Leidenschaft, Funktion und Schönheit. – Henry van de Velde und

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Leidenschaft, Funktion und Schönheit. – Henry van de Velde und
 Audioguidetext zur Ausstellung
Leidenschaft, Funktion
und Schönheit.
–
Henry van de Velde und sein
Beitrag zur Europäischen
Moderne
Text/Redaktion: Linon Medien
Klassik Stiftung Weimar | Ausstellung Leidenschaft, Funktion und Schönheit | 03.2013
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Inhalt
701: Henry van de Velde: Sechsarmiger Kerzenleuchter (1898/99) ......................................................... 3
702: Henry van de Velde: Faits du village VII, La fille qui remaille (Kettelndes Mädchen) (1890) ........ 4
703: Victor Horta: Teile aus dem Turin-Ensemble (1902) ....................................................................... 5
704: Henry van de Velde: Gürtelschließe für Gertrud Osthaus (1898/99) ................................................ 6
705: Henry van de Velde: Abstrakte Pflanzenkomposition (1893) .......................................................... 7
706: Henry van de Velde: Blaues Tea-Gown-Kleid mit breiten Besätzen (um 1896, 1964 Kopie) ........ 8
707: Henry van de Velde: Esstisch Bloemenwerf (1895) ......................................................................... 10
708: Henry van de Velde: Frisiertisch für den Salon Francois Haby (um 1901) ...................................... 11
„Ich trage doch meine Eingeweide und Därme auch nicht als Schmuck über der Weste.“
709: Henry van de Velde: Werbeplakat Tropon (1897/98) ...................................................................... 12
710: Gustave Serrurier-Bovy: Silex Armsessel (um 1905), Josef Hoffmann: Sitzmaschine (1908)…….13
711: Henry van de Velde: Schreibtisch für den Verleger Ludwig Löffler (1898) .................................... 14
712: Erica von Scheel: Schülerarbeit Essig und Öl (um 1903) ................................................................. 15
713: Henry van de Velde: Tafelgedeck für 10 Personen (1903/04) .......................................................... 16
714: Johanna Brinkhaus: Wachsbatik auf Seide ....................................................................................... 17
715: Henry van de Velde: Brieföffner (um 1905) ..................................................................................... 18
716: Georg Kolbe: Porträt Harry Graf Kessler (1916) .............................................................................. 19
717: Henry van de Velde: Korbsessel (1908) ........................................................................................... 20
718: Henry van de Velde: Kinderzimmer-Tisch (1911) ........................................................................... 21
719: Henry van de Velde: Entwurf Direktorenzimmer (1908) ................................................................. 22
720: Henry van de Velde: Haus Hohe Pappeln (Modell).......................................................................... 23
721: Henry van de Velde: Entwürfe Dumont-Theater (1904), Werkbundtheater (1913-14) .................... 24
722: Henry van de Velde: Entwurfszeichnung für Nietzsche-Monument (1912) ..................................... 25
723: Ernst Ludwig Kirchner: „Kopf van de Velde, hell“ (1917) .............................................................. 26
724: Henry van de Velde: Wasserkessel mit Rechaud (1922-1925) ......................................................... 27
725: Modell des Postschiffs „Prince Baudouin“ (1934) ........................................................................... 28
726: Max Elskamp: Salutations, dont d’angélique (1893) ........................................................................ 29
727: Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra (1908) ....................................................................... 30
728: Tisch mit Buchständer, UB Gent (ab 1920) ...................................................................................... 31
729: Oscar Jespers: Portrait Henry van de Velde (um 1930) .................................................................... 32
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701: Henry van de Velde: Sechsarmiger Kerzenleuchter
(1898/99)
sein Schaffen – von 1890 bis zum Ende der
1930er Jahre. Seine wohl produktivste Zeit
hat van de Velde zwischen 1902 und 1917
hier in Weimar verbracht, als Berater für
das Kunstgewerbe in Thüringen und als
Direktor der Kunstgewerbeschule.
Unsere Ausstellung zeigt, dass er ein
künstlerischer Tausendsassa war, der Design für alle Lebensbereiche entworfen hat:
Häuser, Möbel, Kleider, Schmuck, Lampen, ja sogar die Inneneinrichtung einer
Reihe von großen Fährschiffen. Henry van
de Velde wollte das menschliche Lebensumfeld zu einem Gesamtkunstwerk machen, in dem alle künstlerischen Details
miteinander harmonieren.
Henry van de Velde: Sechsarmiger Kerzenleuchter
(1898/99)
Herzlich Willkommen in der Ausstellung
„Leidenschaft, Funktion und Schönheit –
Henry van de Velde und sein Beitrag zur
Europäischen Moderne“!
Bei unserem ersten Exponat, diesem sechsarmigen Leuchter, entstanden kurz vor
1900, kommt bereits vieles zusammen, das
für van de Velde typisch ist, vor allem seine Vorliebe für die geschwungene Linie.
Der Leuchter ist fast vollständig aus dynamischen Linien aufgebaut – mal fließen sie
geschmeidig, mal springen sie heftig vor
und zurück. Dabei verschmilzt die individuelle Form perfekt mit der Funktion des
Gegenstands. Van de Velde war der Überzeugung, dass die Gestaltung eines Gegenstands umso vollkommener ist, je genauer
sie seinem Zweck entspricht. (kurze Pause)
Unsere Ausstellung gibt am Beispiel herausragender Werke einen Überblick über
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702: Henry van de Velde: Faits du village VII, La fille qui
remaille (Kettelndes Mädchen) (1890)
Maler. Der Belgier fährt mehrmals nach
Paris um dort von den Impressionisten zu
lernen, arbeitet dann einige Jahre im Stil
der Pointilisten, bis er 1890 Werke von
Vincent van Gogh zu sehen bekommt. Tief
beeindruckt versucht er fortan mit dynamischen Linienbewegungen den Fluss des
Lebens darzustellen.
Henry van de Velde: Faits du village VII, La fille
qui remaille (Kettelndes Mädchen) (1890)
Ruhig und konzentriert sitzt das Mädchen vertieft in ihre Handarbeit. Es ist
ein sonniger Tag; das Licht wirft durch
die Bäume wundersame Schatten ins
Gras. Im Hintergrund erkennen Sie einen
Weg und ein größeres Gebäude.
Dieses Bild ist Teil der Serie „Faits du
village“, die uns verschiedene Szenen
dörflichen Lebens zeigt. Henry van de
Velde hat es 1890 gemalt. Geduldig setzte er dafür Punkt für Punkt nebeneinander. Diese pointilistische Technik hatte er
einige Jahre zuvor durch den französischen Maler George Seurat kennengelernt und war seither begeistert davon.
Die Farben werden dabei nicht gemischt,
sondern in Reinform in Punkten oder
kurzen Strichen eng nebeneinander gesetzt. Erst im Auge des Betrachters entsteht aus den einzelnen Farbtupfen das
Bild.
Henry van de Velde hatte mit 17 Jahren
an der Akademie der Schönen Künste in
Antwerpen eine klassische Ausbildung
begonnen – trotz des Widerstandes seiner
Eltern, die ihn lieber in einer gutbürgerlichen Verwaltungslaufbahn gesehen hätten. Wie Sie sehen, war er ein virtuoser
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703: Victor Horta: Teile aus dem Turin-Ensemble (1902)
fiel vor allem die überladene, funktionslose
Ornamentik, mit der Horta seine Bauten
schmückte. Ein gutes Beispiel ist die Zentrale der sozialistischen Partei in Brüssel,
deren Fassade vollständig aus Glas und
Stahl bestand – zu sehen auf dem Foto an
der Wand. In seinen Erinnerungen schreibt
van de Velde: „Hortas Übertreibungen, mit
denen logische Metallkonstruktionen verschönt werden sollen, verstimmen wegen
ihrer Sinnlosigkeit und der hemmungslosen
Phantasie.“
Victor Horta: Teile aus dem Turin-Ensemble
(1902)
Einer der Höhepunkte des Jugendstils war
die Weltausstellung für angewandte Kunst
1902 in Turin, die ausschließlich dem Design, wie man heute sagen würde, gewidmet war. Zu den Objekten, die man sich
dort anschauen konnte, gehörten unter anderem dieser Couchtisch und dieser Stuhl
des Belgiers Victor Horta. Auf dem europäischen Festland war der 1861 geborene
Architekt und Designer einer der ersten,
der sich von der Imitation historischer Stile
abwandte. Schon in den frühen 1890er Jahren begann er, den Jugendstil auch auf die
Architektur zu übertragen. Bis dahin hatte
die Neuausrichtung des Designs vorwiegend das Kunsthandwerk betroffen. Hortas
Häuser wurden zu Meilensteinen des Jugendstils in Belgien.
Für van de Velde war sein Landsmann nur
ein „mittelmäßiger Architekt“. Ihm miss-
Victor Horta: Teile aus dem Turin-Ensemble
(1902)
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704: Henry van de Velde: Gürtelschließe für Gertrud Osthaus
(1898/99)
schen, welche ihre Schönheit aus sich
selbst (...) schöpft.“
Die ersten Experimente mit den abstrakten
Ornamenten machte van de Velde auf flächigen Bildern, etwa bei der Buchgestaltung oder auf Werbeplakaten. Kurz vor
1900 begann er jedoch, auch im Kunsthandwerk mit Strukturen aus dynamischen
Linien zu arbeiten – zum Beispiel bei unserer Gürtelschließe.
Henry van de Velde: Gürtelschließe für Gertrud
Osthaus
Diese Gürtelschließe aus Silber hat van de
Velde kurz vor der Jahrhundertwende entworfen. Der Verschluss ist wie eine Art
Relief aus dynamisch geschwungenen Linien gestaltet.
Die Linie hatte van de Velde schon früh in
ihren Bann gezogen, zum Beispiel in der
Natur. In seinen Memoiren erinnert er sich,
wie er bei einem Aufenthalt an der Nordseeküste 1890 oft an den Strand ging, „(...)
um die linearen Arabesken aufzuzeichnen,
die die zurückflutenden Wellen im Sand
hinterließen. In den Dünen hatten mich
schon früher ähnliche Bildungen fasziniert:
(...) raffinierte abstrakte Ornamente, die
der Wind in den Sand zeichnete.“
Später beschäftigte sich van de Velde auch
theoretisch mit der Linie und ihren Bewegungsgesetzen. Mit Hilfe dynamischer Linien wollte van de Velde Ornamente entwickeln, die nicht mehr figürlich, sondern
rein abstrakt waren. In einer Abhandlung
schrieb er 1901: „(...) es war der Gedanke,
dass die Linien untereinander dieselben
logischen und konsequenten Beziehungen
haben wie die Zahlen und wie in der Musik
die Töne, der mich dazu brachte, nach einer rein abstrakten Ornamentik zu for-
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705: Henry van de Velde: Abstrakte Pflanzenkomposition
(1893)
Aber was war der Anlass, der Henry van
de Velde überhaupt dazu bewegte, die Malerei aufzugeben? Das erfahren Sie, wenn
Sie 1 drücken. Henry van de Velde: Abstrakte Pflanzenkomposition (1893)
Ist das eine Pflanze? Oder eine Abstraktion, eine Linienstudie vielleicht? Ganz sicher kann man es nicht sagen und nur der
Kürbis rechts unten lässt sich als solcher
identifizieren.
Das Pastell von 1893 ist ein Schlüsselwerk. Es verdeutlicht, dass van de Veldes
Entwicklung vom Malen und Zeichnen
wegführte hin zu einem universalen künstlerischen Schaffen, das ganz von Linie und
Ornament geprägt ist. Nachdem van de
Velde jahrelang im Stil der Impressionisten und Neoimpressionisten gemalt hat,
werden seine Werke immer abstrakter. Ihn
interessieren nun vor allem Linienbewegungen, die ihn sein Leben lang faszinieren und die sein Werk prägen werden. Er
selbst schreibt darüber in seinen Memoiren: „Auch als ich die Malerei aufgegeben
hatte, verließ mich der Dämon der Linie
nicht, und als ich die ersten Ornamente
schuf, entstanden sie aus dem dynamischen Spiel ihrer elementaren Kräfte.“
An anderer Stelle schreibt er, dass es neben van Gogh vor allem die Natur war, die
ihn zu seiner abstrakten Linienführung
inspiriert habe.
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2. Ebene: Von der Malerei zu den angewandten Künsten
Nach dem frühen Tod seiner Mutter 1888
zog sich Henry van de Velde zurück und
befasste sich ausgiebig mit verschiedenen
Philosophen, zum Beispiel mit Friedrich
Nietzsche. Auch las er Bücher von John
Ruskin und William Morris, den Initiatoren der englischen Arts-and-CraftsBewegung. In ihren Schriften setzten sich
die beiden Engländer kritisch mit der industriellen Massenproduktion auseinander.
Ihrer Meinung nach rückte dort die ästhetische Gestaltung immer mehr in den Hintergrund. Daher forderten sie, dass Gebrauchsgegenstände in solider, handwerklicher Qualität mit klaren Formen und aus
besten Materialien gefertigt werden sollten. Vor allem William Morris betrachtete
die Rückbesinnung auf das Handwerkliche
als Teil einer künstlerischen und gesellschaftlichen Reform. Das Kunsthandwerk
sollte gegenüber den „hohen Künsten“ aufgewertet werden. Sein Credo war es, dass
gute Kunst und gutes Kunsthandwerk die
Menschen und das Alltagsleben zum Besseren verändern können. Morris' Gedanke,
dass die Kunst gerade in einer industrialisierten, technischen Gesellschaft eine entscheidende Rolle spiele, beeindruckte van
de Velde. Der Belgier geriet in eine Sinnkrise. Die Malerei erschien ihm nicht länger als adäquates Ausdrucksmittel. Ab
1893 wendete er sich schließlich den angewandeten Künsten und später auch der
Architektur zu. Unsere abstrakte Pflanzenstudie ist eines seiner letzten Bilder. 7
706: Henry van de Velde: Blaues Tea-Gown-Kleid mit breiten
Besätzen (um 1896, 1964 Kopie)
Henry van de Velde: Blaues Tea-Gown-Kleid mit
breiten Besätzen (um 1896, 1964 Kopie)
Stellen Sie sich bitte vor, wie eine Frau
gegen Ende des 19. Jahrhunderts gekleidet
war: beladen mit schweren Schichten aufgebauschter Röcke, die Taille eingeschnürt
in ein enges Korsett, überladen mit Spitze
und üppigen Verzierungen. Wie weit entfernt davon ist das blaue Kleid vor Ihnen:
es fällt weit und glatt zum Boden herab,
passt sich dabei bequem und weich den
Bewegungen des Körpers an und -– es lässt
seine Trägerin atmen. Welch eine Befreiung!
Die Kritik von Medizinern, Sozialreformern und Frauenrechtlerinnen am eingangs
beschriebenen Modediktat bringt um 1900
das sogenannte Reformkleid hervor. Auch
Künstler wie Henry van de Velde fühlten
sich berufen, zeitgemäße „gesunde“ Frauenkleidung zu entwerfen, die auch ästhetischen Ansprüchen gerecht wurde. Hier sehen Sie die Nachbildung eines Tea-Gowns,
also eines Kleides, das man nachmittags
zum Tee im Haus trug. Sie entdecken van
de Veldes Gestaltungsprinzip der Linie
wieder: beispielsweise in den Ornamenten
auf den Besätzen. Die Nähte sind hervorgehoben, um den Aufbau des Kleides
sichtbar zu machen. Der weite Schnitt
lässt die Gestalt erkennen, ohne die weiblichen Formen übermäßig zu betonen.
Frauenkleidung sollte von nun an zeitlos,
mit abstrakt-linearen Verzierungen aber
auch modern sein.
Van de Veldes Vision, die Pariser Mode
durch das Künstlerkleid abzulösen, scheitert jedoch. Zu hoch ist sein ästhetischer
Anspruch, zu hoch sind die Kosten der
Fertigung in aufwendiger Handarbeit.
Und so trug vor allem van de Veldes Ehefrau, Maria Sèthe seine Kleider. Auch sie
war Künstlerin und sie spielte eine wichtige Rolle in van de Veldes Werk.
Mehr über Maria Sèthe erfahren Sie,
wenn Sie 2 drücken.
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2: Maria Séthe
Ebene 2:
Maria Sèthe hat die Kleider van de Veldes
nicht nur getragen, sondern auch zum großen Teil selbst ausgeführt. Maria war eine
unverzichtbare Mitstreiterin ihres Mannes
und stellte – wie er – theoretische Überlegungen zur reformierten Damenkleidung
an. Darüber hinaus war sie auch selbst
Künstlerin und führte in Heimarbeit beispielsweise Stickereiarbeiten aus.
Maria Sèthe wächst in einer wohlhabenden,
kulturbegeisterten Familie in Paris und
Brüssel auf, als Tochter eines holländischen Textil-Fabrikanten und einer deutschen Musikerin. Sie studiert Malerei bei
dem flämischen Neo-Impressionisten Théo
van Rysselberghe. Durch ihn lernen sich
Maria und Henry kennen. Im Jahr 1893
verbringen sie zusammen mit Malerfreunden einen Landurlaub in Holland. Maria
gewinnt van de Veldes Herz und macht
dem Künstler Mut, die Malerei aufzugeben, um sich von nun an ganz den angewandten Künsten zu widmen. Durch einen
Studienaufenthalt in London war auch sie
mit der englischen Arts-and-CraftsBewegung vertraut und von deren reformerischen Gedanken begeistert. Gemeinsam
verfolgen Maria und Henry van de Velde
von nun an die Idee, die kunstgewerbliche
Reformbewegung in Belgien und später
auch in Deutschland voranzutreiben .
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707: Henry van de Velde: Esstisch Bloemenwerf (1895)
ihn als Architekten zu engagieren, soll
Liebermann gesagt haben: „Wenn ick
meine Wohnung einrichte, dann will ick
meinen eigenen Spaß haben. Aber nicht
van de Velde seinen.“
Henry van de Velde: Esstisch Bloemenwerf (1895)
1895 baute van de Velde in Uccle, heute
ein Stadtteil von Brüssel für sich und seine
Frau Maria das Wohnhaus „Bloemenwerf“.
Dabei entwarf er nicht nur die Architektur,
sondern auch die gesamte Innenausstattung
– und das, obwohl er auf beiden Gebieten
ein Autodidakt war.
Besonders viel Bewunderung erregte bei
den Besuchern von „Bloemenwerf“ der
Esstisch. Van de Velde verzichtete hier
vollkommen auf schmückende Ornamente
und konzentrierte sich stattdessen ganz auf
die Funktionalität. Außergewöhnlich war
vor allem die leicht erhöhte Keramikplatte,
die mittig in den Tisch eingelassen wurde.
Durch diesen Kniff konnte man ohne Probleme die heißen Schüsseln auftischen. Später wurde diese Keramikplatte durch eine
Messingplatte ersetzt.
In „Bloemenwerf“ machte van de Veldes
Gestaltungswille nicht einmal vor den Türgriffen und Tapeten halt. Ein Wohnhaus
war für ihn ein Gesamtkunstwerk, das in
allen Details die Persönlichkeit seiner Bewohner zum Ausdruck bringen sollte. Ohne
Widersprüche funktionierte diese Idee allerdings nur, solange van de Velde für sich
selbst baute. Als dem Berliner Maler Max
Liebermann einmal vorgeschlagen wurde,
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708: Henry van de Velde: Frisiertisch für den Salon Francois
Haby (um 1901)
Form in ihrer Vollendung, göttlich wie
die Körper der Menschen und Tiere.“
Schon bei der Eröffnung des Salons hatte
die ungewöhnliche Einrichtung für Diskussionsstoff gesorgt. Der Impressionist
Max Liebermann etwa rümpfte die Nase.
Beim Anblick der freiliegenden Rohre
soll er gesagt haben: „Ich trage doch meine Eingeweide und Därme auch nicht als
Schmuck über der Weste.“
Henry van de Velde: Frisiertisch für den Salon
Francois Haby (um 1901)
1900 bekam van de Velde den Auftrag, den
Salon des Hoffriseurs Francois Haby in
Berlin neu einzurichten. Bei der Gestaltung
der Frisiertische kamen nur die edelsten
Materialien zum Einsatz – Mahagoni und
grüner Marmor. Die eigentliche Revolution
des Möbelstücks liegt jedoch woanders:
Wie Sie gut erkennen können, hat van de
Velde darauf verzichtet, die Gas- und Wasserleitungen aus Messing zu verkleiden.
Die Rohre liegen frei und schmiegen sich
in kunstvoll weichen Linien um das dunkle
Holz. Van de Velde selbst beurteilte sein
Design im Nachhinein eher kritisch. So
schreibt er in seinen Memoiren: „Um den
eigentlichen Sinn der Dinge und der Formen klarzumachen und ihre Funktion zu
zeigen, neigte ich dazu, mich auf Skelette
zu beschränken, und vergaß, sie mit Fleisch
zu umgeben. Aber erst dann erscheint die
Dem Erfolg von Haby tat all das jedoch
keinen Abbruch. Geld verdiente der StarFriseur nicht nur mit seinem Salon, sondern auch mit allerlei Kosmetika. Sein mit
Abstand bekanntestes Produkt war ein
Paket aus Bartwichse und Bartbinde mit
dem Namen Es ist erreicht: Mit der Wichse konnte der Kunde die Enden seines
Schnurrbarts genau wie Kaiser Wilhelm
II. nach oben zwirbeln – damals in Sachen
Bartmode der letzte Schrei. Und um die
Form zu erhalten, wurde über Nacht die
Bartbinde angelegt.
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709: Henry van de Velde: Werbeplakat Tropon (1897/98)
Henry
van
de
Velde:
Werbeplakat
Tropon
(1897/98)
Für Tropon gestaltete van de Velde damals nicht nur das Plakat. Hier sehen Sie
auch eine Metalldose für Troponbiscuits,
sowie den von ihm gestalteten Einband
für ein Kochbuch. Der Belgier entwarf
sämtliche Verpackungen, Etiketten und
Anzeigen für das Unternehmen, entwickelte ein Logo, richtete die Büroräume
ein und entwarf auch das Briefpapier und
die Umschläge –– dies ist das früheste
Beispiel für ein Corporate Design im modernen Sinne.
Mit diesem Plakat beschreitet Henry Van
de Velde Neuland: als einer der ersten
Künstler entwirft er 1898 ein Werbeplakat
für ein Industrieunternehmen. Van de Veldes Ansatz ist damals revolutionär, denn er
verzichtet auf das bis dahin übliche
„sprechende Bild“ und kombiniert stattdessen Linien und Flächen zu einem abstrakten Muster. Auf das Produkt verweist allein
der Name: „Tropon Eiweiss Nahrung“ –
ein Nahrungsergänzungsmittel, hergestellt
aus pflanzlichem und tierischem Eiweiß,
das zu einer gesunden und ausgewogenen
Ernährung beitragen sollte.
Seit Mitte des 19. Jahrhunderts hatten sich
die Essgewohnheiten der Bevölkerung
grundlegend verändert. Standen zuvor
überwiegend Getreide, Hülsenfrüchten und
Kartoffeln auf dem Speiseplan, landeten
mit steigendem Wohlstand mehr und mehr
tierische Produkte, vor allem Fleisch auf
den Tellern. Führende Ernährungswissenschaftler befürworteten den Fleischhunger
sogar, da sie im Eiweiß den Garanten für
Kraft und Gesundheit identifiziert zu haben
glaubten. Auch die Industrie griff die steigende Nachfrage auf und so entstand eine
neue Branche der Nahrungsergänzungsund Stärkungsmittel.
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710: Gustave Serrurier-Bovy: Silex Armsessel (um 1905)
Ebenfalls in Serie hergestellt wurde die
markante „Sitzmaschine“ des Wiener Designers Josef Hoffmann, die Sie weiter
rechts sehen. Der Name ist Programm:
Durch die streng geometrischen Formen
der einzelnen Teile und die bewegliche
Rückenlehne wirkt der Armsessel wie
eine Maschine, die jeden Augenblick losrattern könnte.
Gustave Serrurier-Bovy: Silex Armsessel (um
1905)
Henry van de Velde war um 1900 beileibe
nicht der einzige Produkt-Designer, der den
Historismus ablehnte und stattdessen nach
einem authentischen Stil für seine Zeit
suchte.
Die Lebenswelt ganz neu gestalten wollte
zum Beispiel auch sein Landsmann Gustave Serrurier-Bovy, ein begnadeter Kunsttischler. Bekannt ist er vor allem für die
sogenannten Silex-Möbel, zu denen dieser
Armlehnsessel gehört. Sie wurden in Einzelteilen angefertigt und dann als Bausatz
ausgeliefert, den der Käufer selber zusammensetzen musste. Als Serrurier-Bovy die
Silex-Serie 1905 der Öffentlichkeit vorstellte, war das eine Revolution in der Geschichte des Designs – quasi die Erfindung
des IKEA-Prinzips. Durch die geringen
Herstellungskosten waren Design-Möbel
nun zum ersten Mal nicht nur für Wohlhabende erschwinglich.
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711: Henry van de Velde: Schreibtisch (um 1903)
Henry van de Velde: Schreibtisch (um 1903)
1898 wurde van de Velde eingeladen, an
der jährlichen Ausstellung der Münchner
Sezession teilzunehmen. München war damals noch vor Berlin und Dresden das
Kunstzentrum des Deutschen Reichs. Van
de Velde richtete dort einen kompletten
Saal ein, unter anderen mit einem
„Herrenzimmer in Eichenholz“.
Im Zentrum stand ein wunderbare Schreibtisch, ein ähnliches Exponat sehen wir hier
vor uns . Es ist eines seiner bekanntesten
Möbelstücke überhaupt. Besonders auffällig ist die geschwungene Form: Sie orientiert sich am natürlichen Aktionsradius der
Arme, sodass der Benutzer alle Schreibwerkzeuge und Schriftstücke bequem erreichen kann.
Genau wie van de Velde bemühten sich um
1900 viele andere Designer und Architekten in ganz Europa um eine Wiederbelebung des Kunsthandwerks. Sie hatten sich
vom Historismus abgewandt und waren
nun auf der Suche nach einem neuen, zeitgemäßen Stil. Zu den wichtigsten Zentren
dieser ästhetischen Revolution gehörten
Wien, München, Darmstadt und Glasgow.
In diesem Raum können Sie sehen, wie
unterschiedlich sich die Künstler in diesen
vier Städten den zeitgemäßen Stil vorgestellt haben.
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712: Erica von Scheel: Schülerarbeit Essig und Öl (um 1903)
Erica von Scheel: Schülerarbeit Essig und Öl (um
1903)
Diese schlichten und zugleich eleganten
Gefäße für Öl, Essig und Mehl hat Erica
von Scheel entworfen. Sie gehörte zu den
ersten privaten Schülerinnen van de Veldes
in Weimar. 1902 war er nach Weimar gezogen, weil ihn Großherzog Wilhelm Ernst
zum künstlerischen Berater für Industrie
und Handwerk ernannt hatte. Van de Velde
sollte die Betriebe der Region in allen Fragen der Gestaltung unterstützen: mit dem
Ziel, das Kunstgewerbe in Thüringen zu
fördern und wettbewerbsfähig zu machen.
Die erste Anlaufstelle hierfür war sein
1902 gegründetes Kunstgewerbliches Seminar, wo die Handwerker und Industriellen beraten wurden und Modelle für neue
Produkte erhielten. Van de Velde war für
diese Aufgabe wie geschaffen. Er hatte
schon in Brüssel und Berlin Werkstätten
geleitet und war ein Vorkämpfer der kulturellen Erneuerung. In Weimar wandte er
sich bewusst von der Tradition der GoetheZeit ab und propagierte stattdessen einen
modernen, zeitgemäßen Stil. In diesem
Geist war auch seine Kunstgewerbeschule
organisiert, die 1906 bezogen wurde und
1908 mit 27 Schülern den Betrieb offiziell
aufnahm. Hier sollte eine neue Generation
fähiger Zeichner und Modelleure heranwachsen. In seinen Erinnerungen schreibt
van de Velde: „Vom Schüler wurden keine Kenntnisse der vergangenen Stile verlangt. Er wurde nicht mit den Produkten
der Vergangenheit bekannt gemacht, sondern geschult, das Wesentliche der Form
der verschiedensten Gegenstände zu erkennen (...). Von diesem Augenblick an
war die vernunftgemäße Gestaltung die
einzige Quelle, aus der die Schüler bei der
Lösung konstruktiver Probleme oder bei
der Erfindung von Formen und Ornamenten schöpfen konnten.“ Auch Erica von
Scheel besuchte die Kunstgewerbeschule:
Bereits im ersten Schuljahr wurden ihre
Designs bei verschiedenen Wettbewerben
ausgezeichnet. 1910 ging sie nach Paris
und entwarf dort Batiken und Kleider für
den berühmten Modeschöpfer Paul Poiret.
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713: Henry van de Velde: Tafelgedeck für 10 Personen
(1903/04)
Henry van de Velde: Tafelgedeck für 10 Personen
(1903/04)
Dieses Tafelgedeck entstand zwischen
1903 und 1904, also kurz nach van de
Veldes Ankunft in Weimar. Hier war er
nicht nur als vielseitiger Künstler und
Lehrer gefragt, sondern erwies sich schon
bald auch als glänzender Gastgeber. Bei
den Abendgesellschaften in Van de Veldes Haus waren oft illustre Gäste anwesend, etwa der Dichter Hugo von Hofmannsthal, oder Jean Jaurès, der 1914
ermordete Pazifist und Führer der französischen Sozialisten.
Hier sehen Sie Teile eines umfangreichen
Tafelgedecks, das er für die Meissener Porzellanmanufaktur entwickelte.
Der Architekt und Stadtplaner Fritz Schumacher schrieb über van de Velde:
„Eine solche Allseitigkeit der Produktion
auf allen Gebieten, die mit dem Wohngebrauch zusammenhängen, ist vielleicht
noch nie von einem Einzelmenschen entfaltet worden.“
Was dahinter steckt, ist van de Veldes Idee
eines Lebensraums, der von A bis Z durchgestaltet ist. Im Idealfall sollte ein Haus
eine Art bewohnbares Gesamtkunstwerk
sein, in dem Kunst und Leben miteinander
verschmelzen. Ein ästhetisches, praktisches
wie positives Umfeld sollte letztlich der
geistigen und seelischen Gesundheit des
Menschen dienen.
Verblüffend ist, dass van de Velde keineswegs in allen Bereichen Fachkenntnisse
besaß, sondern viele Aufträge als Autodidakt ausführte. Manchmal ging das schief –
zum Beispiel, wenn er eine Sauciere entwarf, die beim Ausgießen tropfte. Aber
meistens war es ein Vorteil, weil er durch
seine unbefangene Herangehensweise zu
ganz neuen gestalterischen Lösungen kam.
Henry van de Velde: Tafelgedeck für 10 Personen
(1903/04)
Henry van de Velde: Tafelgedeck für 10 Personen
(1903/04)
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714: Johanna Brinkhaus: Wachsbatik auf Seide
Die Linie war für van de Velde eine Äußerung der Psyche. Er war der Meinung,
die Linien eines Ornaments hätten untereinander logische Beziehungen, ähnlich
wie Zahlen oder Töne in der Musik.
Die Arbeiten von Johanna Brinkhaus entsprachen seinen Vorstellungen, denn bei
einer Schülerausstellung bekam sie 1913
für ihre Batiken eine Auszeichnung.
Johanna Brinkhaus: Wachsbatik auf Seide
Das künstlerische Schaffen an van de Veldes Kunstgewerbeschule in Weimar war
ausgesprochen vielfältig. Hier sehen Sie
eine Wachsbatik auf Seide, angefertigt von
der Schülerin Johanna Brinkhaus. Das
Muster ist von der Textilkunst der Insel
Java inspiriert. In Indonesien hat die Batiktechnik eine uralte Tradition. In Europa
wurde die Batik erst im 19. Jahrhundert
langsam bekannt, und zwar durch englische
und holländische Kaufleute. Kurz bevor
Johanna Brinkhaus ihr Seidentuch entwarf,
hatten indonesische Batiken auf der Weltausstellung in Paris 1900 für Furore gesorgt. Aber auch der gestalterische Einfluss
van de Veldes ist in diesem Seidentuch
deutlich sichtbar.
Einer der Grundlagenkurse an seiner
Kunstgewerbeschule war die sogenannte
„Ornamentlehre“, die auf seiner berühmten
Theorie der Linie beruhte. Van de Velde
beschrieb die Linie als „eine Kraft, die
spontan aus uns herausstrebt, die sich aufschwingt und zurücksinkt, die gleitend und
sich windend sich fortbewegt, die uns emporhebt und unsere Seele in einen Zustand
versetzt, wie ihn nur Gesang und Tanz in
uns erwecken können.“
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715: Henry van de Velde: Brieföffner (um 1905)
neuen, zeitgemäßen Stil durchsetzten zu
können. So schrieb er an den Großherzog:
„Ich fasse die Aufgabe, die Seine Königliche Hoheit mir anvertraut haben, nicht
anders auf, als dass ich dazu beitragen
soll, den Stil des 20. Jahrhunderts zu gestalten.“
Henry van de Velde: Brieföffner (um 1905)
Der Entwurf für diesen elegant geschwungenen Brieföffner stammt von Henry van
de Velde selbst. Herstellung und Verkauf
überließ er allerdings den Kunstschnitzern
von Ruhla im Thüringer Wald.
Die Produktgestaltung der regionalen
Kunsthandwerker zu verbessern und marktfähig zu machen, gehörte zu den Hauptaufgaben van de Veldes in Weimar. In seinem
Arbeitsvertrag heißt es dazu, er werde
„den Gewerbetreibenden und Industriellen
(...) des Landes (...) in Kunstfragen sachverständigen Beirat erteilen und ihnen (...)
durch Anfertigung von Musterzeichnungen, Modellen und Vorbildern (...) künstlerische Anregung geben.“
Van de Velde beriet die Kunsthandwerker
und Betriebe in Thüringen auch in Fragen
neuer Fertigungsmethoden und der Vermarktung ihrer Produkte. Die Töpfereien
im Städtchen Bürgel hatten bis zu seinem
Eintreffen an historischen, nicht mehr
marktfähigen Entwürfen festgehalten,
sodass die Verkäufe immer weiter zurück
gegangen waren. Um ihnen beizustehen,
entwarf van de Velde kurzerhand neues
Geschirr, preiswerte Vasen oder Gefäße
und vermittelte ihnen durch Ausstellungen neue Kunden.
Um die Zusammenarbeit von Künstlern
und Industrie möglichst schnell zu verbessern, gründete van de Velde bereits kurz
nach seiner Ankunft 1902 eine Art DesignLabor, das Kunstgewerbliche Seminar.
Dort konnten Handwerker und Fabrikanten
kostenlos ihre Produkte analysieren und
verbessern lassen.
Van de Velde hatte hochfliegende Pläne.
Anfangs glaubte er sogar, mit Hilfe des
Seminars in der gesamten Region einen
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716: Georg Kolbe: Porträt Harry Graf Kessler (1916)
Georg Kolbe: Porträt Harry Graf Kessler (1916)
Ohne diesen Mann wäre van de Veldes
Leben wohl völlig anders verlaufen: Harry
Graf Kessler, hier zu sehen in einem Porträt des Bildhauers Georg Kolbe.
Kessler war einer der schillerndsten Persönlichkeiten des Kaiserreichs und der
Weimarer Republik – Diplomat, Kunstsammler, Schriftsteller, Mäzen. Heute ist er
vor allem durch sein Tagebuch bekannt,
das die Jahre von 1880 bis zu seinem Tod
1937 umfasst, also mehr als ein halbes
Jahrhundert. Darin tauchen die Namen von
ungefähr 12.000 Zeitgenossen auf, von
Bismarck über Albert Einstein bis zu Joséphine Baker – Kessler galt als regelrechter ‚Menschensammler’. Außerdem war er
ein hervorragender Kenner und Förderer
der zeitgenössischen Künste. In seiner
Berliner Junggesellen-Wohnung sowie
später auch in Weimar hingen Werke von
van Gogh, Cézanne, Renoir und Seurat.
Die eleganten Möbel für das Apartment
hatte er bei van de Velde in Auftrag gegeben, den er schon vor seiner Weimarer
Zeit kennenlernte.
Kessler war es auch, der sich gemeinsam
mit Elisabeth Förster-Nietzsche dafür einsetzte, dass van de Velde als Impulsgeber
für das Kunstgewerbe nach Weimar kam.
Gemeinsam wollten sie die Kleinstadt
zum dritten Mal zu einer kulturellen Blüte
führen – nach der Weimarer Klassik und
der Zeit von Franz Liszt. Zu diesem
Zweck übernahm Kessler 1903 die Leitung des Museums für Kunst- und Kunstgewerbe. Durch seine glänzenden Kontakte konnte er dort die allerneueste europäische Kunst zeigen. In den konservativen Weimarer Kreisen regte sich allerdings bald Widerstand gegen den allzu
ambitionierten Museumsdirektor. 1906
kam es zu einer Pressekampagne wegen
angeblich unanständiger Aktstudien von
Rodin – und Kessler gab sein Amt in
Weimar auf, um fortan als kunstsinniger
Privatmann zu wirken.
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717: Henry van de Velde: Korbsessel (1908)
Dass van de Velde einen völlig neuen
Entwurf für die Kunsthandwerker in Thüringen anfertigte, war eher die Ausnahme.
Normalerweise brachten die Produktgestalter der Betriebe ihre eigenen Entwürfe
mit in sein Beratungsbüro in Weimar.
Dort wurden sie unter Aufsicht des Meisters oder seiner Assistenten überarbeitet.
Die so verbesserten Modelle wurden dann
serienmäßig produziert. Durch dieses
Verfahren wollte van de Velde vermeiden, den Betrieben zu viel ‚Fremdes’ aufzuzwingen. Denn ganz neue Modelle hätten eine Umstellung der Produktion bedeutet – und damit ein größeres wirtschaftliches Risiko.
Henry van de Velde: Korbsessel (1908)
Im Rahmen seines Engagements für das
Kunsthandwerk in Thüringen verschlug es
van de Velde auch nach Tannroda, gut 15
Kilometer südlich von Weimar. Ein wichtiger Wirtschaftszweig war dort schon seit
Jahrhunderten die Korbmacherei. Um das
Geschäft neu anzukurbeln, empfahl van de
Velde den Korbmachern, nicht nur Körbe,
sondern auch Korbmöbel herzustellen – so
auch diesen eleganten Sessel nach seinem
eigenen Entwurf. Der Erfolg dieser Maßnahmen war durchschlagend: Sogar das
elegante Kaufhaus Wertheim in Berlin hatte fortan ständig eine Kollektion der Korbmöbel aus Tannroda im Angebot.
Was das Design betrifft, ist der Korbsessel
eine gutes Beispiel dafür, dass sich van de
Veldes Stil in Weimar verändert. Von der
Opulenz seiner früheren Entwürfe ist nicht
mehr viel übrig. Stattdessen sind die Formen nun schlichter und von einer funktionalen Eleganz geprägt.
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718: Henry van de Velde: Kinderzimmer-Tisch (1911)
„Innendekoration“, die Möbel eins Kinderzimmers sollten „anregend auf die
Fantasie des Kindes wirken und dessen
künstlerischen Anlagen wecken.“
Wie Sie sehen können, war das gesamte
Kinderzimmer bis in alle Ecken durchgestaltet. Damit entsprach van de Velde dem
Geist der Lebensreformer. Denn auch das
Kinderzimmer sollte seine Bewohner erhöhen und veredeln.
Henry van de Velde: Kinderzimmer-Tisch (1911)
Dieser Tisch gehört zu einer Kinderzimmer
-Einrichtung, die van de Velde 1911 für
den Berliner Kaufmann Willy Engels entwarf. Damit erweist er sich einmal mehr als
Pionier. Lange Zeit wurden die besonderen
Bedürfnisse der Kinder von Architekten
und Raumgestaltern kaum berücksichtigt.
Noch im ausgehenden 19. Jahrhundert war
es in bürgerlichen Kreisen üblich, die Räume für den Nachwuchs fast genauso einzurichten, wie die für die Erwachsenen. In
den Wohnungen der einfachen Leute gab
es häufig überhaupt keine Kinderzimmer.
Die Idee, dass Kinder einen Rückzugsraum
brauchen, setzte sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg endgültig, also in allen
Schichten der Gesellschaft durch.
Erste Bestrebungen in dieser Hinsicht gab
es allerdings schon um 1900 – und zwar
durch die Lebensreformbewegung. Ihre
Vertreter wollten die Wohnkultur vollständig erneuern. Sie lehnten die dunklen und
überdekorierten Räume ab, die fast ein halbes Jahrhundert lang Standard gewesen
waren. Stattdessen forderten sie Helligkeit,
frische Luft und klare Formen. Und auch
das Kinderzimmer bekam Aufmerksamkeit. So hieß es 1903 in der Zeitschrift
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719: Henry van de Velde: Entwurf Direktorenzimmer (1908)
Der Weimarer Großherzog Wilhelm Ernst
war von den Entwürfen allerdings nicht
angetan und zögerte damit, seine Zustimmung zu geben. Die Umsetzung wurde
zunächst auf einen unbestimmten Zeitpunkt verschoben und schließlich ganz
aufgegeben.
Henry van de Velde: Entwurf Direktorenzimmer
(1908)
Dieses Ensemble aus Schreibtisch, Stuhl
und Tischlampe hat van de Velde für genau
den Ort vorgesehen, an dem wir uns gerade
befinden. 1907 bekam er den Auftrag, dieses alte Gebäude umzugestalten – damals
das Landesmuseum des Großherzogtums
Weimar-Sachsen-Eisenach.
Wie er sich die neue Einrichtung der einzelnen Räume vorgestellt hat, wissen wir
durch eine Reihe von kolorierten Zeichnungen. Der Entwurf des Direktorenzimmers, den Sie an der Wand hinter dem
Schreibtisch sehen, zeigt eindrucksvoll,
wie dieser Raum mit van de Veldes Innenausstattung ausgesehen hätte – inklusive
unserer Möbel.
Bemerkenswert ist unter anderem, dass hier
nicht geschwungene, sondern gerade Linien das Design bestimmen. Der klare und
nüchterne Stil unterscheidet sich auffallend
von den Einrichtungen früherer Jahre, die
van de Velde oft mit schwungvollen Ornamenten versehen hatte.
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720: Henry van de Velde: Haus Hohe Pappeln (Modell)
Henry van de Velde: Haus Hohe Pappeln
Zwischen Juli 1907 und März 1908 ließ
van de Velde am Stadtrand von Weimar
das „Haus Hohe Pappeln“ errichten, ein
Wohnhaus für seine Familie. Es ist das einzige Wohnhaus Van de Veldes, das Sie
heute als Museum besichtigen können. Unser Modell zeigt, dass der Grundriss an ein
Schiff erinnert – mit dem spitzen Eingangsbereich als Bug. Die Fassade ist asymmetrisch und wirkt verschachtelt: Überall gibt
es Kanten, Knicke und Vorsprünge, hier
ein paar Erker und dort eine Loggia. Besonders auffällig ist das hohe Walmdach,
das sich wie eine Haube über die Mansarde
und das Dachgeschoss zieht.
Das „Haus Hohe Pappeln“ ist nur eines von
vier Wohnhäusern, die van de Velde innerhalb von etwa 30 Jahren für seine Familie
entworfen hat. Schon 1895 hatte er in der
Nähe von Brüssel das Haus
„Bloemenwerf“ bauen lassen, dessen Innenausstattung Sie im Obergeschoss des
Museums sehen können. Dazu kamen in
den Zwanziger Jahren die Häuser „de
Tent“ an der holländischen Nordseeküste
und „La Nouvelle Maison“, ebenfalls in
einem Vorort von Brüssel.
Bei einem Vergleich der vier Modelle werden Sie erkennen, dass die vier Häuser viele Gemeinsamkeiten haben: Bei allen ver-
zichtet van de Velde auf historische Anleihen und vertraut stattdessen ganz der
eigenen Erfindungsgabe. Die Fassaden
sind immer unverputzt und funktional,
Fassadenschmuck gibt es keinen.
Besonders ähnlich sind sich die Häuser
„Hohe Pappeln“, „Bloemenwerf“ und „de
Tent“: Alle drei hat van de Velde von innen nach außen gebaut, das heißt, die Anordnung der Innenräume bestimmt die
Form der Fassade. Im Vergleich dazu
wirkt „La Nouvelle Maison“ von 1927
nüchterner und moderner: Hier besteht die
Fassade aus einfachen geometrischen Formen und das Dach ist flach.
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721: Henry van de Velde: Entwürfe Dumont-Theater (1904),
Werkbundtheater (1913-14)
Henry van de Velde: Entwürfe Dumont-Theater
(1904), Werkbundtheater (1913-14)
Van de Veldes Theaterprojekte hatten großen Einfluss auf die Entwicklung der Theaterarchitektur zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Aquarellzeichnung zeigt einen
Entwurf für das Dumont Theater aus dem
Jahr 1904: Die berühmte Ibsen-Darstellerin
Louise Dumont wollte in Weimar ein Zentrum für Theaterfestspiele gründen – nach
dem Vorbild und gleichzeitig in Konkurrenz zu den Wagner-Festspielen in Bayreuth. Ihr Plan scheiterte am Widerstand
der Weimarer Hofkreise. Interessant an der
Zeichnung ist vor allem, dass van de Velde
die Frontseite des Theaterbaus nicht mit
Säulen gliedert, sondern mit schlanken Metallstäben. Immer wieder suchte er nach
Alternativen zu der omnipräsenten Säulenarchitektur, die er für nicht mehr zeitgemäß hielt.
Ein Theater bauen durfte van de Velde erst
1914 für die Kölner Werkbundausstellung
– links (rechts) sehen Sie das Modell. Auf
dem Gelände der heutigen Köln-Messe
wurden damals mehr als 50 neue Gebäude
gezeigt – eine gewaltige Leistungsschau
der zeitgenössischen Architektur.
Zum Rahmenprogramm gehörte dabei auch
eine Tagung, bei der heftig über die zukünftige Ausrichtung des Werkbunds ge-
stritten wurde. Der Architekt Hermann
Muthesius hatte vorab zehn Leitsätze an
die Mitglieder verteilt, in denen er forderte, für Architektur und Kunstgewerbe einen verbindlichen Formen-Kanon einzuführen. Van de Velde reagierte sofort auf
die drohende Maßregelung. In einem Kölner Hotel schrieb er zehn Gegenleitsätze,
mit denen er Muthesius auf der Tagung
frontal angriff. Darin heißt es: „Der
Künstler ist seiner innersten Essenz nach
glühender Individualist, freier, spontaner
Schöpfer. Aus freien Stücken wird er niemals einer Disziplin sich unterordnen, die
ihm einen Typ, eine Kanon aufzwingt.“
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722: Henry van de Velde: Entwurfszeichnung für NietzscheMonument (1912)
ein Stadion für sportliche Wettkämpfe.
Nur so könnten die Kraft und Schönheit
des Körpers mit dem Geistigen zusammengebracht werden – ganz im Sinne
Nietzsches.
Van de Velde lieferte verschiede Entwürfe, aber Kessler war jedes Mal enttäuscht.
Auf der Zeichnung, die Sie vor sich sehen, fand er den Tempel erdrückend
schwer. Van de Velde stieß bei diesem
Projekt offenbar an seine Grenzen. Sein
Gespür für Zweckbauten wie ein Wohnhaus hatte er längst bewiesen, aber mit
einem rein dekorativen Bau konnte er
nicht viel anfangen. Ernüchtert schrieb
Kessler in sein Tagebuch: „Seine Fantasie
bricht ohne die Eselsbrücke der Utilität
zusammen.“
Henry van de Velde: Entwurfszeichnung für Nietzsche-Monument (1912)
Schon in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts und besonders nach seinem Tod
entstand um Friedrich Nietzsche ein regelrechter Kult. Sein Sterbehaus, das heutige
Nietzsche-Archiv in Weimar, das Sie nicht
versäumen sollten zu besuchen, wurde zu
einer beliebten Pilgerstätte. Henry van de
Velde baute das Haus für die Nietzsches
um und entwarf die Inneneinrichtung.
Aber es gab größere Pläne. Hier sehen Sie
Henry van de Veldes Entwurfszeichnung
für ein Nietzsche-Monument. Die Idee dazu stammte von Nietzsches Schwester Elisabeth und von Harry Graf Kessler, die van
de Velde als Architekten hinzuzogen. Zunächst ging es nur um einen kleinen Tempelbau auf einem Grundstück unterhalb des
Archivs. Aber schon bald wurden die Pläne
ehrgeiziger. Kessler stellte sich das Nietzsche-Denkmal als griechischen TempelBezirk vor: ein Tempel mit Hain und dazu
Am Ende blieb das Nietzsche-Denkmal
ein Luftschloss: Wegen der ungeklärten
Finanzierung wurde das Projekt im Winter 1913 auf Eis gelegt – und später nie
wieder aufgenommen.
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723: Ernst Ludwig Kirchner: Kopf van de Velde, hell (1917)
Ernst Ludwig Kirchner: „Kopf van de Velde,
hell“ (1917)
Henry van de Velde wurde Zeit seines Lebens von vielen namhaften Künstlern porträtiert. Besonders eindringlich ist dieser
Holzschnitt, der ihn mit nachdenklichem
Blick vor einer bergigen Landschaft zeigt.
Ausdrucksvoll spiegelt die Grafik die
schwierigen Umstände jenes Lebensabschnitts, in denen das Blatt entstand.
Das Porträt stammt von Ernst Ludwig
Kirchner, dem berühmten Maler und Grafiker des Expressionismus. Er fertigte den
Holzschnitt im Sommer 1917 an – mitten
im 1. Weltkrieg –, als beide Künstler im
Schweizer Exil lebten. Van de Velde, damals 54 Jahre alt, war kurz zuvor nach
Bern gezogen. Die Ausreise hatte man ihm
als „feindlichem Ausländer“ nur auf Betreiben einflussreicher Freunde gewährt.
Seine Frau Maria und die fünf Kinder
mussten in Deutschland zurückbleiben.
Fast zwei lange Jahre lebte die Familie
getrennt. Nur Nele, die älteste Tochter,
durfte dem Vater wenig später folgen. Sie
war oft bei Ernst Ludwig Kirchner zu Besuch, der ihr – als seiner einzigen Schülerin – Unterricht im Zeichnen und grafischen Techniken gab. Kirchners Einfluss
lässt sich in Neles Arbeiten deutlich erkennen, wie zwei ihrer Holzschnitte hier
im Raum zeigen.
Van de Velde wurde Kirchner in den
Kriegsjahren zum väterlichen Freund. Er
unterstützte den schwer kranken Künstler
so gut er konnte, obgleich er finanziell
ebenfalls schlecht gestellt war. Als van de
Velde nach Kriegsende 1918 im schweizerischen Uttwil eine Künstlerkolonie
gründen wollte, war auch Kirchners Umzug an den Bodensee geplant. Doch der
Traum platzte: Van de Velde fand in der
Schweiz keine Aufträge und keine Schüler. Wenig später ging er nach Holland,
Ernst Ludwig Kirchner aber blieb – bis zu
seinem Freitod im Jahr 1938.
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724: Henry van de Velde: Wasserkessel mit Rechaud (19221925)
Henry van de Velde: Wasserkessel mit Rechaud
(1922-1925)
Kugelrund der Kessel, mit Ecken und Kanten dagegen der Untersatz zum Erhitzen
des Wassers, ein paar Nieten, der helle
Glanz des polierten Messings – alles ganz
schlicht und auf wenige Grundformen reduziert. Mit diesem Ensemble gelang Henry van de Velde zwischen 1922 und 25 ein
kühner, überaus moderner Entwurf. Der
Kessel mit dem sogenannten Rechaud gehört zu einem Teeservice, das für den niederländischen Kaufmann Anton Kröller
und seine Frau Helene Kröller-Müller entstand.
Das wohlhabende Ehepaar spielte für van
de Velde eine entscheidende Rolle und hat
ihn aus seiner finanziellen und persönlichen Krise der Kriegsjahre erlöst. Im
Herbst 1919 erhielt van de Velde einen
Brief der Kröller-Müllers aus Den Haag;
sie wollten ihn als Architekten für mehrere Bauprojekte engagieren. Ohne zu zögern griff van de Velde zu: endlich wieder
Arbeit, eine Aufgabe, ein Auskommen!
Und so zog er 1920 mit Frau und Kindern
nach Holland, seiner nächsten Lebensstation.
Zunächst sollte van de Velde eine große
Villa für das Ehepaar bauen – mit einem
angegliederten Privatmuseum für deren
umfangreiche Sammlung moderner
Kunst. Wenig später fiel die Entscheidung, ein öffentliches Museum zu errichten. Sie sehen hier einige Entwürfe dieser
gigantischen, immens kostspieligen Museumsplanung, für die van de Velde Anlehnungen an die assyrische Architektur
aufgriff. 1924 mussten die Bauarbeiten
wegen der Wirtschaftskrise eingestellt
werden. Van de Velde war maßlos enttäuscht. Erst 13 Jahre später wurde das
Museum gebaut, wenn auch deutlich kleiner als ursprünglich geplant. Der schlichte
Bau wurde von van de Velde noch zweimal erweitert und bildet bis heute das
Herzstück des Kröller-Müller-Museums
in Otterlo.
Klassik Stiftung Weimar | Ausstellung Leidenschaft, Funktion und Schönheit | 03.2013
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725: Modell des Postschiffs „Prince Baudouin“ (1934)
Modell des Postschiffs „Prince Baudouin“ (1934)
Ein Postdampfer? Tatsächlich: Auch Schiffe gehören in das Repertoire des
„Alleskünstlers“ Henry van de Velde. In
den 1930er-Jahren entwirft er die „Prince
Baudouin“, hier im Modell, und ein weiteres Fährschiff. Van de Velde entwickelte
die gesamte Innenausstattung, vom Fußboden über die Möbel bis hin zu den Lampen,
die auf den Fotos zu sehen sind. Auch die
elegante Form des Dampfers geht auf ihn
zurück. Diesen umfangreichen öffentlichen
Auftrag bekam van de Velde von der
Schiffswerft der Société Cockerill, damals
einer der größten Industriekonzerne in Belgien. In sein Heimatland war van de Velde
1926 zurückgekehrt – nach mehr als 25
Jahren, die er in Deutschland – erst in Berlin, dann in Weimar –, in der Schweiz und
zuletzt in Holland verbracht hatte. Für seine Rückkehr hatte sich ein alter Freund
beim belgischen König stark gemacht, der
Schriftsteller und Sozialist Camille Huysmans, der mittlerweile Kultusminister war.
In Belgien sah sich van de Velde wegen
seiner „Deutschfreundlichkeit“ zunächst
vielen Anfeindungen ausgesetzt. Doch
nach den anfänglichen Schwierigkeiten
erwies sich der Neuanfang in der alten
Heimat als positiv: Van de Velde, mittlerweile schon über 60 Jahre alt erhielt zahlreiche private und öffentliche Aufträge.
Mitte der 1930er Jahre wurde er nach seiner Pensionierung zum vielbeschäftigten
Berater der Regierung. Als solcher entwarf er auch die neuen Triebwagen samt
der Innenausstattung für die belgische
Staatsbahn, wie Sie ebenfalls in diesem
Raum sehen können. Sein damals entwickeltes Logo der Staatsbahnen wird bis
heute verwendet.
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726: Max Elskamp: Salutations, dont d’angélique (1893)
tung sollte vielmehr mit Hilfe abstrakter
Ornamente Stimmungen erzeugen. Hierzu
ließ er sich von der Kraft der Linie leiten.
Bücher begleiteten van de Velde durch
sein gesamtes Leben, er verfasste selbst
zahlreiche theoretische Texte. So erstaunt
es nicht, dass seine ersten kunsthandwerklichen Arbeiten zu Beginn der 1890er Jahre im Bereich der Buchkunst zu finden
sind.
Das Buch besitzt nach Ansicht van de
Veldes zwei Funktionen. Einerseits soll es
durch seine Inhalte stimulieren, andererseits soll es diese Inhalte ästhetisch präsentieren. Das Nützliche und das Schöne
bedingen sich also gegenseitig.
Max Elskamp: Salutations, dont d’angélique (1893)
Der Einband für Max Elskamps Gedichtband „Salutations, dont d’angéliques“ ist
einer der ersten Buchentwürfe van de Veldes.
Bei diesen frühen Versuchen hat er sich
noch nicht vollständig von der gegenständlichen Darstellung gelöst. Der belgische
Dichter Max Elskamp hatte seinen Freund
gebeten, sich bei der Gestaltung des Einbands nach dem Text zu richten. So wird
im Ornament die Verkündigungsszene aufgegriffen, auf die im Titel des Gedichtsbands – „Begrüßungen, darunter engelsgleiche“ – angespielt wird. In den Linien
können Sie die Umrisse der Engelsflügel
und den Heiligenschein der Jungfrau Maria
erahnen.
Van de Velde ignorierte souverän alle damals herrschenden Praktiken der Buchgestaltung. Es ging ihm nicht nur darum, einen Einband zu schaffen, der den Inhalt
widerspiegelt oder illustriert. Die Gestal-
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727: Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra (1908)
schlichten und klaren Formen der Antike
inspirieren lassen: Ein Kapitell aus goldfarbenen Ornamenten schmückt seine
Textsäule. Die Lücken füllt er mit kleineren Variationen desselben Musters, um
ihre Oberfläche darzustellen. Das Gold ist
die einzige Verbindung von der Gestaltung zum Inhalt des Buchs. Es wirkt, als
ob die Strahlen der Sonne die Steine der
Schriftsäule golden aufblitzen lassen.
Auch Zarathustra begrüßt mit seinen ersten Worten die Sonne.
„Du grosses Gestirn! Was wäre dein
Glück, wenn du nicht Die hättest, welchen
du leuchtest!“
Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra
(1908)
Zehn Jahre lang arbeitete Henry van de
Velde an der Gestaltung dieses Buchs. Harry Graf Kessler hatte seinen Freund 1897
mit einer Prachtausgabe von „Also sprach
Zarathustra“ beauftragt. Was für eine Ehre!
Van de Velde beschäftigte sich seit den
späten 1880er Jahren intensiv mit den Texten Friedrich Nietzsches. Sie haben ihn
zutiefst bewegt und waren mit ein Grund
für seine Hinwendung zum Kunsthandwerk.
Im Vergleich zu seinen früheren Entwürfen
verwendete van de Velde bei diesem Buch
nur noch abstrakte Ornamente. Bei der
Ausführung beschränkte er sich nicht auf
den Einband, sondern legte außerdem das
Papier, die Vignetten, die Farben und das
Schriftbild fest. Der Text ist wie eine Säule
angeordnet. Auf einer Reise nach Griechenland hatte sich van de Velde von den
„Also sprach Zarathustra“ ist das berühmteste Werk Friedrich Nietzsches. Nach
seinem Tod entstand ein regelrechter Kult
um ihn. Und so verwundert es nicht, dass
van de Veldes Prachtausgabe bereits vor
dem Erscheinen zu zwei Dritteln ausverkauft war.
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728: Tisch mit Buchständer, UB Gent (ab 1920)
Tisch mit Buchständer, UB Gent (ab 1920)
An der Universität Gent hat van de Velde
übrigens auch selbst unterrichtet: seit
1926, dem Jahr seiner Rückkehr. Man
hatte ihn, den Autodidakten, ganz offiziell
zum Professor für Design und Architektur
berufen. Die größte Ehre aber waren die
staatlichen Aufträge für die Belgischen
Pavillons der Weltausstellungen 1937 und
39 in Paris und New York. Sie brachten
van de Velde auch in seiner Heimat den
verdienten, wenn auch späten Ruhm.
Dieser Tisch stammt aus der Universitätsbibliothek von Gent. Henry van de Velde
hat ihn Mitte der 1930er Jahre entworfen –
ebenso wie das komplette Bibliotheksgebäude mit den Instituten für Kunstgeschichte und Archäologie. Der hoch aufragende „Bücherturm“, den Sie hier auf Fotos sehen können, ist heute ein Wahrzeichen der flämischen Stadt.
Das Universitätsgebäude war eines der
größten Architekturprojekte in van de Veldes langer Laufbahn. Der umfassende Baukomplex konnte zwar wegen des Ausbruch
des Zweiten Weltkrieges nur in Etappen
fertig gestellt werden – aber er wurde tatsächlich realisiert, so wie alle Bauaufträge,
die er nach seiner Rückkehr in die Heimat
vom belgischen Staat erhalten hat. Eine
große Freude und späte Genugtuung, denn
zu oft waren frühere Projekte gescheitert.
Nicht ohne Stolz erzählt er in seinen Memoiren eine Episode mit Herbert Hoover,
dem ehemaligen amerikanischen Präsidenten: „Auf eine Frage des Gesandten, was
Hoovers stärkster Eindruck während seiner
kürzlichen Belgienreise gewesen sei, antwortete der frühere Präsident: ‘Natürlich
der Turm der Bibliothek in Gent!’ Der Gesandte hatte jede andere Antwort erwartet.“
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729: Oscar Jespers: Portrait Henry van de Velde (um 1930)
ten Weltkriegs war er dort als künstlerischer Berater am Wiederaufbau von Brücken und Straßen beteiligt – unter Aufsicht der deutschen Besatzer. Nach dem
Krieg wurde er deshalb der Kollaboration
bezichtigt. Die Anfeindungen waren so
heftig, dass van de Velde 1947 mit 84
Jahren beschloss, sein Heimatland wieder
zu verlassen. Durch die Vermittlung von
Freuden kam er in einem kleinen Dorf in
der Schweiz unter. Dort verbrachte er die
letzten zehn Jahre seines Lebens vorwiegend damit, seine Erinnerungen aufzuschreiben – bis zu acht Stunden pro Tag.
1957 verstarb der „Vater des neuen Stils“
in Zürich.
Oscar Jespers: Portrait Henry van de Velde (um
1930)
In seiner Büste aus Granit betont der belgische Bildhauer Oscar Jespers van de Veldes markant-längliche Kopfform. Die kegelförmige Skulptur erinnert in ihrem Stil
entfernt an Werke indigener Künstler.
Jespers gehörte zu den Lehrkräften des
Institut Supérieur des Arts Décoratifs, einer
Design-Schule, die van de Velde 1926 im
Auftrag der belgischen Regierung in Brüssel gegründet hatte.
Genau wie an der Kunstgewerbeschule in
Weimar war das Leitprinzip auch hier die
„vernunftgemäße Gestaltung“. In seinen
Erinnerungen nennt van de Velde das neue
Institut in Brüssel die „dritte Zitadelle der
Moderne“ – nach der Kunstgewerbeschule
und dem Bauhaus.
Als das Institut Supérieur eröffnet wurde,
war van de Velde zwar schon über 60 Jahre
alt, aber auch Belgien sollte nicht seine
letzte Station bleiben. Während des Zwei-
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Alle Objekte Henry van de Veldes:
© VG Bild-Kunst, Bonn 2013
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