Jedem das Seine? Allen das Volle! (Die Arbeiter im Weinberg), Mt

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Jedem das Seine? Allen das Volle! (Die Arbeiter im Weinberg), Mt
Jedem das Seine? Allen das Volle! (Die Arbeiter im Weinberg), Mt 20,1–15
(20,1) Denn das Königreich des Himmels gleicht einem Gutsherrn, der gleich in der Frühe
hinausging, um Arbeiter für seinen Weinberg einzustellen. (2) Und nachdem er sich mit den
Arbeitern auf einen Denar den Tag geeinigt hatte, schickte er sie in seinen Weinberg. (3) Und
als er zur dritten Stunde hinausging, sah er andere untätig auf dem Markt stehen, (4) und zu
diesen sprach er: Geht auch ihr in den Weinberg, und ich werde euch geben, was gerecht ist.
(5) Und sie gingen. Und zur sechsten und neunten Stunde ging er abermals hinaus und machte
es ebenso. (6) Und als er zur elften hinausging, fand er andere stehen und sagte zu ihnen: Was
steht ihr hier den ganzen Tag untätig? (7) Sie sagten zu ihm: Weil uns niemand eingestellt hat.
Er sagte zu ihnen: Geht auch ihr in den Weinberg! (8) Als es aber Abend geworden war, sagte
der Weinbergbesitzer zu seinem Verwalter: Ruf die Arbeiter und zahle ihnen den Lohn, von
den Letzten angefangen bis zu den Ersten. (9) Und als die von der elften Stunde kamen,
erhielten sie je einen Denar. (10) Und als die Ersten kamen, glaubten sie, dass sie mehr
erhalten würden. Doch auch sie erhielten je einen Denar. (11) Als sie ihn aber erhalten hatten,
beschwerten sie sich bei dem Gutsherrn (12) und sagten: Diese Letzten haben eine (einzige)
Stunde gearbeitet, und du hast sie uns, die wir die Last und die Hitze des Tages ertragen
haben, gleichgestellt! (13) Er aber antwortete und sprach zu einem von ihnen: Freund, ich tue
dir kein Unrecht. Hast du dich nicht mit mir auf einen Denar geeinigt? (14) Nimm das Deine
und geh. Ich will aber diesem Letzten (so viel) geben wie auch dir. (20,15) Oder darf ich mit
meiner Habe nicht tun, was ich will? Siehst du etwa böse drein, weil ich gut bin?
Anmerkungen zur Übersetzung
V. 1.2.8: Die maskuline Pluralform ejrgavtai, ergátai, „Arbeiter“, kann weibliche
Arbeitskräfte einschließen oder auch nicht. Letzteres ist hier wahrscheinlicher, da Frauen in
der Antike nur selten für Tagelohn beschäftigt und in der Regel für gleiche Arbeit schlechter
bezahlt wurden als Männer, während in V. 2 für alle der gleiche Lohn vereinbart wird. (In den
bei Drexhage 1991, 412–425, ausgewerteten Dokumenten über Tagelöhne im römischen
Ägypten werden zwar recht oft Kinder, aber nur zweimal Frauen erwähnt: in O. Strassb. 761
und O. Petr. 339, wobei das zweite dieser Ostraka für die Frauen einen um ein Drittel
niedrigeren Lohn als für die neben ihnen aufgeführten Männer angibt; s. Tait 1930, 131;
Hengstl 1972, 111.) – V. 3.6: ajrgov", argós, „unbeschäftigt, müßig, träge“ usw., bezieht sich
hier auf die unfreiwillige Untätigkeit von Arbeitslosen. Die Übersetzung „arbeitslos“
empfiehlt sich dennoch nicht, da sie die in V. 7 gegebene Antwort überflüssig machen würde.
– V. 12: Der Genitiv „des Tages“ steht zwar bei „Last“, bezieht sich aber sachlich wohl auch
auf die „Hitze“; vgl. analog Mk 5,40; Act 4,8 u.ö.
Sprachlich-narrative Analyse (Bildlichkeit)
Die Pointe und die Faszination dieser Parabel liegen darin, dass sie der kunstvoll aufgebauten
Leseerwartung, es würden die früher angeworbenen Arbeiter einen proportional höheren Lohn
empfangen als die später eingestellten, eine ebenso kunstvoll eingefädelte Enttäuschung
bereitet (Harnisch 1985, 188–194). Die Zahlung eines Einheitstagelohnes schreibt sie dabei
der „Güte“ des Weinbergbesitzers zu, der nicht nur als Handlungssouverän agiert, sondern
allem Anschein nach auch den Leserinnen und Lesern als autoritative Instanz präsentiert wird
(Münch 2004, 167).
An welchem Punkt der Erzählung das Erwartungswidrige des Geschehens, seine
„Extravaganz“, aufbricht, mögen die Lesenden unterschiedlich empfinden; auch
wissenschaftliche Auslegungen sind sich hierin nicht einig. Schon im ersten Teil, der Serie
von Szenen auf dem Marktplatz in V. 1–7, geschieht Ungewohntes, doch die Erzählung lässt
hier den Lesenden genügend Spielraum, sich das Merkwürdige zu plausibel zu machen. Dass
der Gutsherr persönlich die Arbeiter anwirbt, lässt an ein eher bescheidenes Anwesen denken
(Schottroff 2005, 278), wenngleich ein Verwalter später noch auftreten wird. Dass er nicht
nur in der Frühe, sondern noch bis in den Nachmittag Arbeitskräfte sucht, mag irritieren
(Münch 2004, 176; Fiedler 2006, 317), lässt sich aber mit den für den Weinbau
charakteristischen, jahreszeitabhängigen Schwankungen im Arbeitsbedarf erklären; das Motiv
der Mittagshitze in V. 12 scheint auf die Traubenlese hinzudeuten (Harnisch 1985, 177;
Avemarie 2002, 276 Anm. 22). Außerdem beweist der Gutsherr, indem er den Einsatz von
Lohnarbeit den momentanen Erfordernissen anpasst, sein ökonomisches Geschick (Schottroff
2005, 276). Dass eine feste Lohnvereinbarung nur bei der ersten Anwerberunde, bei den
späteren dagegen nicht mehr erwähnt wird, mag der erzählerischen Pflicht zur Vermeidung
von Redundanz entspringen und wäre dann nicht weiter auffällig (Hezser 1990, 238); es
könnte aber auch zu weiteren Mutmaßungen über die Geschäftstüchtigkeit des Gutsherrn
einladen (Herzog 1994, 86f.), wie sie sich vor allem in der Frage von V. 6 äußert, die süffisant
das wirtschaftliche Ausgeliefertsein der arbeitslosen Marktsteher bloßstellt und damit die
eigene Zwangslage überspielt. Dass sich die Zusage einer „gerechten“ Entlohnung in V. 4 am
Ende als hoch bedeutsam herausstellen wird, ahnt man noch nicht.
Der zweite Teil der Parabel, der sich vom ersten räumlich durch die Verlagerung der
Handlung vom Marktplatz in den Gutshof und temporal durch eine starke Dehnung der
Erzählzeit im Verhältnis zum erzählten Geschehen abhebt, beginnt mit einer Wendung, die
sich nun nicht mehr mit mehr oder weniger alltäglichen Erfahrungen in Deckung bringen
lässt, durch ihre unkommentierte Befremdlichkeit aber erst recht zum Füllen der narrativen
Leerstellen herausfordert: Der Gutsherr beauftragt seinen Verwalter, bei der Entlohnung der
Arbeiter die Reihenfolge, in der sie eingestellt worden waren, umzukehren. Da der Verwalter
sonst keine Rolle in der Erzählung spielt – müsste er nicht, von den Anwerbungen in V. 1–7
abgesehen, vor allem in V. 11 die Beschwerden entgegennehmen? –, scheint es, dass sein
Auftritt in V. 8 einzig den Zweck hat, für die Erläuterung jenes merkwürdigen
Auszahlungsmodus Gelegenheit zu schaffen. Das aber bedeutet, dass diese Erläuterung
eigentlich für die Leserinnen und Leser bestimmt ist – wenn auch weniger, um ihnen Einblick
zu gewähren, als vielmehr, um sie zu Mutmaßungen zu animieren, denn eine Begründung für
diese seltsame Anweisung wird ihnen vorenthalten. Die erzählerische Sorgfalt allerdings, mit
der zuvor die sukzessiven Anwerberunden zeitlich voneinander abgehoben worden waren,
drängt sie in die Erwartung, dass die Bezahlung diesem „scharf markierten Unterschied in der
Arbeitsleistung Rechnung“ tragen wird (Harnisch 1985, 188).
Werden die Lesenden schon damit auf eine falsche Spur gelockt, so mehr noch mit dem
nächsten Zug der Erzählung, der Auszahlung eines vollen Denars an diejenigen, die am
wenigsten geleistet hatten. Denn nachdem V. 8 suggeriert hatte, der Lohn werde proportional
zum Arbeitsumfang ausfallen, scheint es V. 9 zu erlauben, diese Vermutung zu präzisieren: Je
nach Arbeitsbeginn müssten die früher Gekommenen einen entsprechend höheren Lohn als
jenen einen Denar erhalten. Lesende, die bis hierhin mitgedacht haben, werden durch V. 10a
in ihren Mutmaßungen bestätigt, denn den gleichen Schluss ziehen nun explizit auch jene
Leistungsträger, die bis zuletzt auf ihren Lohn gewartet haben (und die dies, wie man jetzt
sieht, deshalb tun mussten, um eben diese Folgerung anstellen zu können; was sich die
Arbeiter der 3., 6. und 9. Stunde gedacht haben mögen, bleibt der Einfachheit halber außer
Betracht). Zugleich erweisen sich so die Erwartungen, in die die Lesenden in V. 8 und 9
hineingelotst wurden, als mit der Haltung jener Leistungsträger konform – deren Rolle ist es
also, die ihnen die Parabel zur Identifikation bereithält (wobei sie sich allerdings durch das
relativierende „glaubten sie“ bereits vorsichtig von ihnen distanziert). Die Implikationen
dieser aufgedrängten Rolle sind für die Lesenden durchaus unangenehm: Von der
Enttäuschung, dass am Ende nicht mehr als der eine vereinbarte Denar gezahlt wird (von einer
freudigen Überraschung der zuerst Entlohnten ist bezeichnenderweise nicht die Rede; sie ist
nebensächlich), sind sie ebenso mitbetroffen wie von der herablassenden Belehrung, mit der
sich der Gutsherr anschließend über die Beschwerde der Enttäuschten, ihr Anliegen und ihre
Argumentation hinwegsetzt (Harnisch 1985, 193). Mit der Extravaganz des erzählten
Geschehens hängt insofern auch unmittelbar die Botschaft zusammen, die die Parabel durch
das Schlusswort des Gutsherrn ihren Leserinnen und Leser zukommen lässt: Wenn Menschen,
denen es schlecht geht, Gutes erwiesen wird, haben diejenigen, denen es gut geht, keinen
Anlass, so zu tun, als geschähe ihnen dadurch ein Unrecht (wie und auf wen auch immer diese
Botschaft konkret zu applizieren sein mag).
Die durch den Gutsherrn verkörperte Haltung charakterisiert die Parabel mit zwei prägnanten
Wertbegriffen: „gut“ (ajgaqov", agathós, V. 15) und „gerecht“ (divkaio", díkaios, V. 4). Beide
Begriffe erfahren durch das Verhalten des Mannes eine scharfe Profilierung. Seine Güte
bedeutet nicht, dass er ein Verschwender wäre; der eine Denar, den er den zuletzt
Eingestellten zahlen lässt, ist kein beliebiger Betrag, sondern genau das, was diese Leute
verdient haben würden, wären sie schon bei Tagesanbruch angeheuert worden. Statt ihrer
Leistung scheint es demnach ihr Arbeitswille, ihre Einsatzbereitschaft zu sein, die er belohnt.
Dass er auf ihre Bedürfnisse Rücksicht nimmt und ihnen mit dem einen Denar das
Lebensnotwendige zukommen lassen will, ist ebenfalls möglich, wird aber nicht betont;
arbeitsunfähigen Krüppeln, wie er sie auf dem Marktplatz ebenfalls vorgefunden haben
könnte, zahlt er keinen Lohn. Folgenlos bleibt seine Güte aber vor allem für die
Ganztagesarbeiter (Carter 1994, 152), und das ist es, was sie so verärgert. Es ist eine
provozierende Güte, weil sie anderen als ihnen selbst zugute kommt.
Noch erstaunlicher ist, wie die Parabel den Begriff der Gerechtigkeit handhabt: Wenn der
Gutsherr gegenüber den Arbeitern der dritten Stunde Wort gehalten hat – und das ist
wahrscheinlich, denn er hat es auch gegenüber denen der ersten –, dann impliziert dies, dass
seine Gerechtigkeit in eben der besagten Aufhebung des üblichen Verhältnisses von Lohn und
geleisteter Arbeit besteht (Carter 1994, 152; anders Eichholz 1971, 89; Kissling 1998, 160f.;
vermittelnd Theobald 1992, 121f.). Das aber ist hoch brisant, denn die Welt der Lohnarbeit
war seit jeher und ist bis heute (Montada 1997, 12) von jenem schon von Aristoteles
beschriebenen Gerechtigkeitsbegriff bestimmt, der auf der proportionalen Entsprechung von
Tun und Vergeltung, von Leistung und Gegenleistung beruht (Ethica Nicomachea 1131b:
„Das Gerechte ist also dies: das Verhältnismäßige“, to; ajnavlogon, to análogon; hierzu
Hofmann 1999, 553–556). Befragungen im Religionsunterricht haben gezeigt, dass Kinder
noch bis über das Grundschulalter hinaus unfähig sind, das Verhalten des Weinbergbesitzers
als gerecht zu akzeptieren; gerecht wäre für sie nur eine nach Leistung bemessene Bezahlung
(Bucher 1990; s. auch Karweick/Alkier 2003: Max, 9 Jahre, würde ebenso handeln wie der
Gutsbesitzer, nicht aber, weil das gerecht wäre, sondern weil es „nett“ ist).
In V. 4 allerdings ist von einer revolutionären Umprägung des Gerechtigkeitsbegriffs noch
nichts zu spüren. Das Stichwort „gerecht“ dient hier im Gegenteil dazu, den Lesenden den
vertrauten Proportionalitätsgedanken ins Bewusstsein zu rufen; sie sollen einstweilen nichts
„anderes denken, als daß von dem einen Denar der Betrag abgezogen wird, der der
verminderten Arbeitszeit“ entspricht (Dietzfelbinger 1983, 129). Mit der vorläufig-taktischen
Inanspruchnahme dieses Begriffs von Gerechtigkeit bringt die Parabel sie dazu, den ersten
Schritt zu jener Serie von Mutmaßungen zu tun, die sie am Ende mitleidlos desavouiert.
Dass die Erzählung lediglich ein Beispiel für Privatwohltätigkeit bietet, wie sie in der
hellenistisch-römischen Welt gang und gäbe war, noch dazu ein eher bescheidenes Beispiel,
und insofern keineswegs die bekannten gesellschaftlichen Spielregeln auf den Kopf stellt
(Schottroff 2005, 277), ist angesichts der Planmäßigkeit, mit der sie das
Proportionalitätsprinzip an der Erfahrung unverfügbarer Güte scheitern lässt, nicht
anzunehmen. Selbstverständlich kann ein Unternehmer wohltätig sein, kann Wohltätigkeit
sogar für unternehmerische Zwecke einspannen, aber davon handelt die Parabel nicht. Indem
sie die mit schenkendem Reichtum den Leistungsgedanken nicht etwa veredelt, sondern zu
Fall bringt, baut sie zwischen Wirtschaftlichkeit und Güte einen unversöhnlichen Gegensatz
auf. Der beliebte Versuch, sich auszumalen, wie die Geschichte am nächsten Tag
weitergegangen sein könnte (Harnisch 1985, 63 Anm. 42; Ebach 1997), führt unvermeidlich
zu der Einsicht, dass solche Methoden ein Unternehmen ruinieren.
Sozialgeschichtliche Analyse (bildspendender Bereich)
Weinbau war in der Antike eine der kostenintensivsten, aber auch einträglichsten Formen von
Landwirtschaft (Ruffing 2002, 427; zum Wert der Anbaufläche s. Cato, agr. 1,7, zu den hohen
Kosten Varro, rust. 1,8,1); insofern liegt es nahe, dass eine Erzählung, in der es um kluges
Wirtschaften geht, auf einem Weingut spielt. Die Arbeiten, die im Wingert zu tun sind,
wechseln mit den Jahreszeiten; erhöhter Arbeitsbedarf fällt vor allem bei der Lese im
Spätsommer und beim Rebschnitt in den Wintermonaten an. Ägyptische Papyri belegen, dass
Weinbaubetriebe während dieser Zeiten über ihre Stammbelegschaft (Cato, agr. 11) hinaus
zusätzliches Personal einstellen mussten; so klagt ein Gutsverwalter über den hohen
Aufwand, den ihn die Suche nach Arbeitskräften gekostet habe, „weil alle gleichzeitig
Weinlese hielten“ (P. Mich. Inv. 347v, Z. 21–24; Youtie 1977). Der Römer Columella
empfiehlt, um dergleichen zu vermeiden, Rebsorten von unterschiedlicher Reifezeit
anzubauen, und zwar getrennt voneinander (rust. 3,21,9f.). Seit Mark Aurel waren wegen des
Arbeitskräftebedarfs während der Lesezeit sogar gerichtliche Vorladungen untersagt
(Iustiniani digesta 2,12,1; Brun 2003, 48). Zu Mt 20 scheint all dies zu passen, so wie auch
das Motiv der Hitze in V. 12 an die Lese denken lässt.
Was sich weniger gut mit der antiken orientalischen Weinlesepraxis zusammenreimt, ist die
Entlohnung der Arbeiter in Geld, noch dazu mit einem vollen Denar. Die Lese erforderte
weder handwerkliche Fertigkeiten noch besonderes Geschick (die antiken Schriften zum
Landbau, so detailliert sie sich mit dem Anlegen des Weinbergs, der Veredelung und Pflege
der Reben und der Verarbeitung der Trauben befassen, haben zur Lese fast nichts an
fachlichem Rat zu bieten; s. Cato, agr. 25; Varro, rust. 1,54); das erklärt, weshalb diejenigen,
die dabei mithalfen, sich gewöhnlich mit Wenigem zufrieden geben mussten. In Ägypten
wurden sie in Naturalien bezahlt, wurden mit Nahrungsmitteln, reichlichen Mengen an Wein
und sogar mit musikalischer Unterhaltung versorgt, aber ein Geldlohn ist nirgends belegt
(Ruffing 1999, 150). In einem Pachtvertrag sind für die Sommermonate sogar die geringsten
Betriebskosten des ganzen Jahres aufgeführt (P. Oxy. 3354; Ruffing 2002, 386f.). In anderen
Gegenden des römischen Reiches, auch im syrisch-palästinischen Raum, mag dies vielleicht
anders gewesen sein. Auch Varro allerdings, der die Verhältnisse in Italien vor Augen hat,
wenn er empfiehlt, die Trauben- wie die Getreideernte lieber von Lohnarbeitern als von
Sklaven durchführen zu lassen, sagt nichts über Art noch Höhe des Entgelts (rust. 1,17,2).
Verhältnismäßig gut dagegen war die Bezahlung der Arbeiter, die im Winter für den
Rebschnitt eingestellt wurden. Die eine Drachme pro Tag, die das Geschäftsbuch eines
ägyptischen Landgutes aus den Jahren 78/79 n. Chr. für eine solche Fachkraft ausweist,
gehört zu den höchsten Löhnen, die hier aufgeführt sind; selbst der Knabe (paidivon, paidíon),
der das „Vorschneiden“ besorgte, verdiente mit 3 Obolen mehr als andere Kinder, die etwa
zum Ausfegen von Laub angestellt waren, und wenn „bis zum Abend“ gearbeitet wurde, fiel
der Lohn noch höher aus (P. Lond. 131r, col. 17–19; dazu Świderek 1960, 67; Drexhage
1991, 404). Um die hohen Kosten zu senken, so berichtet Plinius d. Ä., habe man in Aricia in
Latium den Rebschnitt nur jedes zweite Jahr vorgenommen (nat. hist. 17,213).
Der in Mt 20 genannte (römische) Denar entspricht im Wert nicht genau der (römischägyptischen) Drachme jenes ägyptischen Tagelöhners, aber die Größenordnung ist die gleiche
(zu den Schwierigkeiten der Umrechnung s. Christiansen 1988, 1:12f.). Tob 5,15 nennt als
Tagelohn für Reisebegleitung eine (phönikisch-seleukidische) Drachme nebst täglichem
Bedarf. Mit einem Denar pro Person und Tag veranschlagt Bereshit Rabba 61,7 (668) den
Wert von Israels Fronarbeit in Ägypten. In Avot de-Rabbi Natan 26,12 (358) werden
Tagelöhne in Höhe von ein und zwei Denaren genannt. Der babylonische Talmud geht in
Bava Batra 86b von einem Denar als üblichem Tagelohn für Landarbeit aus, zieht aber für die
Erntezeit eine Steigerung bis zum Vierfachen in Betracht (vielleicht nicht nur durch die
Marktlage, sondern auch durch eine erhöhte Arbeitszeit bedingt). In Yoma 35b nennt er einen
halben Denar („Tropaik“) als Beispiel für einen Hungerlohn, mit dem der fromme Hillel
gleichwohl seine Familie ernährt und sein Torastudium finanziert habe. Wer über weniger als
200 Denare jährlich verfügt, ist nach Mischna Pea 8,8 zum Empfang von Armenzehnt und
weiteren Sozialleistungen berechtigt (Ben-David 1974, 292f.). Diese rabbinischen Texte
spiegeln die Verhältnisse vom späten 2. bis zum 5. Jahrhundert n. Chr., lassen aber, sofern
man eine leichte Geldwertminderung in Rechnung stellt, auf die neutestamentliche Zeit
zurückschließen (Avemarie 2002, 276 Anm. 23; für Ägypten: Drexhage 1991, 405). Der eine
Denar von Mt 20 wäre demnach je nach Saison, Marktlage und Art der Arbeit ein
durchschnittlicher bis guter Tageslohn gewesen, ein ungewöhnlich großzügiger allerdings
sicherlich nicht (Carter 1994, 153).
Wenn demnach die Hitze und der akute Bedarf an Arbeitskraft in Mt 20 auf die Weinlese
hindeuten, während die Lohnhöhe von einem Denar an anspruchsvollere Tätigkeiten denken
lässt, so fällt doch diese Unstimmigkeit literarisch nicht ins Gewicht. Die Parabel bietet
keinen exakten, sondern einen suggestiven Realismus: Es gibt viel zu tun, die Arbeit ist
schweißtreibend, die Bezahlung gut – und weil diese Einzelzüge stimmen, überzeugt auch das
Gesamtbild. Ohnehin ist das Kolorit hier kein Selbstzweck; es muss nur so weit plausibel
sein, dass das Unerwartete, von dem es durchkreuzt wird, sich kräftig von ihm abheben kann.
Analyse des Bedeutungshintergrunds (Bildfeldtradition)
Metaphorische Rede vom Weinbau hat eine lange biblisch-jüdische Tradition; gewöhnlich
stehen der Weinberg für Israel und der Weinbauer für Gott (Münch 2004, 189–191). Das Bild
lässt sich sehr verschieden ausgestalten; während etwa in Jes 5 ein unfruchtbarer Weinberg
auf Rechtsbruch in Israel weist, versinnbildlicht das Eindringen von Wildschweinen in Ps
80,14, dass Gott das Volk seinen Feinden preisgegeben hat. Auch in den Evangelien sind
unfruchtbares Holz und seine Vernichtung geläufige Bilder für menschliches Ungenügen und
strafendes Unheil (vgl. Mt 3,10; Lk 13,6–9).
Die Parabel von den Arbeitern im Weinberg handelt allerdings von anderem; es geht nicht um
den Weinberg selbst, sondern um die, die ihn bestellen, und um ihren Lohn. Das Bild wirkt
freundlicher und optimistischer, der Weinberg scheint gepflegt und ertragreich, aber darauf
kommt es nicht an; wichtig ist vielmehr, dass nun aus der kollektiven Größe Israel Individuen
herausgegriffen und in den Brennpunkt gerückt werden, Individuen, die sich nach Leistung
und erwartbarem Entgelt markant voneinander unterscheiden. Die Metaphorik des Weinbergs
wird hier von einem zweiten traditionellen Bildfeld überlagert, dem der Lohnarbeit, das sich
in der antiken jüdischen Literatur kaum geringerer Verbreitung erfreut (Beispiele bei
Erlemann 1999, 267–269) und sich hier schon deshalb leicht anschließen lässt, weil es Gott in
der Rolle des Arbeitsherrn und Lohngebers verkörpert, die von dem Weinbergbesitzer ohne
weiteres mit übernommen werden kann.
Die Bezeichnung göttlicher Vergeltung als „Lohn“ ist bereits alttestamentlich belegt. Im
nachbiblischen Judentum galt es, wie im Neuen Testament, als selbstverständlich, dass Gott
menschliches Handeln bestraft oder belohnt (Hezser 1990, 107–127; Münch 2004, 194; zu Mt
s. Deines 2004, 170–177). Ebenso charakteristisch für das antike Judentum sind jedoch auch
vielfältige Einschränkungen und Brechungen des Vergeltungsgedankens, besonders die
Warnung davor, den Lohn zum maßgeblichen Motiv der eigenen Frömmigkeitspraxis zu
machen. So heißt es im Talmud Jeruschalmi, Gott habe die Belohnung für das Tun der Gebote
„schwankend gemacht, damit man sie aus Glauben tue“ (Pea 1,1/34), und zum Urgestein der
rabbinischen Überlieferung gehört der Ausspruch von Mischna Avot 1,3: „Seid nicht wie
Sklaven, die dem Herrn in der Absicht dienen, eine Belohnung zu empfangen, sondern seid
wie Sklaven, die dem Herrn in der Absicht dienen, keine Belohnung zu empfangen!“ In einem
spätantiken Midrasch erläutert Gott einem Rabbi, dass er denen, die sich keinen Schatz im
Himmel erworben haben, „umsonst“ geben werde (Tanchuma B, Ki-tissa 16, 58b). In dieser
Tradition einer kritischen Relativierung von Lohnerwartungen steht auch die Parabel von den
Arbeitern im Weinberg, übrigens auch die vom Knechtslohn in Lk 17,7–10.
Für die Parabolisierung der Unterschiedlichkeit von Arbeitsleistungen gibt es ebenfalls
Beispiele. Der frühe Tod eines begnadeten Toragelehrten etwa wird im Talmud Jeruschalmi
(Berakhot 2,8/6) so kommentiert:
(Es gleicht) einem König, der viele Arbeiter einstellte, und es gab dort einen Arbeiter, der sich durch
seine Tätigkeit überaus bezahlt machte. Was tat der König? Er nahm ihn und ging mit ihm lange und
kurze Wege spazieren. Als zur Abendzeit jene Arbeiter kamen, um Lohn zu empfangen, gab er ihm
mit ihnen zusammen den vollen Lohn. Da ärgerten sich die Arbeiter und sprachen: Wir haben uns den
ganzen Tag gemüht, dieser aber hat sich nur zwei Stunden gemüht, und er hat ihm mit uns zusammen
die vollen Lohn gegeben! Der König sprach zu ihnen: Dieser hat sich in zwei Stunden so viel gemüht,
wie ihr euch den ganzen Tag nicht gemüht habt!
Mit Mt 20 berührt sich diese Parabel zudem darin, dass sie in dem einen Arbeitstag
metaphorisch die ganze Existenz eines Menschen verdichtet. Aus den Evangelien lässt sich
hierzu noch die Parabel vom reichen Kornbauern Lk 12,16–21 (par. EvThom 63) anführen,
aus der rabbinischen Literatur beispielsweise das Diktum von Mischna Avot 2,15, das sich
seinem Kontext zufolge wohl auf das Torastudium bezieht: „Der Tag ist kurz und die Arbeit
ist groß und die Arbeiter sind faul und der Lohn ist viel und der Hausherr drängt.“ Drängende
Zeit und dringendes Handeln werden überdies gern durch die Ernte versinnbildlicht (vgl. Mt
9,37; Lk 10,2; Joh 4,35f.; EvThom 73); auch deshalb legt Mt 20 den Gedanken an die
Weinlese nahe.
Die Geschichte vom königlich bestellten Spaziergänger liefert zugleich ein schönes Beispiel
dafür, dass sich das Phänomen das Extravaganz nicht auf neutestamentliche Parabeln
beschränkt. Ein Chef, der ausgerechnet seinen fleißigsten Arbeiter zum Müßiggang beordert,
wirkt nicht weniger realitätsfern als ein Unternehmer, der für eine Stunde Arbeit den vollen
Tageslohn zahlt – ohne dass dies der Suggestivität des Textes abträglich wäre. Die
verbreitetere rabbinische Form, die Andersartigkeit des Handelns Gottes zum Ausdruck zu
bringen, ist allerdings die des „Kontrastgleichnisses“. Denn da rabbinische Parabeln Bild- und
Sachhälfte gewöhnlich je für sich ausführen, können sie den Unterschied zwischen göttlichem
und alltäglich-menschlichem Handeln auch explizit thematisieren: Gemessen am Verhalten
eines „Königs von Fleisch und Blut“ handelt „der Heilige, gepriesen sei er“, ganz anders,
ungleich barmherziger, gütiger, nachgiebiger, großzügiger, eben wie es auch bei dem
Weinbergbesitzer von Mt 20 der Fall ist.
Zusammenfassende Auslegung (Deutungshorizonte)
Im Kontext des Matthäusevangeliums gehen der Parabel von den Weinbergarbeitern
verschiedene Belehrungen über die Teilhabe am Himmelreich voraus, die auch für die Parabel
selbst einen Deutungsrahmen schaffen: Es gibt Menschen, die sich um des Himmelreichs
willen zu Eunuchen machen (19,12); der reiche Jüngling hätte, wenn er seine Habe verkaufte
und den Armen gäbe, im Himmel einen Schatz (19,21, par. Mk 10,21); auf die Frage des
Petrus, was die, die um der Nachfolge willen alles verlassen haben, für einen Gewinn hätten,
erwidert Jesus, sie würden künftig unter der Herrschaft des Menschensohns die zwölf Stämme
Israels richten, und für das, was sie aufgegeben hätten, würden sie ewiges Leben und
hundertfach Ersatz empfangen (19,27–29, par. Mk 10,28–30). Dann folgt, zur Parabel
überleitend, das Logion „Und viele Erste werden Letzte und Letzte Erste sein“ (19,30, par.
Mk 10,31; Q 13,30; EvThom 4; P. Oxy. 654,26f.), was anschließend in leicht variiertem
Wortlaut wiederholt wird (20,16a, wohl als Erzählkommentar gedacht, nicht als Schlusswort
des Gutsherrn). Durch diese Einbettung wird die Parabel zu einem weiteren Lehrstück über
den Lohn der Nachfolge: Entweder man erkennt Jesu Jüngerinnen und Jünger in den
Arbeitern der letzten Stunde wieder, als die gegenwärtig Ärmsten und Letzten, die dennoch
vollen Lohn empfangen werden; dabei bliebe allerdings offen, wer mit den Arbeitern des
frühen Morgens gemeint sein mag. Oder aber, und das wird der Erzählstrategie der Parabel
besser gerecht, die in Mt 19 angesprochenen Jüngerinnen und Jünger sind herausgefordert,
sich mit den zurechtgewiesenen Ganztagsarbeitern zu identifizieren, als diejenigen, die von
Anfang an dabei waren und für die Nachfolge die größten persönlichen Opfer gebracht haben,
sich deshalb Hoffnung auf Ehrenplätze machen (vgl. 20,21!), dabei aber Gefahr laufen, sich
über später Gekommene zu überheben, statt sie als gleichgestellt zu akzeptieren. Das Logion
vom Rangtausch der Ersten mit den Letzten resümiert dabei als rahmender Kommentar zur
Parabel sicherlich nicht nur die gegenläufige Lohnauszahlung (Münch 2004, 274), sondern
auch die subjektiv empfundene materielle Zurücksetzung der Ganztagsarbeiter;
leistungsbezogen erhalten sie ja tatsächlich den geringsten Lohn.
Sieht man vom matthäischen Kontext ab und liest die Parabel als ein Stück Verkündigung des
historischen Jesus (ob sie tatsächlich von Jesus stammt, ist nicht sicher; es scheint aber gut
möglich und wird von den meisten angenommen), so wäre Rangdenken unter Jüngern und
Jüngerinnen auch hier ein plausibler Sachbezug. Verbreiteter ist allerdings die Auffassung,
dass sich in dem Gegensatz zwischen den frühen und späten Arbeitern die
Auseinandersetzung um Jesu Heilsbotschaft an die Deklassierten der jüdischen Gesellschaft
spiegelt: Dem frommen Establishment – in der Diktion der Evangelien: den „Schriftgelehrten
und Pharisäern“, den „Hohenpriestern und Ältesten des Volkes“ – ist es ein Dorn im Auge,
dass Jesus das Reich Gottes auch „Zöllnern und Huren“ in Aussicht stellt (Mt 21,31), ja mit
ihnen Gemeinschaft pflegt (Mk 2,16); darum erinnert er jene Frommen drastisch daran, dass
Gottes Erbarmen mit bigotter Engherzigkeit nichts gemein hat (Jeremias 1958, 27f.;
Dietzfelbinger 1983, 133–136). Nicht eindeutig ist, ob diese Zurechtweisung im Gegenzug
das Heil der Entrüsteten selbst in Frage stellt, denn einerseits klingt die Aufforderung „Nimm
das Deine und geh“ (V. 14) wie ein „Hinauswurf“ (Via 1970, 145), andererseits aber wird der
verdiente Lohn dem Hinausgeworfenen nicht streitig gemacht (Jeremias 1958, 24). In jedem
Fall allerdings ist der Konflikt ein innerjüdischer; es geht um den Gegensatz zwischen
religiöser Führung und gesellschaftlich Marginalisierten, nicht etwa zwischen einem
jüdischen und einem christlichen Frömmigkeitstyp, was man nicht vergessen sollte, wenn
man die Parabel von einem solchen Deutungsansatz her homiletisch aktualisieren will.
Alle diese Interpretationen (und ihre Varianten, vgl. den Überblick bei Davies/Allison 1997,
67f.) beruhen auf der Annahme, dass die Rolle des Weinbergbesitzers göttliche Autorität
repräsentiert und folglich das, was er sagt und tut, gegenüber den Lesenden Anspruch auf
verbindliche Orientierung erhebt (gleichgültig, ob man dahinter Gott oder Jesus von Nazareth
als den Handelnden erkennt; s. Via 1970, 142; Münch 2004, 199). Die Konventionen der
antik-jüdischen Parabeldichtung legen diese Annahme zweifellos nahe, ebenso der Hinweis
auf die „Königsherrschaft des Himmels“ als das Gegenüber des Vergleichs (V. 10). Doch gibt
es auch Ansätze, die diese Prämisse (und die mit ihr einhergehende Neigung zur allegorischen
Deutung weiterer Einzelzüge der Erzählung) ablehnen. Wer die Parabel als autonomes
Kunstwerk ohne jegliche Referenz auf eine außerhalb ihrer selbst liegende „Sache“ verstehen
möchte, wird dasjenige Moment, durch das sie sich evident macht und ihren Anspruch an die
Lesenden konkretisiert, am ehesten in dem „erzählten Ereignis der Güte“, dem „Widerfahrnis
des Ungehörigen“ und der darin sich manifestierenden „Kraft der Liebe“ finden (Harnisch
1985, 190.195); die Parabel verweist dann nicht auf das Reich Gottes, sondern lässt es als
Sprachgeschehen in die Wirklichkeit der Lesenden eintreten, ist ein Stück Gottesreich (ebd.
197, mit Hinweis auf K. E. Løgstrup).
Man mag einwenden, dass von Bildfeldkonventionen unberührte Lesende vielleicht gar nicht
fähig sind, die Laune eines Despoten als Güte zu begreifen. Und wenn man diesen Zweifel
mit einer prononciert sozialgeschichtlichen Lektüre verbindet, kann sich die Aussage der
Parabel (die man dann wohl besser als Beispielerzählung bezeichnen sollte) auch so
darstellen: Die Tagelöhner sind die aus der judäisch-galiläischen Kleinbauernschicht in die
Verelendung abgesunkenen Opfer einer expandierenden Latifundienwirtschaft; am Verhalten
des Gutsherrn werden die Macht der Besitzenden ebenso wie das Ausgeliefertsein der
Habenichtse deutlich; seine vorgebliche Großzügigkeit entwertet auch noch ihre letzte
Ressource, die Arbeitskraft, und raubt ihnen so auch ihr Ehrgefühl; aber der Grund für seinen
Erfolg, so die aufrüttelnde Botschaft, liegt nicht zuletzt bei den Tagelöhnern selbst: es ist ihr
Mangel an Solidarität (Herzog 1994, 84–96). Richtig ist an einer solchen Deutung, dass der
Antagonismus von Grundbesitz und Lohnarbeit zu den Voraussetzungen gehört, von denen
die Erzählung lebt. Sie läuft allerdings Gefahr, den literarischen Charakter des Textes,
besonders seine Strategie der Beeinflussung von Leseerwartungen, zu ignorieren. So liegt in
der Zahlung des vollen Tagelohns an alle (ob allegorisch oder nicht) ganz gewiss nicht die
Botschaft, dass Arbeit wertlos sei, ebenso wenig wie die Erzählhandlung den Tagelöhnern
irgendeine Möglichkeit lässt, gemeinsam gegen den Gutsherrn Stärke zu behaupten. Was zur
Solidarität ruft, ist vielmehr das Verhalten des Gutsherrn selbst (Gnadt 1997, 34) – so
besehen, scheint es dem Interesse einer sozialgeschichtlichen Auslegung sogar
zuwiderzulaufen, wenn sie diesem die Funktion einer „God figure“ (Herzog 1994, 82)
abspricht.
Wirkungsgeschichte
Mit ihrer hohen Deutungsoffenheit und der eigentümlichen Faszination, die von ihr ausgeht,
hat die Weinbergsparabel im Lauf der Jahrhunderte zu den unterschiedlichsten Auslegungen
und Applikationen angeregt, Auslegungen, die den theologischen, seelsorgerlichen oder
gesellschaftlichen Anliegen ihrer Vertreterinnen und Vertreter zu prägnantem Ausdruck
verhalfen (s. zum Folgenden Luz 1997, 142–146.155f.). Die Alte Kirche entdeckte in dem
Stundenschema der Verse 1–7 eine Allegorie der Erwählungsgeschichte von Adam über
Noah, Abraham und Mose bis hin zu Christus und der Berufung der Völker, oder sie bezog es
auf die Altersstufen im Leben des Menschen, etwa mit der Botschaft, dass auch eine späte
Bekehrung dem Heil keinen Abbruch tut (vgl. Origenes, in Mt. XV,32 bzw. 36, GCS
40:446f.455f.; Hieronymus, in Mt. III, z. St., CCSL 77:174f.; zur heilsgeschichtlichen
Deutung auch Irenäus, haer. 4,36,7, SC 100:910–914). Reformatorische und altprotestantische
Auslegungen fokussierten eher auf die zweite Hälfte der Parabel und sahen in den Arbeitern
der ersten Stunde das Rechnen auf verdienstliche Werke und in denen der letzten das
Vertrauen auf Gottes schenkende Güte verkörpert; der Lohn, den die auf Werke Bauenden
empfangen, konnte dabei auch als rein diesseitiges Gut gedeutet werden, das nicht vor ewiger
Verdammnis bewahrt (vgl. z.B. Luther, Fastenpostille, WA 17.2:137–139). Einem solchen
dualisierenden Verständnis kam auch der neutestamentliche textus receptus entgegen, der in
Mt 20,16b fortfährt: „Denn viele sind berufen, aber wenige erwählt“ (vgl. 22,14) – ein Zusatz,
der in den ältesten Handschriften fehlt, auch er ein Stück Wirkungsgeschichte. Katholische
Auslegungen der frühen Neuzeit betonten demgegenüber, dass es Lohn ist, was die Arbeiter
empfangen, auch die der letzten Stunde, und dass dieser Lohn für ewiges Heil steht; überdies
ließ sich der Angriff auf das Leistungsprinzip, den die Parabel führt, mit der Annahme von
Abstufungen innerhalb der ewigen Seligkeit oder auch von unterschiedlicher Effizienz der
einzelnen Arbeiter relativieren (Luz 1997, 145).
In den Auslegungen unserer Zeit haben, wenn man von den spezifischen Impulsen der
Gleichnisforschung absieht (vgl. exemplarisch Jeremias 1958; Harnisch 1985), neben den
traditionellen theologischen Fragestellungen zwei neue Interessen an Bedeutung gewonnen.
Das eine betrifft die Abwehr von antijüdischen Fehldeutungen, wie sie sich vor allem da
einstellen, wo man die an den Arbeitern der ersten Stunde diagnostizierte Haltung – sei es
Werkgerechtigkeit, sei es Mangel an Solidarität – anhand von Quellenbelegen, die sich bei der
Fülle des erhaltenen Materials leicht beibringen lassen, als charakteristisch für das antike
Judentum bestimmt und sie gleichzeitig, etwa mit V. 14a oder V. 16, als sicheren Weg ins
Unheil verurteilt (dazu Luz 1997, 143f.152f.).
Das andere Interesse gilt sozialethischen du politischen Applikationen des Textes in einer
Welt, die an Massenarbeitslosigkeit, wachsendem Ungleichgewicht in der Verteilung von
Gütern und Ressourcen und einem prekären Nord-Süd-Gefälle leidet. Zwar wird meist
nüchtern eingeräumt, dass die Parabel als Modell für eine Arbeitsmarktreform nicht taugen
würde und dies auch nicht sein will (Theobald 1992; Ebach 1997; zur Unvereinbarkeit des
Verhaltens des Weinbergbesitzers mit geltendem Arbeitsrecht s. Hofmann 1999); das hindert
aber nicht, dass man ihre Spitze gegen das Leistungsprinzip als befreiend empfindet (Martin
2003), als Ermunterung, sich mit den Gegebenheiten nicht abzufinden, und als Orientierung
für mögliche Veränderungen im individuellen wie im strukturellen Bereich (Schottroff 1984;
Ebach 1997; Gnadt 1997 u.a.m.); mit den matthäischen Ermahnungen zur „Gerechtigkeit“
(5,20) und zur imitatio Christi (20,26–28) lässt sich das auch exegetisch flankieren (Avemarie
2002). Die breite Präsenz der Parabel in Lehrplänen für die Sekundarstufe dürfte ebenfalls
damit zusammenhängen, dass sie „befreiende Entlastung von dem übergroßen Druck“
vermittelt, „sich selbst und andere nur nach Leistungsmaßstäben zu beurteilen“
(Lämmermann 1986, 487).
Als Beispiel für eine Interpretation in der bildenden Kunst eine Tuschzeichnung von Rembrandt, die
den Protest nach der Lohnauszahlung darstellt (Abb. bei Martin 2003, 164): Der Gutsherr sitzt hinter
einem Tisch, der das linke untere Eckfeld einnimmt, zwei Arbeitern zugewandt, die von rechts an ihn
herangetreten sind; der vordere von ihnen steht, mit seiner Vertikalen das Bild in zwei Hälften teilend,
aufrecht im Profil, der hintere, näher bei dem Gutsherrn, beugt sich gestikulierend zu diesem vor. Am
rechten Bildrand steht eine weitere Figur, die das Geschehen am Tisch aus der Distanz und in
entspannterer Haltung mitverfolgt, und dazwischen entfernen sich drei Gestalten in den Hintergrund,
von denen eine auf erhobener Handfläche den andern eine Münze vorzeigt, die mit ihrem Lohn
Zufriedenen, die in der Schlussszene der Parabel nicht mehr gebraucht werden. Der Fokus liegt auf
dem Wortwechsel in der linken Bildhälfte, unterstrichen durch die Blickrichtung des Mannes am
rechten Bildrand und durch die angespannte Körperhaltung der drei am Tisch: Der Gestikulierende
fasst sich mit der Rechten an den Kopf, der Aufrechte, der in der einen Hand einen Korb trägt, hält die
andere in Brusthöhe vor sich bereit, der Gutsherr hingegen, von den anderen nicht nur durch sein
Sitzen, sondern auch durch üppige Gewandung, Mantel und Mütze, unterschieden, weist mit
ausgestrecktem linken Arm in Richtung der Protestierenden auf die Tischplatte, sein Blick der Hand
folgend, während er sich, den Oberkörper zurückgeneigt, mit dem rechten Arm auf der Tischplatte
abstützt. In dieser Haltung allerdings wirkt seine Figur überraschend defensiv: Durch den
Bildausschnitt ohnehin auffällig dezentral platziert, scheint er sich durch den Auftritt der Protestierer
noch weiter an den Rand drängen zu lassen, und nicht nur mit dem Körper, auch mit dem Blick weicht
er aus, während sich jene unerschrocken vor ihm aufbauen. Sein Sitzen und die entschlossen
ausgestreckte Linke lassen zwar nicht erwarten, dass er nachgeben könnte, doch Selbstsicherheit
strahlt seine Erscheinung ebenso wenig aus. Wie es scheint, verliert die Rolle dieses Grundbesitzers
viel von ihrer Unangreifbarkeit, sobald man sie sich nicht als „God figure“, sondern als Menschen wie
andere vorzustellen beginnt.
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