Vermächtnis Vor zwei Jahren, anlässlich der Seligsprechung von Johannes Paul II. schrieb der katholische und evangelische Theologe Fulbert Steffensky in der Wochenzeitung DIE ZEIT: „Die Erinnerung an Oscar Romero, an Simone Weil, an Dietrich Bonhoeffer (und ich füge hinzu: an Johannes XXIII.) sind wie Briefe aus der Ferne, die einem helfen, die Gegenwart zu lesen und zu erkennen, was sie hat und was ihr fehlt. Heilige sind Briefe aus der Ferne, wer sie lesen kann, braucht nicht bei sich und seinem Mut, seinen Lebensvisionen und seiner Hoffnung anzufangen. Wir sind nicht die Ersten, wir stehen auf den Schultern von Menschen, die vor uns gehofft, gelitten und gekämpft haben.“ Für mich – und ich weiß mich bei Gott nicht allein – ist Angelo Giuseppe Roncalli ebenfalls so ein „Brief“, inzwischen auch schon sehr „aus der Ferne“. Er, der selber ein „Brief Gottes“ war, pflegte auch mit zeitintensiver und liebevoller Hingabe die Kultur des Briefeschreibens. Er nannte das Briefeschreiben „eine Form gegenseitiger Tröstung und eine Übung der Nächstenliebe“, einmal sogar das fünfzehnte Werk der Barmherzigkeit. An die 8000 Briefe (ausgenommen die diplomatische Korrespondenz) hat er geschrieben, darunter jene 800, die an seine Familie gerichtet war und von seinem Sekretär Monsignore Loris Capovilla bereits 1968 veröffentlicht wurden. Wie in diesen Briefen seine fürsorgliche, auch seelsorgliche Liebe zu seinen Verwandten spürbar und durch seine Anteilnahme deren einfaches Leben anschaulich wird, das ist wirklich ein Vermächtnis. Glauben und Zweifeln In den Briefen – und natürlich im Geistlichen Tagebuch – ist unübersehbar die immer wiederkehrende Einbeziehung des Todes bei den vielfältigen Gelegenheiten, den eigenen Lebensweg kritisch zu überprüfen. So schreibt er an die todkranke Schwester Maria aus Venedig am 7. März 1955: „Ich könnte Dir, meine liebe Maria, allerdings mit meinen vierundsiebzig Jahren auch noch vorausgehen – und ich sage Dir, dass ich stets daran denke, und ich habe mich so gut an den Gedanken meines Sterbens gewöhnt, dass es mir jetzt überhaupt keine Angst mehr bereitet, weil ich weiß, dass der Himmel viel schöner ist als Venedig und dass dort wirklich das ewige Fest des Lebens beginnen wird ….“ Neben diesem Zeugnis geradezu kindlichen Glaubens, deren es sehr, sehr viele gibt in Roncallis Aufzeichnungen, ist uns auch ein erschütterndes Zeugnis davon überliefert, dass selbst dieser „Turm des Glaubens“ von düsteren Wolken des Zweifels überschattet war. Nach dem Begräbnis seiner älteren Liebingsschwester Ancilla fuhren der Patriarch und sein Sekretär mit dem Zug zurück nach Venedig. Dunkelheit, Regen, Sturm. Capovilla erinnert sich an die stille Nachdenklichkeit während der Zugfahrt und an den Wortlaut eines Satzes seines Kardinals, der unvermutet in diese Stille gefallen war: „Guai a noi se fosse tutta un illusione! - Weh uns, falls alles eine Illusion ist…“ Capovilla später: „Dieser Satz enthüllte einen beunruhigenden Aspekt echter Menschlichkeit in meinem Patriarchen, der normalerweise immer so stark und selbstbeherrscht war.“15 Continuiamo volerci bene…. Anlässlich einer Begegnung mit Erzbischof Capovilla vor zwei Jahren fragten wir ihn, was denn nun aus seiner Sicht das Vermächtnis dieses Papstes ist, der heute vor fünfzig Jahren gestorben ist, – abgesehen vom Mut, ein Konzil einzuberufen. Da sagte uns der heute 98-jährig in Sotto il Monte, dem Geburtsort von Johannes XXII., lebende ehemalige Sekretär: „Es ist der Respekt dem einzelnen Menschen gegenüber. Es ist sein Vertrauen. Es ist seine Überzeugung, daß der Same des Evangeliums nicht unfruchtbar bleibt, wenn er nur sanft in die Herzen gelegt wird. Es ist der Hinweis, daß die Methode Jesu neu entdeckt werden muss: zuerst tun, dann lehren!“ In ihrer familiären Schlichtheit zählt die berühmte „Mondscheinrede“ auch zu jenen Texten, in denen der johanneische Geist aufleuchtet. Als nämlich Johannes XXIII. am Abend des 11. Oktober, dem Tag der Konzilseröffnung, ganz spontan zu den Teilnehmern eines Fackelzuges sprach, und eben über St. Peter gerade der Vollmond aufgegangen war. Die Rede ist berühmt geworden wegen der liebevollen Aufforderung an die jungen Eltern, sie sollten, wenn sie nach Hause kommen, ihren Kindern einen Kuss geben und sagen, dieser Kuss ist vom Papst. Im Zentrum der spontanen Ansprache dann die so oft von ihm ausgesprochene Einladung, ja Bitte, dass wir, die Menschen einander mit Wohlwollen begegnen mögen. In ihrer Dringlichkeit gehört zu seinem Geheimnis und zu seinem Vermächtnis. « Continuiamo dunque a volerci bene così, a volerci bene così… » „Bleiben wir also dabei, dass wir einander wohl wollen, einander als Geschwister eines Vaters wohl wollen. Begegnen wir einander so: nehmen wir das wahr, was eint, und lassen wir beiseite, falls es so etwas gibt, was uns ein wenig in Schwierigkeiten festhalten könnte.“ Natürlich ist die Konzilseröffnungsrede „Gaudet Mater Ecclesia“ seine große programmatische Rede, sie wurde ja – und wird hoffentlich noch öfter – im Zuge des Konzilsjubiläums immer wieder zitiert, analysiert und kommentiert. Ich beschränke mich heute auf die schlichte und in ihrer Kürze treffende Eintragung des Konzilsvaters und damaligen Bischof von St. Pölten, Dr. Franz Zak, der in seinen Konzilsnotizen festgehalten hat: „Aus der Ansprache des Heiligen Vaters gefiel mir besonders die pastorale Einstellung und das Hervorkehren der Güte und Barmherzigkeit den Irrenden gegenüber.“ 15 Siehe dazu die Seite 311 der „Briefe an die Familie“ Bd. II Frieden auf Erden Zum Schluss möchte ich mich noch jenem Text zuwenden, der auch heuer 50 Jahre alt geworden ist. Er stammt zwar nicht allein aus Roncallis Füllfeder, ist aber in seiner Intention ein Hauptanliegen des – inzwischen todkranken – Papstes, die Enzyklika „Pacem in terris“. Er drängte bei der Erstellung auf Eile, wollte, dass er noch zu seinen Lebzeiten veröffentlicht wurde. Neben der pastoral visionären Konzilseröffnungsrede ist dieser Text in seiner politischen Tragweite ohne Zweifel die wichtigste Botschaft des Pontifikats von Angelo Giuseppe Roncalli. Noch immer wird gefragt, wie groß sein unmittelbarer und persönlicher Anteil an dieser Enzyklika wäre. In den letzten Maitagen vor seinem Sterben hat er einmal selber die Antwort gegeben: „Mein Anteil an Pacem in terris ist vor allem das Beispiel, das ich während meines ganzen armen Lebens geben wollte: ‚De bono pacifico homine - Vom guten und friedenstiftenden Menschen‘, wie das dritte Kapitel des II. Buches der ‚Nachfolge Christi‘ überschrieben ist.“ Das wohl Epochale dieser Enzyklika – erstmals in der katholischen Kirche von höchster Stelle proklamiert – ist die Betonung der Menschenrechte analog zu der säkularen Konvention der Vereinten Nationen (die allerdings in der Enzyklika das Äquivalent der Verantwortung dazubekommt) sowie der unantastbaren Würde des Menschen. Gleich zu Beginn wird das Recht darauf postuliert, was die Enzyklika notwendige Dienste nennt, „um die sich der Staat gegenüber den einzelnen kümmern muß“ (11), die - im Detail aufgezählt – Unversehrtheit des Leibes, angemessene Lebensführung (Arbeit, Wohnung, Kleidung, Nahrung; Erholung, ärztliche Behandlung), Chancen der Jungen, Hilfe im Alter usw. sind. Zu all dem das Recht, frei nach der Wahrheit zu suchen und „Gott der Norm des Gewissens entsprechend zu verehren“ (8). „Pacem in terris“ fordert – vor 50 Jahren! – die Anerkennung von Würde und persönlichen Rechten von Flüchtlingen und spricht von einer „Pflicht der Staatenlenker, „ankommende Fremde aufzunehmen“ und „dem Vorhaben derer entgegenzukommen, die sich einer neuen Gemeinschaft anschließen wollen.“ (127) Gerade jener Angelo Roncalli, der noch zu Zeiten der Anfänge des italienischen Faschismus eher zu politischer Zurückhaltung riet, fordert jetzt, dass sich Christen befähigen, am öffentlichen (heißt auch politischen) Leben verantwortlich teilzunehmen. (Während des Modernismusstreits war es z. B. Seminaristen streng verboten, Tageszeitungen zu lesen!) Die ersten persönlichen Notizen16 des Papstes zu Pacem in terris datieren vom 16. November 1962 – sind also fast auf den Tag 50 Jahre alt -, und noch im gleichen Monat bildete er unter Leitung des Sozialwissenschaftlers an der Lateranuniversität, Mgr. Pietro Pavan, eine Arbeitsgruppe, der er als Leitlinie für ihre Arbeit seine Grundidee und vor allem die Weisung mitgab, keine 16 Der Schweizer Jesuit Nikolaus Klein ist 1993 – anlässlich des 30-Jahrjubiläums – der Entstehungsgeschichte der Enzklika nachgegangen. Verurteilungen zu formulieren, wörtlich fügte er an: «denn sonst wird es keinen Dialog geben, und alle Türen werden sich schließen.» Das starke persönliche Engagement von Johannes XXIII. für die Ausarbeitung des Textes der Enzyklika erschließt sich einem, wenn man sich den Ablauf der Textredaktion verdeutlicht. Bereits am 7. Januar 1963 legte ihm P. Pavan einen ersten Textentwurf vor, Johannes XXIII. zeigte sich vor allem mit dem fünften Teil der Enzyklika mit dem Titel „Pastorale Weisungen. Die Pflicht, am öffentlichen Leben teilzunehmen“ sehr einverstanden. Aber gerade dieser Textteil fand eine deutliche Kritik bei seinen engsten Mitarbeitern, sie vermissten die Kontinuität mit der Lehre seiner Vorgänger und urgierten die Forderung nach Übereinstimmung mit den Richtlinien des kirchlichen Lehramtes stehen» (Nr. 160). Der Papst akzeptierte als Kompromiss einen Zusatz und notierte in seinem Tagebuch: „Alle sind mit den vier ersten Teilen der Enzyklika einverstanden. Beim fünften Teil, bei den pastoralen Weisungen, kann der Papst nicht in den Wolken bleiben. Er muss auf das Problem eine Antwort geben, wie die Katholiken in der Gesellschaft handeln können. Entweder sagt er ihnen, daß sie in der Gesellschaft z.B. beim Aufbau des Friedens präsent sind, oder er wiederholt das non expedit.17 Ich glaube nicht, daß ein neues non expedit dem Frieden dienen kann.“ Letzte Tage, letzte Worte Aus aller Welt trafen während der letzten Woche seines Lebens Genesungswünsche ein, die von Johannes als eine Bestätigung dafür aufgenommen wurden, dass sein Wirken und seine persönliche Haltung verstanden worden war: „All diese Beweise der Zuneigung um einen sterbenden alten Mann, sind sie nicht vielleicht auch ein Zeichen der Zeit?“ Kurz vor seinem Tod hat Johannes XXIII. seinen „Akt des Glaubens“ diktiert, Rückschau und Prophetie in einem. Monsignore Capovilla hat ihn aufgeschrieben. In 24 Zeilen blickt Roncalli auf sein Leben zurück und stellt auf Grund seiner Erfahrungen eine neue Vision von Kirche an den Horizont. „Mehr denn je, bestimmt mehr als in den letzten Jahrhunderten, sind wir heute darauf ausgerichtet, dem Menschen als solchem zu dienen, nicht bloß den Katholiken, darauf, in erster Linie und überall die Rechte der menschlichen Person und nicht nur diejenigen der katholischen Kirche zu verteidigen. Die heutige Situation, die Herausforderung der letzten 50 Jahre und ein tieferes Glaubensverständnis haben uns mit neuen Realitäten konfrontiert, wie ich es in meiner Rede zur Konzilseröffnung sagte. Nicht das Evangelium ist es, das sich verändert; nein, wir sind es, die gerade anfangen, es besser zu verstehen.“ 17 Non expedit (Latein für [es ist] nicht angebracht) Bezeichnung für eine am 10. September 1874 durch Papst Pius IX. erlassene Bulle. Der Papst verbot darin den italienischen Katholiken – vor dem Hintergrund der Entziehung von kirchlichen Privilegien durch den jungen italienischen Nationalstaat – die aktive und passive Teilnahme an demokratischen Wahlen. Die Anweisung behielt immerhin bis 1919 zumindest formal Gültigkeit. Einzelne Berichte von den letzten Stunden des Papstes führen zur Übereinstimmung erinnerter letzter Worte von Angelo Giuseppe Roncalli, von Papst Johannes XXIII.: „Das Geheimnis meines Amtes ist das Kreuz. …. Schaut hin, seht es, wie ich es sehe. Diese offenen Arme sind das Programm meines Pontifikats gewesen: Sie sagen, dass Christus für alle starb, für alle. Niemand ist ausgeschlossen aus seiner Liebe, seiner Vergebung. … Meine Zeit auf Erden geht zu Ende. Aber Christus lebt weiter und die Kirche setzt sein Werk fort. Die Seelen, die Seelen. Ut unum sint! Ut unum sint! Dass alle eins seien! Dass alle eins seien!“ Verwendete und empfohlene Literatur a) Quellen AngeloRoncalli, Baronius, (Il Cardinale Cesare Baronio, 1907), Rom – Einsiedeln 1961 Pope John XXIII, My Bishop – a portrait of Mgr. Giacomo Maria Radini Tedeschi, New York 1963 Johannes XXIII., Geistliches Tagebuch und andere geistliche Schriften. Deutsche Übersetzung von Fr. Dörr, F. Johna, M. Schätzle, A. Scherer, Verlag Herder, Freiburg i.Br. 1964 Johannes XXIII., Briefe an die Familie, hrsg. Von Loris Francesco Capovilla. Band I: 1901-1944; Band II: 1945-1962. Deutsche Übersetzung von E. Ellinger, P. Pagendarm, F. Schmal, E. Wagener. Redaktion: F. Johna. Verlag Herder Freiburg i. Br. 1969/70 Johannes XXIII., Erinnerungen eines Nuntius. Übersetzt von Dr. P. Konstanz Faschian OFM. Verlag Herder Freiburg i. Br. 1965 Loris Capovilla, Johannes XXIII. Papst des Konzils, der Einheit und des Friedens. Deutsche Übersetzung und Ergänzungen (Kap. VIII und IX) von Hochschulprofessor Dr. Friedrich Dörr. Johann Michael Sailer Verlag Nürnberg und Eichstätt 1963 b) Monographien und Analysen Kaufmann Ludwig / Klein Nikolaus, Johannes XXIII. Prophetie im Vermächtnis Edition Exodus, Fribourg/Brig 1990 Alberigo Giuseppe, Johannes XXIII. Leben und Wirken des Konzilspapstes. Aus dem Italienischen übersetzt von Ansgar Ahlbrecht. Matthias Grünewald Verlag Mainz 2000 Allegri Renzo, Johannes XXIII. Ein Lebensbild. Übersetzung aus dem Italienischen: Stefan Liesenfeld. Verlag Neue Stadt München 1994 Elliott Lawrence, Johannes XXIII. Das Leben eines großen Papstes. Ins Deutsche übertragen von Heinz Graef und Hans Schmidthüs. Verlag Herder Freiburg i.Br. 1974 Hebblethwaite Peter, Johannes XXIII. Das Leben des Angelo Roncalli. Aus dem Englischen übersetzt von Wolfdietrich Müller. Benziger Verlag Zürich, Einsiedeln, Köln 1986 De Kerdreux Michel, Johannes XXIII. in der Nachfolge Christi Thomas von Kempen und Therese von Lisieux als Leitbilder eines Papstes Kevelaer 1965, Verlag Butzon & Bercker Nürnberger Helmuth, Johannes XXIII. mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Rowohlt Taschenbuch Verlag Reinbek bei Hamburg 1985 Teuffenbach Alexandra von, Papst Johannes XXIII. begegnen. St. Ulrich Verlag Augsburg 2005 Trevor Meriol, Pope John Blessed John XXIII Mc Millan and Company LTd. London 1967. Neue Ausgabe by Gracewing Leominster Herefordshire 2000 Hales E.E.Y., Die große Wende. Johannes XXIII. Und seine Revolution Graz Wien Köln, Verlag Styria 1966 Gaisbauer Hubert, Ruhig und froh lebe ich weiter – Älter werden mit Johannes XXIII. Wiener Dom-Verlag, 2011