Jedem das Seine? Allen das Volle! (Die Arbeiter im Weinberg), Mt
Transcrição
Jedem das Seine? Allen das Volle! (Die Arbeiter im Weinberg), Mt
Jedem das Seine? Allen das Volle! (Die Arbeiter im Weinberg), Mt 20,1–15 (20,1) Denn das Königreich des Himmels gleicht einem Gutsherrn, der gleich in der Frühe hinausging, um Arbeiter für seinen Weinberg einzustellen. (2) Und nachdem er sich mit den Arbeitern auf einen Denar den Tag geeinigt hatte, schickte er sie in seinen Weinberg. (3) Und als er zur dritten Stunde hinausging, sah er andere untätig auf dem Markt stehen, (4) und zu diesen sprach er: Geht auch ihr in den Weinberg, und ich werde euch geben, was gerecht ist. (5) Und sie gingen. Und zur sechsten und neunten Stunde ging er abermals hinaus und machte es ebenso. (6) Und als er zur elften hinausging, fand er andere stehen und sagte zu ihnen: Was steht ihr hier den ganzen Tag untätig? (7) Sie sagten zu ihm: Weil uns niemand eingestellt hat. Er sagte zu ihnen: Geht auch ihr in den Weinberg! (8) Als es aber Abend geworden war, sagte der Weinbergbesitzer zu seinem Verwalter: Ruf die Arbeiter und zahle ihnen den Lohn, von den Letzten angefangen bis zu den Ersten. (9) Und als die von der elften Stunde kamen, erhielten sie je einen Denar. (10) Und als die Ersten kamen, glaubten sie, dass sie mehr erhalten würden. Doch auch sie erhielten je einen Denar. (11) Als sie ihn aber erhalten hatten, beschwerten sie sich bei dem Gutsherrn (12) und sagten: Diese Letzten haben eine (einzige) Stunde gearbeitet, und du hast sie uns, die wir die Last und die Hitze des Tages ertragen haben, gleichgestellt! (13) Er aber antwortete und sprach zu einem von ihnen: Freund, ich tue dir kein Unrecht. Hast du dich nicht mit mir auf einen Denar geeinigt? (14) Nimm das Deine und geh. Ich will aber diesem Letzten (so viel) geben wie auch dir. (20,15) Oder darf ich mit meiner Habe nicht tun, was ich will? Siehst du etwa böse drein, weil ich gut bin? Anmerkungen zur Übersetzung V. 1.2.8: Die maskuline Pluralform ejrgavtai, ergátai, „Arbeiter“, kann weibliche Arbeitskräfte einschließen oder auch nicht. Letzteres ist hier wahrscheinlicher, da Frauen in der Antike nur selten für Tagelohn beschäftigt und in der Regel für gleiche Arbeit schlechter bezahlt wurden als Männer, während in V. 2 für alle der gleiche Lohn vereinbart wird. (In den bei Drexhage 1991, 412–425, ausgewerteten Dokumenten über Tagelöhne im römischen Ägypten werden zwar recht oft Kinder, aber nur zweimal Frauen erwähnt: in O. Strassb. 761 und O. Petr. 339, wobei das zweite dieser Ostraka für die Frauen einen um ein Drittel niedrigeren Lohn als für die neben ihnen aufgeführten Männer angibt; s. Tait 1930, 131; Hengstl 1972, 111.) – V. 3.6: ajrgov", argós, „unbeschäftigt, müßig, träge“ usw., bezieht sich hier auf die unfreiwillige Untätigkeit von Arbeitslosen. Die Übersetzung „arbeitslos“ empfiehlt sich dennoch nicht, da sie die in V. 7 gegebene Antwort überflüssig machen würde. – V. 12: Der Genitiv „des Tages“ steht zwar bei „Last“, bezieht sich aber sachlich wohl auch auf die „Hitze“; vgl. analog Mk 5,40; Act 4,8 u.ö. Sprachlich-narrative Analyse (Bildlichkeit) Die Pointe und die Faszination dieser Parabel liegen darin, dass sie der kunstvoll aufgebauten Leseerwartung, es würden die früher angeworbenen Arbeiter einen proportional höheren Lohn empfangen als die später eingestellten, eine ebenso kunstvoll eingefädelte Enttäuschung bereitet (Harnisch 1985, 188–194). Die Zahlung eines Einheitstagelohnes schreibt sie dabei der „Güte“ des Weinbergbesitzers zu, der nicht nur als Handlungssouverän agiert, sondern allem Anschein nach auch den Leserinnen und Lesern als autoritative Instanz präsentiert wird (Münch 2004, 167). An welchem Punkt der Erzählung das Erwartungswidrige des Geschehens, seine „Extravaganz“, aufbricht, mögen die Lesenden unterschiedlich empfinden; auch wissenschaftliche Auslegungen sind sich hierin nicht einig. Schon im ersten Teil, der Serie von Szenen auf dem Marktplatz in V. 1–7, geschieht Ungewohntes, doch die Erzählung lässt hier den Lesenden genügend Spielraum, sich das Merkwürdige zu plausibel zu machen. Dass der Gutsherr persönlich die Arbeiter anwirbt, lässt an ein eher bescheidenes Anwesen denken (Schottroff 2005, 278), wenngleich ein Verwalter später noch auftreten wird. Dass er nicht nur in der Frühe, sondern noch bis in den Nachmittag Arbeitskräfte sucht, mag irritieren (Münch 2004, 176; Fiedler 2006, 317), lässt sich aber mit den für den Weinbau charakteristischen, jahreszeitabhängigen Schwankungen im Arbeitsbedarf erklären; das Motiv der Mittagshitze in V. 12 scheint auf die Traubenlese hinzudeuten (Harnisch 1985, 177; Avemarie 2002, 276 Anm. 22). Außerdem beweist der Gutsherr, indem er den Einsatz von Lohnarbeit den momentanen Erfordernissen anpasst, sein ökonomisches Geschick (Schottroff 2005, 276). Dass eine feste Lohnvereinbarung nur bei der ersten Anwerberunde, bei den späteren dagegen nicht mehr erwähnt wird, mag der erzählerischen Pflicht zur Vermeidung von Redundanz entspringen und wäre dann nicht weiter auffällig (Hezser 1990, 238); es könnte aber auch zu weiteren Mutmaßungen über die Geschäftstüchtigkeit des Gutsherrn einladen (Herzog 1994, 86f.), wie sie sich vor allem in der Frage von V. 6 äußert, die süffisant das wirtschaftliche Ausgeliefertsein der arbeitslosen Marktsteher bloßstellt und damit die eigene Zwangslage überspielt. Dass sich die Zusage einer „gerechten“ Entlohnung in V. 4 am Ende als hoch bedeutsam herausstellen wird, ahnt man noch nicht. Der zweite Teil der Parabel, der sich vom ersten räumlich durch die Verlagerung der Handlung vom Marktplatz in den Gutshof und temporal durch eine starke Dehnung der Erzählzeit im Verhältnis zum erzählten Geschehen abhebt, beginnt mit einer Wendung, die sich nun nicht mehr mit mehr oder weniger alltäglichen Erfahrungen in Deckung bringen lässt, durch ihre unkommentierte Befremdlichkeit aber erst recht zum Füllen der narrativen Leerstellen herausfordert: Der Gutsherr beauftragt seinen Verwalter, bei der Entlohnung der Arbeiter die Reihenfolge, in der sie eingestellt worden waren, umzukehren. Da der Verwalter sonst keine Rolle in der Erzählung spielt – müsste er nicht, von den Anwerbungen in V. 1–7 abgesehen, vor allem in V. 11 die Beschwerden entgegennehmen? –, scheint es, dass sein Auftritt in V. 8 einzig den Zweck hat, für die Erläuterung jenes merkwürdigen Auszahlungsmodus Gelegenheit zu schaffen. Das aber bedeutet, dass diese Erläuterung eigentlich für die Leserinnen und Leser bestimmt ist – wenn auch weniger, um ihnen Einblick zu gewähren, als vielmehr, um sie zu Mutmaßungen zu animieren, denn eine Begründung für diese seltsame Anweisung wird ihnen vorenthalten. Die erzählerische Sorgfalt allerdings, mit der zuvor die sukzessiven Anwerberunden zeitlich voneinander abgehoben worden waren, drängt sie in die Erwartung, dass die Bezahlung diesem „scharf markierten Unterschied in der Arbeitsleistung Rechnung“ tragen wird (Harnisch 1985, 188). Werden die Lesenden schon damit auf eine falsche Spur gelockt, so mehr noch mit dem nächsten Zug der Erzählung, der Auszahlung eines vollen Denars an diejenigen, die am wenigsten geleistet hatten. Denn nachdem V. 8 suggeriert hatte, der Lohn werde proportional zum Arbeitsumfang ausfallen, scheint es V. 9 zu erlauben, diese Vermutung zu präzisieren: Je nach Arbeitsbeginn müssten die früher Gekommenen einen entsprechend höheren Lohn als jenen einen Denar erhalten. Lesende, die bis hierhin mitgedacht haben, werden durch V. 10a in ihren Mutmaßungen bestätigt, denn den gleichen Schluss ziehen nun explizit auch jene Leistungsträger, die bis zuletzt auf ihren Lohn gewartet haben (und die dies, wie man jetzt sieht, deshalb tun mussten, um eben diese Folgerung anstellen zu können; was sich die Arbeiter der 3., 6. und 9. Stunde gedacht haben mögen, bleibt der Einfachheit halber außer Betracht). Zugleich erweisen sich so die Erwartungen, in die die Lesenden in V. 8 und 9 hineingelotst wurden, als mit der Haltung jener Leistungsträger konform – deren Rolle ist es also, die ihnen die Parabel zur Identifikation bereithält (wobei sie sich allerdings durch das relativierende „glaubten sie“ bereits vorsichtig von ihnen distanziert). Die Implikationen dieser aufgedrängten Rolle sind für die Lesenden durchaus unangenehm: Von der Enttäuschung, dass am Ende nicht mehr als der eine vereinbarte Denar gezahlt wird (von einer freudigen Überraschung der zuerst Entlohnten ist bezeichnenderweise nicht die Rede; sie ist nebensächlich), sind sie ebenso mitbetroffen wie von der herablassenden Belehrung, mit der sich der Gutsherr anschließend über die Beschwerde der Enttäuschten, ihr Anliegen und ihre Argumentation hinwegsetzt (Harnisch 1985, 193). Mit der Extravaganz des erzählten Geschehens hängt insofern auch unmittelbar die Botschaft zusammen, die die Parabel durch das Schlusswort des Gutsherrn ihren Leserinnen und Leser zukommen lässt: Wenn Menschen, denen es schlecht geht, Gutes erwiesen wird, haben diejenigen, denen es gut geht, keinen Anlass, so zu tun, als geschähe ihnen dadurch ein Unrecht (wie und auf wen auch immer diese Botschaft konkret zu applizieren sein mag). Die durch den Gutsherrn verkörperte Haltung charakterisiert die Parabel mit zwei prägnanten Wertbegriffen: „gut“ (ajgaqov", agathós, V. 15) und „gerecht“ (divkaio", díkaios, V. 4). Beide Begriffe erfahren durch das Verhalten des Mannes eine scharfe Profilierung. Seine Güte bedeutet nicht, dass er ein Verschwender wäre; der eine Denar, den er den zuletzt Eingestellten zahlen lässt, ist kein beliebiger Betrag, sondern genau das, was diese Leute verdient haben würden, wären sie schon bei Tagesanbruch angeheuert worden. Statt ihrer Leistung scheint es demnach ihr Arbeitswille, ihre Einsatzbereitschaft zu sein, die er belohnt. Dass er auf ihre Bedürfnisse Rücksicht nimmt und ihnen mit dem einen Denar das Lebensnotwendige zukommen lassen will, ist ebenfalls möglich, wird aber nicht betont; arbeitsunfähigen Krüppeln, wie er sie auf dem Marktplatz ebenfalls vorgefunden haben könnte, zahlt er keinen Lohn. Folgenlos bleibt seine Güte aber vor allem für die Ganztagesarbeiter (Carter 1994, 152), und das ist es, was sie so verärgert. Es ist eine provozierende Güte, weil sie anderen als ihnen selbst zugute kommt. Noch erstaunlicher ist, wie die Parabel den Begriff der Gerechtigkeit handhabt: Wenn der Gutsherr gegenüber den Arbeitern der dritten Stunde Wort gehalten hat – und das ist wahrscheinlich, denn er hat es auch gegenüber denen der ersten –, dann impliziert dies, dass seine Gerechtigkeit in eben der besagten Aufhebung des üblichen Verhältnisses von Lohn und geleisteter Arbeit besteht (Carter 1994, 152; anders Eichholz 1971, 89; Kissling 1998, 160f.; vermittelnd Theobald 1992, 121f.). Das aber ist hoch brisant, denn die Welt der Lohnarbeit war seit jeher und ist bis heute (Montada 1997, 12) von jenem schon von Aristoteles beschriebenen Gerechtigkeitsbegriff bestimmt, der auf der proportionalen Entsprechung von Tun und Vergeltung, von Leistung und Gegenleistung beruht (Ethica Nicomachea 1131b: „Das Gerechte ist also dies: das Verhältnismäßige“, to; ajnavlogon, to análogon; hierzu Hofmann 1999, 553–556). Befragungen im Religionsunterricht haben gezeigt, dass Kinder noch bis über das Grundschulalter hinaus unfähig sind, das Verhalten des Weinbergbesitzers als gerecht zu akzeptieren; gerecht wäre für sie nur eine nach Leistung bemessene Bezahlung (Bucher 1990; s. auch Karweick/Alkier 2003: Max, 9 Jahre, würde ebenso handeln wie der Gutsbesitzer, nicht aber, weil das gerecht wäre, sondern weil es „nett“ ist). In V. 4 allerdings ist von einer revolutionären Umprägung des Gerechtigkeitsbegriffs noch nichts zu spüren. Das Stichwort „gerecht“ dient hier im Gegenteil dazu, den Lesenden den vertrauten Proportionalitätsgedanken ins Bewusstsein zu rufen; sie sollen einstweilen nichts „anderes denken, als daß von dem einen Denar der Betrag abgezogen wird, der der verminderten Arbeitszeit“ entspricht (Dietzfelbinger 1983, 129). Mit der vorläufig-taktischen Inanspruchnahme dieses Begriffs von Gerechtigkeit bringt die Parabel sie dazu, den ersten Schritt zu jener Serie von Mutmaßungen zu tun, die sie am Ende mitleidlos desavouiert. Dass die Erzählung lediglich ein Beispiel für Privatwohltätigkeit bietet, wie sie in der hellenistisch-römischen Welt gang und gäbe war, noch dazu ein eher bescheidenes Beispiel, und insofern keineswegs die bekannten gesellschaftlichen Spielregeln auf den Kopf stellt (Schottroff 2005, 277), ist angesichts der Planmäßigkeit, mit der sie das Proportionalitätsprinzip an der Erfahrung unverfügbarer Güte scheitern lässt, nicht anzunehmen. Selbstverständlich kann ein Unternehmer wohltätig sein, kann Wohltätigkeit sogar für unternehmerische Zwecke einspannen, aber davon handelt die Parabel nicht. Indem sie die mit schenkendem Reichtum den Leistungsgedanken nicht etwa veredelt, sondern zu Fall bringt, baut sie zwischen Wirtschaftlichkeit und Güte einen unversöhnlichen Gegensatz auf. Der beliebte Versuch, sich auszumalen, wie die Geschichte am nächsten Tag weitergegangen sein könnte (Harnisch 1985, 63 Anm. 42; Ebach 1997), führt unvermeidlich zu der Einsicht, dass solche Methoden ein Unternehmen ruinieren. Sozialgeschichtliche Analyse (bildspendender Bereich) Weinbau war in der Antike eine der kostenintensivsten, aber auch einträglichsten Formen von Landwirtschaft (Ruffing 2002, 427; zum Wert der Anbaufläche s. Cato, agr. 1,7, zu den hohen Kosten Varro, rust. 1,8,1); insofern liegt es nahe, dass eine Erzählung, in der es um kluges Wirtschaften geht, auf einem Weingut spielt. Die Arbeiten, die im Wingert zu tun sind, wechseln mit den Jahreszeiten; erhöhter Arbeitsbedarf fällt vor allem bei der Lese im Spätsommer und beim Rebschnitt in den Wintermonaten an. Ägyptische Papyri belegen, dass Weinbaubetriebe während dieser Zeiten über ihre Stammbelegschaft (Cato, agr. 11) hinaus zusätzliches Personal einstellen mussten; so klagt ein Gutsverwalter über den hohen Aufwand, den ihn die Suche nach Arbeitskräften gekostet habe, „weil alle gleichzeitig Weinlese hielten“ (P. Mich. Inv. 347v, Z. 21–24; Youtie 1977). Der Römer Columella empfiehlt, um dergleichen zu vermeiden, Rebsorten von unterschiedlicher Reifezeit anzubauen, und zwar getrennt voneinander (rust. 3,21,9f.). Seit Mark Aurel waren wegen des Arbeitskräftebedarfs während der Lesezeit sogar gerichtliche Vorladungen untersagt (Iustiniani digesta 2,12,1; Brun 2003, 48). Zu Mt 20 scheint all dies zu passen, so wie auch das Motiv der Hitze in V. 12 an die Lese denken lässt. Was sich weniger gut mit der antiken orientalischen Weinlesepraxis zusammenreimt, ist die Entlohnung der Arbeiter in Geld, noch dazu mit einem vollen Denar. Die Lese erforderte weder handwerkliche Fertigkeiten noch besonderes Geschick (die antiken Schriften zum Landbau, so detailliert sie sich mit dem Anlegen des Weinbergs, der Veredelung und Pflege der Reben und der Verarbeitung der Trauben befassen, haben zur Lese fast nichts an fachlichem Rat zu bieten; s. Cato, agr. 25; Varro, rust. 1,54); das erklärt, weshalb diejenigen, die dabei mithalfen, sich gewöhnlich mit Wenigem zufrieden geben mussten. In Ägypten wurden sie in Naturalien bezahlt, wurden mit Nahrungsmitteln, reichlichen Mengen an Wein und sogar mit musikalischer Unterhaltung versorgt, aber ein Geldlohn ist nirgends belegt (Ruffing 1999, 150). In einem Pachtvertrag sind für die Sommermonate sogar die geringsten Betriebskosten des ganzen Jahres aufgeführt (P. Oxy. 3354; Ruffing 2002, 386f.). In anderen Gegenden des römischen Reiches, auch im syrisch-palästinischen Raum, mag dies vielleicht anders gewesen sein. Auch Varro allerdings, der die Verhältnisse in Italien vor Augen hat, wenn er empfiehlt, die Trauben- wie die Getreideernte lieber von Lohnarbeitern als von Sklaven durchführen zu lassen, sagt nichts über Art noch Höhe des Entgelts (rust. 1,17,2). Verhältnismäßig gut dagegen war die Bezahlung der Arbeiter, die im Winter für den Rebschnitt eingestellt wurden. Die eine Drachme pro Tag, die das Geschäftsbuch eines ägyptischen Landgutes aus den Jahren 78/79 n. Chr. für eine solche Fachkraft ausweist, gehört zu den höchsten Löhnen, die hier aufgeführt sind; selbst der Knabe (paidivon, paidíon), der das „Vorschneiden“ besorgte, verdiente mit 3 Obolen mehr als andere Kinder, die etwa zum Ausfegen von Laub angestellt waren, und wenn „bis zum Abend“ gearbeitet wurde, fiel der Lohn noch höher aus (P. Lond. 131r, col. 17–19; dazu Świderek 1960, 67; Drexhage 1991, 404). Um die hohen Kosten zu senken, so berichtet Plinius d. Ä., habe man in Aricia in Latium den Rebschnitt nur jedes zweite Jahr vorgenommen (nat. hist. 17,213). Der in Mt 20 genannte (römische) Denar entspricht im Wert nicht genau der (römischägyptischen) Drachme jenes ägyptischen Tagelöhners, aber die Größenordnung ist die gleiche (zu den Schwierigkeiten der Umrechnung s. Christiansen 1988, 1:12f.). Tob 5,15 nennt als Tagelohn für Reisebegleitung eine (phönikisch-seleukidische) Drachme nebst täglichem Bedarf. Mit einem Denar pro Person und Tag veranschlagt Bereshit Rabba 61,7 (668) den Wert von Israels Fronarbeit in Ägypten. In Avot de-Rabbi Natan 26,12 (358) werden Tagelöhne in Höhe von ein und zwei Denaren genannt. Der babylonische Talmud geht in Bava Batra 86b von einem Denar als üblichem Tagelohn für Landarbeit aus, zieht aber für die Erntezeit eine Steigerung bis zum Vierfachen in Betracht (vielleicht nicht nur durch die Marktlage, sondern auch durch eine erhöhte Arbeitszeit bedingt). In Yoma 35b nennt er einen halben Denar („Tropaik“) als Beispiel für einen Hungerlohn, mit dem der fromme Hillel gleichwohl seine Familie ernährt und sein Torastudium finanziert habe. Wer über weniger als 200 Denare jährlich verfügt, ist nach Mischna Pea 8,8 zum Empfang von Armenzehnt und weiteren Sozialleistungen berechtigt (Ben-David 1974, 292f.). Diese rabbinischen Texte spiegeln die Verhältnisse vom späten 2. bis zum 5. Jahrhundert n. Chr., lassen aber, sofern man eine leichte Geldwertminderung in Rechnung stellt, auf die neutestamentliche Zeit zurückschließen (Avemarie 2002, 276 Anm. 23; für Ägypten: Drexhage 1991, 405). Der eine Denar von Mt 20 wäre demnach je nach Saison, Marktlage und Art der Arbeit ein durchschnittlicher bis guter Tageslohn gewesen, ein ungewöhnlich großzügiger allerdings sicherlich nicht (Carter 1994, 153). Wenn demnach die Hitze und der akute Bedarf an Arbeitskraft in Mt 20 auf die Weinlese hindeuten, während die Lohnhöhe von einem Denar an anspruchsvollere Tätigkeiten denken lässt, so fällt doch diese Unstimmigkeit literarisch nicht ins Gewicht. Die Parabel bietet keinen exakten, sondern einen suggestiven Realismus: Es gibt viel zu tun, die Arbeit ist schweißtreibend, die Bezahlung gut – und weil diese Einzelzüge stimmen, überzeugt auch das Gesamtbild. Ohnehin ist das Kolorit hier kein Selbstzweck; es muss nur so weit plausibel sein, dass das Unerwartete, von dem es durchkreuzt wird, sich kräftig von ihm abheben kann. Analyse des Bedeutungshintergrunds (Bildfeldtradition) Metaphorische Rede vom Weinbau hat eine lange biblisch-jüdische Tradition; gewöhnlich stehen der Weinberg für Israel und der Weinbauer für Gott (Münch 2004, 189–191). Das Bild lässt sich sehr verschieden ausgestalten; während etwa in Jes 5 ein unfruchtbarer Weinberg auf Rechtsbruch in Israel weist, versinnbildlicht das Eindringen von Wildschweinen in Ps 80,14, dass Gott das Volk seinen Feinden preisgegeben hat. Auch in den Evangelien sind unfruchtbares Holz und seine Vernichtung geläufige Bilder für menschliches Ungenügen und strafendes Unheil (vgl. Mt 3,10; Lk 13,6–9). Die Parabel von den Arbeitern im Weinberg handelt allerdings von anderem; es geht nicht um den Weinberg selbst, sondern um die, die ihn bestellen, und um ihren Lohn. Das Bild wirkt freundlicher und optimistischer, der Weinberg scheint gepflegt und ertragreich, aber darauf kommt es nicht an; wichtig ist vielmehr, dass nun aus der kollektiven Größe Israel Individuen herausgegriffen und in den Brennpunkt gerückt werden, Individuen, die sich nach Leistung und erwartbarem Entgelt markant voneinander unterscheiden. Die Metaphorik des Weinbergs wird hier von einem zweiten traditionellen Bildfeld überlagert, dem der Lohnarbeit, das sich in der antiken jüdischen Literatur kaum geringerer Verbreitung erfreut (Beispiele bei Erlemann 1999, 267–269) und sich hier schon deshalb leicht anschließen lässt, weil es Gott in der Rolle des Arbeitsherrn und Lohngebers verkörpert, die von dem Weinbergbesitzer ohne weiteres mit übernommen werden kann. Die Bezeichnung göttlicher Vergeltung als „Lohn“ ist bereits alttestamentlich belegt. Im nachbiblischen Judentum galt es, wie im Neuen Testament, als selbstverständlich, dass Gott menschliches Handeln bestraft oder belohnt (Hezser 1990, 107–127; Münch 2004, 194; zu Mt s. Deines 2004, 170–177). Ebenso charakteristisch für das antike Judentum sind jedoch auch vielfältige Einschränkungen und Brechungen des Vergeltungsgedankens, besonders die Warnung davor, den Lohn zum maßgeblichen Motiv der eigenen Frömmigkeitspraxis zu machen. So heißt es im Talmud Jeruschalmi, Gott habe die Belohnung für das Tun der Gebote „schwankend gemacht, damit man sie aus Glauben tue“ (Pea 1,1/34), und zum Urgestein der rabbinischen Überlieferung gehört der Ausspruch von Mischna Avot 1,3: „Seid nicht wie Sklaven, die dem Herrn in der Absicht dienen, eine Belohnung zu empfangen, sondern seid wie Sklaven, die dem Herrn in der Absicht dienen, keine Belohnung zu empfangen!“ In einem spätantiken Midrasch erläutert Gott einem Rabbi, dass er denen, die sich keinen Schatz im Himmel erworben haben, „umsonst“ geben werde (Tanchuma B, Ki-tissa 16, 58b). In dieser Tradition einer kritischen Relativierung von Lohnerwartungen steht auch die Parabel von den Arbeitern im Weinberg, übrigens auch die vom Knechtslohn in Lk 17,7–10. Für die Parabolisierung der Unterschiedlichkeit von Arbeitsleistungen gibt es ebenfalls Beispiele. Der frühe Tod eines begnadeten Toragelehrten etwa wird im Talmud Jeruschalmi (Berakhot 2,8/6) so kommentiert: (Es gleicht) einem König, der viele Arbeiter einstellte, und es gab dort einen Arbeiter, der sich durch seine Tätigkeit überaus bezahlt machte. Was tat der König? Er nahm ihn und ging mit ihm lange und kurze Wege spazieren. Als zur Abendzeit jene Arbeiter kamen, um Lohn zu empfangen, gab er ihm mit ihnen zusammen den vollen Lohn. Da ärgerten sich die Arbeiter und sprachen: Wir haben uns den ganzen Tag gemüht, dieser aber hat sich nur zwei Stunden gemüht, und er hat ihm mit uns zusammen die vollen Lohn gegeben! Der König sprach zu ihnen: Dieser hat sich in zwei Stunden so viel gemüht, wie ihr euch den ganzen Tag nicht gemüht habt! Mit Mt 20 berührt sich diese Parabel zudem darin, dass sie in dem einen Arbeitstag metaphorisch die ganze Existenz eines Menschen verdichtet. Aus den Evangelien lässt sich hierzu noch die Parabel vom reichen Kornbauern Lk 12,16–21 (par. EvThom 63) anführen, aus der rabbinischen Literatur beispielsweise das Diktum von Mischna Avot 2,15, das sich seinem Kontext zufolge wohl auf das Torastudium bezieht: „Der Tag ist kurz und die Arbeit ist groß und die Arbeiter sind faul und der Lohn ist viel und der Hausherr drängt.“ Drängende Zeit und dringendes Handeln werden überdies gern durch die Ernte versinnbildlicht (vgl. Mt 9,37; Lk 10,2; Joh 4,35f.; EvThom 73); auch deshalb legt Mt 20 den Gedanken an die Weinlese nahe. Die Geschichte vom königlich bestellten Spaziergänger liefert zugleich ein schönes Beispiel dafür, dass sich das Phänomen das Extravaganz nicht auf neutestamentliche Parabeln beschränkt. Ein Chef, der ausgerechnet seinen fleißigsten Arbeiter zum Müßiggang beordert, wirkt nicht weniger realitätsfern als ein Unternehmer, der für eine Stunde Arbeit den vollen Tageslohn zahlt – ohne dass dies der Suggestivität des Textes abträglich wäre. Die verbreitetere rabbinische Form, die Andersartigkeit des Handelns Gottes zum Ausdruck zu bringen, ist allerdings die des „Kontrastgleichnisses“. Denn da rabbinische Parabeln Bild- und Sachhälfte gewöhnlich je für sich ausführen, können sie den Unterschied zwischen göttlichem und alltäglich-menschlichem Handeln auch explizit thematisieren: Gemessen am Verhalten eines „Königs von Fleisch und Blut“ handelt „der Heilige, gepriesen sei er“, ganz anders, ungleich barmherziger, gütiger, nachgiebiger, großzügiger, eben wie es auch bei dem Weinbergbesitzer von Mt 20 der Fall ist. Zusammenfassende Auslegung (Deutungshorizonte) Im Kontext des Matthäusevangeliums gehen der Parabel von den Weinbergarbeitern verschiedene Belehrungen über die Teilhabe am Himmelreich voraus, die auch für die Parabel selbst einen Deutungsrahmen schaffen: Es gibt Menschen, die sich um des Himmelreichs willen zu Eunuchen machen (19,12); der reiche Jüngling hätte, wenn er seine Habe verkaufte und den Armen gäbe, im Himmel einen Schatz (19,21, par. Mk 10,21); auf die Frage des Petrus, was die, die um der Nachfolge willen alles verlassen haben, für einen Gewinn hätten, erwidert Jesus, sie würden künftig unter der Herrschaft des Menschensohns die zwölf Stämme Israels richten, und für das, was sie aufgegeben hätten, würden sie ewiges Leben und hundertfach Ersatz empfangen (19,27–29, par. Mk 10,28–30). Dann folgt, zur Parabel überleitend, das Logion „Und viele Erste werden Letzte und Letzte Erste sein“ (19,30, par. Mk 10,31; Q 13,30; EvThom 4; P. Oxy. 654,26f.), was anschließend in leicht variiertem Wortlaut wiederholt wird (20,16a, wohl als Erzählkommentar gedacht, nicht als Schlusswort des Gutsherrn). Durch diese Einbettung wird die Parabel zu einem weiteren Lehrstück über den Lohn der Nachfolge: Entweder man erkennt Jesu Jüngerinnen und Jünger in den Arbeitern der letzten Stunde wieder, als die gegenwärtig Ärmsten und Letzten, die dennoch vollen Lohn empfangen werden; dabei bliebe allerdings offen, wer mit den Arbeitern des frühen Morgens gemeint sein mag. Oder aber, und das wird der Erzählstrategie der Parabel besser gerecht, die in Mt 19 angesprochenen Jüngerinnen und Jünger sind herausgefordert, sich mit den zurechtgewiesenen Ganztagsarbeitern zu identifizieren, als diejenigen, die von Anfang an dabei waren und für die Nachfolge die größten persönlichen Opfer gebracht haben, sich deshalb Hoffnung auf Ehrenplätze machen (vgl. 20,21!), dabei aber Gefahr laufen, sich über später Gekommene zu überheben, statt sie als gleichgestellt zu akzeptieren. Das Logion vom Rangtausch der Ersten mit den Letzten resümiert dabei als rahmender Kommentar zur Parabel sicherlich nicht nur die gegenläufige Lohnauszahlung (Münch 2004, 274), sondern auch die subjektiv empfundene materielle Zurücksetzung der Ganztagsarbeiter; leistungsbezogen erhalten sie ja tatsächlich den geringsten Lohn. Sieht man vom matthäischen Kontext ab und liest die Parabel als ein Stück Verkündigung des historischen Jesus (ob sie tatsächlich von Jesus stammt, ist nicht sicher; es scheint aber gut möglich und wird von den meisten angenommen), so wäre Rangdenken unter Jüngern und Jüngerinnen auch hier ein plausibler Sachbezug. Verbreiteter ist allerdings die Auffassung, dass sich in dem Gegensatz zwischen den frühen und späten Arbeitern die Auseinandersetzung um Jesu Heilsbotschaft an die Deklassierten der jüdischen Gesellschaft spiegelt: Dem frommen Establishment – in der Diktion der Evangelien: den „Schriftgelehrten und Pharisäern“, den „Hohenpriestern und Ältesten des Volkes“ – ist es ein Dorn im Auge, dass Jesus das Reich Gottes auch „Zöllnern und Huren“ in Aussicht stellt (Mt 21,31), ja mit ihnen Gemeinschaft pflegt (Mk 2,16); darum erinnert er jene Frommen drastisch daran, dass Gottes Erbarmen mit bigotter Engherzigkeit nichts gemein hat (Jeremias 1958, 27f.; Dietzfelbinger 1983, 133–136). Nicht eindeutig ist, ob diese Zurechtweisung im Gegenzug das Heil der Entrüsteten selbst in Frage stellt, denn einerseits klingt die Aufforderung „Nimm das Deine und geh“ (V. 14) wie ein „Hinauswurf“ (Via 1970, 145), andererseits aber wird der verdiente Lohn dem Hinausgeworfenen nicht streitig gemacht (Jeremias 1958, 24). In jedem Fall allerdings ist der Konflikt ein innerjüdischer; es geht um den Gegensatz zwischen religiöser Führung und gesellschaftlich Marginalisierten, nicht etwa zwischen einem jüdischen und einem christlichen Frömmigkeitstyp, was man nicht vergessen sollte, wenn man die Parabel von einem solchen Deutungsansatz her homiletisch aktualisieren will. Alle diese Interpretationen (und ihre Varianten, vgl. den Überblick bei Davies/Allison 1997, 67f.) beruhen auf der Annahme, dass die Rolle des Weinbergbesitzers göttliche Autorität repräsentiert und folglich das, was er sagt und tut, gegenüber den Lesenden Anspruch auf verbindliche Orientierung erhebt (gleichgültig, ob man dahinter Gott oder Jesus von Nazareth als den Handelnden erkennt; s. Via 1970, 142; Münch 2004, 199). Die Konventionen der antik-jüdischen Parabeldichtung legen diese Annahme zweifellos nahe, ebenso der Hinweis auf die „Königsherrschaft des Himmels“ als das Gegenüber des Vergleichs (V. 10). Doch gibt es auch Ansätze, die diese Prämisse (und die mit ihr einhergehende Neigung zur allegorischen Deutung weiterer Einzelzüge der Erzählung) ablehnen. Wer die Parabel als autonomes Kunstwerk ohne jegliche Referenz auf eine außerhalb ihrer selbst liegende „Sache“ verstehen möchte, wird dasjenige Moment, durch das sie sich evident macht und ihren Anspruch an die Lesenden konkretisiert, am ehesten in dem „erzählten Ereignis der Güte“, dem „Widerfahrnis des Ungehörigen“ und der darin sich manifestierenden „Kraft der Liebe“ finden (Harnisch 1985, 190.195); die Parabel verweist dann nicht auf das Reich Gottes, sondern lässt es als Sprachgeschehen in die Wirklichkeit der Lesenden eintreten, ist ein Stück Gottesreich (ebd. 197, mit Hinweis auf K. E. Løgstrup). Man mag einwenden, dass von Bildfeldkonventionen unberührte Lesende vielleicht gar nicht fähig sind, die Laune eines Despoten als Güte zu begreifen. Und wenn man diesen Zweifel mit einer prononciert sozialgeschichtlichen Lektüre verbindet, kann sich die Aussage der Parabel (die man dann wohl besser als Beispielerzählung bezeichnen sollte) auch so darstellen: Die Tagelöhner sind die aus der judäisch-galiläischen Kleinbauernschicht in die Verelendung abgesunkenen Opfer einer expandierenden Latifundienwirtschaft; am Verhalten des Gutsherrn werden die Macht der Besitzenden ebenso wie das Ausgeliefertsein der Habenichtse deutlich; seine vorgebliche Großzügigkeit entwertet auch noch ihre letzte Ressource, die Arbeitskraft, und raubt ihnen so auch ihr Ehrgefühl; aber der Grund für seinen Erfolg, so die aufrüttelnde Botschaft, liegt nicht zuletzt bei den Tagelöhnern selbst: es ist ihr Mangel an Solidarität (Herzog 1994, 84–96). Richtig ist an einer solchen Deutung, dass der Antagonismus von Grundbesitz und Lohnarbeit zu den Voraussetzungen gehört, von denen die Erzählung lebt. Sie läuft allerdings Gefahr, den literarischen Charakter des Textes, besonders seine Strategie der Beeinflussung von Leseerwartungen, zu ignorieren. So liegt in der Zahlung des vollen Tagelohns an alle (ob allegorisch oder nicht) ganz gewiss nicht die Botschaft, dass Arbeit wertlos sei, ebenso wenig wie die Erzählhandlung den Tagelöhnern irgendeine Möglichkeit lässt, gemeinsam gegen den Gutsherrn Stärke zu behaupten. Was zur Solidarität ruft, ist vielmehr das Verhalten des Gutsherrn selbst (Gnadt 1997, 34) – so besehen, scheint es dem Interesse einer sozialgeschichtlichen Auslegung sogar zuwiderzulaufen, wenn sie diesem die Funktion einer „God figure“ (Herzog 1994, 82) abspricht. Wirkungsgeschichte Mit ihrer hohen Deutungsoffenheit und der eigentümlichen Faszination, die von ihr ausgeht, hat die Weinbergsparabel im Lauf der Jahrhunderte zu den unterschiedlichsten Auslegungen und Applikationen angeregt, Auslegungen, die den theologischen, seelsorgerlichen oder gesellschaftlichen Anliegen ihrer Vertreterinnen und Vertreter zu prägnantem Ausdruck verhalfen (s. zum Folgenden Luz 1997, 142–146.155f.). Die Alte Kirche entdeckte in dem Stundenschema der Verse 1–7 eine Allegorie der Erwählungsgeschichte von Adam über Noah, Abraham und Mose bis hin zu Christus und der Berufung der Völker, oder sie bezog es auf die Altersstufen im Leben des Menschen, etwa mit der Botschaft, dass auch eine späte Bekehrung dem Heil keinen Abbruch tut (vgl. Origenes, in Mt. XV,32 bzw. 36, GCS 40:446f.455f.; Hieronymus, in Mt. III, z. St., CCSL 77:174f.; zur heilsgeschichtlichen Deutung auch Irenäus, haer. 4,36,7, SC 100:910–914). Reformatorische und altprotestantische Auslegungen fokussierten eher auf die zweite Hälfte der Parabel und sahen in den Arbeitern der ersten Stunde das Rechnen auf verdienstliche Werke und in denen der letzten das Vertrauen auf Gottes schenkende Güte verkörpert; der Lohn, den die auf Werke Bauenden empfangen, konnte dabei auch als rein diesseitiges Gut gedeutet werden, das nicht vor ewiger Verdammnis bewahrt (vgl. z.B. Luther, Fastenpostille, WA 17.2:137–139). Einem solchen dualisierenden Verständnis kam auch der neutestamentliche textus receptus entgegen, der in Mt 20,16b fortfährt: „Denn viele sind berufen, aber wenige erwählt“ (vgl. 22,14) – ein Zusatz, der in den ältesten Handschriften fehlt, auch er ein Stück Wirkungsgeschichte. Katholische Auslegungen der frühen Neuzeit betonten demgegenüber, dass es Lohn ist, was die Arbeiter empfangen, auch die der letzten Stunde, und dass dieser Lohn für ewiges Heil steht; überdies ließ sich der Angriff auf das Leistungsprinzip, den die Parabel führt, mit der Annahme von Abstufungen innerhalb der ewigen Seligkeit oder auch von unterschiedlicher Effizienz der einzelnen Arbeiter relativieren (Luz 1997, 145). In den Auslegungen unserer Zeit haben, wenn man von den spezifischen Impulsen der Gleichnisforschung absieht (vgl. exemplarisch Jeremias 1958; Harnisch 1985), neben den traditionellen theologischen Fragestellungen zwei neue Interessen an Bedeutung gewonnen. Das eine betrifft die Abwehr von antijüdischen Fehldeutungen, wie sie sich vor allem da einstellen, wo man die an den Arbeitern der ersten Stunde diagnostizierte Haltung – sei es Werkgerechtigkeit, sei es Mangel an Solidarität – anhand von Quellenbelegen, die sich bei der Fülle des erhaltenen Materials leicht beibringen lassen, als charakteristisch für das antike Judentum bestimmt und sie gleichzeitig, etwa mit V. 14a oder V. 16, als sicheren Weg ins Unheil verurteilt (dazu Luz 1997, 143f.152f.). Das andere Interesse gilt sozialethischen du politischen Applikationen des Textes in einer Welt, die an Massenarbeitslosigkeit, wachsendem Ungleichgewicht in der Verteilung von Gütern und Ressourcen und einem prekären Nord-Süd-Gefälle leidet. Zwar wird meist nüchtern eingeräumt, dass die Parabel als Modell für eine Arbeitsmarktreform nicht taugen würde und dies auch nicht sein will (Theobald 1992; Ebach 1997; zur Unvereinbarkeit des Verhaltens des Weinbergbesitzers mit geltendem Arbeitsrecht s. Hofmann 1999); das hindert aber nicht, dass man ihre Spitze gegen das Leistungsprinzip als befreiend empfindet (Martin 2003), als Ermunterung, sich mit den Gegebenheiten nicht abzufinden, und als Orientierung für mögliche Veränderungen im individuellen wie im strukturellen Bereich (Schottroff 1984; Ebach 1997; Gnadt 1997 u.a.m.); mit den matthäischen Ermahnungen zur „Gerechtigkeit“ (5,20) und zur imitatio Christi (20,26–28) lässt sich das auch exegetisch flankieren (Avemarie 2002). Die breite Präsenz der Parabel in Lehrplänen für die Sekundarstufe dürfte ebenfalls damit zusammenhängen, dass sie „befreiende Entlastung von dem übergroßen Druck“ vermittelt, „sich selbst und andere nur nach Leistungsmaßstäben zu beurteilen“ (Lämmermann 1986, 487). Als Beispiel für eine Interpretation in der bildenden Kunst eine Tuschzeichnung von Rembrandt, die den Protest nach der Lohnauszahlung darstellt (Abb. bei Martin 2003, 164): Der Gutsherr sitzt hinter einem Tisch, der das linke untere Eckfeld einnimmt, zwei Arbeitern zugewandt, die von rechts an ihn herangetreten sind; der vordere von ihnen steht, mit seiner Vertikalen das Bild in zwei Hälften teilend, aufrecht im Profil, der hintere, näher bei dem Gutsherrn, beugt sich gestikulierend zu diesem vor. Am rechten Bildrand steht eine weitere Figur, die das Geschehen am Tisch aus der Distanz und in entspannterer Haltung mitverfolgt, und dazwischen entfernen sich drei Gestalten in den Hintergrund, von denen eine auf erhobener Handfläche den andern eine Münze vorzeigt, die mit ihrem Lohn Zufriedenen, die in der Schlussszene der Parabel nicht mehr gebraucht werden. Der Fokus liegt auf dem Wortwechsel in der linken Bildhälfte, unterstrichen durch die Blickrichtung des Mannes am rechten Bildrand und durch die angespannte Körperhaltung der drei am Tisch: Der Gestikulierende fasst sich mit der Rechten an den Kopf, der Aufrechte, der in der einen Hand einen Korb trägt, hält die andere in Brusthöhe vor sich bereit, der Gutsherr hingegen, von den anderen nicht nur durch sein Sitzen, sondern auch durch üppige Gewandung, Mantel und Mütze, unterschieden, weist mit ausgestrecktem linken Arm in Richtung der Protestierenden auf die Tischplatte, sein Blick der Hand folgend, während er sich, den Oberkörper zurückgeneigt, mit dem rechten Arm auf der Tischplatte abstützt. In dieser Haltung allerdings wirkt seine Figur überraschend defensiv: Durch den Bildausschnitt ohnehin auffällig dezentral platziert, scheint er sich durch den Auftritt der Protestierer noch weiter an den Rand drängen zu lassen, und nicht nur mit dem Körper, auch mit dem Blick weicht er aus, während sich jene unerschrocken vor ihm aufbauen. Sein Sitzen und die entschlossen ausgestreckte Linke lassen zwar nicht erwarten, dass er nachgeben könnte, doch Selbstsicherheit strahlt seine Erscheinung ebenso wenig aus. Wie es scheint, verliert die Rolle dieses Grundbesitzers viel von ihrer Unangreifbarkeit, sobald man sie sich nicht als „God figure“, sondern als Menschen wie andere vorzustellen beginnt. Literatur zum Weiterlesen J. Jeremias, Die Gleichnisse Jesu, Göttingen, 5. unveränd. Aufl. 1958, 23–28 Chr. Dietzfelbinger, Das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg als Jesuswort, EvTh 43 (1983), 126–137 L. Schottroff, Die Arbeiter im Weinberg. Politisches Nachtgebet in der Peterskirche in Frankfurt (Main) am 12. Mai 1984, JK 45 (1984), 322–324 W. Harnisch, Die Gleichniserzählungen Jesu. Eine hermeneutische Einführung, Göttingen 1985, 177–200 J. Ebach, Verrückte Hierarchie, JK 58 (1997), 474–489 F. Avemarie, Das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20,1–16) – eine soziale Utopie?, EvTh 62 (2002), 272–287 G. M. Martin, Zum Himmel schreiendes Gut-Sein (Mt 20,1b–15), in ders., Predigt und Liturgie ästhetisch. Wahrnehmung – Kunst – Lebenskunst, Stuttgart 2003, 161–167 Verwendete Literatur Aristotelis Ethica Nicomachea, ed. I. Bywater, Oxford 1959 Avot de-Rabbi Natan. Synoptische Edition beider Versionen, hg. v. H.-J. Becker, in Zusammenarbeit mit Christoph Berner, TSAJ 116, Tübingen 2006 [Babylonischer Talmud] Talmud Bavli, ‘im kol ha-mefareshim ka-’asher nidpas mi-qedem, we-‘im hosafot hadashot ki-mevo’ar ba-sha‘ar ha-sheni, Wilna 1880-1886, Ndr. [Bereshit Rabba] Bereschit Rabba, mit kritischem Apparat und Kommentar, hg. v. J. Theodor und Ch. Albeck, 3 Bde., Berlin 1912–1936, Ndr. [Cato] M. Porcius Cato, Vom Landbau. Fragmente, Lateinisch-deutsch, hg. v. O. Schönberger, München 1980 [Columella] Lucius Junius Moderatus Columella, On Agriculture I–IV, edited and translated by Harrison Boyd Ash, LCL 361, Cambridge (MA) und London 1941, Ndr. [Hieronymus] S. Hieronymi presbyteri opera, pars I. Opera exegetica, 7. Commentariorum in Matthaeum libri IV, cura et studio D. Hurst et M. Adriaen, CCSL 77, Turnhout 1969 Irénée de Lyon, Contre les hérésies, livre IV, édition critique sous la direction de A. Rousseau, avec la collaboration de B. Hemmerdinger, L. Doutreleau, Ch. Mercier, 2 tomes, SC 100, Paris 1965 Iustiniani digesta, in: P. Krüger, Th. Mommsen (Hg.), Corpus iuris civilis, 12. Aufl., Berlin 1911 [Jerusalemer Talmud] Synopse zum Talmud Yerushalmi, hg. v. P. Schäfer u. H.-J. Becker, 7 Bde., Tübingen 1991–2001 F. G. Kenyon (Hg.) Greek Papyri in the Britisch Museum. Catalogue, with Texts, London 1893, Ndr. Mailand 1973 D. Lührmann, Fragmente apokryph gewordener Evangelien, in griechischer und lateinischer Sprache, herausgegeben, übersetzt und eingeleitet in Zusammenarbeit mit E. Schlarb, MThSt 59, Marburg 2000 M. Luther, Fastenpostille. Auslegung der Episteln und Euangelien von der heiligen Drei Könige Fest bis auf Ostern, in: D. Martin Luthers Werke, Kritische Gesamtausgabe, Bd. 17.2, Weimar 1927, 3–247 [Mischna] Mischnajot. Die sechs Ordnungen der Mischna. Hebräischer Text mit Punktation, deutscher Übersetzung und Erklärung, 6 Bde., Berlin 1887ff., 3. Aufl. Basel 1968 Origenes, Matthäusevangelium, I. Die griechisch erhaltenen Tomoi (= Origenes Werke, Zehnter Band), hg. v. E. Benz, GCS 40, Leipzig 1935 [Plinius d. Ä.] C. Plinius Secundus d. Ä., Naturkunde, Lateinisch-deutsch, Buch XVII, herausgegeben und übersetzt v. R. König in Zusammenarbeit mit J. Hopp, Zürich 1994 J. G. Tait (Hg.), Greek Ostraca in the Bodleian Library and Various Other Collections, Bd. I, London 1930 [Tanchuma B] Midrasch Tanchuma. Ein agadischer Commentar zum Pentateuch von Rabbi Tanchuma ben Rabbi Abba, hg. v. S. Buber, Wilna 1885, Ndr. [Varro] Marcus Terentius Varro, Gespräche über die Landwirtschaft, herausgegeben, übersetzt und erläutert von D. Flach, 3 Bde., Darmstadt 1996–2002 -----F. Avemarie, Das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20,1–16) – eine soziale Utopie?, EvTh 62 (2002), 272–287 A. Ben-David, Talmudische Ökonomie. Die Wirtschaft des jüdischen Palästina zur Zeit der Mischna und des Talmud, Bd. 1, Hildesheim, New York 1974 J.-P. Brun, Le vin et l’huile dans la Méditerranée antique. Viticulture, oléiculture et procédés de transformation, Paris 2003 A. A. Bucher, Gleichnisse verstehen lernen, PTD 5, Freiburg (Schweiz) 1990 W. Carter, Households and Discipleship. A Study of Matthew 19–20, JSNT.S 103, Sheffield 1994 E. Christiansen, The Roman Coins of Alexandria. Quantitative Studies, 2 Bde., Århus 1988 R. Deines, Die Gerechtigkeit der Tora im Reich des Messias. Mt 5,13–20 als Schlüsseltext der matthäischen Theologie, WUNT 177, Tübingen 2004 Chr. Dietzfelbinger, Das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg als Jesuswort, EvTh 43 (1983), 126–137 H. J. Drexhage, Preise, Mieten/Pachten, Kosten und Löhne im römischen Ägypten bis zum Regierungsantritt Diokletians, St. Katharinen 1991 J. Ebach, Verrückte Hierarchie, JK 58 (1997), 474–489 G. Eichholz, Gleichnisse der Evangelien. Form, Überlieferung, Auslegung, NeukirchenVluyn, 1971 K. Erlemann, Gleichnisauslegung. Ein Lehr- und Arbeitsbuch, Tübingen und Basel 1999 P. Fiedler, Das Matthäusevangelium, Theologischer Kommentar zum Neuen Testament 1, Stuttgart 2006 R. Frankel, Wine and Oil Production in Antiquity in Israel and Other Mediterranean Countries, Sheffield 1999 M. Gnadt, Anwerbung zur Solidarität. Sozialgeschichtliche Bibelauslegung zu Matthäus 20,1–16, JK 58 (1997) 32–35 W. Harnisch, Die Gleichniserzählungen Jesu. Eine hermeneutische Einführung, Göttingen 1985, 177–200 J. Hengstl, Private Arbeitsverhältnisse freier Personen in den hellenistischen Papyri bis Diokletian, Bonn 1972 W. R. Herzog II, Parables as Subversive Speech. Jesus as Pedagogue of the Oppressed, Louisville 1994 C. Hezser, Lohnmetaphorik und Arbeitswelt in Mt 20,1–16. Das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg im Rahmen rabbinischer Lohngleichnisse, NTOA 15, Freiburg (Schweiz) und Göttingen 1990 H. Hofmann, Gerechtigkeitsphilosophie aus Unrechtserfahrung. Zum Gerechtigkeitssinn der Arbeiter im Weinberg, in K.-H. Kästner u.a. (Hg.), Festschrift für Martin Heckel, Tübingen 1999, 546–562 J. Jeremias, Die Gleichnisse Jesu, Göttingen, 5. unveränd. Aufl. 1958 F. M. Karweick und St. Alkier, Die Arbeiter im Weinberg – Ein Bibelgespräch zwischen einem Grundschüler und einem Neutestamentler, in: A. A. Bucher u.a. (Hg.), „Im Himmelreich ist keiner sauer“. Kinder als Exegeten, Jahrbuch für Kindertheologie 2, Stuttgart 2003 Chr. Kissling, Der Weinbergbesitzer und die Gerechtigkeit, in: S. Bieberstein, D. Kosch (Hg.), Auferstehung hat einen Namen, FS H.-J. Venetz, Luzern 1998, 157–165 G. Lämmermann, Ist das gerecht? Das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20,1– 16) im Religionsunterricht einer 6. Klasse, EvErz 38 (1986), 482–499 U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus, 3. Teilband, Mt 18–25, EKK I/3, Zürich, Düsseldorf, Neukirchen-Vluyn 1997 G. M. Martin, Zum Himmel schreiendes Gut-Sein (Mt 20,1b–15), in ders., Predigt und Liturgie ästhetisch. Wahrnehmung – Kunst – Lebenskunst, Stuttgart 2003, 161–167 L. Montada, Beschäftigungspolitik zwischen Gerechtigkeit und Effizienz, Frankfurt, New York 1997 Chr. Münch, Die Gleichnisse Jesu um Matthäusevangelium. Eine Studie zu ihrer Form und Funktion, BWANT 104, Neukirchen-Vluyn 2004 K. Ruffing, Wein II. Klassische Antike: A. Weinbau, B. Weinhandel, DNP 12/2 (2002), 424– 434 K. Ruffing, Weinbau im römischen Ägypten (Pharos: Studien zur griechisch-römischen Antike 12), St. Katharinen 1999 L. Schottroff, Die Gleichnisse Jesu, Gütersloh 2005 A. Świderek, La propriété foncière privée dans l’Égypte de Verspasien et sa technique agricole d’après P. Lond. 131 recto (Académie polonaise des sciences: Bibliotheca antiqua 1), Wrocław 1960 M. Theobald, Die Arbeiter im Weinberg (Mt 20,1–16). Wahrnehmung sozialer Wirklichkeit und Rede von Gott, in: D. Mieth (Hg.), Christliche Sozialethik im Anspruch der Zukunft. Tübinger Beiträge zur Katholischen Soziallehre (SThE 41), Freiburg 1992, 107–127 D. O. Via, Die Gleichnisse Jesu. Ihre literarische und existentiale Dimension, BEvTh 57, München 1970 H. C. Youtie, P. Mich. Inv. 347, verso: The Stubborn Potter, ZPE 24 (1977), 129–132