Leidenschaft, Funktion und Schönheit. – Henry van de Velde und
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Leidenschaft, Funktion und Schönheit. – Henry van de Velde und
Audioguidetext zur Ausstellung Leidenschaft, Funktion und Schönheit. – Henry van de Velde und sein Beitrag zur Europäischen Moderne Text/Redaktion: Linon Medien Klassik Stiftung Weimar | Ausstellung Leidenschaft, Funktion und Schönheit | 03.2013 1 Inhalt 701: Henry van de Velde: Sechsarmiger Kerzenleuchter (1898/99) ......................................................... 3 702: Henry van de Velde: Faits du village VII, La fille qui remaille (Kettelndes Mädchen) (1890) ........ 4 703: Victor Horta: Teile aus dem Turin-Ensemble (1902) ....................................................................... 5 704: Henry van de Velde: Gürtelschließe für Gertrud Osthaus (1898/99) ................................................ 6 705: Henry van de Velde: Abstrakte Pflanzenkomposition (1893) .......................................................... 7 706: Henry van de Velde: Blaues Tea-Gown-Kleid mit breiten Besätzen (um 1896, 1964 Kopie) ........ 8 707: Henry van de Velde: Esstisch Bloemenwerf (1895) ......................................................................... 10 708: Henry van de Velde: Frisiertisch für den Salon Francois Haby (um 1901) ...................................... 11 „Ich trage doch meine Eingeweide und Därme auch nicht als Schmuck über der Weste.“ 709: Henry van de Velde: Werbeplakat Tropon (1897/98) ...................................................................... 12 710: Gustave Serrurier-Bovy: Silex Armsessel (um 1905), Josef Hoffmann: Sitzmaschine (1908)…….13 711: Henry van de Velde: Schreibtisch für den Verleger Ludwig Löffler (1898) .................................... 14 712: Erica von Scheel: Schülerarbeit Essig und Öl (um 1903) ................................................................. 15 713: Henry van de Velde: Tafelgedeck für 10 Personen (1903/04) .......................................................... 16 714: Johanna Brinkhaus: Wachsbatik auf Seide ....................................................................................... 17 715: Henry van de Velde: Brieföffner (um 1905) ..................................................................................... 18 716: Georg Kolbe: Porträt Harry Graf Kessler (1916) .............................................................................. 19 717: Henry van de Velde: Korbsessel (1908) ........................................................................................... 20 718: Henry van de Velde: Kinderzimmer-Tisch (1911) ........................................................................... 21 719: Henry van de Velde: Entwurf Direktorenzimmer (1908) ................................................................. 22 720: Henry van de Velde: Haus Hohe Pappeln (Modell).......................................................................... 23 721: Henry van de Velde: Entwürfe Dumont-Theater (1904), Werkbundtheater (1913-14) .................... 24 722: Henry van de Velde: Entwurfszeichnung für Nietzsche-Monument (1912) ..................................... 25 723: Ernst Ludwig Kirchner: „Kopf van de Velde, hell“ (1917) .............................................................. 26 724: Henry van de Velde: Wasserkessel mit Rechaud (1922-1925) ......................................................... 27 725: Modell des Postschiffs „Prince Baudouin“ (1934) ........................................................................... 28 726: Max Elskamp: Salutations, dont d’angélique (1893) ........................................................................ 29 727: Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra (1908) ....................................................................... 30 728: Tisch mit Buchständer, UB Gent (ab 1920) ...................................................................................... 31 729: Oscar Jespers: Portrait Henry van de Velde (um 1930) .................................................................... 32 Klassik Stiftung Weimar | Ausstellung Leidenschaft, Funktion und Schönheit | 03.2013 2 701: Henry van de Velde: Sechsarmiger Kerzenleuchter (1898/99) sein Schaffen – von 1890 bis zum Ende der 1930er Jahre. Seine wohl produktivste Zeit hat van de Velde zwischen 1902 und 1917 hier in Weimar verbracht, als Berater für das Kunstgewerbe in Thüringen und als Direktor der Kunstgewerbeschule. Unsere Ausstellung zeigt, dass er ein künstlerischer Tausendsassa war, der Design für alle Lebensbereiche entworfen hat: Häuser, Möbel, Kleider, Schmuck, Lampen, ja sogar die Inneneinrichtung einer Reihe von großen Fährschiffen. Henry van de Velde wollte das menschliche Lebensumfeld zu einem Gesamtkunstwerk machen, in dem alle künstlerischen Details miteinander harmonieren. Henry van de Velde: Sechsarmiger Kerzenleuchter (1898/99) Herzlich Willkommen in der Ausstellung „Leidenschaft, Funktion und Schönheit – Henry van de Velde und sein Beitrag zur Europäischen Moderne“! Bei unserem ersten Exponat, diesem sechsarmigen Leuchter, entstanden kurz vor 1900, kommt bereits vieles zusammen, das für van de Velde typisch ist, vor allem seine Vorliebe für die geschwungene Linie. Der Leuchter ist fast vollständig aus dynamischen Linien aufgebaut – mal fließen sie geschmeidig, mal springen sie heftig vor und zurück. Dabei verschmilzt die individuelle Form perfekt mit der Funktion des Gegenstands. Van de Velde war der Überzeugung, dass die Gestaltung eines Gegenstands umso vollkommener ist, je genauer sie seinem Zweck entspricht. (kurze Pause) Unsere Ausstellung gibt am Beispiel herausragender Werke einen Überblick über Klassik Stiftung Weimar | Ausstellung Leidenschaft, Funktion und Schönheit | 03.2013 3 702: Henry van de Velde: Faits du village VII, La fille qui remaille (Kettelndes Mädchen) (1890) Maler. Der Belgier fährt mehrmals nach Paris um dort von den Impressionisten zu lernen, arbeitet dann einige Jahre im Stil der Pointilisten, bis er 1890 Werke von Vincent van Gogh zu sehen bekommt. Tief beeindruckt versucht er fortan mit dynamischen Linienbewegungen den Fluss des Lebens darzustellen. Henry van de Velde: Faits du village VII, La fille qui remaille (Kettelndes Mädchen) (1890) Ruhig und konzentriert sitzt das Mädchen vertieft in ihre Handarbeit. Es ist ein sonniger Tag; das Licht wirft durch die Bäume wundersame Schatten ins Gras. Im Hintergrund erkennen Sie einen Weg und ein größeres Gebäude. Dieses Bild ist Teil der Serie „Faits du village“, die uns verschiedene Szenen dörflichen Lebens zeigt. Henry van de Velde hat es 1890 gemalt. Geduldig setzte er dafür Punkt für Punkt nebeneinander. Diese pointilistische Technik hatte er einige Jahre zuvor durch den französischen Maler George Seurat kennengelernt und war seither begeistert davon. Die Farben werden dabei nicht gemischt, sondern in Reinform in Punkten oder kurzen Strichen eng nebeneinander gesetzt. Erst im Auge des Betrachters entsteht aus den einzelnen Farbtupfen das Bild. Henry van de Velde hatte mit 17 Jahren an der Akademie der Schönen Künste in Antwerpen eine klassische Ausbildung begonnen – trotz des Widerstandes seiner Eltern, die ihn lieber in einer gutbürgerlichen Verwaltungslaufbahn gesehen hätten. Wie Sie sehen, war er ein virtuoser Klassik Stiftung Weimar | Ausstellung Leidenschaft, Funktion und Schönheit | 03.2013 4 703: Victor Horta: Teile aus dem Turin-Ensemble (1902) fiel vor allem die überladene, funktionslose Ornamentik, mit der Horta seine Bauten schmückte. Ein gutes Beispiel ist die Zentrale der sozialistischen Partei in Brüssel, deren Fassade vollständig aus Glas und Stahl bestand – zu sehen auf dem Foto an der Wand. In seinen Erinnerungen schreibt van de Velde: „Hortas Übertreibungen, mit denen logische Metallkonstruktionen verschönt werden sollen, verstimmen wegen ihrer Sinnlosigkeit und der hemmungslosen Phantasie.“ Victor Horta: Teile aus dem Turin-Ensemble (1902) Einer der Höhepunkte des Jugendstils war die Weltausstellung für angewandte Kunst 1902 in Turin, die ausschließlich dem Design, wie man heute sagen würde, gewidmet war. Zu den Objekten, die man sich dort anschauen konnte, gehörten unter anderem dieser Couchtisch und dieser Stuhl des Belgiers Victor Horta. Auf dem europäischen Festland war der 1861 geborene Architekt und Designer einer der ersten, der sich von der Imitation historischer Stile abwandte. Schon in den frühen 1890er Jahren begann er, den Jugendstil auch auf die Architektur zu übertragen. Bis dahin hatte die Neuausrichtung des Designs vorwiegend das Kunsthandwerk betroffen. Hortas Häuser wurden zu Meilensteinen des Jugendstils in Belgien. Für van de Velde war sein Landsmann nur ein „mittelmäßiger Architekt“. Ihm miss- Victor Horta: Teile aus dem Turin-Ensemble (1902) Klassik Stiftung Weimar | Ausstellung Leidenschaft, Funktion und Schönheit | 03.2013 5 704: Henry van de Velde: Gürtelschließe für Gertrud Osthaus (1898/99) schen, welche ihre Schönheit aus sich selbst (...) schöpft.“ Die ersten Experimente mit den abstrakten Ornamenten machte van de Velde auf flächigen Bildern, etwa bei der Buchgestaltung oder auf Werbeplakaten. Kurz vor 1900 begann er jedoch, auch im Kunsthandwerk mit Strukturen aus dynamischen Linien zu arbeiten – zum Beispiel bei unserer Gürtelschließe. Henry van de Velde: Gürtelschließe für Gertrud Osthaus Diese Gürtelschließe aus Silber hat van de Velde kurz vor der Jahrhundertwende entworfen. Der Verschluss ist wie eine Art Relief aus dynamisch geschwungenen Linien gestaltet. Die Linie hatte van de Velde schon früh in ihren Bann gezogen, zum Beispiel in der Natur. In seinen Memoiren erinnert er sich, wie er bei einem Aufenthalt an der Nordseeküste 1890 oft an den Strand ging, „(...) um die linearen Arabesken aufzuzeichnen, die die zurückflutenden Wellen im Sand hinterließen. In den Dünen hatten mich schon früher ähnliche Bildungen fasziniert: (...) raffinierte abstrakte Ornamente, die der Wind in den Sand zeichnete.“ Später beschäftigte sich van de Velde auch theoretisch mit der Linie und ihren Bewegungsgesetzen. Mit Hilfe dynamischer Linien wollte van de Velde Ornamente entwickeln, die nicht mehr figürlich, sondern rein abstrakt waren. In einer Abhandlung schrieb er 1901: „(...) es war der Gedanke, dass die Linien untereinander dieselben logischen und konsequenten Beziehungen haben wie die Zahlen und wie in der Musik die Töne, der mich dazu brachte, nach einer rein abstrakten Ornamentik zu for- Klassik Stiftung Weimar | Ausstellung Leidenschaft, Funktion und Schönheit | 03.2013 6 705: Henry van de Velde: Abstrakte Pflanzenkomposition (1893) Aber was war der Anlass, der Henry van de Velde überhaupt dazu bewegte, die Malerei aufzugeben? Das erfahren Sie, wenn Sie 1 drücken. Henry van de Velde: Abstrakte Pflanzenkomposition (1893) Ist das eine Pflanze? Oder eine Abstraktion, eine Linienstudie vielleicht? Ganz sicher kann man es nicht sagen und nur der Kürbis rechts unten lässt sich als solcher identifizieren. Das Pastell von 1893 ist ein Schlüsselwerk. Es verdeutlicht, dass van de Veldes Entwicklung vom Malen und Zeichnen wegführte hin zu einem universalen künstlerischen Schaffen, das ganz von Linie und Ornament geprägt ist. Nachdem van de Velde jahrelang im Stil der Impressionisten und Neoimpressionisten gemalt hat, werden seine Werke immer abstrakter. Ihn interessieren nun vor allem Linienbewegungen, die ihn sein Leben lang faszinieren und die sein Werk prägen werden. Er selbst schreibt darüber in seinen Memoiren: „Auch als ich die Malerei aufgegeben hatte, verließ mich der Dämon der Linie nicht, und als ich die ersten Ornamente schuf, entstanden sie aus dem dynamischen Spiel ihrer elementaren Kräfte.“ An anderer Stelle schreibt er, dass es neben van Gogh vor allem die Natur war, die ihn zu seiner abstrakten Linienführung inspiriert habe. Klassik Stiftung Weimar | Ausstellung Leidenschaft, Funktion und Schönheit | 03.2013 2. Ebene: Von der Malerei zu den angewandten Künsten Nach dem frühen Tod seiner Mutter 1888 zog sich Henry van de Velde zurück und befasste sich ausgiebig mit verschiedenen Philosophen, zum Beispiel mit Friedrich Nietzsche. Auch las er Bücher von John Ruskin und William Morris, den Initiatoren der englischen Arts-and-CraftsBewegung. In ihren Schriften setzten sich die beiden Engländer kritisch mit der industriellen Massenproduktion auseinander. Ihrer Meinung nach rückte dort die ästhetische Gestaltung immer mehr in den Hintergrund. Daher forderten sie, dass Gebrauchsgegenstände in solider, handwerklicher Qualität mit klaren Formen und aus besten Materialien gefertigt werden sollten. Vor allem William Morris betrachtete die Rückbesinnung auf das Handwerkliche als Teil einer künstlerischen und gesellschaftlichen Reform. Das Kunsthandwerk sollte gegenüber den „hohen Künsten“ aufgewertet werden. Sein Credo war es, dass gute Kunst und gutes Kunsthandwerk die Menschen und das Alltagsleben zum Besseren verändern können. Morris' Gedanke, dass die Kunst gerade in einer industrialisierten, technischen Gesellschaft eine entscheidende Rolle spiele, beeindruckte van de Velde. Der Belgier geriet in eine Sinnkrise. Die Malerei erschien ihm nicht länger als adäquates Ausdrucksmittel. Ab 1893 wendete er sich schließlich den angewandeten Künsten und später auch der Architektur zu. Unsere abstrakte Pflanzenstudie ist eines seiner letzten Bilder. 7 706: Henry van de Velde: Blaues Tea-Gown-Kleid mit breiten Besätzen (um 1896, 1964 Kopie) Henry van de Velde: Blaues Tea-Gown-Kleid mit breiten Besätzen (um 1896, 1964 Kopie) Stellen Sie sich bitte vor, wie eine Frau gegen Ende des 19. Jahrhunderts gekleidet war: beladen mit schweren Schichten aufgebauschter Röcke, die Taille eingeschnürt in ein enges Korsett, überladen mit Spitze und üppigen Verzierungen. Wie weit entfernt davon ist das blaue Kleid vor Ihnen: es fällt weit und glatt zum Boden herab, passt sich dabei bequem und weich den Bewegungen des Körpers an und -– es lässt seine Trägerin atmen. Welch eine Befreiung! Die Kritik von Medizinern, Sozialreformern und Frauenrechtlerinnen am eingangs beschriebenen Modediktat bringt um 1900 das sogenannte Reformkleid hervor. Auch Künstler wie Henry van de Velde fühlten sich berufen, zeitgemäße „gesunde“ Frauenkleidung zu entwerfen, die auch ästhetischen Ansprüchen gerecht wurde. Hier sehen Sie die Nachbildung eines Tea-Gowns, also eines Kleides, das man nachmittags zum Tee im Haus trug. Sie entdecken van de Veldes Gestaltungsprinzip der Linie wieder: beispielsweise in den Ornamenten auf den Besätzen. Die Nähte sind hervorgehoben, um den Aufbau des Kleides sichtbar zu machen. Der weite Schnitt lässt die Gestalt erkennen, ohne die weiblichen Formen übermäßig zu betonen. Frauenkleidung sollte von nun an zeitlos, mit abstrakt-linearen Verzierungen aber auch modern sein. Van de Veldes Vision, die Pariser Mode durch das Künstlerkleid abzulösen, scheitert jedoch. Zu hoch ist sein ästhetischer Anspruch, zu hoch sind die Kosten der Fertigung in aufwendiger Handarbeit. Und so trug vor allem van de Veldes Ehefrau, Maria Sèthe seine Kleider. Auch sie war Künstlerin und sie spielte eine wichtige Rolle in van de Veldes Werk. Mehr über Maria Sèthe erfahren Sie, wenn Sie 2 drücken. Klassik Stiftung Weimar | Ausstellung Leidenschaft, Funktion und Schönheit | 03.2013 8 2: Maria Séthe Ebene 2: Maria Sèthe hat die Kleider van de Veldes nicht nur getragen, sondern auch zum großen Teil selbst ausgeführt. Maria war eine unverzichtbare Mitstreiterin ihres Mannes und stellte – wie er – theoretische Überlegungen zur reformierten Damenkleidung an. Darüber hinaus war sie auch selbst Künstlerin und führte in Heimarbeit beispielsweise Stickereiarbeiten aus. Maria Sèthe wächst in einer wohlhabenden, kulturbegeisterten Familie in Paris und Brüssel auf, als Tochter eines holländischen Textil-Fabrikanten und einer deutschen Musikerin. Sie studiert Malerei bei dem flämischen Neo-Impressionisten Théo van Rysselberghe. Durch ihn lernen sich Maria und Henry kennen. Im Jahr 1893 verbringen sie zusammen mit Malerfreunden einen Landurlaub in Holland. Maria gewinnt van de Veldes Herz und macht dem Künstler Mut, die Malerei aufzugeben, um sich von nun an ganz den angewandten Künsten zu widmen. Durch einen Studienaufenthalt in London war auch sie mit der englischen Arts-and-CraftsBewegung vertraut und von deren reformerischen Gedanken begeistert. Gemeinsam verfolgen Maria und Henry van de Velde von nun an die Idee, die kunstgewerbliche Reformbewegung in Belgien und später auch in Deutschland voranzutreiben . Klassik Stiftung Weimar | Ausstellung Leidenschaft, Funktion und Schönheit | 03.2013 9 707: Henry van de Velde: Esstisch Bloemenwerf (1895) ihn als Architekten zu engagieren, soll Liebermann gesagt haben: „Wenn ick meine Wohnung einrichte, dann will ick meinen eigenen Spaß haben. Aber nicht van de Velde seinen.“ Henry van de Velde: Esstisch Bloemenwerf (1895) 1895 baute van de Velde in Uccle, heute ein Stadtteil von Brüssel für sich und seine Frau Maria das Wohnhaus „Bloemenwerf“. Dabei entwarf er nicht nur die Architektur, sondern auch die gesamte Innenausstattung – und das, obwohl er auf beiden Gebieten ein Autodidakt war. Besonders viel Bewunderung erregte bei den Besuchern von „Bloemenwerf“ der Esstisch. Van de Velde verzichtete hier vollkommen auf schmückende Ornamente und konzentrierte sich stattdessen ganz auf die Funktionalität. Außergewöhnlich war vor allem die leicht erhöhte Keramikplatte, die mittig in den Tisch eingelassen wurde. Durch diesen Kniff konnte man ohne Probleme die heißen Schüsseln auftischen. Später wurde diese Keramikplatte durch eine Messingplatte ersetzt. In „Bloemenwerf“ machte van de Veldes Gestaltungswille nicht einmal vor den Türgriffen und Tapeten halt. Ein Wohnhaus war für ihn ein Gesamtkunstwerk, das in allen Details die Persönlichkeit seiner Bewohner zum Ausdruck bringen sollte. Ohne Widersprüche funktionierte diese Idee allerdings nur, solange van de Velde für sich selbst baute. Als dem Berliner Maler Max Liebermann einmal vorgeschlagen wurde, Klassik Stiftung Weimar | Ausstellung Leidenschaft, Funktion und Schönheit | 03.2013 10 708: Henry van de Velde: Frisiertisch für den Salon Francois Haby (um 1901) Form in ihrer Vollendung, göttlich wie die Körper der Menschen und Tiere.“ Schon bei der Eröffnung des Salons hatte die ungewöhnliche Einrichtung für Diskussionsstoff gesorgt. Der Impressionist Max Liebermann etwa rümpfte die Nase. Beim Anblick der freiliegenden Rohre soll er gesagt haben: „Ich trage doch meine Eingeweide und Därme auch nicht als Schmuck über der Weste.“ Henry van de Velde: Frisiertisch für den Salon Francois Haby (um 1901) 1900 bekam van de Velde den Auftrag, den Salon des Hoffriseurs Francois Haby in Berlin neu einzurichten. Bei der Gestaltung der Frisiertische kamen nur die edelsten Materialien zum Einsatz – Mahagoni und grüner Marmor. Die eigentliche Revolution des Möbelstücks liegt jedoch woanders: Wie Sie gut erkennen können, hat van de Velde darauf verzichtet, die Gas- und Wasserleitungen aus Messing zu verkleiden. Die Rohre liegen frei und schmiegen sich in kunstvoll weichen Linien um das dunkle Holz. Van de Velde selbst beurteilte sein Design im Nachhinein eher kritisch. So schreibt er in seinen Memoiren: „Um den eigentlichen Sinn der Dinge und der Formen klarzumachen und ihre Funktion zu zeigen, neigte ich dazu, mich auf Skelette zu beschränken, und vergaß, sie mit Fleisch zu umgeben. Aber erst dann erscheint die Dem Erfolg von Haby tat all das jedoch keinen Abbruch. Geld verdiente der StarFriseur nicht nur mit seinem Salon, sondern auch mit allerlei Kosmetika. Sein mit Abstand bekanntestes Produkt war ein Paket aus Bartwichse und Bartbinde mit dem Namen Es ist erreicht: Mit der Wichse konnte der Kunde die Enden seines Schnurrbarts genau wie Kaiser Wilhelm II. nach oben zwirbeln – damals in Sachen Bartmode der letzte Schrei. Und um die Form zu erhalten, wurde über Nacht die Bartbinde angelegt. Klassik Stiftung Weimar | Ausstellung Leidenschaft, Funktion und Schönheit | 03.2013 11 709: Henry van de Velde: Werbeplakat Tropon (1897/98) Henry van de Velde: Werbeplakat Tropon (1897/98) Für Tropon gestaltete van de Velde damals nicht nur das Plakat. Hier sehen Sie auch eine Metalldose für Troponbiscuits, sowie den von ihm gestalteten Einband für ein Kochbuch. Der Belgier entwarf sämtliche Verpackungen, Etiketten und Anzeigen für das Unternehmen, entwickelte ein Logo, richtete die Büroräume ein und entwarf auch das Briefpapier und die Umschläge –– dies ist das früheste Beispiel für ein Corporate Design im modernen Sinne. Mit diesem Plakat beschreitet Henry Van de Velde Neuland: als einer der ersten Künstler entwirft er 1898 ein Werbeplakat für ein Industrieunternehmen. Van de Veldes Ansatz ist damals revolutionär, denn er verzichtet auf das bis dahin übliche „sprechende Bild“ und kombiniert stattdessen Linien und Flächen zu einem abstrakten Muster. Auf das Produkt verweist allein der Name: „Tropon Eiweiss Nahrung“ – ein Nahrungsergänzungsmittel, hergestellt aus pflanzlichem und tierischem Eiweiß, das zu einer gesunden und ausgewogenen Ernährung beitragen sollte. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts hatten sich die Essgewohnheiten der Bevölkerung grundlegend verändert. Standen zuvor überwiegend Getreide, Hülsenfrüchten und Kartoffeln auf dem Speiseplan, landeten mit steigendem Wohlstand mehr und mehr tierische Produkte, vor allem Fleisch auf den Tellern. Führende Ernährungswissenschaftler befürworteten den Fleischhunger sogar, da sie im Eiweiß den Garanten für Kraft und Gesundheit identifiziert zu haben glaubten. Auch die Industrie griff die steigende Nachfrage auf und so entstand eine neue Branche der Nahrungsergänzungsund Stärkungsmittel. Klassik Stiftung Weimar | Ausstellung Leidenschaft, Funktion und Schönheit | 03.2013 12 710: Gustave Serrurier-Bovy: Silex Armsessel (um 1905) Ebenfalls in Serie hergestellt wurde die markante „Sitzmaschine“ des Wiener Designers Josef Hoffmann, die Sie weiter rechts sehen. Der Name ist Programm: Durch die streng geometrischen Formen der einzelnen Teile und die bewegliche Rückenlehne wirkt der Armsessel wie eine Maschine, die jeden Augenblick losrattern könnte. Gustave Serrurier-Bovy: Silex Armsessel (um 1905) Henry van de Velde war um 1900 beileibe nicht der einzige Produkt-Designer, der den Historismus ablehnte und stattdessen nach einem authentischen Stil für seine Zeit suchte. Die Lebenswelt ganz neu gestalten wollte zum Beispiel auch sein Landsmann Gustave Serrurier-Bovy, ein begnadeter Kunsttischler. Bekannt ist er vor allem für die sogenannten Silex-Möbel, zu denen dieser Armlehnsessel gehört. Sie wurden in Einzelteilen angefertigt und dann als Bausatz ausgeliefert, den der Käufer selber zusammensetzen musste. Als Serrurier-Bovy die Silex-Serie 1905 der Öffentlichkeit vorstellte, war das eine Revolution in der Geschichte des Designs – quasi die Erfindung des IKEA-Prinzips. Durch die geringen Herstellungskosten waren Design-Möbel nun zum ersten Mal nicht nur für Wohlhabende erschwinglich. Klassik Stiftung Weimar | Ausstellung Leidenschaft, Funktion und Schönheit | 03.2013 13 711: Henry van de Velde: Schreibtisch (um 1903) Henry van de Velde: Schreibtisch (um 1903) 1898 wurde van de Velde eingeladen, an der jährlichen Ausstellung der Münchner Sezession teilzunehmen. München war damals noch vor Berlin und Dresden das Kunstzentrum des Deutschen Reichs. Van de Velde richtete dort einen kompletten Saal ein, unter anderen mit einem „Herrenzimmer in Eichenholz“. Im Zentrum stand ein wunderbare Schreibtisch, ein ähnliches Exponat sehen wir hier vor uns . Es ist eines seiner bekanntesten Möbelstücke überhaupt. Besonders auffällig ist die geschwungene Form: Sie orientiert sich am natürlichen Aktionsradius der Arme, sodass der Benutzer alle Schreibwerkzeuge und Schriftstücke bequem erreichen kann. Genau wie van de Velde bemühten sich um 1900 viele andere Designer und Architekten in ganz Europa um eine Wiederbelebung des Kunsthandwerks. Sie hatten sich vom Historismus abgewandt und waren nun auf der Suche nach einem neuen, zeitgemäßen Stil. Zu den wichtigsten Zentren dieser ästhetischen Revolution gehörten Wien, München, Darmstadt und Glasgow. In diesem Raum können Sie sehen, wie unterschiedlich sich die Künstler in diesen vier Städten den zeitgemäßen Stil vorgestellt haben. Klassik Stiftung Weimar | Ausstellung Leidenschaft, Funktion und Schönheit | 03.2013 14 712: Erica von Scheel: Schülerarbeit Essig und Öl (um 1903) Erica von Scheel: Schülerarbeit Essig und Öl (um 1903) Diese schlichten und zugleich eleganten Gefäße für Öl, Essig und Mehl hat Erica von Scheel entworfen. Sie gehörte zu den ersten privaten Schülerinnen van de Veldes in Weimar. 1902 war er nach Weimar gezogen, weil ihn Großherzog Wilhelm Ernst zum künstlerischen Berater für Industrie und Handwerk ernannt hatte. Van de Velde sollte die Betriebe der Region in allen Fragen der Gestaltung unterstützen: mit dem Ziel, das Kunstgewerbe in Thüringen zu fördern und wettbewerbsfähig zu machen. Die erste Anlaufstelle hierfür war sein 1902 gegründetes Kunstgewerbliches Seminar, wo die Handwerker und Industriellen beraten wurden und Modelle für neue Produkte erhielten. Van de Velde war für diese Aufgabe wie geschaffen. Er hatte schon in Brüssel und Berlin Werkstätten geleitet und war ein Vorkämpfer der kulturellen Erneuerung. In Weimar wandte er sich bewusst von der Tradition der GoetheZeit ab und propagierte stattdessen einen modernen, zeitgemäßen Stil. In diesem Geist war auch seine Kunstgewerbeschule organisiert, die 1906 bezogen wurde und 1908 mit 27 Schülern den Betrieb offiziell aufnahm. Hier sollte eine neue Generation fähiger Zeichner und Modelleure heranwachsen. In seinen Erinnerungen schreibt van de Velde: „Vom Schüler wurden keine Kenntnisse der vergangenen Stile verlangt. Er wurde nicht mit den Produkten der Vergangenheit bekannt gemacht, sondern geschult, das Wesentliche der Form der verschiedensten Gegenstände zu erkennen (...). Von diesem Augenblick an war die vernunftgemäße Gestaltung die einzige Quelle, aus der die Schüler bei der Lösung konstruktiver Probleme oder bei der Erfindung von Formen und Ornamenten schöpfen konnten.“ Auch Erica von Scheel besuchte die Kunstgewerbeschule: Bereits im ersten Schuljahr wurden ihre Designs bei verschiedenen Wettbewerben ausgezeichnet. 1910 ging sie nach Paris und entwarf dort Batiken und Kleider für den berühmten Modeschöpfer Paul Poiret. Klassik Stiftung Weimar | Ausstellung Leidenschaft, Funktion und Schönheit | 03.2013 15 713: Henry van de Velde: Tafelgedeck für 10 Personen (1903/04) Henry van de Velde: Tafelgedeck für 10 Personen (1903/04) Dieses Tafelgedeck entstand zwischen 1903 und 1904, also kurz nach van de Veldes Ankunft in Weimar. Hier war er nicht nur als vielseitiger Künstler und Lehrer gefragt, sondern erwies sich schon bald auch als glänzender Gastgeber. Bei den Abendgesellschaften in Van de Veldes Haus waren oft illustre Gäste anwesend, etwa der Dichter Hugo von Hofmannsthal, oder Jean Jaurès, der 1914 ermordete Pazifist und Führer der französischen Sozialisten. Hier sehen Sie Teile eines umfangreichen Tafelgedecks, das er für die Meissener Porzellanmanufaktur entwickelte. Der Architekt und Stadtplaner Fritz Schumacher schrieb über van de Velde: „Eine solche Allseitigkeit der Produktion auf allen Gebieten, die mit dem Wohngebrauch zusammenhängen, ist vielleicht noch nie von einem Einzelmenschen entfaltet worden.“ Was dahinter steckt, ist van de Veldes Idee eines Lebensraums, der von A bis Z durchgestaltet ist. Im Idealfall sollte ein Haus eine Art bewohnbares Gesamtkunstwerk sein, in dem Kunst und Leben miteinander verschmelzen. Ein ästhetisches, praktisches wie positives Umfeld sollte letztlich der geistigen und seelischen Gesundheit des Menschen dienen. Verblüffend ist, dass van de Velde keineswegs in allen Bereichen Fachkenntnisse besaß, sondern viele Aufträge als Autodidakt ausführte. Manchmal ging das schief – zum Beispiel, wenn er eine Sauciere entwarf, die beim Ausgießen tropfte. Aber meistens war es ein Vorteil, weil er durch seine unbefangene Herangehensweise zu ganz neuen gestalterischen Lösungen kam. Henry van de Velde: Tafelgedeck für 10 Personen (1903/04) Henry van de Velde: Tafelgedeck für 10 Personen (1903/04) Klassik Stiftung Weimar | Ausstellung Leidenschaft, Funktion und Schönheit | 03.2013 16 714: Johanna Brinkhaus: Wachsbatik auf Seide Die Linie war für van de Velde eine Äußerung der Psyche. Er war der Meinung, die Linien eines Ornaments hätten untereinander logische Beziehungen, ähnlich wie Zahlen oder Töne in der Musik. Die Arbeiten von Johanna Brinkhaus entsprachen seinen Vorstellungen, denn bei einer Schülerausstellung bekam sie 1913 für ihre Batiken eine Auszeichnung. Johanna Brinkhaus: Wachsbatik auf Seide Das künstlerische Schaffen an van de Veldes Kunstgewerbeschule in Weimar war ausgesprochen vielfältig. Hier sehen Sie eine Wachsbatik auf Seide, angefertigt von der Schülerin Johanna Brinkhaus. Das Muster ist von der Textilkunst der Insel Java inspiriert. In Indonesien hat die Batiktechnik eine uralte Tradition. In Europa wurde die Batik erst im 19. Jahrhundert langsam bekannt, und zwar durch englische und holländische Kaufleute. Kurz bevor Johanna Brinkhaus ihr Seidentuch entwarf, hatten indonesische Batiken auf der Weltausstellung in Paris 1900 für Furore gesorgt. Aber auch der gestalterische Einfluss van de Veldes ist in diesem Seidentuch deutlich sichtbar. Einer der Grundlagenkurse an seiner Kunstgewerbeschule war die sogenannte „Ornamentlehre“, die auf seiner berühmten Theorie der Linie beruhte. Van de Velde beschrieb die Linie als „eine Kraft, die spontan aus uns herausstrebt, die sich aufschwingt und zurücksinkt, die gleitend und sich windend sich fortbewegt, die uns emporhebt und unsere Seele in einen Zustand versetzt, wie ihn nur Gesang und Tanz in uns erwecken können.“ Klassik Stiftung Weimar | Ausstellung Leidenschaft, Funktion und Schönheit | 03.2013 17 715: Henry van de Velde: Brieföffner (um 1905) neuen, zeitgemäßen Stil durchsetzten zu können. So schrieb er an den Großherzog: „Ich fasse die Aufgabe, die Seine Königliche Hoheit mir anvertraut haben, nicht anders auf, als dass ich dazu beitragen soll, den Stil des 20. Jahrhunderts zu gestalten.“ Henry van de Velde: Brieföffner (um 1905) Der Entwurf für diesen elegant geschwungenen Brieföffner stammt von Henry van de Velde selbst. Herstellung und Verkauf überließ er allerdings den Kunstschnitzern von Ruhla im Thüringer Wald. Die Produktgestaltung der regionalen Kunsthandwerker zu verbessern und marktfähig zu machen, gehörte zu den Hauptaufgaben van de Veldes in Weimar. In seinem Arbeitsvertrag heißt es dazu, er werde „den Gewerbetreibenden und Industriellen (...) des Landes (...) in Kunstfragen sachverständigen Beirat erteilen und ihnen (...) durch Anfertigung von Musterzeichnungen, Modellen und Vorbildern (...) künstlerische Anregung geben.“ Van de Velde beriet die Kunsthandwerker und Betriebe in Thüringen auch in Fragen neuer Fertigungsmethoden und der Vermarktung ihrer Produkte. Die Töpfereien im Städtchen Bürgel hatten bis zu seinem Eintreffen an historischen, nicht mehr marktfähigen Entwürfen festgehalten, sodass die Verkäufe immer weiter zurück gegangen waren. Um ihnen beizustehen, entwarf van de Velde kurzerhand neues Geschirr, preiswerte Vasen oder Gefäße und vermittelte ihnen durch Ausstellungen neue Kunden. Um die Zusammenarbeit von Künstlern und Industrie möglichst schnell zu verbessern, gründete van de Velde bereits kurz nach seiner Ankunft 1902 eine Art DesignLabor, das Kunstgewerbliche Seminar. Dort konnten Handwerker und Fabrikanten kostenlos ihre Produkte analysieren und verbessern lassen. Van de Velde hatte hochfliegende Pläne. Anfangs glaubte er sogar, mit Hilfe des Seminars in der gesamten Region einen Klassik Stiftung Weimar | Ausstellung Leidenschaft, Funktion und Schönheit | 03.2013 18 716: Georg Kolbe: Porträt Harry Graf Kessler (1916) Georg Kolbe: Porträt Harry Graf Kessler (1916) Ohne diesen Mann wäre van de Veldes Leben wohl völlig anders verlaufen: Harry Graf Kessler, hier zu sehen in einem Porträt des Bildhauers Georg Kolbe. Kessler war einer der schillerndsten Persönlichkeiten des Kaiserreichs und der Weimarer Republik – Diplomat, Kunstsammler, Schriftsteller, Mäzen. Heute ist er vor allem durch sein Tagebuch bekannt, das die Jahre von 1880 bis zu seinem Tod 1937 umfasst, also mehr als ein halbes Jahrhundert. Darin tauchen die Namen von ungefähr 12.000 Zeitgenossen auf, von Bismarck über Albert Einstein bis zu Joséphine Baker – Kessler galt als regelrechter ‚Menschensammler’. Außerdem war er ein hervorragender Kenner und Förderer der zeitgenössischen Künste. In seiner Berliner Junggesellen-Wohnung sowie später auch in Weimar hingen Werke von van Gogh, Cézanne, Renoir und Seurat. Die eleganten Möbel für das Apartment hatte er bei van de Velde in Auftrag gegeben, den er schon vor seiner Weimarer Zeit kennenlernte. Kessler war es auch, der sich gemeinsam mit Elisabeth Förster-Nietzsche dafür einsetzte, dass van de Velde als Impulsgeber für das Kunstgewerbe nach Weimar kam. Gemeinsam wollten sie die Kleinstadt zum dritten Mal zu einer kulturellen Blüte führen – nach der Weimarer Klassik und der Zeit von Franz Liszt. Zu diesem Zweck übernahm Kessler 1903 die Leitung des Museums für Kunst- und Kunstgewerbe. Durch seine glänzenden Kontakte konnte er dort die allerneueste europäische Kunst zeigen. In den konservativen Weimarer Kreisen regte sich allerdings bald Widerstand gegen den allzu ambitionierten Museumsdirektor. 1906 kam es zu einer Pressekampagne wegen angeblich unanständiger Aktstudien von Rodin – und Kessler gab sein Amt in Weimar auf, um fortan als kunstsinniger Privatmann zu wirken. Klassik Stiftung Weimar | Ausstellung Leidenschaft, Funktion und Schönheit | 03.2013 19 717: Henry van de Velde: Korbsessel (1908) Dass van de Velde einen völlig neuen Entwurf für die Kunsthandwerker in Thüringen anfertigte, war eher die Ausnahme. Normalerweise brachten die Produktgestalter der Betriebe ihre eigenen Entwürfe mit in sein Beratungsbüro in Weimar. Dort wurden sie unter Aufsicht des Meisters oder seiner Assistenten überarbeitet. Die so verbesserten Modelle wurden dann serienmäßig produziert. Durch dieses Verfahren wollte van de Velde vermeiden, den Betrieben zu viel ‚Fremdes’ aufzuzwingen. Denn ganz neue Modelle hätten eine Umstellung der Produktion bedeutet – und damit ein größeres wirtschaftliches Risiko. Henry van de Velde: Korbsessel (1908) Im Rahmen seines Engagements für das Kunsthandwerk in Thüringen verschlug es van de Velde auch nach Tannroda, gut 15 Kilometer südlich von Weimar. Ein wichtiger Wirtschaftszweig war dort schon seit Jahrhunderten die Korbmacherei. Um das Geschäft neu anzukurbeln, empfahl van de Velde den Korbmachern, nicht nur Körbe, sondern auch Korbmöbel herzustellen – so auch diesen eleganten Sessel nach seinem eigenen Entwurf. Der Erfolg dieser Maßnahmen war durchschlagend: Sogar das elegante Kaufhaus Wertheim in Berlin hatte fortan ständig eine Kollektion der Korbmöbel aus Tannroda im Angebot. Was das Design betrifft, ist der Korbsessel eine gutes Beispiel dafür, dass sich van de Veldes Stil in Weimar verändert. Von der Opulenz seiner früheren Entwürfe ist nicht mehr viel übrig. Stattdessen sind die Formen nun schlichter und von einer funktionalen Eleganz geprägt. Klassik Stiftung Weimar | Ausstellung Leidenschaft, Funktion und Schönheit | 03.2013 20 718: Henry van de Velde: Kinderzimmer-Tisch (1911) „Innendekoration“, die Möbel eins Kinderzimmers sollten „anregend auf die Fantasie des Kindes wirken und dessen künstlerischen Anlagen wecken.“ Wie Sie sehen können, war das gesamte Kinderzimmer bis in alle Ecken durchgestaltet. Damit entsprach van de Velde dem Geist der Lebensreformer. Denn auch das Kinderzimmer sollte seine Bewohner erhöhen und veredeln. Henry van de Velde: Kinderzimmer-Tisch (1911) Dieser Tisch gehört zu einer Kinderzimmer -Einrichtung, die van de Velde 1911 für den Berliner Kaufmann Willy Engels entwarf. Damit erweist er sich einmal mehr als Pionier. Lange Zeit wurden die besonderen Bedürfnisse der Kinder von Architekten und Raumgestaltern kaum berücksichtigt. Noch im ausgehenden 19. Jahrhundert war es in bürgerlichen Kreisen üblich, die Räume für den Nachwuchs fast genauso einzurichten, wie die für die Erwachsenen. In den Wohnungen der einfachen Leute gab es häufig überhaupt keine Kinderzimmer. Die Idee, dass Kinder einen Rückzugsraum brauchen, setzte sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg endgültig, also in allen Schichten der Gesellschaft durch. Erste Bestrebungen in dieser Hinsicht gab es allerdings schon um 1900 – und zwar durch die Lebensreformbewegung. Ihre Vertreter wollten die Wohnkultur vollständig erneuern. Sie lehnten die dunklen und überdekorierten Räume ab, die fast ein halbes Jahrhundert lang Standard gewesen waren. Stattdessen forderten sie Helligkeit, frische Luft und klare Formen. Und auch das Kinderzimmer bekam Aufmerksamkeit. So hieß es 1903 in der Zeitschrift Klassik Stiftung Weimar | Ausstellung Leidenschaft, Funktion und Schönheit | 03.2013 21 719: Henry van de Velde: Entwurf Direktorenzimmer (1908) Der Weimarer Großherzog Wilhelm Ernst war von den Entwürfen allerdings nicht angetan und zögerte damit, seine Zustimmung zu geben. Die Umsetzung wurde zunächst auf einen unbestimmten Zeitpunkt verschoben und schließlich ganz aufgegeben. Henry van de Velde: Entwurf Direktorenzimmer (1908) Dieses Ensemble aus Schreibtisch, Stuhl und Tischlampe hat van de Velde für genau den Ort vorgesehen, an dem wir uns gerade befinden. 1907 bekam er den Auftrag, dieses alte Gebäude umzugestalten – damals das Landesmuseum des Großherzogtums Weimar-Sachsen-Eisenach. Wie er sich die neue Einrichtung der einzelnen Räume vorgestellt hat, wissen wir durch eine Reihe von kolorierten Zeichnungen. Der Entwurf des Direktorenzimmers, den Sie an der Wand hinter dem Schreibtisch sehen, zeigt eindrucksvoll, wie dieser Raum mit van de Veldes Innenausstattung ausgesehen hätte – inklusive unserer Möbel. Bemerkenswert ist unter anderem, dass hier nicht geschwungene, sondern gerade Linien das Design bestimmen. Der klare und nüchterne Stil unterscheidet sich auffallend von den Einrichtungen früherer Jahre, die van de Velde oft mit schwungvollen Ornamenten versehen hatte. Klassik Stiftung Weimar | Ausstellung Leidenschaft, Funktion und Schönheit | 03.2013 22 720: Henry van de Velde: Haus Hohe Pappeln (Modell) Henry van de Velde: Haus Hohe Pappeln Zwischen Juli 1907 und März 1908 ließ van de Velde am Stadtrand von Weimar das „Haus Hohe Pappeln“ errichten, ein Wohnhaus für seine Familie. Es ist das einzige Wohnhaus Van de Veldes, das Sie heute als Museum besichtigen können. Unser Modell zeigt, dass der Grundriss an ein Schiff erinnert – mit dem spitzen Eingangsbereich als Bug. Die Fassade ist asymmetrisch und wirkt verschachtelt: Überall gibt es Kanten, Knicke und Vorsprünge, hier ein paar Erker und dort eine Loggia. Besonders auffällig ist das hohe Walmdach, das sich wie eine Haube über die Mansarde und das Dachgeschoss zieht. Das „Haus Hohe Pappeln“ ist nur eines von vier Wohnhäusern, die van de Velde innerhalb von etwa 30 Jahren für seine Familie entworfen hat. Schon 1895 hatte er in der Nähe von Brüssel das Haus „Bloemenwerf“ bauen lassen, dessen Innenausstattung Sie im Obergeschoss des Museums sehen können. Dazu kamen in den Zwanziger Jahren die Häuser „de Tent“ an der holländischen Nordseeküste und „La Nouvelle Maison“, ebenfalls in einem Vorort von Brüssel. Bei einem Vergleich der vier Modelle werden Sie erkennen, dass die vier Häuser viele Gemeinsamkeiten haben: Bei allen ver- zichtet van de Velde auf historische Anleihen und vertraut stattdessen ganz der eigenen Erfindungsgabe. Die Fassaden sind immer unverputzt und funktional, Fassadenschmuck gibt es keinen. Besonders ähnlich sind sich die Häuser „Hohe Pappeln“, „Bloemenwerf“ und „de Tent“: Alle drei hat van de Velde von innen nach außen gebaut, das heißt, die Anordnung der Innenräume bestimmt die Form der Fassade. Im Vergleich dazu wirkt „La Nouvelle Maison“ von 1927 nüchterner und moderner: Hier besteht die Fassade aus einfachen geometrischen Formen und das Dach ist flach. Klassik Stiftung Weimar | Ausstellung Leidenschaft, Funktion und Schönheit | 03.2013 23 721: Henry van de Velde: Entwürfe Dumont-Theater (1904), Werkbundtheater (1913-14) Henry van de Velde: Entwürfe Dumont-Theater (1904), Werkbundtheater (1913-14) Van de Veldes Theaterprojekte hatten großen Einfluss auf die Entwicklung der Theaterarchitektur zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Aquarellzeichnung zeigt einen Entwurf für das Dumont Theater aus dem Jahr 1904: Die berühmte Ibsen-Darstellerin Louise Dumont wollte in Weimar ein Zentrum für Theaterfestspiele gründen – nach dem Vorbild und gleichzeitig in Konkurrenz zu den Wagner-Festspielen in Bayreuth. Ihr Plan scheiterte am Widerstand der Weimarer Hofkreise. Interessant an der Zeichnung ist vor allem, dass van de Velde die Frontseite des Theaterbaus nicht mit Säulen gliedert, sondern mit schlanken Metallstäben. Immer wieder suchte er nach Alternativen zu der omnipräsenten Säulenarchitektur, die er für nicht mehr zeitgemäß hielt. Ein Theater bauen durfte van de Velde erst 1914 für die Kölner Werkbundausstellung – links (rechts) sehen Sie das Modell. Auf dem Gelände der heutigen Köln-Messe wurden damals mehr als 50 neue Gebäude gezeigt – eine gewaltige Leistungsschau der zeitgenössischen Architektur. Zum Rahmenprogramm gehörte dabei auch eine Tagung, bei der heftig über die zukünftige Ausrichtung des Werkbunds ge- stritten wurde. Der Architekt Hermann Muthesius hatte vorab zehn Leitsätze an die Mitglieder verteilt, in denen er forderte, für Architektur und Kunstgewerbe einen verbindlichen Formen-Kanon einzuführen. Van de Velde reagierte sofort auf die drohende Maßregelung. In einem Kölner Hotel schrieb er zehn Gegenleitsätze, mit denen er Muthesius auf der Tagung frontal angriff. Darin heißt es: „Der Künstler ist seiner innersten Essenz nach glühender Individualist, freier, spontaner Schöpfer. Aus freien Stücken wird er niemals einer Disziplin sich unterordnen, die ihm einen Typ, eine Kanon aufzwingt.“ Klassik Stiftung Weimar | Ausstellung Leidenschaft, Funktion und Schönheit | 03.2013 24 722: Henry van de Velde: Entwurfszeichnung für NietzscheMonument (1912) ein Stadion für sportliche Wettkämpfe. Nur so könnten die Kraft und Schönheit des Körpers mit dem Geistigen zusammengebracht werden – ganz im Sinne Nietzsches. Van de Velde lieferte verschiede Entwürfe, aber Kessler war jedes Mal enttäuscht. Auf der Zeichnung, die Sie vor sich sehen, fand er den Tempel erdrückend schwer. Van de Velde stieß bei diesem Projekt offenbar an seine Grenzen. Sein Gespür für Zweckbauten wie ein Wohnhaus hatte er längst bewiesen, aber mit einem rein dekorativen Bau konnte er nicht viel anfangen. Ernüchtert schrieb Kessler in sein Tagebuch: „Seine Fantasie bricht ohne die Eselsbrücke der Utilität zusammen.“ Henry van de Velde: Entwurfszeichnung für Nietzsche-Monument (1912) Schon in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts und besonders nach seinem Tod entstand um Friedrich Nietzsche ein regelrechter Kult. Sein Sterbehaus, das heutige Nietzsche-Archiv in Weimar, das Sie nicht versäumen sollten zu besuchen, wurde zu einer beliebten Pilgerstätte. Henry van de Velde baute das Haus für die Nietzsches um und entwarf die Inneneinrichtung. Aber es gab größere Pläne. Hier sehen Sie Henry van de Veldes Entwurfszeichnung für ein Nietzsche-Monument. Die Idee dazu stammte von Nietzsches Schwester Elisabeth und von Harry Graf Kessler, die van de Velde als Architekten hinzuzogen. Zunächst ging es nur um einen kleinen Tempelbau auf einem Grundstück unterhalb des Archivs. Aber schon bald wurden die Pläne ehrgeiziger. Kessler stellte sich das Nietzsche-Denkmal als griechischen TempelBezirk vor: ein Tempel mit Hain und dazu Am Ende blieb das Nietzsche-Denkmal ein Luftschloss: Wegen der ungeklärten Finanzierung wurde das Projekt im Winter 1913 auf Eis gelegt – und später nie wieder aufgenommen. Klassik Stiftung Weimar | Ausstellung Leidenschaft, Funktion und Schönheit | 03.2013 25 723: Ernst Ludwig Kirchner: Kopf van de Velde, hell (1917) Ernst Ludwig Kirchner: „Kopf van de Velde, hell“ (1917) Henry van de Velde wurde Zeit seines Lebens von vielen namhaften Künstlern porträtiert. Besonders eindringlich ist dieser Holzschnitt, der ihn mit nachdenklichem Blick vor einer bergigen Landschaft zeigt. Ausdrucksvoll spiegelt die Grafik die schwierigen Umstände jenes Lebensabschnitts, in denen das Blatt entstand. Das Porträt stammt von Ernst Ludwig Kirchner, dem berühmten Maler und Grafiker des Expressionismus. Er fertigte den Holzschnitt im Sommer 1917 an – mitten im 1. Weltkrieg –, als beide Künstler im Schweizer Exil lebten. Van de Velde, damals 54 Jahre alt, war kurz zuvor nach Bern gezogen. Die Ausreise hatte man ihm als „feindlichem Ausländer“ nur auf Betreiben einflussreicher Freunde gewährt. Seine Frau Maria und die fünf Kinder mussten in Deutschland zurückbleiben. Fast zwei lange Jahre lebte die Familie getrennt. Nur Nele, die älteste Tochter, durfte dem Vater wenig später folgen. Sie war oft bei Ernst Ludwig Kirchner zu Besuch, der ihr – als seiner einzigen Schülerin – Unterricht im Zeichnen und grafischen Techniken gab. Kirchners Einfluss lässt sich in Neles Arbeiten deutlich erkennen, wie zwei ihrer Holzschnitte hier im Raum zeigen. Van de Velde wurde Kirchner in den Kriegsjahren zum väterlichen Freund. Er unterstützte den schwer kranken Künstler so gut er konnte, obgleich er finanziell ebenfalls schlecht gestellt war. Als van de Velde nach Kriegsende 1918 im schweizerischen Uttwil eine Künstlerkolonie gründen wollte, war auch Kirchners Umzug an den Bodensee geplant. Doch der Traum platzte: Van de Velde fand in der Schweiz keine Aufträge und keine Schüler. Wenig später ging er nach Holland, Ernst Ludwig Kirchner aber blieb – bis zu seinem Freitod im Jahr 1938. Klassik Stiftung Weimar | Ausstellung Leidenschaft, Funktion und Schönheit | 03.2013 26 724: Henry van de Velde: Wasserkessel mit Rechaud (19221925) Henry van de Velde: Wasserkessel mit Rechaud (1922-1925) Kugelrund der Kessel, mit Ecken und Kanten dagegen der Untersatz zum Erhitzen des Wassers, ein paar Nieten, der helle Glanz des polierten Messings – alles ganz schlicht und auf wenige Grundformen reduziert. Mit diesem Ensemble gelang Henry van de Velde zwischen 1922 und 25 ein kühner, überaus moderner Entwurf. Der Kessel mit dem sogenannten Rechaud gehört zu einem Teeservice, das für den niederländischen Kaufmann Anton Kröller und seine Frau Helene Kröller-Müller entstand. Das wohlhabende Ehepaar spielte für van de Velde eine entscheidende Rolle und hat ihn aus seiner finanziellen und persönlichen Krise der Kriegsjahre erlöst. Im Herbst 1919 erhielt van de Velde einen Brief der Kröller-Müllers aus Den Haag; sie wollten ihn als Architekten für mehrere Bauprojekte engagieren. Ohne zu zögern griff van de Velde zu: endlich wieder Arbeit, eine Aufgabe, ein Auskommen! Und so zog er 1920 mit Frau und Kindern nach Holland, seiner nächsten Lebensstation. Zunächst sollte van de Velde eine große Villa für das Ehepaar bauen – mit einem angegliederten Privatmuseum für deren umfangreiche Sammlung moderner Kunst. Wenig später fiel die Entscheidung, ein öffentliches Museum zu errichten. Sie sehen hier einige Entwürfe dieser gigantischen, immens kostspieligen Museumsplanung, für die van de Velde Anlehnungen an die assyrische Architektur aufgriff. 1924 mussten die Bauarbeiten wegen der Wirtschaftskrise eingestellt werden. Van de Velde war maßlos enttäuscht. Erst 13 Jahre später wurde das Museum gebaut, wenn auch deutlich kleiner als ursprünglich geplant. Der schlichte Bau wurde von van de Velde noch zweimal erweitert und bildet bis heute das Herzstück des Kröller-Müller-Museums in Otterlo. Klassik Stiftung Weimar | Ausstellung Leidenschaft, Funktion und Schönheit | 03.2013 27 725: Modell des Postschiffs „Prince Baudouin“ (1934) Modell des Postschiffs „Prince Baudouin“ (1934) Ein Postdampfer? Tatsächlich: Auch Schiffe gehören in das Repertoire des „Alleskünstlers“ Henry van de Velde. In den 1930er-Jahren entwirft er die „Prince Baudouin“, hier im Modell, und ein weiteres Fährschiff. Van de Velde entwickelte die gesamte Innenausstattung, vom Fußboden über die Möbel bis hin zu den Lampen, die auf den Fotos zu sehen sind. Auch die elegante Form des Dampfers geht auf ihn zurück. Diesen umfangreichen öffentlichen Auftrag bekam van de Velde von der Schiffswerft der Société Cockerill, damals einer der größten Industriekonzerne in Belgien. In sein Heimatland war van de Velde 1926 zurückgekehrt – nach mehr als 25 Jahren, die er in Deutschland – erst in Berlin, dann in Weimar –, in der Schweiz und zuletzt in Holland verbracht hatte. Für seine Rückkehr hatte sich ein alter Freund beim belgischen König stark gemacht, der Schriftsteller und Sozialist Camille Huysmans, der mittlerweile Kultusminister war. In Belgien sah sich van de Velde wegen seiner „Deutschfreundlichkeit“ zunächst vielen Anfeindungen ausgesetzt. Doch nach den anfänglichen Schwierigkeiten erwies sich der Neuanfang in der alten Heimat als positiv: Van de Velde, mittlerweile schon über 60 Jahre alt erhielt zahlreiche private und öffentliche Aufträge. Mitte der 1930er Jahre wurde er nach seiner Pensionierung zum vielbeschäftigten Berater der Regierung. Als solcher entwarf er auch die neuen Triebwagen samt der Innenausstattung für die belgische Staatsbahn, wie Sie ebenfalls in diesem Raum sehen können. Sein damals entwickeltes Logo der Staatsbahnen wird bis heute verwendet. Klassik Stiftung Weimar | Ausstellung Leidenschaft, Funktion und Schönheit | 03.2013 28 726: Max Elskamp: Salutations, dont d’angélique (1893) tung sollte vielmehr mit Hilfe abstrakter Ornamente Stimmungen erzeugen. Hierzu ließ er sich von der Kraft der Linie leiten. Bücher begleiteten van de Velde durch sein gesamtes Leben, er verfasste selbst zahlreiche theoretische Texte. So erstaunt es nicht, dass seine ersten kunsthandwerklichen Arbeiten zu Beginn der 1890er Jahre im Bereich der Buchkunst zu finden sind. Das Buch besitzt nach Ansicht van de Veldes zwei Funktionen. Einerseits soll es durch seine Inhalte stimulieren, andererseits soll es diese Inhalte ästhetisch präsentieren. Das Nützliche und das Schöne bedingen sich also gegenseitig. Max Elskamp: Salutations, dont d’angélique (1893) Der Einband für Max Elskamps Gedichtband „Salutations, dont d’angéliques“ ist einer der ersten Buchentwürfe van de Veldes. Bei diesen frühen Versuchen hat er sich noch nicht vollständig von der gegenständlichen Darstellung gelöst. Der belgische Dichter Max Elskamp hatte seinen Freund gebeten, sich bei der Gestaltung des Einbands nach dem Text zu richten. So wird im Ornament die Verkündigungsszene aufgegriffen, auf die im Titel des Gedichtsbands – „Begrüßungen, darunter engelsgleiche“ – angespielt wird. In den Linien können Sie die Umrisse der Engelsflügel und den Heiligenschein der Jungfrau Maria erahnen. Van de Velde ignorierte souverän alle damals herrschenden Praktiken der Buchgestaltung. Es ging ihm nicht nur darum, einen Einband zu schaffen, der den Inhalt widerspiegelt oder illustriert. Die Gestal- Klassik Stiftung Weimar | Ausstellung Leidenschaft, Funktion und Schönheit | 03.2013 29 727: Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra (1908) schlichten und klaren Formen der Antike inspirieren lassen: Ein Kapitell aus goldfarbenen Ornamenten schmückt seine Textsäule. Die Lücken füllt er mit kleineren Variationen desselben Musters, um ihre Oberfläche darzustellen. Das Gold ist die einzige Verbindung von der Gestaltung zum Inhalt des Buchs. Es wirkt, als ob die Strahlen der Sonne die Steine der Schriftsäule golden aufblitzen lassen. Auch Zarathustra begrüßt mit seinen ersten Worten die Sonne. „Du grosses Gestirn! Was wäre dein Glück, wenn du nicht Die hättest, welchen du leuchtest!“ Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra (1908) Zehn Jahre lang arbeitete Henry van de Velde an der Gestaltung dieses Buchs. Harry Graf Kessler hatte seinen Freund 1897 mit einer Prachtausgabe von „Also sprach Zarathustra“ beauftragt. Was für eine Ehre! Van de Velde beschäftigte sich seit den späten 1880er Jahren intensiv mit den Texten Friedrich Nietzsches. Sie haben ihn zutiefst bewegt und waren mit ein Grund für seine Hinwendung zum Kunsthandwerk. Im Vergleich zu seinen früheren Entwürfen verwendete van de Velde bei diesem Buch nur noch abstrakte Ornamente. Bei der Ausführung beschränkte er sich nicht auf den Einband, sondern legte außerdem das Papier, die Vignetten, die Farben und das Schriftbild fest. Der Text ist wie eine Säule angeordnet. Auf einer Reise nach Griechenland hatte sich van de Velde von den „Also sprach Zarathustra“ ist das berühmteste Werk Friedrich Nietzsches. Nach seinem Tod entstand ein regelrechter Kult um ihn. Und so verwundert es nicht, dass van de Veldes Prachtausgabe bereits vor dem Erscheinen zu zwei Dritteln ausverkauft war. Klassik Stiftung Weimar | Ausstellung Leidenschaft, Funktion und Schönheit | 03.2013 30 728: Tisch mit Buchständer, UB Gent (ab 1920) Tisch mit Buchständer, UB Gent (ab 1920) An der Universität Gent hat van de Velde übrigens auch selbst unterrichtet: seit 1926, dem Jahr seiner Rückkehr. Man hatte ihn, den Autodidakten, ganz offiziell zum Professor für Design und Architektur berufen. Die größte Ehre aber waren die staatlichen Aufträge für die Belgischen Pavillons der Weltausstellungen 1937 und 39 in Paris und New York. Sie brachten van de Velde auch in seiner Heimat den verdienten, wenn auch späten Ruhm. Dieser Tisch stammt aus der Universitätsbibliothek von Gent. Henry van de Velde hat ihn Mitte der 1930er Jahre entworfen – ebenso wie das komplette Bibliotheksgebäude mit den Instituten für Kunstgeschichte und Archäologie. Der hoch aufragende „Bücherturm“, den Sie hier auf Fotos sehen können, ist heute ein Wahrzeichen der flämischen Stadt. Das Universitätsgebäude war eines der größten Architekturprojekte in van de Veldes langer Laufbahn. Der umfassende Baukomplex konnte zwar wegen des Ausbruch des Zweiten Weltkrieges nur in Etappen fertig gestellt werden – aber er wurde tatsächlich realisiert, so wie alle Bauaufträge, die er nach seiner Rückkehr in die Heimat vom belgischen Staat erhalten hat. Eine große Freude und späte Genugtuung, denn zu oft waren frühere Projekte gescheitert. Nicht ohne Stolz erzählt er in seinen Memoiren eine Episode mit Herbert Hoover, dem ehemaligen amerikanischen Präsidenten: „Auf eine Frage des Gesandten, was Hoovers stärkster Eindruck während seiner kürzlichen Belgienreise gewesen sei, antwortete der frühere Präsident: ‘Natürlich der Turm der Bibliothek in Gent!’ Der Gesandte hatte jede andere Antwort erwartet.“ Klassik Stiftung Weimar | Ausstellung Leidenschaft, Funktion und Schönheit | 03.2013 31 729: Oscar Jespers: Portrait Henry van de Velde (um 1930) ten Weltkriegs war er dort als künstlerischer Berater am Wiederaufbau von Brücken und Straßen beteiligt – unter Aufsicht der deutschen Besatzer. Nach dem Krieg wurde er deshalb der Kollaboration bezichtigt. Die Anfeindungen waren so heftig, dass van de Velde 1947 mit 84 Jahren beschloss, sein Heimatland wieder zu verlassen. Durch die Vermittlung von Freuden kam er in einem kleinen Dorf in der Schweiz unter. Dort verbrachte er die letzten zehn Jahre seines Lebens vorwiegend damit, seine Erinnerungen aufzuschreiben – bis zu acht Stunden pro Tag. 1957 verstarb der „Vater des neuen Stils“ in Zürich. Oscar Jespers: Portrait Henry van de Velde (um 1930) In seiner Büste aus Granit betont der belgische Bildhauer Oscar Jespers van de Veldes markant-längliche Kopfform. Die kegelförmige Skulptur erinnert in ihrem Stil entfernt an Werke indigener Künstler. Jespers gehörte zu den Lehrkräften des Institut Supérieur des Arts Décoratifs, einer Design-Schule, die van de Velde 1926 im Auftrag der belgischen Regierung in Brüssel gegründet hatte. Genau wie an der Kunstgewerbeschule in Weimar war das Leitprinzip auch hier die „vernunftgemäße Gestaltung“. In seinen Erinnerungen nennt van de Velde das neue Institut in Brüssel die „dritte Zitadelle der Moderne“ – nach der Kunstgewerbeschule und dem Bauhaus. Als das Institut Supérieur eröffnet wurde, war van de Velde zwar schon über 60 Jahre alt, aber auch Belgien sollte nicht seine letzte Station bleiben. Während des Zwei- Klassik Stiftung Weimar | Ausstellung Leidenschaft, Funktion und Schönheit | 03.2013 Alle Objekte Henry van de Veldes: © VG Bild-Kunst, Bonn 2013 32