Character-Ausgabe 5
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Character-Ausgabe 5
eCHtes. priVate. banKing. ausgabe 5 — DEZEMBER 2014 Character im Porträt Ali Güngörmüs Vom türkischen Dorf in die Sterneküche 6 —17 Für morgen Biomimikry-Boom Die Natur: Die älteste Forschungsabteilung der Welt 26 — 31 Charactere im Dialog Alexander Brenninkmeijer und Clemens Schick Kings of Cool 60 — 69 Gegenwart 2 Editorial der optimist hat nicht weniger oft Unrecht als der Pessimist, aber er lebt froher. Charlie Rivel, 1896 – 1983, spanischer Clown Character 3 Dezember 2014 Liebe Leserin, lieber Leser, unser tägliches Geschäft ist geprägt von Persönlichkeit und Persönlichkeiten. Jeder von uns hat seine eigenen Lebensziele. Und jeder von uns wählt seinen ganz persönlichen Weg dorthin. Ein Standard-Rezept gibt es nicht. Wohl aber Eigenschaften, die diese Aufgabe erleichtern. Selbstvertrauen, der Wille zu gestalten, sich nicht mit dem Erreichten zufriedengeben und auch die Bereitschaft, mit Konventionen zu brechen – solche Eigenschaften machen letztlich den Unterschied. Den eigenen Weg zu finden, erfordert Selbstbewusstsein und auch die Bereitschaft, mit Konventionen zu brechen – in der privaten Welt genauso wie in der Geschäftswelt. Ali Güngörmüs besitzt sie. Und er hat sie auf ganz persönliche Weise kombiniert. Der „Character“ unserer aktuellen Ausgabe strahlt eine immense Vitalität und Lebensfreude aus. Es scheint, dass er seinen Lebensweg stets mit einem Lachen bewältigt. Güngörmüs stammt aus einem kleinen türkischen Dorf und kam als Kind mit seinen Eltern nach Deutschland. Er machte eine Lehre als Koch und merkte sehr schnell, dass es noch eine weitere Welt jenseits der „normalen“ Küche gab: Die Sterne-Küche. Heute ist er der einzige mit einem Stern ausgezeichnete Küchenchef türkischer Herkunft und Inhaber von zwei Restaurants in Hamburg und München. Güngörmüs hat sich nicht mit dem Erreichten zufriedengegeben, sondern sich sehr früh ein neues, ein größeres Ziel gesucht. Er wollte gestalten, und zwar nicht nur in der Küche, sondern auch als Unternehmer. Er musste dazu mit Konventionen brechen und seinen ganz eigenen Weg finden. Und er hat sich dabei Leichtigkeit und Fröhlichkeit bewahrt. Mit Konventionen haben auch zwei weitere Charaktere dieser Ausgabe gebrochen. Wir haben ein Experiment gewagt und zwei Persönlichkeiten zusammen gebracht, die nicht zwingend Gemeinsamkeiten aufweisen: den Modeunternehmer Alexander Brenninkmeijer und den Schauspieler Clemens Schick. Brenninkmeijer stammt aus der großen Familie, die hinter dem Modekonzern C & A steht. Doch er wählte seinen eigenen Weg und gründete ein Label für Premium-Mode. Clemens Schick wiederum kommt aus einer Juristenfamilie, schlug jedoch ebenfalls einen riskanteren Weg ein und wurde Schauspieler. Die beiden haben trotz unterschiedlicher Professionen zahlreiche Gemeinsamkeiten entdeckt. Seine Ziele fest vor Augen zu behalten und dabei den Mut zu haben, einen ganz persönlichen Weg zu beschreiten – dies ist in der privaten Welt genauso wichtig wie im Geschäftsalltag, bei Ihnen wie auch bei uns in der Bank. Wir freuen uns, Ihnen in dieser Ausgabe gleich mehrere echte Charaktere zu präsentieren. Vielleicht g ewähren sie Ihnen einige neue Perspektiven. Bleiben wir im Dialog! Aus dem Bethmannhof grüßt Sie herzlich horst schmidt Vorstandsvorsitzender der Bethmann Bank 4 Inhalt 24 — 2 5 34 — 3 5 58 — 5 9 Character 12 Dinge, die man tun sollte Character 12 ausgewählte Zitate Character Einplanen Gegenwart 6 — 17 Character im Porträt Unternehmer und Sternekoch Ali Güngörmüs www.bethmannbank.de Character tradition 5 gegenwart Dezember 2014 Zukunft 6 — 17 Character im Porträt — Ali Güngörmüs — Unternehmer und Sternekoch 18 — 2 1 Werte im Wandel — Zeit? Not! — Von der Zeitersparnis zum Alltagsstress 22 — 23 24 — 2 5 Zahlen, bitte! — Der deutsche Wald — Mythos und Sehnsuchtsort 12 Dinge, die man tun sollte — Viel lachen — und das Leben genießen 26 — 3 1 Für morgen — Biomimikry-Boom — Die älteste Forschungsabteilung der Welt 32 — 3 3 Unterbewertet — Aachen — Hightech im Schatten von Printen und Dom 34 — 3 5 36 — 3 9 12 ausgewählte Zitate — von Ali Güngörmüs — Unternehmen der Zukunft — Vollgas mit Carsharing — Invers: Weltmarktführer aus der Provinz 40 — 4 3 Zwischen kommerziell und karitativ — Informieren, inspirieren, aktivieren! — Der Social Publish Verlag 44 — 5 1 52 — 5 3 Unternehmen mit Tradition — Messerscharf und prosperierend — Windmühlenmesser aus Solingen Perspektivenwechsel — Verbraucherschutz — Echter Schutz oder Entmündigung? 54 — 5 7 58 — 5 9 Hello / Goodbye — Selbstgemachtes — Möbel kontra Massenmail Einplanen — Durch das Jahr — mit Ali Güngörmüs 60 — 6 9 Im Dialog — Doppelgespräch: Kings of Cool — A. Brenninkmeijer und C. Schick 70 Impressum Gegenwart 6 Porträt Unternehmer und Sternekoch Ali Güngörmüs Interview: Petra Schäfer Fotos: Marc Krause Der Sternekoch nutzt seinen freien Tag für das Gespräch – sonst bliebe zwischen der Zubereitung von Lammkarree mit Ziegenkäse-Feigen-Taschen und „Alis Schokokuchen“ keine Zeit. Der Inhaber des Restaurants „Le Canard nouveau“ an der malerischen Hamburger Elbchaussee ist hierzulande der einzige mit einem Stern ausgezeichnete Küchenchef türkischer Herkunft. Sein Weg an die Spitze begann in dem kleinen Dorf Pageou in der Türkei. Sein neues Restaurant in München hat Güngörmüs nach seinem Heimatort benannt. www.bethmannbank.de Character 7 Ausgezeichnete Küche: Die Vereinigung „Chaine des Rotisseurs“ zur Förderung der gepflegten Tischkultur war bereits mit einem ihrer Diner Amical bei Ali Güngörmüs zu Gast – eine besondere Ehre. Dezember 2014 Gegenwart 8 Vergangenheit und Gegenwart: Ali Güngörmüs in seinem Münchner Restaurant „Pageou“, benannt nach seinem türkischen Heimatort. Dort hängt ein Foto seines Großvaters Hasan. Porträt Character 9 Herr Güngörmüs, verraten Sie uns das Aufregendste, das Sie in den vergan genen Tagen gekocht haben? Zufällig war das ein Auberginengericht. Ich habe es gleich in unserem neuen Menü als Hauptkomponente eingebaut. vertiefen: Einen Teil wickele ich in Teig ein, den anderen püriere ich. Macht gleich drei Komponenten: Ragout, Püree und einen Strudel. Dazu Rucolablätter mit Minze und Granatapfelessig vermischen und garnieren – was will man noch mehr! Warum ausgerechnet Aubergine? (Lacht) Das ist ein eher langweiliges Gemüse, nicht wahr? Ein Gast fragte nach Aubergine – also habe ich sie kleingehackt und mit Schalotten und einer nord afrikanischen Gewürzmischung geschmort. Dazu ein paar Oliven, Kapern und als süße Komponente getrocknete Trauben. Schon war das ein schmackhaftes Gemüsegericht. Das ist das Tolle am Kochen: Das Einfache schmeckt meistens viel besser als komplizierte Kreationen. Ich war sehr angetan, solche Gerichte spontan entwickeln zu können – und dazu noch vegan. In der Türkei sind Sie mit einer anderen Küche groß geworden als später in Ihrer zweiten Heimat Bayern. Welche Lieblingsgerichte hatten Sie als kleiner Junge? Das mag hart klingen: Ich hatte kein Leib gericht, ich habe gegessen, was auf den Tisch kam. Ehrlich. Wir haben damals in der Türkei als Familie mit sechs Kindern in einem Bauernhaus inmitten einer Obst plantage gewohnt. Uns ging es gut im Gegensatz zu vielen anderen, weil mein Vater in Deutschland arbeitete und die Familie ernährte. Aber wir durften nicht aussuchen, was wir essen wollten. Mal gab es nur Rote Beete oder Kartoffelstampf mit Brot. Alles, was wir aßen, war frisch. Wir haben selber angebaut, gepflückt, getrocknet, in Konserven eingeweckt für den Winter. Tiefkühlprodukte gab es nicht, denn wir hatten sowieso keinen Kühlschrank. Sie gehen mit dem Trend, vegetarisch und vegan zu kochen? Die Gäste fragen heute deutlich mehr nach vegetarischen Gerichten als noch vor einigen Jahren. Vegane Küche wird in den nächsten fünf bis zehn Jahren weiter zulegen. Wir Profi-Köche müssen uns umstellen: Vegane Gäste möchten nicht nur ein oder zwei Gänge essen, sondern sie wollen fünf bis sieben Gänge genießen. Das ist für uns eine Herausforderung. Letztendlich hat das Restaurant einen Namen, ich gelte als kreativer Koch – also muss ich Gerichte zaubern, die auch den Veganer begeistern. Einen gemischten Salat gibt es schließlich überall. Gibt es denn schon vegane Sterneküche? Nein, das glaube ich nicht. Aber nur weil wir ein Sternerestaurant sind, müssen nicht alle Gerichte mit Fisch oder Fleisch zubereitet sein. Wir gehen auf den Gast ein, denn er weiß heute sehr genau, was er will. Er informiert sich über die Produkte, kocht s elber viel. Wir müssen also für Trends offen sein – wie für das Auberginen gericht. Das lässt sich übrigens noch Welchen Einfluss hat die türkische Küche auf Ihre Kreationen heute? Im Restaurant „Pageou“ in München koche ich mit den Aromen meines Geburtsorts mediterran-orientalisch – als neue Interpretation der Küche, wie ich sie als Kind kennengelernt habe. Das ist anders als im „Le Canard“, eher zwischen Klassik und Moderne, ohne den Anspruch, ein Sterne restaurant zu sein. Was denken Sie heute – hier von der Hamburger Elbchaussee oder der Münchener Innenstadt aus – über Ihre Kindheit? Ich finde es gut, so aufgewachsen zu sein. Wenn ich es anders kennengelernt hätte, wäre ich wahrscheinlich nicht da, wo ich heute bin. Bis zum zehnten Lebensjahr habe ich zum Beispiel keine Schokolade, Dezember 2014 keine Süßigkeiten gegessen. Einmal im Jahr allerdings hat Papa aus Deutschland dann Milka-Schokolade mit Nüssen mitgebracht, das war göttlich. Engagieren Sie sich deshalb heute für soziale Projekte mit Kindern? Ich setze mich für die Ehlerding-Stiftung ein, die einen Hof mit Öko-Landbau betreibt und Patenschaften für Kinder hier in Deutschland vermittelt. Das ist mir sehr wichtig, denn das erinnert mich daran, wie ich aufgewachsen bin. Als ich damals nach Deutschland kam, hätte ich so gerne jemanden gehabt, der mich beispielsweise bei den Hausaufgaben unterstützt. Als 14-Jähriger haben Sie sich dazu entschieden, in einem bayrischen Gasthaus kochen zu lernen. Warum? Ich bin mit zehn Jahren nach Deutschland gekommen, habe die Sprache erlernt, bin in die fünfte Klasse einer Hauptschule gegangen und hatte vier Jahre später meinen Abschluss in der Tasche. Ich musste ja irgendetwas machen. Mein Vater hat mir freie Hand gelassen. Ich habe mich als Einzelhandelskaufmann beworben, bekam aber eine Absage. Das Gasthaus am Rosengarten in München hat mich dann genommen. Waren Ihre türkischen Wurzeln für Sie damals ein Problem in der Schule oder bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz? In der Klasse hatten fast alle meine Mitschüler Migrationshintergrund, das war normal. Nach meinem Schulabschluss waren Auszubildende sehr gesucht, da hat meine Herkunft auch keine Rolle gespielt. Lediglich in der Ausbildung gab es dann schon einmal Kollegen, die mich deswegen provozieren wollten. Aber ich bin der Meinung, man darf sich nicht verrückt machen lassen. Gegenwart 10 Ich hatte kein Leibgericht, ich habe gegessen, was auf den Tisch kam. Hell und freundlich: Das „Pageou“ bietet den Gästen viel Raum zum Genießen. Auf der Speisekarte stehen mediterran-orientalische Gerichte. Porträt 11 Wie aus dem Lehrbuch: Eine Mandel-Knoblauch-Suppe. Das Rezept findet sich in Güngörmüs´ neuem Buch „Mediterran – 100 kreative Rezepte rund ums Mittelmeer“. Dezember 2014 © Dorling Kindersley Verlag / Foto: Maike Jessen Character Gegenwart Konnten Sie vorher schon kochen? Während der Schulzeit habe ich Kochen im Hauswirtschaftskurs gelernt, es hat Spaß gemacht, mit verschiedenen Produkten und Zutaten zu arbeiten. Damals hatte ich offenbar schon einen Bezug dazu. Aber mehr wusste ich nicht über den Beruf Koch. Es ist also dem Zufall zu verdanken, dass Sie Koch geworden sind. Wann hat es Sie richtig gepackt, zur Spitze in Deutschland dazugehören zu wollen? Während meiner Ausbildung haben die Kollegen häufiger über Sterneköche g esprochen. Damals war Eckart Witzigmann mit seinem Restaurant „Aubergine“ in M ünchen der Gourmetpapst mit drei S ternen. Da ist mir zum ersten Mal bewusst geworden, dass wir das Normale kochten, aber dass es eine andere Welt gab, in der die Millionäre verkehrten. Das war damals so. Eine Seezunge kostete im Sternelokal 70 D-Mark. Zum Vergleich: Ich verdiente 400 D-Mark im Monat. Das konnte ich mir also nicht leisten. Aber ich habe damals begonnen, mich dafür zu interessieren, Zeitschriften zu kaufen und Restaurant-Kritiken zu lesen. Niemals hätte ich gedacht, dass ich in diese Welt hineinrutschen kann. Aber dann ist es doch passiert. Es war damals nicht einfach, von einem einfachen Restaurant in die Spitzengastronomie zu wechseln – von der Bezirksliga in die Champions League. Eines Tages habe ich in der Nachtausgabe der Münchener Abendzeitung eine Anzeige entdeckt: „Sterne restaurant sucht Jungkoch.“ Das war m eine Chance. Ich habe sofort angerufen und wurde zum Vorstellungsgespräch eingeladen – ich weiß noch, wie ich gezittert habe. Ich wollte unbedingt genommen werden, wollte die Barriere brechen. Zwar habe ich dann deutlich weniger verdient als vorher, aber ich habe es trotzdem gemacht. Was hat denn Ihre Familie dazu gesagt? Mein Bruder hat mich ausgelacht, denn er verdiente als Elektriker das Doppelte. Aber 12 ich hatte meine Ziele: Mit 14 in die Lehre zu gehen, mit 17 ausgelernt zu haben, mit 25 Küchenchef zu sein und mit 30 ein eigenes Restaurant zu eröffnen. Das hat bis jetzt ganz gut geklappt. Sie sind ein Turbo-Gründer: Mit 27 waren Sie schon Ihr eigener Chef im „Le Canard nouveau“ in Hamburg. War die frühe Selbstständigkeit auch eine große Bürde? Ich bin ehrlich gesagt recht blauäugig an die Sache herangegangen. Vielleicht hat es deshalb gut funktioniert. Ich musste keine größeren Kredite bei der Bank aufnehmen, weil mir meine Eltern geholfen haben und ich vorher als Küchenchef etwas angespart hatte. Das Geld reichte für drei Monate. Drei Tage vor der Eröffnung wurde ich dann nervös, konnte nicht mehr schlafen. Aber zum Glück waren die Gäste gespannt auf dieses Restaurant hoch über der Elbe, das vor einigen Jahren schon einen sehr guten Ruf hatte. Das war unser Pluspunkt. Heute sind Sie gleichzeitig Topmanager und Küchenchef. Wie bringen Sie die beiden anspruchsvollen Aufgaben unter einen Hut? Ich habe einfach die Gabe dazu. Das mag überheblich klingen, aber egal wo ich gearbeitet habe, habe ich mich verhalten wie in meinem eigenen Restaurant. Von Jahr zu Jahr habe ich dazugelernt, wie ein Betrieb wirtschaftlich funktionieren muss. Das Wichtigste ist letztlich der Zuspruch der Gäste. Was wir kochen, auch für Veranstaltungen, muss draußen gut ankommen. Mein Team und ich, wir haben ein klares Konzept, wir lassen uns nicht verbiegen und wir glauben an uns. Wie schwierig war es, einen Stern der Restauranttester des „Guide Michelin“ zu bekommen? Ich hatte ja vorher in der Sternegastronomie gearbeitet und wusste, worauf es ankommt. Abgesehen von dem Stern war mein Hauptziel eigentlich, mit diesem Restaurant nicht Pleite zu gehen wie mein Vorgänger. Woche www.bethmannbank.de Porträt für Woche wurden wir besser, steigerten das Niveau – und dann kam auch der Stern. Die Auszeichnung brachte uns ein Umsatzplus von 20 bis 30 Prozent und auch Akzeptanz unter den Kollegen und Journalisten. Der Stern steht für gute Qualität und gewährt Anerkennung. Wächst mit dem Stern der Druck? Druck hat man doch immer: Besonders wenn es mal laue Tage gibt, an denen nur wenig Gäste kommen. Der Stern verpflichtet und erhöht damit die Erwartungshaltung der Gäste. Als Koch muss man sich immer weiter motivieren und kreativ sein. Der Stillstand wäre dann ein Rückschritt. Aber ein zweiter Stern wäre nicht mein Ziel, schließlich schreckt das auch viele Gäste ab. Das, was ich mir aufgebaut habe, möchte ich halten und verbessern – aber nicht in Form eines Sterns, sondern ich möchte mehr in den Gast investieren und den Erfolg genießen. War für Sie die Selbstständigkeit die beste Entscheidung Ihres Lebens? Natürlich! Obwohl es sehr hart ist und viel Zeit in Anspruch nimmt, selbstständig zu sein. Auch die Entscheidung, nach Hamburg zu gehen, war die Richtige. Ich lebe mit meiner Familie in Hamburg und fühle mich hier sehr wohl und angenommen, dafür bin ich dankbar. Und mit meinem zweiten Restaurant, das ich im Oktober in München eröffnet habe, bin ich nun in den zwei schönsten Städten Deutschlands vertreten. In beiden Restaurants habe ich sehr gute Teams und pendle zwischen den Städten hin und her. Sie sind weltweit der einzige türkischstämmige Koch mit einem Stern. Nervt Sie diese Sonderstellung? Manchmal wird über meine türkische Herkunft zweideutig gesprochen. Das ärgert mich. Als ich damals das Restaurant eröffnete, schrieb eine große Tageszeitung: Character 13 Barbecue auf Türkisch: Das „Köz Ocakbasi“ in Hamburg bietet zwar keine Sterneküche, dafür aber Authentisches vom Grill. Es zählt zu Güngörmüs´ Lieblingsrestaurants. Dezember 2014 Gegenwart 14 Handarbeit: Höchstpersönlich entwirft Restaurantchef Güngörmüs das Lunchmenü (oben) und prüft die Ware auf dem Hamburger Fischmarkt (unten). Porträt Character 15 Bis zum zehnten Lebensjahr habe ich keine Schokolade, keine SüSSigkeiten gegessen. Arbeit ist nicht alles: Güngörmüs genießt den Spaziergang mit Mops Didi an den Hamburger Elbterrassen. Dezember 2014 Gegenwart „Gibt es bald Edel-Döner im Le Canard?“ Mit dem Michelin-Stern haben wir alle eines Besseren belehrt. Vielleicht sind Sie ja bald nicht mehr der Exot … Ich habe jetzt einen Auszubildenden eingestellt, der erst 14 Jahre alt ist und dessen Eltern aus der Türkei kommen. Er hat Talent – in ihm sehe ich vieles, was mich an meine eigenen Anfänge erinnert. Wenn er es durchzieht, wird aus ihm auch ein sehr guter Koch. Ich werde ihn hier im Sternerestaurant fördern. Hat er es heute schwerer oder leichter als Sie damals? Insgesamt erwartet die Gesellschaft heute mehr von den Jugendlichen, auch von denen mit Migrationshintergrund. Da kommt zum Beispiel häufiger die Frage, warum man denn „nur“ einen Hauptschulabschluss gemacht hat. Der Druck steigt. Bilden Sie regelmäßig junge Leute aus? Ja, aber nur wenige. Wir möchten uns Zeit nehmen, uns um die Auszubildenden zu kümmern, damit sie es von der Pike auf lernen. Im Moment haben wir noch einen weiteren Azubi im Service. Das ist uns wichtig. Die Gastronomie in Deutschland jammert, weil ihr der Nachwuchs fehlt. Das ist ein ernstes Problem. Wir müssen ausbilden, obwohl es anstrengend ist, Zeit und Energie kostet. Wenn wir wollen, dass die gute Gastronomie in Deutschland auch in den nächsten 20 Jahren eine Zukunft hat, müssen wir jetzt investieren. Wir haben ein wahnsinniges Nachwuchsproblem. Die Abbruchrate unter den auszubildenden Köchen liegt bei 70 Prozent. Dabei haben die zahlreichen Kochshows im Fernsehen doch schon viel Werbung für den Beruf gemacht. Kochen und Essen ist etwas Schönes und gehört zu unserer Kultur. Jeder weiß, dass Köche auch abends und an Feiertagen arbeiten, so wie Krankenschwestern und Ärzte. Trotzdem müssen wir dahin kommen, Köchen flexiblere Schichten zu ermöglichen. 16 Porträt Vom türkischen Dorf in die Sterneküche Ali Güngörmüs, 38, ist einer, der es aus eigener Kraft an die Spitze geschafft hat. Erst mit zehn Jahren kam Güngörmüs als Kind eines Gastarbeiters aus einem ostanatolischen Dorf nach München. Er hat sich vom Lehrling in einem bayrischen Gasthaus bis in die erste Liga der deutschen Gastronomie gekocht. Das Durchsetzungsver mögen schätzt er auch im Fußball, seiner großen Leidenschaft. Seit 2005 ist er Inhaber des Restaurants „Le Canard nouveau“ in Hamburg, ausgezeichnet mit 16 Punkten im Gault & Millau Restaurantführer und einem Stern im „Guide Michelin“. Die Inspektoren der Bibel der Spitzengastronomie schreiben über Ali Güngörmüs: „Wer bei diesem Namen orientalische Speisen vermutet, liegt zwar nicht falsch, doch bringt der Küchenchef die Einflüsse seiner türkischen Heimat angenehm zurückhaltend zum Einsatz, um das Aroma der Produkte optimal hervorzuheben.“ Im vergangenen Oktober eröffnete Güngörmüs sein zweites Restaurant, das „Pageou“ in München. Dort möchte er bewusst auf eine Sterneklassifizierung verzichten. Umgekehrt muss aber auch der Wille da sein, den Beruf anständig zu erlernen und auch einmal neun oder zehn Stunden zu arbeiten. Haben Sie Vorbilder unter den Spitzenköchen in Deutschland? Ich schätze manche Köche sehr, weil sie viel für unseren Berufsstand getan haben: Eckart Witzigmann zum Beispiel oder H arald Wohlfahrt. Was machen Sie eigentlich, wenn Sie nicht in Ihrem Restaurant stehen? Denken Sie dann an Ihren Job? Meine Arbeit treibt mich eigentlich immer um, ich habe sogar Block und Stift neben meinem Bett liegen, falls mir Ideen kommen. Manchmal träume ich sogar vom Essen. Ich habe sehr wenig Freizeit. Auch an meinen freien Tagen wartet häufig Arbeit, wie zum Beispiel die Aufzeichnungen für verschiedene Fernsehsendungen. Aber Fußballspielen haben Sie nie aufgegeben. Einmal pro Woche gehe ich abends zum Fußball. Die Stunde brauche ich, um abzuschalten. So wie ich prima im Fußballstadion www.bethmannbank.de abschalten kann. Da bin ich einfach für mich und denke an nichts anderes. Wofür schlägt Ihr Herz – für den HSV oder den 1. FC Bayern? Weder noch! Ich mag Underdogs: St. Pauli, Bremen, Schalke oder Freiburg – alles Vereine, die es aus eigener Kraft geschafft haben. Das schätze ich sehr. Was ist Ihnen im Leben am wichtigsten? Die Gesundheit und das Glücklichsein – sie werden oft unterschätzt. Ich habe einmal eine schwierige Phase durchlebt. Deshalb habe ich meine Ernährung umgestellt und meine Philosophie geändert. Wenn man nicht gesund ist, hat man weder Zeit für Familie noch für Freunde. Eine Zeit lang habe ich sogar vergessen zu lachen, weil ich nur konzentriert gearbeitet habe. Dabei kostet Lachen nichts und bringt so viel. Ich möchte mehr Zeit für meine Familie haben – deshalb habe ich zusätzliches Personal eingestellt, damit mir mehr Luft bleibt. Character 17 Es war damals nicht einfach, von einem einfachen Restaurant in die Spitzengastronomie zu wechseln – von der Bezirksliga in die Champions League. Dezember 2014 Gegenwart Werte im Wandel 18 Werte im Wandel Zeit? Not! Von der Zeitersparnis zum Alltagsstress Kein Wert unterliegt heute dem Wandel so stark wie die Zeit und unser Umgang mit ihr. Der Zeitdruck nimmt zu, der Entscheidungsstress unter Terminzwängen wächst. Paradox dabei: Technischer Fortschritt, Arbeitszeitverkürzung und Telekommunikation steigern unsere Zeitnot bis zur Panik. Jede Sekunde muss genutzt werden. Wirklich jede? Jetzt, genau in diesem Moment müssen Sie sich entscheiden. Sie müssen wissen, was Sie mit Ihrer Zeit machen. Sie können diesen Text lesen – oder es bleiben lassen. Ihn zu lesen, kostet Zeit. Ihre Zeit. Ob sich die zu investieren am Ende gelohnt hat? Schließlich muss sich heute alles lohnen, muss einen Nutzen bringen, besonders wenn es Zeit kostet. Das aber wissen Sie erst nach dem Lesen, nach der „Lese“-Zeit. Jetzt sind Sie mitten im Thema. Sie verbringen Zeit mit einem Text über Zeit. Termine, Termine! Dazwischen eine FünfMinuten-Terrine? Ein Kaffee „to go“, ein Essen als „take away“ oder „drive in“. Schnell, schnell: Termine, Termine! Alles ist ‚durchgetaktet’, alles. Immer laufen mehrere Countdowns gleichzeitig. Immer Deadlines: Zeitfenster, die sich öffnen und wieder schließen. Dates, die eingehalten werden müssen … Ach, seufzt der moderne, unter Zeitdruck stehende Mensch: Hätte ich nur mehr Zeit! – Für mich, für die Kinder, den Partner, den Hund, das Hobby … Doch die Uhr tickt gnadenlos, auch wenn ihr Ticken längst zum Blinken auf einem Display wurde: Die Zeit läuft. „Eins, zwei, drei, im Sauseschritt, eilt die Zeit, wir eilen mit“, schreibt Wilhelm Busch so banal wie richtig. Das Problem für uns ist nur: wie wir das tun, dieses Miteilen? Entschleunigung als Ausweg Mehr Zeit zu haben, gehört zu unseren sehnsüchtigsten Wünschen. Kein Wunder, dass von der Verheißung, man könne Zeit sparen oder sogar gewinnen, inzwischen www.bethmannbank.de ganze Geschäftszweige florieren, die Zeitmanagement-Ratgeber oder Seminare anbieten, die Time-Management für Eilige empfehlen oder uns zur Entdeckung der Langsamkeit, der „Entschleunigung“ als Ausweg aus unserer Zeitnot raten. Zwar „verliert man die meiste Zeit damit, dass man sie gewinnen will“, wie der amerikanische Schriftsteller John Steinbeck erkannte. Aber wir versuchen trotzdem Zeit zu gewinnen. Warum? Weil wir fühlen, dass Zeit endlich ist, wir aber nicht wissen, wann sie wirklich mit unserem Tod endet. Und wir müssen uns beeilen mit dem Zeitgewinn. Denn dass hinter der Geschwindigkeit des technischen Fortschritts unsere biologische Anpassungsfähigkeit deutlich zurückgeblieben ist, das zu wissen erfordert nur ein klein wenig Ehrlichkeit. Character GO! GO! 19 GO! Go! Go! Go! Tempo! Tempo! Ich trage nie eine Uhr. Uhrzeiger sind Peitschen für all jene, die sich als Rennpferde missbrauchen lassen. François Mitterrand Dezember 2014 Kein Wert unterliegt so dem Wandel wie die Zeit. Schließlich hat der Grad der Beschleunigung stetig zugenommen, um heute an eine Grenze zu stoßen. Schneller als mit Lichtgeschwindigkeit und in Echtzeit lässt sich nicht mehr posten, bloggen, twittern, mailen, um Informationen als Daten zu übertragen. Aber hat diese totale „Mobilmachung“ uns postmodernen Individuen auch eine größere Verfügungsmacht über zeitliche Prozesse gebracht? Das Gegenteil ist der Fall: Der Zeitdruck nimmt zu, der Entscheidungsstress unter Terminzwängen wächst. Paradox ist es schon, dass technischer Fortschritt, Arbeitszeitverkürzung und Telekommunikation unsere Zeitnot in der Gegenwart bis zur Panik steigern. Jede Sekunde muss genutzt werden. Spart das wirklich Zeit für Angenehmeres? Nein! Je schneller man alte Aufgaben erledigen kann, desto schneller kommen auch neue hinzu. Zeitsparen ist eine Illusion. Wer sich in früheren Jahrhunderten über eine Stunde der Muße freute, hat heute zehn Tage Freizeitstress – gerade in der westlichen Welt, wo die Zeit ihr „Seelenfresser-Werk“ besonders effizient vollbringt. Wer wenig Zeit hat, gilt als wichtig Mit Benjamin Franklins Diktum „Zeit ist Geld“ kam es zu ihrer ungeahnten Ökonomisierung, und Zeit wurde als Währung zu Gegenwart einem immer knapperen Gut. Übrigens lässt sich mit Zeitnot auch clever kokettieren. Gerade unter den Managern wissen das nicht wenige. Schließlich scheint heute derjenige ganz besonders wichtig zu sein, der wenig Zeit hat. Solche Zeitgenossen sollten sich an Georg Christoph Lichtenbergs Ausspruch erinnern: „Die Leute, die niemals Zeit haben, tun am wenigsten.“ Doch es ist nicht allein unser gesellschaftlicher Umgang mit Zeit, der ihren Wert immer wieder neu bestimmt. Wie individuell Zeit „er“-lebt wird, ist auch eine Frage, wo Zeit „ge“-lebt wird. Verschiedene Kulturen haben ein völlig unterschiedliches Lebenstempo und Zeitgefühl. Im Jahr 1999 – für uns also schon vor langer, langer Zeit – erschien das Buch: „Eine Landkarte der Zeit. Wie Kulturen mit Zeit umgehen“. Der amerikanische Psychologieprofessor Robert Levine bewies, was wir bereits ahnten: Die schnelllebigsten, am stärksten an der Uhr orientierten Länder sind unter den Industrienationen zu finden. Von 31 untersuchten Ländern kamen die Schweiz, Irland und Deutschland auf die ersten Plätze, dicht gefolgt von Japan. 20 Andere Kulturen, anderes Zeitgefühl Nicht einmal in den USA konnte sich ein einziges Zeitgefühl flächendeckend etablieren. Dort gilt das Stereotyp der gemächlichen „colored people’s time“ (CPT) im Gegensatz zur hektischen „white people’s time“. Der Wert der Zeit und ihr steter Wandel sind eben nicht nur eine Frage der Strukturierung des Tagesablaufs, sondern vielmehr „zentrales Element eines jeden Sozialgefüges“. Zudem wird der Umgang mit Zeit durch das kulturelle Umfeld geprägt: Kulturen, die sich nicht nach abstrakter Uhrzeit richten, orientieren sich an Ereignissen, fand Robert Levine heraus. So kennen Einwohner von Burundi kein „frühmorgens um sechs Uhr“, sondern das Ereignis „wenn die Kühe auf die Weide gehen.“ Noch ein Beispiel für das Zwillingspaar Uhrzeit und Ereigniszeit? Ein idealtypischer Amerikaner und ein Afrikaner auf Europareise: Der Amerikaner geht von der www.bethmannbank.de Werte im Wandel abstrakten Zeitordnung aus: „Heute ist Dienstag, also bin ich in Paris!“ Beim Afrikaner dagegen bestimme, so Levine, das Ereignis den Zeittakt: „Ich bin in Paris, also ist heute Dienstag.“ Um die Zeit als Rohstoff des Lebens, als die uns zugemessene Lebensdauer zwischen Geburt und Tod in den Griff zu bekommen, mühten sich Astronomen, Mathematiker und Ingenieure – und das zum ersten Mal vor gar nicht (sehr) langer Zeit. „Vor 800 Jahren“, spottet der Wiener Theologe Adolf Holl, „begannen die Menschen in einigen europäischen Städten einen eigenartigen und bislang unerhörten Wunsch zu verspüren. Sie wollten wissen, wie spät es ist.“ Tatsächlich begann die Erfindung der Uhr im 13. Jahrhundert „die Zeit der Kirche“ zu verdrängen und „die Zeit der Kaufleute“ einzuläuten. Der Handel hatte damals eine ungeheure Mobilität erreicht. Kein Wunder also, dass die ersten ö ffentlichen Uhren in den Handelszentren der damaligen Zeit schlugen: 1336 in Mailand, 1353 in Florenz, 1356 in Regensburg. Character Dezember 2014 21 Renaissance der Mechanik So wie der Wert der Zeit stets im Wandel ist, weil der Mensch selbst stets im Wandel ist, so ist auch der Wert jenes Instrumentariums zur Zeitmessung immer im Wandel. Deren Basiseinheit hat sich vom Glockenschlag der Kirchturmuhr zur Schwingungsfrequenz des Cäsium-Atoms verkürzt. Zwar verzichten jüngere Leute gerne auf eine Armbanduhr. Doch wenn es sich der digitalisierte Mensch leisten kann, widmet er sich gerade heute wieder der Uhr als rein mechanischem Wunderwerk. In Zeiten der günstigen Quarzuhren und Mikrochips fasziniert ausgerechnet ein mechanischer Chronometer von IWC mit dem programmatischen Namen Da Vinci. Handwerkliche Besonderheit des teuren Stücks: ein ewiger Kalender. Soll heißen: Diese Uhr misst nicht nur auf die Achtelsekunde genau und zeigt Mondstand, Datum und Wochentag. Vielmehr wird sich der Jahrhundertschieber dieser Ticktack pünktlich am 31. Dezember 2100 um genau 24 Uhr um 1,2 Millimeter weiterbewegen, um das nächste Jahrhundert anzuzeigen. Niemand von uns wird diesen Moment erleben – aber er könnte es, hätte er, was grausam wäre, das ewige Leben. Übrigens perfektioniert der Uhrenhersteller die Pedanterie noch, indem er auch den Jahrhundertschieber für die Jahre 2200 bis 2499 zu jeder Da Vinci mitliefert. Gewiss, eine Spielerei, denn selbst der gestresste Manager verlässt sich im Zweifelsfall nicht auf die mechanische Luxusuhr, sondern auf die Zeitfunktion seines Smartphones. Den Umgang mit Zeit entscheidet am Ende ohnehin jeder für sich. Nur: „Denkt an das fünfte Gebot: Schlagt eure Zeit nicht tot!“ Das zumindest rät Erich Kästner. Text: Pascal Morché Tradition 22 ZAHLEN, BITTE! Der deutsche Wald Mythos und Sehnsuchtsort Der deutsche Wald ist Mythos und Sehnsuchtsort zugleich. Er wird in unzähligen Liedern besungen. Er ist aber auch ein entscheidender Wirtschaftsfaktor, der mehr Arbeitsplätze bringt als die Automobilindustrie. Und: Er wächst. www.bethmannbank.de Zahlen, bitte! Character 23 Mit 42 Prozent Anteil an der Gesamtfläche sind Hessen und Rheinland-Pfalz die waldreichsten Bundesländer, gefolgt vom Saarland und Baden-Württemberg mit jeweils 38 Prozent. Das Bundesland mit dem niedrigsten Anteil Wald ist Schleswig-Holstein. Dort beträgt der Waldanteil nur 10 Prozent. Übrigens gibt es innerhalb sämtlicher deutscher L andkreise hohe Schwankungen, was die Waldfläche angeht. So verfügt D ithmarschen in Schleswig-Holstein mit 3 Prozent über den geringsten Waldbestand, während der Landkreis Regen in Bayern mit 64 Prozent den höchsten Waldanteil hat. 23 Prozent aller Bäume Deutschlands waren 2013 deutlich geschädigt. Im Jahr zuvor waren es noch 25 Prozent. Trotzdem gibt es keine Entwarnung: „Deutlich geschädigt“ heißt, dass ein Baum mehr als ein Viertel seiner Nadeln oder Blätter verloren hat. Die deutsche Eiche hat mit 42 Prozent am Gesamtbestand den höchsten Anteil deutlicher Schädigungen. Ursache sind Stickoxide in der Luft, Schädlinge, aber auch das Absinken des Grundwassers. 90 Baumarten und 1.215 Pflanzenarten wachsen in Deutschlands Wäldern. Mit 26 Prozent hat die Fichte in deutschen Wäldern die Nase vorn, auf Platz 2 folgt die Kiefer mit 23 Prozent. Bei den Laubbäumen ist mit 16 Prozent die Buche die häufigste Art und liegt damit bezogen auf alle Baumarten auf Platz 3. Derzeit besteht der deutsche Wald zu 57 Prozent aus Nadel- und zu 43 Prozent aus Laubbäumen. 110.000.000 Kubikmeter beträgt der Holzzuwachs pro Jahr. Dagegen steht ein jährlicher Holz verbrauch von etwa 94 Mio. Kubikmetern. 5.000 Quadratmeter muss eine Fläche mit Bäumen bedeckt sein, damit sie gemäß Definition der Vereinten Nationen als Wald bezeichnet werden darf. Diese Fläche muss aber – von oben betrachtet – nur zu einem Zehntel mit Baumkronen bedeckt sein. 8.000.000.000 Bäume gibt es schätzungsweise in Deutschland. 44 Prozent des deutschen Waldes befinden sich in Privateigentum. 29,6 Prozent der Waldfläche gehören den Ländern. 20 Prozent des Waldes zählen zum sogenannten Körperschaftswald, gehören also Gemeinden oder Kirchen, nur 3,5 Prozent des deutschen Waldes gehören dem Bund. Zwischen 600 und 1.500 Jahre alt sind die vermutlich drei ältesten Bäume Deutschlands. Es sind die „Femeiche“ in Erle im nordrhein-westfälischen Kreis Borken (etwa 600 bis 850 Jahre), die „Alte Eibe“ von Balderschwang im Allgäu (geschätzt 800 bis 1.500 Jahre) und die „ Methusalinde“ im osthessischen Schenklengsfeld (über 1.000 Jahre). Der älteste Baum der Welt steht übrigens in Schweden: Es ist eine 9.550 Jahre alte Fichte in der Provinz Dalarna. Auf 1.800 Metern liegt die Baumgrenze in den deutschen Alpen. Die Baumgrenze bezeichnet die maximale Höhe, in der noch Bäume Dezember 2014 wachsen. Die Waldgrenze bezeichnet dagegen die Höhe, in denen Bäume noch zusammenhängende Bestände bilden. In den Schweizer Alpen liegt sie mit 2.100 Metern etwas höher, in Lappland mit 750 Metern deutlich tiefer. 63,3 Meter hoch ist der höchste Baum Deutschlands. Dabei handelt es sich um eine Douglasie mit dem Namen „Waltraut vom Mühlenwald“. Sie steht im Freiburger Stadtwald. Knapp ein Drittel Deutschlands wird von Wald bedeckt: 11,1 Mio. Hektar. Das Verhältnis entspricht ziemlich genau dem weltweiten Durchschnitt. Innerhalb der vergangenen 40 Jahre hat der Waldbestand in Deutschland sogar um 1 Mio. Hektar zugenommen. Allerdings liegt Deutschland bezogen auf die Europäische Union unter dem Durchschnitt: 42 Prozent der Fläche aller 27 EU-Länder besteht aus Wald. 1.200.000 Menschen arbeiten in 185.000 deutschen Betrieben des Holz- und Forstsektors. Dieser erzielt einen Jahresumsatz von 170 Mrd. Euro. Damit beschäftigt der deutsche Wald mehr Menschen als die Automobilindustrie (700.000 Beschäftigte). Allein der Anbau und Verkauf von deutschen Weihnachtsbäumen bringt 700 Mio. Euro Umsatz und beschäftigt 100.000 Dauer- und Saisonarbeitsplätze. Mehr Infos über den deutschen Wald auch unter www.sdw.de Text: Geraldine Friedrich Zukunft 12 Dinge, die man tun sollte 24 12 dinge, die man tun sollte Viel Lachen und das Leben genieSSen Für den Sternekoch Ali Güngörmüs spielt gutes Essen auch abseits des eigenen Restaurants eine große Rolle. Dabei empfiehlt er auch eine vegetarische Ernährung. Doch auch soziales Engagement für Kinder ist ihm wichtig. Denn als er als Kind nach Deutschland kam, hätte er selbst gerne einen Helfer gehabt, der ihm zur Seite steht. 12 Dinge, die man tun sollte 1. Sport treiben 5. ökonomisch denken 9. sich Auszeiten nehmen 6. das Auto öfter 2.sich gesund ernähren stehen lassen 3.öfter mal vegetarisch essen 7. Freundschaften 4.sich sozial engagieren, z.B. bei der Ehlerding Stiftung mitKids-Pate werden 8.viel lachen pflegen 10.das Leben genieSSen! 11. r egelmäSSig Urlaub machen 12.einmal im Jahr einen Männer-Trip unternehmen www.bethmannbank.de Character 25 Dezember 2014 Zukunft 26 Für morgen FÜR MORGEN BIOMIMIKRY-BOOM DIE ÄLTESTE FORSCHUNGS ABTEILUNG DER WELT Ein Vogelschnabel inspiriert die Form einer Lokomotive. Ein Termitenbau eine Shopping-Mall. Eine Windhose einen Ventilator. In den Labors von Unis, Start-ups und Konzernen entstehen immer mehr Bio-Technologien. Die Schatzkiste der Schöpfung verspricht Entwicklungssprünge und hohe Energieeinsparungen. Wird die Nachahmung der Natur die zweite industrielle Revolution? Archimedes hat es getan, Leonardo hat es getan und ebenso George de Mestral, der Erfinder des Klettverschlusses. Sie alle haben sich für ihre Erfindungen inspirieren lassen von der ältesten Forschungs- und Entwicklungsabteilung der Welt: Die Natur verfeinert und verbessert ihre Produkte seit Jahrmillionen – in einem ewigen Spiel von Versuch und Irrtum. „Biomimikry“, die Nachahmung der Natur, ist so alt wie die menschliche Kulturgeschichte. Archimedes’ Schraubenpumpe ähnelt einer Schnecke, und Leonardo da Vinci formte seine Flugapparate nach dem Vorbild von Vogelflügeln. Dank Fortschritten in Bio-Technologie und der wachsenden Rechenleistung von Computern haben sich die Möglichkeiten, von der Natur zu lernen, in den letzten Jahren vervielfacht: Biomimetische Forscher abstrahieren das Verhalten von Insektenschwärmen, um Verkehrs- und Energieströme zu perfektionieren; Wissenschaftler schaffen neue Biomaterialien nach dem Vorbild von Spinnweben oder Haifischhäuten; und bionische Ingenieure bauen die Lösungen der Natur mit modernsten Werkstoffen nach – vom Winglet am Ende eines Flugzeugflügels bis zum hydraulischen, spinnenförmigen Roboter für Gefahreneinsätze. Dabei liegt der Reiz auch darin, dass natürliche Systeme wie der Wald von Grund auf nachhaltig sind: Sie nutzen lokal erhältliche Grundstoffe, verschwenden keine Rohstoffe, und produzieren nur nontoxische Chemikalien. Als eigene Disziplin gilt das vielseitige Feld spätestens seit 1997. Damals prägte die amerikanische Autorin Jane Benyus den Begriff mit ihrem Buch „Biomimicry – Innovation inspired by Nature“. Fachleute sehen ein enormes Entwicklungspotenzial. So schätzt der Biomimetik-Professor Julian Vincent von der englischen University of Bath, dass es „bei den heute genutzten Mechanismen nur eine zwölfprozentige Überschneidung zwischen Biologie und Technik gibt“. Der www.bethmannbank.de Erfinder und Unternehmer Jay Harman zitiert in seiner Biomimikry-Bibel „The Shark’s Paintbrush“ Studien, die den BioBoom in den USA belegen: Die Zahl der wissenschaftlichen Artikel zum Thema hat sich in zehn Jahren verfünffacht, die Zahl der Patente vervierzehnfacht. Wirtschaftswissenschaftler der christlichen Point Loma Nazarene University in San Diego rechnen damit, dass biomimetische Lösungen bis zum Jahr 2025 eine große Anzahl von Sektoren beeinflussen werden: Darunter 15 Prozent der chemischen Produktion und im Müllmanagement, 10 Prozent in Architektur, Maschinenbau, Textil und Transport. Das weltweite Marktpotenzial für biomimetische Lösungen schätzt Harman auf mehr als 100 Mrd. Dollar. Für den Bio-Visionär steht fest: Biomimikry ist „das Business des 21. Jahrhunderts“. Character 27 Von einem Vogel lernen, heißt fliegen lernen: Die Natur kennt weitaus effizientere Methoden, durch die Luft zu fliegen, als mit Flugzeugen und starren Tragflächen. Dezember 2014 Zukunft Für morgen 28 Die Achillessehne als Energiespeicher. Und es hüpft, und hüpft, und hüpft … www.festo.com Es klackt und zischt, hoppelt und wiegt. Am Anfang stand die Frage, wie man die Energiespartricks der Natur nachahmen könnte. Am Ende stand bei der Hannover-Messe ein pneumatisches Känguru auf dem Teppich. Das gerade mal hüfthohe bionische Beuteltier kann auf Gesten reagieren, die mit einem Bluetooth-Armband gemacht werden. Winkt man es heran, vollführt es kleine Sprünge, knapp einen Meter weit und einen halben Meter hoch. Wie sein australisches Vorbild ist es „in der Lage, einen Großteil der Energie in den nächsten Sprung mitzunehmen“, erläutert Elias Maria Knubben, Projektleiter beim Esslinger Automations-Unternehmen Festo. Einmal im Jahr stellen die Schwaben einen bionischen Prototyp her, um so ganz handfest von Mutter Natur zu lernen. Wie sein Vorbild aus Fleisch und Blut speichert das elektrisch-pneumatische Tier seine Bewegungsenergie in der Achillessehne – nur dass sie beim Automaten aus Gummi ist. Bionischer Wundervogel: Auf Silberschwingen in die Zukunft www.festo.com Von Weitem wirkt sie ganz schön echt. Anders als das bionische Känguru bewegt sich die maschinelle Möwe fast schon anmutig. Mit dem „Smart Bird“ ist es den Ingenieuren gelungen, den Vogelflug zu entschlüsseln. Die Leichtbau-Silbermöwe kann selbst starten und landen, wobei sich ihre Flügel gezielt verdrehen können. Das Know-how ist bereits in eine Kleinwindkraftanlage eingeflossen, die anstelle von Rotorblättern zwei gegenläufige Flügelpaare nutzt. Dahinter stehen auch hier wieder Festo und das „Bionic Learning Network“, ein V erbund aus Hochschulen, Entwicklungsfirmen und privaten Erfindern. www.bethmannbank.de Character Dezember 2014 29 Und der Haifisch, der hat Zähne, und die trägt er auf der Haut … www.ifam.fraunhofer.de Es klingt widersinnig: Die Außenhaut von Schiffen und Flugzeugen sollte lieber aufgeraut sein als glatt. Weniger Widerstand durch gröbere Strukturen? Haie beweisen seit Jahrmillionen, dass eine raue Haut sie leichter durchs Wasser gleiten lässt. Da sie keine Kiemen haben, müssen sie sich konstant bewegen, um Sauerstoff aufzunehmen. Um dabei Energie zu sparen, weisen ihre Schuppen sowohl sogenannte „Hautzähnchen“ als auch mikroskopisch kleine Rillen in Längsrichtung auf. Sie sorgen dafür, dass weniger Wasser am Fisch hängen bleibt, wenn er schnell schwimmt. So rau ist das Ganze, dass es früher als Schmirgelpapier diente. Lacktechniker am „Fraunhofer-Institut für Fertigungstechnik und Angewandte Materialforschung“ haben sich diesen Trick der Natur zunutze gemacht. Sie entwickelten ein Haifischhaut-Lacksystem, das Treibstoffverbrauch und Emissionen von Schiffen senkt. Die Farbe aus Nanopartikeln wird auf Flugzeuge und Schiffsrümpfe gesprüht. Ein großes Containerschiff könnte so im Jahr rund 2.000 Tonnen Schwer- und Dieselöl einsparen. Nichts haftet wie ein Gecko-FuSS: Kopfüber in die neue Klebewelt http://geckskin.umass.edu Die Möglichkeiten sind endlos: Ein an der „University of Massachusetts“ in Amherst entwickeltes Klebeband ist so stark, dass es Fernseher an die Wand heften und das Nähen von Verletzungen ersetzen kann. Vermutlich wäre sogar ein echtes Spiderman-Kostüm möglich, mit dem man kopfüber an der Decke krabbeln kann. Letzteres ist noch nicht erwiesen, scheint jedoch machbar. Denn „Geckskin“ funktioniert so wie der Fuß eines Geckos: Ein Streifen von der Größe einer Karteikarte kann ein Gewicht von 300 Kilogramm tragen. Umso leichter ist es, den Streifen in Gegenrichtung abzureißen. Dabei hinterlässt er keinerlei Spuren – genau wie eine Echse. Oder so wie Spiderman. Zukunft Für morgen 30 Jay Harman, 65, ist Erfinder, Unternehmer und Buchautor. Unter dem Dach seiner Unternehmensgruppe Pax Scientific hat er acht Unternehmen gegründet und hält 30 Patente. Harman lebt in Kalifornien und Honolulu. „Die globalen Energiekosten um die Hälfte senken“ Der Erfinder und Unternehmer Jay Harman setzt auf die Nach ahmung der Natur, um eine ökologische Revolution zu starten Mr. Harman, hat eine Hummel wirklich eine bessere Aerodynamik als eine Boeing 747? Kein Wissenschaftler kann erklären, warum eine Hummel überhaupt fliegen kann. Fluiddynamik ist so etwas wie eine schwarze Kunst. Die Wissenschaft taugt zwar dazu, Flugzeuge zu bauen, die in der Luft bleiben. Aber folgt man ihren Formeln, müsste eine Hummel wie ein Stein zu Boden fallen. Mit unserer Wissenschaft stimmt also irgendetwas nicht. Biomimikry soll das ändern. Sie sehen hier große ökologische Potenziale? Wir könnten die globalen Energiekosten um mehr als die Hälfte senken, wenn wir uns radikal an der Natur orientieren. Warum können wir keine Flugzeuge bauen, die mit der geringstmöglichen Menge Energie auskommen? Die Natur hat einen Kolibri geschaffen, der mit drei Gramm Brennstoff den Golf von Mexiko überquert. Energieeffizienz ist die Stärke Ihrer eigenen Erfindungen, vom Kühlschrankventilator bis zum Trinkwassermischer. Warum setzen Sie dabei auf die natürliche Form des Strudels? Denken Sie an den Strudel am Ausfluss Ihrer Badewanne. Flüssigkeiten und Gase bewegen sich spiralförmig: Die DNA, der Blutfluss die Form von Galaxien. Ich habe diese Form dreidimensional nachgebaut. So können Turbinen, Propeller, Pumpen viel effizienter gestaltet werden. Ihre Strudelpropeller sollen Luft auch so leicht bewegen, dass sie Smog aus den Städten wirbeln können … Ja, über eine Art kontrollierten Wirbelsturm. Ein kleines Gerät kann die Luft aus dem Gebiet einer Megacity bis auf 7.000 Meter Höhe pumpen. In Peking planen wir schon die ersten Versuche. MEHR ZUM THEMA Das Standardwerk: Mit ihrem 1997 erstmals erschienenen Buch definierte die amerikanische Wissenschaftsautorin Janine M. Benyus das Feld. „Biomimicry – Innovation Inspired by Nature“, Janine M. Benyus, Harper Collins 2003. Das Porträt: Dokumentarfilm über drei Umweltaktivisten. Eine der drei Storys ist die Geschichte von Jay Harmans Kampf gegen die Erderwärmung. „Elemental“, Emmanuel Vaughan-Lee & Gayatri Roshan, Cinema Guild 2013, erhältlich auf iTunes. Das Update: Erfinder und Bio-Unternehmer Jay Harman bringt ein Kaleidoskop aktueller Beispiele und berichtet nebenbei von seinem eigenen Weg. „The Shark’s Paintbrush: Biomimicry, and how Nature is inspiring Innovation“, Jay Harman, White Cloud 2013. Die Datenbank: Die von Janine Benyus‘ Biomimicry Institute betriebene Website erklärt mehr als 1.800 Naturphänomene und Hunderte b iomimetischer D esignlösungen. www.asknature.org / www.biomimicry.org www.bethmannbank.de Character Dezember 2014 31 Dieses Haus steht in Afrika. Kühl bleibt es immer. Auch ohne Klimaanlagen. www.mickpearce.com Sieht aus wie aus Fischertechnik, atmet wie ein Termiten bau – ist aber eigentlich ein Bürogebäude. Das „Eastgate“ in Harare, der Hauptstadt von Simbabwe, ist eins der ersten großen Passivhäuser der Welt. 1996 erbaut, basiert das Eastgate Centre auf dem Belüftungssystem von Termiten. Deren bis zu acht Meter hohe „Kathedralen“ stehen überall im afrikanischen Busch. Sie nutzen Temperaturunterschiede, um kühlende oder wärmende Luftflüsse zu generieren. Im Vergleich zu herkömmlichen Gebäuden mit Klimaanlagen kostet die natürliche Klimatisierung des Eastgate-Komplexes nur ein Zehntel. Außerdem verbraucht das Haus ein D rittel weniger Energie als vergleichbare Zentren in Harare. Die Temperaturen im Haus liegen konstant um 24 Grad. Wahrscheinlich würden sich da sogar Termiten wohlfühlen. Texte: Hilmar Poganatz Gegenwart 32 Unterbewertet unterbewertet Aachen Hightech im Schatten von Printen und Dom Im westlichsten Zipfel der Republik liegt Aachen. Randlage? Ach was, sagen die Menschen in der Stadt und beschwören die Zeit, als sie Mittelpunkt der europäischen Geschichte waren. „Tief im Westen“ hat Herbert Grönemeyer einst gesungen – und meinte Bochum. Aachener können über diese geografische Sicht nur schmunzeln. Denn bis zum tatsächlich westlichsten Zipfel der Republik ist es von Bochum noch weit: Aachen besetzt den Platz „ganz links auf der Deutschlandkarte“. Mehr Randlage geht nicht. Fast scheint es, als hätten die Grenz-Zeichner einen Halbkreis um die Stadt gezogen, damit sie nicht auf niederländisches oder belgisches Territorium fällt. Außenseiter aber wollen die Aachener nicht sein, deshalb weiten sie gerne den Blick, wechseln den Maßstab – und sehen ihre Stadt im „Herzen Europas“ gelegen. Das hört sich gut an. Das klingt nach Mittelpunkt, nach Taktgeber. So wie früher, zur Zeit Karls des Großen. Da war Aachen Zentrum eines Reiches, das von der Nordsee bis nach Mittelitalien und von den Pyrenäen bis an die Elbe reichte. Ganz schön selbstbewusst die Aachener! Neuerdings, muss man sagen. Denn wer sich umschaut in der Stadt, wer mit Leuten spricht, gewinnt den Eindruck, dass Aachen eine Zeitlang zu wenig aus seinen Pfründen www.bethmannbank.de gemacht hat, zu bescheiden war, zu wenig getrommelt hat im Wettstreit um die Gunst von Investoren, Touristen und Öffentlichkeit. Natürlich gab es schwere Zeiten. Der Bergbau, der Mitte der 1980er-Jahre noch mehr als 14.000 Menschen in der Region Arbeit gegeben hatte, beschäftigt schon lange niemanden mehr. Auch Tuch- und Nadelhersteller, die viele Generationen in Aachen beheimatet waren, haben bis auf wenige Ausnahmen ihre Produktion eingestellt. An solchen Umbrüchen sind viele Städte gescheitert. Character Dezember 2014 33 Bundesland: Nordrhein-Westfalen Höhe: 173 m. ü. NHN Fläche: 160,8 km² Einwohner: 241.683 (31.12.2013) Bevölkerungsdichte: 1.503 Einwohner je km² Kfz-Kennzeichen: aC Printen- und Schokoladenfabrik Henry Lambertz Borcherstraße 18, 52072 Aachen Telefon 0241 / 8 90 50 www.lambertz.de Centre Charlemagne Am Katschhof 2, 52062 Aachen Telefon 0241 / 4 32 49 94 www.route-charlemagne.eu CHIO Weltfest des Pferdesports In Aachen haben Stadtväter und Wirtschaftsförderer rechtzeitig erkannt, dass der ruhmreiche Dom und die weit über die Region hinaus bekannten Printen auf Dauer zu wenig sein würden, um die Stadt am Leben zu halten. So kamen sie auf die Idee, Aachen den Stempel einer Technologie-Region aufzudrücken. Sie zu einer „Stadt des Wissens“ zu machen, mit der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule (RWTH) als Herzstück. Das ist gelungen – und wie! Nach Zahlen des Instituts der Deutschen Wirtschaft kommen in Aachen und Umgebung auf 1.000 erwerbstätige Ingenieure 171 neue ingenieurwissenschaftliche Studienabschlüsse. Damit ist die Ausbildungsquote hier fast viermal so hoch wie im Bundesdurchschnitt. Beschäftigung finden die Absolventen häufig gleich vor Ort: Im Speckgürtel der Stadt sind in den vergangenen Jahren viele Technologie- und Servicezentren entstanden. Für sie ist die geografische Lage von Vorteil: Aus den Niederlanden und B elgien pendeln täglich viele Mitarbeiter, und mit den Hochgeschwindigkeitszügen Thalys und ICE lassen sich Metropolen wie Brüssel, Paris und London rasch erreichen. Bei allem wissenschaftlichen Ruhm ist Aachen jedoch immer noch in erster Linie eine historische Stadt. Die Brücke zwischen Einst und Jetzt schlägt die „Route Charlemagne“, ein Rundgang durch die Altstadt mit acht Stationen. Jeder Haltepunkt ist ein herausragendes Bauwerk und behandelt ein Thema, das die aktuelle Zeit ebenso prägt wie die Karls des Großen. Der Dom beispielsweise, das erste deutsche Denkmal, das die UNESCO 1978 zum Weltkulturerbe erklärte, repräsentiert das Thema Religion. Und der nur ein paar Schritte entfernte klassizistische Elisenbrunnen symbolisiert den Ausgangspunkt der Aachener G eschichte: die heißen Thermalquellen. Die Gruppe chinesischer Studenten, die am E lisengarten nach dem Weg fragt, hat freilich ein Ziel abseits der Route Charlemagne: die Pontstraße, die in Anlehnung an das Pariser Studentenviertel „Quartier Latin“ genannt wird. Hier reihen sich Gaststätten, Restaurants, Cocktailbars und Diskotheken aneinander. „Aachens schönste Straße“, sagt einer der jungen Leute. Er ist seit vier Wochen für ein Gastsemester an der RWTH. Ein paar Monate bleiben ihm noch, andere Schätze der Stadt aufzuspüren. Text: Stefan Weber Albert-Servais-Allee 50 52070 Aachen Telefon 0241 / 9 17 11 89 www.chioaachen.de RWTH Aachen Templergraben 55, 52062 Aachen Telefon 0241 / 8 01 www.rwth-aachen.de Internationaler Karlspreis zu Aachen Ältester und bekanntester Preis, mit dem Persönlichkeiten ausgezeichnet werden, die sich um Europa und die europäische Einigung verdient gemacht haben. www.karlspreis.de Orden wider den tierischen Ernst Die einzige Auszeichnung, die alljährlich nicht für, sondern gegen etwas vergeben wird. Preisträger sind nationale und internationale Persönlichkeiten. Initiiert vom Aachener Karnevalsverein. www.akv.de Gegenwart 12 ausgewählte Zitate* 34 Carl Sandburg, US-amerikanischer Dichter, Journalist und Historiker, 1878 – 1967 Bertold Brecht, deutscher Dramatiker und Lyriker, 1898 – 1956 Platon, antiker griechischer Philosoph, 428 / 427 – 348 / 347 v. Chr. Quelle unbekannt ∞ Heinrich Heine, deutscher Dichter, Schriftsteller und Journalist, 1797 – 1856 Konfuzius, chinesischer Philosoph, 551 v. Chr. bis 479 v. Chr. www.bethmannbank.de Character Dezember 2014 35 Ali Güngörmüs Quelle unbekannt Mark Twain US-amerikanischer Schriftsteller, 1835 – 1910 Oscar Wilde, irischer Schriftsteller, 1854 – 1900 Loriot, deutscher Humorist, 1923 – 2011 * von Ali Güngörmüs Quelle unbekannt Zukunft 36 Unternehmen der Zukunft UNTERNEHMEN DER ZUKUNFT VOLLGAS MIT CARSHARING Invers: Weltmarktführer aus der Provinz Wenn irgendwo in der Welt Autos gemeinsam genutzt werden, steckt meistens Technologie von Invers drin. Der westfälische 50-Mitarbeiter-Betrieb erkannte schon vor 20 Jahren das Potenzial im Carsharing – und stattet heute auch große Fuhrparks mit Funktechnik aus. Die Heimat der Carsharing-Technologie hat einiges zu bieten – außer klassischem Carsharing. Siegen, die alte Industriestadt in Westfalen, hat zwei Schlösser, drei Autobahnanschlüsse, wenig Arbeitslose und viele mittelständische Unternehmen. Ein besonders innovatives hat eine Technologie erfunden, mit der Autos von verschiedenen Leuten genutzt werden können, ohne eine mühselige Schlüsselübergabe zu organisieren: Carsharing. Die Produkte der Invers GmbH sind an vielen Orten dieser Welt im Einsatz. Nur dort, wo sie erfunden wurden, wartet man noch vergebens auf Flinkster, Drive Now oder Car2go. Der kleine VW Up auf dem Dach des Siegener Parkdecks ist deshalb nur ein Demo-Auto. Dafür aber ein besonderes: ein Prototyp mit einem neuen CarsharingSystem. Alexander Kirn, Geschäftsführer von Invers, zückt sein Smartphone und geht auf das weiß-blaue Auto zu, auf dem die Worte „Cloud Boxx“ stehen. Natürlich kennt Kirns Handy den Standort des Wagens, das ist heute Standard. Es kann aber noch mehr: „Mit der Cloud-Boxx-Technologie wird das Telefon zum alleinigen Bedienelement, per Server und über Bluetooth“, sagt Kirn und tippt aufs Display. Klack! Das Auto öffnet sich und das Smartphone meldet: Türen offen, Fenster zu, Handbremse gezogen, Lichter aus. Dann setzt sich der lange, junge Mann in den Kleinwagen und arretiert das Handy unter dem Autoradio. Dort e rsetzt es alle elektronischen Bedienelemente, die man sonst im Carsharing findet, zum Beispiel berechnet es die gefahrenen Kilometer. „Einen Teil der Intelligenz, die man sonst im Auto verbauen muss, trägt man dann in der Hosentasche“, sagt der Chef von Invers. man es einfacher machen, sich Autos zu teilen? Carsharing war damals noch eine ganz kleine Nummer. Was auch daran lag, dass die Schlüssel noch physisch übergeben werden mussten. Nun aber machte sich der Ingenieursstudent Latsch daran, einen Bordcomputer zu entwickeln. Aus seiner ersten Lösung, einer Art Telefonkartensystem mit Guthaben zum Abfahren, entstand in den folgenden zwei Jahrzehnten ein Unternehmen, dessen Technologie heute in mehr als 40.000 Autos in 18 Ländern verbaut ist. Damit ist das Unternehmen aus der südwestfälischen Provinzstadt Weltmarktführer. AUS DER UNI-KANTINE AUF DEN WELTMARKT Alexander Kirn war damals noch nicht dabei, als Uwe Latsch seine Doktorarbeit sausen ließ, um Invers zu gründen. Der heute 31 Jahre alte Kirn wurde auf die kleine Goldgrube im Siegerland aufmerksam, als er nach einem Wirtschaftsabschluss in Harvard damit begann, sich ein Unternehmen zu suchen. Nicht als Bewerber, sondern als Käufer. Als künftiger Chef. Wenn es darum geht, das Teilen von Autos zu vereinfachen, lag Invers schon immer weit vorn. Bereits 1993, an einem verregneten Tag im November, kam Kirns Kompagnon Uwe Latsch die Idee: Wie so häufig hatte er sich auf dem Fahrrad durchs bergige Siegerland gequält, um zur Fakultät für Elektrotechnik zu gelangen. So kam in der Cafeteria die Frage auf: Wie könnte www.bethmannbank.de Character 37 Mobilität im Kleinformat: Alexander Kirn mit Smartphone in einem Carsharing-Auto. Die Software seiner Firma Invers steuert Fahrzeuge weltweit. Dezember 2014 Zukunft DER GRÜNDER HOLT SICH EINEN NEUEN CHEF INS BOOT Mithilfe von zwölf privaten Investoren legte Kirn einen sogenannten Suchfonds an. Ziel der Suche: „Ein profitables und nichtproduzierendes Unternehmen mit einem Umsatz zwischen 5 und 15 Mio. Euro zum mehrheitlichen Erwerb.“ Der bestens ausgebildete Kirn würde die Geschäfte übernehmen. Mehr als 150 Firmen inspizierte Kirn für sein Vorhaben, bis er endlich Uwe Latsch kennenlernte. „Wir haben uns von Anfang an gut verstanden und ergänzt“, erinnert sich Latsch. Der Gründer kommt in Jeans und Polohemd zum Treffen in der Firmenzentrale, einem unprätentiösen ehemaligen Telekom-Gebäude in einem Siegener Vorort. Neben dem in Karohemd und Cordjacket gewandeten BusinessMann Kirn erfüllt der 51-jährige Latsch auch optisch die Rolle des technischen Geschäftsführers. Die Auftragslage scheint bestens. Und der Umsatz liegt heute bei mehr als 6 Mio. Euro, genaue Zahlen nennt das Unternehmen nicht. Nur so viel: „Die Nutzerzahlen im Carsharing steigen jährlich um rund ein Drittel, und auch wir wachsen weiter deutlich zweistellig“, freut sich Kirn. Als die Stiftung Warentest im vergangenen Jahr neun Carsharing-Anbieter unter die Lupe nahm, nutzten davon sieben die Technik von Invers. Der Testsieger Greenwheels ist darunter, aber auch Flinkster oder citeecar. „Das System ist leicht, simpel in der Bedienung und amortisiert sich schnell, weil die gefahrenen Kilometer direkt ins System eingespeist werden und wir dadurch keine Ausfälle mehr haben“, berichtet der Fuhrparkmanager bei Stadtmobil Karlsruhe, André Putzker. Beliebt sind die Bordcomputer von Invers auch bei den Fuhrparks großer Firmen wie Daimler, der Deutschen Bahn oder Maschinenbauer MTU Friedrichshafen. Bei MTU gelang es dem Fuhrparkmanager, mithilfe des Invers-Systems die Zahl der Pkw um ein Fünftel zu reduzieren, berichtet Kirn. „Früher ordnete man die Fahrzeuge dort den Unternehmen der Zukunft 38 Dienstwagen. Sie sind dazu verpflichtet, die Fahrerlaubnis ihrer Mitarbeiter halbjährlich zu prüfen. „Diese Sichtkontrolle durch den Fuhrparkleiter kann der Fahrer nun selbst erledigen mit unserem Chip“, sagt Kirn, „und zwar an allen Shell-Tankstellen, bei der Dekra und bei Volkswagen.“ Damit schlägt sich LapID gut in einem Markt, auf dem auch andere ähnliche Kontrollsysteme anbieten. In Deutschland haben mehr als 120.000 Fahrer die Aufkleber von LapID auf dem Führerschein. DIE VERNETZUNG DES ALLTAGS Mobil mobil: Die Software von Invers erlaubt den Nutzern, jederzeit ein Carsharing-Auto zu nutzen. einzelnen Abteilungen zu, ohne dass es zum Austausch untereinander kam.“ Nun gebe es bei MTU eine abteilungsunabhängig im Intranet buchbare Flotte mit 100 Autos. Die Schlüssel hängen in Schließkästen, die sich mit einem Funk-Chip öffnen lassen, der auf den Führerschein aufgeklebt wird. Diese Lösung namens „LapID“ ist ein weiteres Wachstumsfeld für Kirn und Latsch. Hauptsächlich dient sie zur Führerscheinkontrolle. Zielgruppe sind Unternehmen mit CarsharingTechnologie ist so etwas wie die KönigsdiSziplin des InternetS der Dinge. Alexander Kirn www.bethmannbank.de „Beim Carsharing ist der Markt noch überschaubar“, sagt Kirn am Ende des Tages auf dem Weg nach Hause. Sein Audi aus dem firmeneigenen Fahrzeugpool steckt gerade mal wieder im Stau auf der A45. Noch immer setzen zu viele Deutsche aufs eigene Auto. Invers hat sich deshalb früh global aufgestellt und bereits neue Geschäftsfelder im Blick: „Unsere Technologie ist ideal geeignet für das sogenannte Internet der Dinge“, nennt Kirn ein mögliches Beispiel mit Blick auf die zunehmende drahtlose Kommunikation zwischen physischen Dingen. Weiter ins Detail möchte er aber noch nicht gehen. „Internet der Dinge“ bedeutet aber zum Beispiel, dass Autos lernen, miteinander zu kommunizieren, um Verkehrsflüsse besser zu regeln. „CarsharingTechnologie ist aus meiner Sicht so etwas wie die Königsdisziplin dieses Internets der Dinge“, glaubt Kirn. Tatsächlich gelten moderne Autos als Vorläufer der zunehmenden Vernetzung aller Geräte. So ist es kein Zufall, dass bei Invers von 50 Mitarbeitern 35 mit dem Bereich Forschung und Entwicklung zu tun haben. „Wir wissen, was wir können. Und wir wissen, wo wir hin wollen“, sagt Alexander Kirn. Dann hat der Stau sich endlich aufgelöst. Jetzt kann er Gas geben. Text: Hilmar Poganatz Character 39 Dezember 2014 Ingenieure, Erfinder, Unternehmer: Alexander Kirn (l.) und Uwe Latsch. ZUKUNFTSMARKT CARSHARING Nutzen statt besitzen: Sixt und BMW sind dabei mit Drive Now, Daimler und Europcar mit Car2go, Citroën versucht es mit Multicity und die Bahn mischt mit Flinkster mit – Carsharing ist längst raus aus der Öko-Nische und zu einem vielversprechenden Geschäft geworden. 1988 ging in Berlin mit StattAuto (heute „Greenwheels“) die erste deutsche Organisation zum Autoteilen an den Start, später folgten weitere Vereine und Anbieter wie Stadtmobil. Der Start verlief zäh: So gab es vor zehn Jahren erst knapp 70.000 registrierte Nutzer. Anfang dieses Jahres meldete der Bundesverband Carsharing dann schon zehn Mal so viele Teilnehmer, jüngst stockte der Verband diese Zahl sogar auf eine Million Nutzer auf, die bei 150 Unternehmen, Vereinen und Autoherstellern angemeldet sind. Der rasante Zuwachs kommt allerdings auch dadurch zustande, dass sich viele Fahrer bei mehreren Anbietern einschreiben. Das Potenzial ist groß: Für den e uropäischen Markt erwarten zum Beispiel die Wirtschaftsberater von Frost & Sullivan bis 2020 rund 15 Millionen Nutzer. Gegenwart 40 Zwischen kommerziell und karitativ Zwischen Kommerziell und karitativ Informieren, inspirieren, aktivieren Der Social Publish Verlag will Einzelk ämpfer vereinen David Diallo wurde durch ein Internet-Start-up zum Millionär. Doch Sinn in seinen Aktivitäten fand er erst durch sein Engagement als sozialer Unternehmer – ein G espräch mit dem Gründer der Noah Foundation und des Social Publish Verlags. David Diallo war noch nicht mal 30, da hieß es „mission completed“, Auftrag erfüllt. Nach dem Verkauf seines Start-ups myphotobook.de war der Deutsch-Malier mehrfacher Millionär. Gegründet hatte er die Firma, die das bequeme Er- und Bestellen von Abzügen und Fotobüchern ermöglichte, 2004 zusammen mit einem Freund am heimischen Küchentisch. Als er sie drei Jahre später an den Holtzbrinck-Verlag verkaufte, hatte sie über 110 Mitarbeiter in 15 Ländern. „Meine Mutter war stolz, ich soweit zufrieden – damit tat sich die Frage auf, was als Nächstes kommen soll“, erinnert sich Diallo und lacht. Diallo, der an der ESCP Europe Business School studiert hatte, merkte schnell, dass ihm wirtschaftlicher Erfolg alleine zu wenig war. „Ich hatte keine Lust, das Klischee vom Start-up-Gründer zu bedienen, und keinen Drang, unbedingt gleich das nächste Projekt anzufangen und gierig wilde Bewertungen um zweitklassige Geschäftsmodelle zu zaubern“, sagt er. „Mein vorrangiges Ziel war es, zur Lösung eines wirklich relevanten Problems beizutragen und in diesem Kontext ein www.bethmannbank.de möglichst sinnvolles Projekt zu identifizieren, das neben den wirtschaftlichen auch maximal gesellschaftlichen Herausforderungen gerecht wird.“ Solarenergie und Kirchenmusik Also gründete er im Jahr 2008 die gemeinnützige Stiftung Noah Foundation mit Sitz in Potsdam. Gänzlich überzeugt hat ihn das Stiftungsprinzip jedoch nicht (siehe Interview) – zu wenig Handlungsspielraum. Character 41 Gemeinsam stark: David Diallo hat eine Stiftung gegründet, um soziale Projekte zu fördern. Doch überzeugend fand er das Modell nicht. Also setzt er auf Netzwerke und will soziale Einzelkämpfer in Kontakt bringen. Dezember 2014 Zukunft Zwischen kommerziell und karitativ 42 Zu viele Dinge sind nicht machbar Vier Fragen an David Diallo David Diallo hat einen differenzierten Blick auf das Sie halten Stiftungen also nicht für sinnvoll? klassische Stiftungsmodell. Er bezweifelt, dass es wirklich Doch, natürlich. Stiftungen sind mit ihrer Arbeit unverzichtbar. Aber effiziente Arbeit erlaubt. wirksam wirtschaften können sie erst ab einer Größe von 20 bis 30 Mio. Euro. In Deutschland haben allerdings 60 Prozent der Stiftun- Warum haben Sie die Noah Foundation gegründet? gen ein Kapital von weniger als 500.000 Euro. Ich bin jemand, der gerne hands-on lernt, anstatt sich etwas nur theoretisch zu erschließen. Im konkreten Fall wollte ich zu diesem Was wäre Ihrer Meinung nach eine effiziente Alternative Zeitpunkt das Modell und den vermeintlichen Hebel einer Stiftung dieser finanziellen Größenordnung? kennen und verstehen lernen. Ich wollte sehen, welches Potenzial die- Direkte Investition in Sozialunternehmen. Diese Unternehmen gene- ses Modell hat und wo die Grenzen liegen. Leider ist aus meiner Sicht rieren zunehmend gesellschaftliche und wirtschaftliche Renditen. Für der Hebel schlecht und viele Dinge sind nicht machbar. interessante Optionen steht der Bonventure Fonts in München zur Verfügung oder der Sozial-Unternehmerwettbewerb vom Wirtschafs- Woran liegt das? magazin „enorm“, das ich 2010 gegründet habe – darüber lassen Die Regulierungen für Stiftungen sind sehr eng. Das ist in vielen Fäl- sich auch kleinere Summen sehr effizient investieren. Interessierte len sicherlich sinnvoll, um Missbrauch zu verhindern. Die starke Re- Personen können sich jederzeit an mich wenden. gulierung sorgt aber auch dafür, dass das Kapital nur sehr ineffizient eingesetzt werden kann. Der Großteil des Vermögens einer Stiftung ist am Kapitalmarkt investiert und hat dort zumindest keine direkte gesellschaftliche Mission. Als Unternehmer finde ich das schwierig. www.bethmannbank.de Character Heute benutzt er die Noah Foundation in erster Linie, um talentierte junge Menschen durch Stipendien zu fördern. „Unser thematischer Schwerpunkt ist die Zukunft der Stadt. 50 Prozent der Weltbevölkerung leben in Städten und die meisten davon unter erschwerten Bedingungen – daraus leitet sich ein gewisser Innovationsdruck rund um Fragen wie Bildung, Energie- und sanitäre Versorgung, Abfallmanagement, Infrastruktur und so weiter ab.“ Stipendiaten werden für ein bis zwei Jahre finanziell unterstützt. Sie profitieren aber auch stark von Diallos gutem Netzwerk in der deutschen Gründer- und Technologieszene. Wie zum Beispiel der junge Mann aus Madagaskar, den Diallo nach Deutschland holte, ihn mit den richtigen Leuten vernetzte und der später nach Madagaskar zurückkehrte und dort eine dezentrale Energieversorgung über sogenannte Solarkioske in umgerüsteten Schiffscontainern aufbaut. Ein anderer Stipendiat studierte in Deutschland Kirchenmusik und kehrte danach in seine afrikanische Heimat zurück, um dort ein Konservatorium zu gründen. Eine Zeitlang startete Diallo auch eigene Projekte in Madagaskar und betrieb Fundraising für vielversprechende Entwicklungsprojekte. Doch nach einer Weile machte sich Ernüchterung breit: „Oft arbeiten gute Initiativen an den gleichen Problemen und wissen nicht voneinander – obwohl sie gerade mal 500 Meter voneinander entfernt arbeiten“, sagt Diallo. „Und nicht selten ist ein großes Ego im Spiel, das dafür sorgt, dass das eigene Projekt wichtiger ist als jede Zusammenarbeit.“ Nicht noch ein StraSSenkinderprojekt Diallo will Gutes tun. Aber sein Blick ist auch stets der eines Geschäftsmanns, der auf Effizienz und Tragfähigkeit achtet. Statt sich in die Riege der vielen Einzelkämpfer einzureihen, versucht er, diese miteinander bekannt zu machen. Sein Werkzeug dabei: Social Publish, ein Verlag, in dem er unter anderem das Wirtschaftsmagazin „enorm“ herausbringt. „Statt Klinken zu putzen und 100.000 Euro für ein Dezember 2014 43 weiteres Straßenkinderprojekt einzusammeln, die nach einem Jahr ausgegeben sind, finde ich es wirksamer, über bereits existierende Engagements zu berichten“, sagt Diallo. „Aufmerksamkeit auf besonders gute Ideen und Ansätze zu lenken sowie Vernetzung untereinander zu ermöglichen. Das ist mir wichtiger, als mich und meine Vision in den Mittelpunkt zu stellen.“ Nach einer Pause fügt der ansonsten so selbstbewusste Unternehmer hinzu: „Ich habe doch selbst nicht alle Antworten.“ Oft arbeiten gute Initiativen an den gleichen Problemen und wissen nicht voneinander – obwohl sie gerade mal 500 Meter voneinander entfernt arbeiten. Seit 2010 gibt Diallo also das Magazin „enorm“ heraus: Die Redaktion des hochwertigen Titels sitzt in Hamburg, grafisch gestaltet wird es in Berlin, unter anderem von Diallos Bruder. „Ich bin ein Mann für die ersten drei bis fünf Jahre einer Idee“, sagt Diallo über sich selbst und seinen Gründergeist. „Ich glaube, gut darin zu sein, ein Kernteam zusammenzustellen und durch das Chaos der Anfangstage zu führen, bis erste Strukturen eingeführt sind und das Projekt ins Laufen gekommen ist. 100 Mitarbeiter Tag für Tag zu führen – das ist aktuell nicht mein Ding.“ Die ersten fünf Jahre für den Social Publish Verlag sind noch nicht ganz um, und Diallo und sein Team haben bereits viel erreicht. Neben dem unabhängigen Magazin „enorm“ produziert der Verlag auch Auftragsarbeiten für die Stiftung Wald oder die Firma Weleda. Als Nächstes ist ein Ausbau der Online-Aktivitäten des Verlags geplant. Sozialer Wandel braucht mediale Begleitung, davon ist Diallo überzeugt. „Ob Bildung, Gesundheit, Mobilität, Umwelt oder Migration – die einzelnen Szenen sind untereinander selten gut vernetzt und wissen meist zu wenig voneinander“, sagt er. „Dabei könnten sie oft vom Austausch profitieren.“ Es soll cool sein, sich für die Gesellschaft einzusetzen Mit dem Social Publish Verlag will er diesen Austausch fördern. Informieren, inspirieren, aktivieren – das ist der Dreischritt, mit dem er aus gelangweilten Konsumenten nach und nach engagierte Aktivisten für die gute Sache machen will. „Ich will es cool und sexy machen, sich für die Gesellschaft einzusetzen“, sagt Diallo. „Ich will mit dem Mythos aufräumen, dass man im Bereich Soziales oder Nachhaltigkeit kein Geld verdienen kann.“ Informieren, inspirieren, aktivieren: Das bedeutet für David Diallo auch, deutlich zu machen, dass es mit Spenden alleine nicht getan ist. „Einmal im Monat 50 Euro zu spenden, löst die Probleme nicht wirklich“, sagt er. „Die meiste Zeit unseres Lebens verbringen wir mit unserer Arbeit. Das größte Potenzial sehe ich daher darin, möglichst unmittelbar durch die tägliche Arbeit aus der richtigen Haltung heraus zu agieren. Einer gegebenenfalls neuen Tätigkeit nachzugehen, die einen mit Sinn erfüllt, mit der man einen positiven Beitrag zum Wandel in unserer Gesellschaft leistet, anstatt lediglich sein Auskommen zu verdienen – das ist ein großer Gewinn für alle Beteiligten.“ Dass einen das glücklich machen kann, hat Diallo am eigenen Leib erfahren. Hat er als frischgebackener 29-jähriger Internetmillionär geahnt, dass sein Weg ihn dahin führen würde, wo er heute ist? „Nicht mal ansatzweise“, sagt Diallo und grinst. „Aber ich bin sehr dankbar dafür, wie es gelaufen ist. “ Text: Christoph Koch Tradition Unternehmen mit Tradition 44 UNTERNEHMEN MIT TRADITION Messerscharf und prosperierend wie vor 142 Jahren: Windmühlenmesser aus Solingen Sie haben Namen wie Buckelklinge und Vogelschnabel, Große Kulle oder Rückenspitz. Bei der Solinger Manufaktur Robert Herder sind Messer mehr als ein Allerweltsprodukt. „Immer noch scharf“, sagt Giselheid Herder. Die zierliche Frau blickt voller Stolz auf ein Ding, das auf den ersten Blick nicht mehr ohne Weiteres als Messer erkennbar ist. Die Klinge ist mehr als 80 Jahre alt und so oft geschliffen worden, dass es in der Form eher an eine gebogene Nadel erinnert. Ein Kunde hat es der Solinger Manufaktur zurückgeschickt, die heute in der fünften Generation Klingen der Marke Windmühlenmesser fertigt, um den Griff erneuern zu lassen. Windmühlenmesser wirft man nicht einfach weg, wenn schon die eigene Großmutter damit Gemüse geschnitten hat. Die Stadt hat allerdings schon bessere Zeiten gesehen. Mehr als 300 Betriebe haben dort in der Spitze einmal Schneidewerkzeuge aller Art hergestellt. Heute sind es noch rund 20 solcher Firmen, und manchen davon geht es nicht gut. Es gibt aber Leuchttürme wie das Familienunternehmen Robert Herder. „Wir sind prosperierend“, freut sich die Geschäftsführerin. Die 53-Jährige sitzt entspannt im messerstarrenden Showroom der 1872 von ihrem Urgroßvater gegründeten Manufaktur. Er ist voller Messer aller Art und Größe mit handschmeichelnden Holzgriffen, alle in der eigenen Manufaktur hergestellt. „Unsere Messer entwickeln eine eigene Geschichte“, sagt die Managerin, die den Betrieb in vierter Generation führt. Sie öffnet eine Schublade und zieht daraus Briefe hervor sowie zugehörige Uraltmesser, die für ihre Besitzer offenbar mehr als nur ein Gebrauchsgegenstand waren. Messer haben Solingen zur „Klingenstadt“ gemacht und ihr ein einzigartiges Image verliehen. Windmühlenmesser als unerwarteter Exporterfolg Exakt 67 Handgriffe sind durchschnittlich nötig, um binnen zwei Stunden eine Klinge der Marke Windmühlenmesser zu fertigen. Geschliffen werden sie im Backsteinbau des Gründungsstandorts an der Solinger Ellerstraße im Prinzip noch wie vor 1 42 www.bethmannbank.de Jahren. Auf jeder Klinge prangt die einer holländischen Windmühle nachempfundene Bildmarke. 1899 sei ihr Großvater Paul Herder nach Belgien und in die Niederlande gereist, um Exportchancen auszuloten und ein dafür geeignetes Warenzeichen zu finden, erklärt die zierliche Chefin. Weil Mühlen damals oft auch die großen Schleifsteine zum Schärfen von Messern angetrieben haben, lag der Name Windmühlenmesser nahe. Das Exportgeschäft ist dann so erfolgreich gewesen, dass die Zweitmarke 1905 das vierblättrige Kleeblatt als deutsches Markenzeichen abgelöst hat. Heute treibt elektrischer Strom die Schleifscheiben an, aber sonst hat sich in der Herstellung seit den Gründerzeiten wenig verändert. Davon kann sich jeder überzeugen, der sich ins Herz des Betriebs wagt, in die Messerschleiferei. Character 45 Unsere Messer entwickeln eine eigene Geschichte. Giselheid Herder, Geschäftsführerin der Manufaktur Robert Herder Messerscharfe Geschichte: Klassische Windmühlenmesser aus den Jahren 1920 bis 2005. Dezember 2014 Tradition 46 www.bethmannbank.de Unternehmen mit Tradition Character 47 Im Jahr 2000 haben wir eine Existenzkrise gehabt. Giselheid Herder, Geschäftsführerin der Manufaktur Robert Herder Runde Sache: Giselheid Herder vor einer Wand mit sogenannten Kontaktscheiben. Sie werden zum Schleifen benutzt – nicht der Messerklingen, sondern der Griffe aus Holz. Dezember 2014 Tradition 48 Laut geht es dort zu und Wasser spritzt, wenn ein Handwerker dem Karbonstahl mithilfe einer rund 90 Jahre alten, um einen Schleifstein herum konstruierten Apparatur den berühmten Solinger Dünnschliff verleiht. Diesen speziellen Schliff beherrscht keine Maschine. Er macht Messer vor allem in Verbindung mit Karbonstahl extrem und besonders lange anhaltend scharf. Im Gegensatz zu Edelstahl, den es seit 1923 gibt, rostet Karbonstahl aber, indem er dunkel wird. Das verträgt sich nicht mit dem Empfinden manches modernen Zeitgenossen, der immer glänzende Massenware gewohnt ist. Deshalb gibt es bei Herder auch Messer aus Edelstahl. Kenner schätzen jedoch die Karbonvarianten. Herder hat Krisen getrotzt Herders Gesicht und Stimme spiegeln unverkennbar Stolz auf ihre Familiengeschichte wider. Dabei ist es noch nicht so lange her, dass auch die Windmühlenmesser um ihren Fortbestand fürchten mussten. „Im Jahr 2000 haben wir eine Existenzkrise gehabt“, erinnert sich die engagierte Frau und ihr Blick verdüstert sich. Gute Messer habe man zwar immer gemacht, aber damals schlechtes Marketing gepaart mit Vertriebsproblemen gehabt. Zudem wurden zeitgleich wichtige Fachkräfte rar. 1969 hatte die Messerstadt Solingen beschlossen, keine Fachberufe wie Messerschleifer mehr auszubilden. Nach und nach sind alte Handwerkermeister gestorben oder in Rente gegangen und um die Jahrtausendwende herum bekam das auch Herder zu spüren. „Wir hatten keinen Nachwuchs mehr“, sagt die Managerin. Sie räumt selbstkritisch ein, auch persönlich Fehler gemacht zu haben. Die Frau, die mit Fachbegriffen aus der Messerbranche um sich werfen kann, war nicht immer vom Fach. Eigentlich wollte sie Hotelmanagerin werden, erzählt Herder. Auf väterliches Drängen wurde sie Devisenhändlerin bei einer Bank. Nach einem Einstieg in den elterlichen Betrieb sah es lange nicht aus. Aber auch von den Geschwistern wollte sich niemand in die Pflicht Traditionelle Produktion: Die Rohklingen, in diesem Fall die Klingen von späteren Gemüsemessern. (oben) Natürlich darf auch das Feinschleifen der Klingen nicht fehlen, das sogenannte „Blaupließten“. (unten) Unternehmen mit Tradition Character 49 Traditioneller Standort: Die Windmühlenmesser entstehen auch heute noch im Gründungsgebäude von 1872. (oben) Beim sogenannten „Ausmachen“ werden die Materialien und Oberflächen angeglichen. (rechts) Dezember 2014 Tradition 50 Lehrstücke und Inspiration: Die Regale beherbergen Messer aus den Jahren von 1820 bis 1970. Unternehmen mit Tradition Character nehmen lassen, bis schließlich 1985 Herders Ehemann in die Bresche sprang. Als der nur drei Jahre später überraschend starb, musste die Finanz-Fachfrau unverhofft doch noch umschulen. Sie stand fortan ihrem Vater im Familienbetrieb zur Seite, bis auch der 1993 starb. Mehr als nur Gemüsemesser Seitdem führt Giselheid Herder die Manufaktur zusammen mit Vetter Frank Daniel Herder, der die fünfte Familiengeneration repräsentiert. Das Duo hat Windmühlenmesser über alle Schicksalsschläge und die Existenzkrise hinweggebracht und internationaler gemacht. Vor allem Japan kam als neuer Markt dazu. Die Produktpalette wurde ausgeweitet. „Wir waren ein Gemüsemesserhersteller“, erinnert sich die heutige Chefin an die Zeit um die Jahrtausendwende. Heute gibt es runde Frühstücksmesser und gebogene Pilzmes- Dezember 2014 51 ser, lange Brotmesser und edle Bestecke. Das Preisspektrum rangiert von 10 Euro für klassische Gemüsemesser bis 280 Euro für große Schinkenmesser. Schönes“, sagt Herder. Zierde sei aber keines der Messer. Alle seien für den Gebrauch gedacht und jedes einzelne werde vor der Auslieferung kontrolliert. Der Nachwuchs wird mittlerweile im eigenen Haus ausgebildet. Das sichert zusätzlich das Überleben der Manufaktur. Nach vier Wachstumsjahren in Folge mit je zweistelligen Zuwachsraten standen für den Betrieb mit seinen 74 Beschäftigten zuletzt 5,2 Mio. Euro Umsatz zu Buche. Zeitweise konnte sogar die übergroße Nachfrage nicht mehr befriedigt werden. Das soll auch in Zukunft so bleiben, sagt die heutige Chefin. Wer einmal nach ihr übernimmt, sei noch offen. Es gebe mehrere Kandidaten in der Familie. „Alle kochen gerne und sind messerbegeistert“, sagt sie und lacht. Es gebe zwar in jüngster Zeit vermehrt Kaufanfragen vor allem von Finanzinvestoren. Aber die Herders seien sich einig: Die Marke Windmühlenmesser bleibt in Familienhand. Auch Messer müssen schön sein Text: Thomas Magenheim-Hörmann Wer die bläulich schimmernden Klingen mit ihren Griffen aus Oliven-, Birnen- oder Kirschholz betrachtet, kann auch einen ästhetischen Anspruch nicht verleugnen. „Wir haben Kunden, die legen Wert auf Nachhaltige Messer In der Produktion fühlt sich Herder der Nachhaltigkeit verpflichtet. Rohstoffabfall wie Stahl- und Holzreste wird recycelt. Die Schleiferei arbeitet mit nitritfreien Schleifkühlmitteln und einem geschlossenen Wasserkreislauf, der Stahlspänchen wie den Abrieb der Schleifsteine herausfiltert. Die Holzgriffe der Messer werden weder mit Lack behandelt noch gebeizt, sondern mit natürlichen Ölen offenporig versiegelt. Windmühlenmesser dürfen als handwerkliche Produkte mit Holzgriff nicht wie Massenware behandelt werden. Sie gehören zum Beispiel nicht in die Spülmaschine und sollten mit warmem Wasser von Hand gesäubert werden. Die Varianten aus Karbonstahl sind am schärfsten, aber sie rosten auch, indem die Klinge dunkel wird. Scheuermilch oder ein Rostradierer hellen die Klinge wieder auf. Karbonstahl reagiert auch mit Obst- und Milchsäure. Das Schnittgut kann einen metallischen Geschmack annehmen. Schneidet man Äpfel, Tomaten oder Käse, ist eine Klinge aus Edelstahl die bessere Wahl. Alles, was später gekocht wird, kann man bedenkenlos mit Karbonstahlklingen schnippeln, weil die Geschmacksirritation durch das Kochen verloren geht. Insgesamt verlassen jedes Jahr rund 1,2 Millionen Windmühlenmesser in rund 600 verschiedenen Varianten die Solinger Manufaktur. Sie werden je zur Hälfte im In- und Ausland verkauft und zwar an Normalverbraucher wie Profiköche. Gegenwart 52 Perspektivenwechsel PERSPEKTIVENWECHSEL Verbraucherschutz – Echter Schutz Der Verbraucherschutz hat eine wichtige Aufgabe: Er soll die Verbraucher vor Gefahren schützen und ihnen bei Konflikten mit Unternehmen zur Seite stehen. Doch geht der Verbraucherschutz heute zu weit? Und vielmehr noch: Gibt der Verbraucher damit allzu gerne die Verantwortung für seine eigenen Handlungen ab? Verbraucherschutz ist ein Qualitätsmotor Verbraucherschützer gelten in den Augen mancher Unternehmen als Nörgler vom Dienst. Dabei übersehen sie, dass Kritik kein Selbstzweck ist, sondern ein Beitrag, Kundenwünsche zu erkennen, schwarze Schafe unter den Anbietern zu identifizieren und für Augenhöhe zwischen sehr unterschiedlichen Marktbeteiligten zu sorgen. Ein transparenter und fairer Wettbewerb kommt leider allzu oft nicht von alleine zustande. Er braucht Regeln und Akteure, die auf ihre Einhaltung achten. Klaus Müller, 43 Vorstand des Verbraucherzentrale Bundesverbands (vbzv) Immer wieder wird die Frage gestellt, ob der mündige Verbraucher nicht seine Verantwortung abgeben würde, wenn es starke Verbraucherschützer gibt. Natürlich gibt es einzelne Verbraucher, die sich als „Homo Oeconomicus“ vor jedem Kauf, vor jedem Vertragsabschluss umfassend informieren und rein rationale Kaufentscheidungen treffen. Die Regel ist, dass viele Verbraucher dafür keine Zeit haben, vor der Informationsflut kapitulieren, von gut gemachter Werbung vor allem emotional angesprochen werden oder Geschäftsbedingungen ohne Alternativen akzeptieren müssen, wenn sie sie überhaupt gelesen haben. Die Verbraucherzentralen erleben tagtäglich den Frust und Ärger, den Verbraucher mit Produkten und Anbietern erleben. Wer schon mal seinen Telefonanbieter gewechselt hat und wochenlang auf das Freizeichen www.bethmannbank.de warten musste, wer als Eltern von Kindern mit Allergien vor Supermarktregalen ohne verständliche Hinweise gestanden hat oder wer Finanzprodukte verkauft bekommen hat, die durch ihre Provision mehr dem Verkäufer als dem Käufer genutzt haben, der wird den Nutzen des Verbraucher schutzes nicht bezweifeln. Informationsflut und Informationsmangel sind häufig zwei Seiten einer Medaille – beides hilft den Verbrauchern nicht bei einer selbstbewussten und informierten Entscheidung. Eine gute Verbraucherinformation, zielgruppengerechte Verbraucherbildungsangebote und notfalls auch eine Musterklage vor Gericht sind das Gebot der Stunde. Die Masse an Entscheidungen, mit denen Verbraucher konfrontiert sind, sind die Kehrseite unserer Wahlfreiheit und Produktvielfalt. Niemand will sie missen, aber viele Menschen wünschen sich einen einfacheren Konsumalltag, in dem sie nicht jedes Kleingedruckte selber überprüfen müssen. Verbraucherschützer stärken mit ihrem Engagement nicht nur Verbraucher, sondern auch die Wirtschaft. Mit dem Start der Marktwächter für den Finanzmarkt und den digitalen Markt können wir Missstände in den Märkten schneller erkennen und besser informieren. Das schafft Vertrauen und stärkt damit auch die weißen Schafe auf der Anbieterseite. Qualifizierter Verbraucherschutz ist in unser aller Interesse. Character Dezember 2014 53 oder Entmündigung? Politisches Diktat statt Eigenverantwortung Wir leben in einer Welt, in der freie Märkte eine große Bedeutung haben. Regulierungen werden deshalb mit großer Skepsis betrachtet. Zwar nutzt grenzenlose Freiheit meist nur den Stärksten, doch im Gegenzug wirkt ein Übermaß an Verboten und Vorgaben nur bremsend auf einen sinnvollen und notwendigen Fortschritt. So ist es auch in der Verbraucherpolitik. Unstrittig ist, dass Verbraucher vor gesundheitlichen und finanziellen Gefahren geschützt werden müssen. Staatliche Geund Verbote sind deshalb dort richtig, wo es um die Abwehr solcher Gefahren geht. Die Verbraucherpolitik auf nationaler und europäischer Ebene zielt jedoch zunehmend auf eine Steuerung des Konsums nach politisch gesetzten ethischen und ökologischen Kriterien. Ein angeblich vorhandenes, aber nicht befriedigtes Informationsbedürfnis des Verbrauchers muss häufig als Legitimation für gesetzliche Regulierung herhalten. Dieter Schweer, 61 Mitglied der Hauptgeschäfts führung des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI) Es sei aber die Frage erlaubt: Wer trifft dort eigentlich die Entscheidungen? Nach welchen „demokratischen“ Regeln und Prinzipien? „Wo Verbraucher sich nicht selbst schützen können oder überfordert sind, muss der Staat Schutz und Vorsorge bieten“, heißt es im Koalitionsvertrag der Bundesregierung. Doch wer definiert Schutzbedürfnis und Überforderung? Wer definiert und quantifiziert den Umfang der vermeintlich Betroffenen? Weder der Staat noch eine andere Stelle verfügen über die Legitimation, Entscheidungen von Konsumenten als falsch zu bezeichnen. Nur jeder Einzelne selbst kann doch letztendlich beurteilen, was ihm bestimmte Produkte und deren Qualitäts- und Risikomerkmale wert sind. Und er muss und sollte das Recht haben, sich gegen besseres Wissen auch unvernünftig zu verhalten. Ich meine, wir sollten schon davon ausgehen, dass „der Verbraucher“ seine Sinne benutzt: Augen, Nase, Mund – und vor allem seinen gesunden Menschenverstand. Eine Steuerung des Konsumverhaltens durch „wohlgemeintes” gesetzliches oder politisches Diktat entlässt den Verbraucher scheinbar aus seiner Eigenverantwortung, die er aber in der sozialen Marktwirtschaft selbst wahrnehmen muss – und offenbar auch will. Denn ohne dieses Wollen wäre auf der Anbieterseite auch gar kein Wettbewerb um beste Produkte und Leistungen denkbar und möglich. Die Idee, ein fürsorglicher Staat könne umfassenden Schutz vor jeglichen Risiken bieten, ist eine Illusion. Verantwortungsbewusste Verbraucherpolitik muss aus meiner Sicht bei der Vermittlung von Kompetenzen und ökonomischer Bildung ansetzen. Bildung und Wissen – dies sind die Grundpfeiler für selbstbestimmtes, verantwortungsbewusstes und nachhaltiges Konsumentenverhalten. Protokoll: Frank Paschen Gegenwart 54 Hello / Goodbye HELLO / GOODBYE Selbstgemachtes Möbel kontra Massenmail Mit traditionellen Handwerkskünsten gleichen Kopfarbeiter den Mangel an Bodenständigkeit im Job aus. Als Ergebnis lockt ein selbst gefertigtes Unikat – sei es ein selbst gezimmerter Hocker oder ein zerlegtes Huhn. Quasi das Gegenteil des Selbstgemachten sind Massenmails. Unpersönliche Weihnachtsgrüße zum Beispiel braucht heute niemand mehr. Bei unsachgemäßem Gebrauch sind sie sogar indiskret. Schmieden im Selbstversuch: Das urszentrum Ballenberg in der Schweiz K vermittelt alte Handwerkskünste – vom Umgang mit dem Hammer bis zur Herstellung des eigenen Parfüms. www.bethmannbank.de Character 55 Dezember 2014 hello Alte Handwerkskunst Drechseln, schmieden, schreinern, weben: Alte und teils fast vergessene Künste erleben derzeit ein Hoch. „Es ist die Sehnsucht nach Bodenständigem“, weiß Adrian Knüsel, Leiter des Kurszentrums Ballenberg in der Schweiz. Die Schweizer Schule wurde in den 1940er-Jahren als „Heimatwerkschule“ gegründet, damit die Schweizer Landbevölkerung Fertigkeiten erlernen und so ihren mageren Lebensunterhalt ergänzen konnte. Heute belegen „Kopfarbeiter“ aus der Schweiz, aber auch aus Deutschland im Museumsdorf Ballenberg am Fuße des Berner Oberlands mehrtägige Kurse, um etwa das „Schlachten eines Kleintiers“ zu erlernen oder in acht Tagen rahmengenähte Schuhe herzustellen. Das Kurszentrum gehört zum Freilichtmuseum Ballenberg, das auf seinem Gelände mehr als 100 alte Gebäude vereint, die man besichtigen kann. Aufgabe des Kurszentrums ist es, alte Handwerkskünste vor dem Vergessen zu bewahren. Beim Schlachtkurs habe es allerdings einen Aufschrei gegeben. „Die Leute haben uns gefragt: Wie könnt ihr so etwas machen? Ihr verführt zum Töten von Tieren“, erinnert sich Knüsel. Je mehr jedoch über diesen Kurs debattiert wurde, desto populärer wurde er. Es gebe viele Menschen, die sagen: Ich esse so viel Fleisch, weiß aber gar nicht, wo es herkommt. Knüsel: „Ich bin überzeugt, wer diesen Kurs absolviert hat und sieht, was dahintersteckt, isst danach weniger Fleisch.“ Die Kurse dauern von einem bis zu acht Tagen. 2014 betrage der Zuwachs der Buchungen gegenüber dem Vorjahr erstmals 10 Prozent. Die Jahre davor sei das Angebot vor sich hin „gedümpelt“. Mittlerweile finden 150 von insgesamt 220 angebotenen Kursen statt, die Gruppen sind mit im Durchschnitt acht Teilnehmern klein. Knüsel, selbst gelernter Keramiker und seit 17 Jahren Leiter des Kurszentrums, erklärt sich den plötzlichen Zulauf mit der zunehmenden Virtualisierung und Arbeitsteilung in der Arbeitswelt. „Viele sitzen im Büro und sind nur ein Rädchen im Getriebe. Bei uns machen die Menschen vom Plan, über das Muster bis zum fertigen Objekt alles. Offenbar liegen wir damit im Moment genau im Trend.“ So können Teilnehmer einen Hocker selbst zimmern, Ledergürtel herstellen, Strohhüte flechten, ihr eigenes Parfüm herstellen, Schwemmholzskulpturen bearbeiten und ihre Werke anschließend mit nach Hause nehmen. Das Kurszentrum profitiert von Trends wie Urban Gardening und dem Revival der Schrebergärten. Knüsel: „Schrebergärten waren für mich stets der Inbegriff an Spießigkeit, heute erlebe ich junge Leute, die im Schrebergarten eigenes Gemüse und Obst anpflanzen.“ Seit diesem Jahr bietet er zudem auch Generationenkurse an, in denen Eltern oder Großeltern mit Kindern ab etwa zehn Jahren schmieden, buchbinden oder polstern können. Ende 2013 wagte sich Knüsel per Selbstversuch an die Kunst des Schuhmachens, er hatte zuvor nie genäht. „Während des Kurses hatte ich eine schlaflose Nacht und Angst, dass ich die Schuhe verhunze.“ Vielen Teilnehmern kämen während der Seminare unerfreuliche Erinnerungen an den Handarbeitsunterricht in der Schule hoch. Typische Demütigungen der heutigen Großelterngeneration seien Schläge auf die Finger gewesen, wenn sie die Nadeln nicht richtig hielten. Andere bekamen ihre schlechte Note für eine selbst genähte Tasche vor der gesamten Klasse vorgelesen. Knüsel: „Ich sage das auch immer zu den Dozenten: Denkt daran, was die Leute für Erfahrungen aus der Schule mitbringen.“ Am Ende schaffte es Knüsel übrigens doch, seine e igenen rahmengenähten Schuhe zu fabrizieren, ganz langsam, Stich für Stich. Die fertigen Tangoschuhe trug er dann im Sommer 2014 – auf seiner eigenen Hochzeit. Gegenwart 56 Digitales Blabla: Die undurchsichtige Zeichenfolge zeigt den Artikel der gegenüberliegenden Seite im Ascii-Code, einer digitalen Zeichencodierung – in dieser Form genauso aussagekräftig wie die Massenmails, die darauf beruhen. Hello / Goodbye 57 Character Dezember 2014 GOOD BYE Massenmail Es fällt kaum auf. Vermutlich weil es keiner vermisst. Die Massenmail verschwindet langsam aber sicher dahin, wohin sie gehört: Ins Kommunikations-Nirwana. Vor etwa 15 Jahren erlebte sie ihr Hoch. Damals beglückten sich Bürokollegen gegenseitig täglich, stündlich, jedenfalls mehrfach pro Tag, mit E-Mails, die vermeintlich witzige Witze enthielten oder Links zu Artikeln auf Spiegel Online à la „Drogenfund: Kokain im Auto des Kardinals“. Privat bekam man damals von rucksackreisenden Freunden Rundbriefe aus Madagaskar, Indien oder Thailand, die eigentlich nur eines demonstrieren sollten: Lest, wo ich bin und was ich für ein toller Hecht bin. „Selbstbeweihräucherung“ fasst Kommunikationsexpertin Elisabeth Bonneau zusammen. Die Freiburgerin hält Massenmails sowohl privat als auch geschäftlich für selten geglückt. Einmal bekam sie Weihnachtsgrüße von einem Frisör, leider war diesem die Funktion BCC (aus dem englischen „blind carbon copy“ = Blindkopie), die sämtliche E-Mail-Adressen für die Empfänger verbirgt, nicht bekannt. Somit waren für sämtliche Frisörkunden und -kundinnen alle Adressen sichtbar. „Da habe ich dann aufs Antwortknöpfchen geklickt und mich bedankt mit den Worten: Schön, dass ich Ihre komplette Kundendatei jetzt habe und schön, dass 100 andere wissen, dass ich bei Ihnen meine Haare schneiden lasse.“ Ein anderes Mal bekam sie eine Standardmail als Weihnachtsgruß von einem Kunden, dem sie alljährlich eine handschriftlich verfasste Postkarte schickte, die sie eigens für jenes Jahr hat drucken lassen. Natürlich sei sie bei ihren Kunden großzügiger, erklärt Bonneau, aber auch da gebe es Grenzen. „Wenn ich drei Jahre hintereinander auf eine Postkarte mit individueller Ansprache samt ein bis zwei kleinen Details aus dem vergangenen Geschäftsjahr nur eine Mail als Antwort erhalte, die offenbar an einen großen Verteiler geht, dann bekommt dieser Kunde im Folgejahr eben auch nur eine Mail.“ Wenig Probleme habe sie dagegen damit, wenn ein Freund ihr und 15 anderen eine Massenmail an „Liebe alle“ schreibe, dass er wohlbehalten von einem mehrwöchigen Segeltörn zurück sei. Es wäre ein unnötiger Aufwand, jeden einzeln anzuschreiben, es gehe um eine schnelle Information mit dem Inhalt: Hallo, ich bin gesund zu Hause angekommen. Die Nachricht ist einfach, direkt und vor allem ehrlich. Ehrlichkeit ist der 64-Jährigen insofern wichtig, als sie sich auch an einem Zuviel an persönlicher Ansprache stört. Typisches Beispiel: Die Geburtstags-SMS vom Mobilfunkanbieter mit „Liebe Frau Bonneau, wir gratulieren Ihnen herzlich zu Ihrem Geburtstag“. „Da wird eine Nähe suggeriert, die nicht existiert. Dabei weiß ich genau, dass diese Nachricht wortgleich an Millionen andere Kunden geht“, erklärt sie. Ähnlich verhält es sich, wenn jemand in einer Boutique oder in einem Supermarkt mit Kreditkarte bezahlt und die Verkäuferin nach dem Bezahlen sagt: „Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag, Frau Bonneau.“ „Da wird mir als Kunde etwas vorgegaukelt, dabei ist der Zweck so durchschaubar. Dieses Verhalten wirkt auf mich unnatürlich. Allerdings glaube ich auch, dass viele Kunden sich gebauchpinselt fühlen“, meint die Kommunikationstrainerin. Vor nicht allzu langer Zeit passierte es wieder, dass sie eine Massenmail mit sichtbaren E-Mail-Adressen bekam. Diesmal vom Inhaber eines Restaurants, in dem Bonneau öfter essen geht. Der Inhaber bemerkte seinen Fauxpas schnell, entschuldigte sich und bat die Empfänger in einer neuen Nachricht, die alte zu löschen und die E-Mail-Adressen nicht zu verwenden. Als Entschädigung sendete er jedem einen Gutschein über eine Dessertvariation – eine misslungene Mailaktion mit einem süßen Ende. Texte: Geraldine Friedrich Zukunft Einplanen 58 EINPLANEN Durch das Jahr mit Ali Güngörmüs Ali Güngörmüs pendelt zwischen Alster und Alpen. Der Sternekoch, der Restaurants in Hamburg und München führt, fühlt sich beim Alstereisvergnügen in der Hansestadt genauso wohl wie beim Nürnberger Christkindlesmarkt oder dem Hahnenkamm-Rennen in Kitzbühel. Neben seinen empfohlenen Aktivitäten zum Ende des alten sowie zum Beginn des neuen Jahres kennt auch die Character-Redaktion einige Termine, die fest eingeplant werden sollten. An kalten Januarwochenenden Alstereisvergnügen 28.11. – 24.12.2014 Nürnberger Christkindlesmarkt Spazierengehen auf der zugefrorenen Hamburger Außenalster: Das Alstereis vergnügen ist ein Volksfest in Hamburg, das auf dem zugefrorenen Alstersee stattfindet – vorausgesetzt, das Eis hat eine dafür ausreichende Dicke erreicht. Auf der 164 Hektar großen Fläche der Außenalster werden dabei etwa 150 Buden und Stände aufgebaut. Der Nürnberger Christkindlesmarkt findet jedes Jahr in der Altstadt der zweitgrößten Stadt Bayerns statt. Er zählt mit rund 2 Mio. Besuchern zu den größten Weihnachtsmärkten in Deutschland und den bekanntesten in der Welt. Die Ursprünge sind nicht mehr festgehalten, der älteste Nachweis stammt aber aus dem Jahr 1628. DEZEMBER 2015 JANUAR 20.01. – 25.01.2015 5. Hahnenkamm-Rennen Kitzbühel Ab Mittwoch, 10.12.2014 Der Hobbit – Die Schlacht der Fünf Heere Das alpine Rennen wird seit 1931 am sogenannten H ahnenkamm in Kitzbühel ausgetragen. Dabei treten die Sportler in den Disziplinen Abfahrt, Super-G, Slalom und neuerdings Super-Kombination an. Die Hobbit-Trilogie von Regisseur Peter Jackson erzählt die Vorge schichte der beliebten FantasySaga "Der Herr der Ringe." „Die Schlacht der Fünf Heere“ schließt die Trilogie ab und dürfte – wie auch die vorherigen Teile – ein immenser Erfolg an den Kino kassen werden. Foto: Hahnenkamm-Rennen 2014 59 Character Dezember 2014 27.03. – 06.04.2015 Osterfestspiele Baden-Baden Bernau im Schwarzwald ist seit mehr als 30 Jahren Austragungsort internationaler Schlittenhunderennen mit internationaler Beteiligung und zählt damit zu den Pionieren dieser Sportart. Die Berliner Philharmoniker feiern bereits zum dritten Male Osterfestspiele im Festspielhaus Baden-Baden. 2015 steht die Neuinszenierung der Oper „Der Rosenkavalier“ von Richard Strauss im Mittelpunkt. FEBRUAR Foto: manolo press / Rüdiger Beermann Foto: Schwarzwald Tourismus / TI Bernau 20.02. – 22.02.2015 Internationales Schlittenhunderennen Bernau MÄRZ APRIL 22.03.2014 Welt Wasser Tag Der Weltwassertag findet seit 1993 jedes Jahr am 22. März statt. Seit 2003 wird er von UN-Water organisiert. Jedes Jahr übernimmt eine der vielen U N-Agenturen, die mit dem Thema Wasser befasst sind, die Leitung bei der Förderung und Koordinierung internationaler Aktionen für den Weltwassertag. Gegenwart 60 Im Dialog KINGS OF COOL DOPPELGESPRÄCH Der Modeunternehmer Alexander Brenninkmeijer und der Schauspieler C lemens Schick über Risikobereitschaft und konsequentes Handeln, Glaube und Demut, Mode und Filme, Familie und Männlichkeit und die kleinen Glücksmomente des Alltags. www.bethmannbank.de Character 61 Dezember 2014 Gegenwart 62 Im Dialog Es geht um ein Experiment. Zwei prominente Persönlichkeiten, die sich bereits kennen oder sich im Gegenteil schon immer einmal kennenlernen wollten, sprechen über alles, was sie bewegt. Der Fotograf b egleitet sie mit der Kamera, die Moderatorin zeichnet die Dialoge auf. www.bethmannbank.de Character 63 Dezember 2014 Gegenwart Der Ort des Treffens ist ideal für die Premiere der „Im Dialog"-Gespräche: das Perlon-Labor. 1938 wurde hier, in einer ehemaligen Bauhaus-Fabrik in der Rummelsburger Bucht in Berlin-Lichtenberg, jene revolutionäre Kunstfaser erfunden, die Jagdfliegern des zweiten Weltkriegs das Leben rettete und später unzähligen Frauenbeinen schmeichelte. Seit rund zwei Jahren wird das Areal zum Künstlercampus umgebaut. Im dritten Stock liegt das hallengroße Studio Up! mit hellen Holzeinbauten und Grünpflanzen – perfekt für das Shooting. Brenninkmeijer und Schick fahren in einem weißen Carsharing-Wagen von „DriveNow“ vor. Die ganze Fahrt über haben sie sich bereits nonstop unterhalten. Jetzt tut ein Espresso gut, dazu viel Wasser, ein Joghurt, und schon werfen sie sich wieder nachdenklichvergnügte Themen- und Gedankenbälle zu. Alexander Brenninkmeijer: Clemens, jetzt kenne ich dich seit zwei Stunden und fühle mich schon ziemlich vertraut mit dir! Clemens Schick: Woran liegt das? Alexander Brenninkmeijer: Unter den deutschen Schauspielern hast du für mich eine unverwechselbare Präsenz. Du bist ein attraktiver Charakterdarsteller, aber vor allem hast du etwas zu erzählen und du bist authentisch. Beeindruckt hat mich zum Beispiel deine Aktion an Weihnachten 2012, als du nach Afghanistan gefahren bist, um deutsche Soldaten zu besuchen und für sie Theater zu spielen. Das machte Sinn für mich. Was du tust, ist gestochen scharf. Clemens Schick: Nach zwei Stunden Kennen glaube ich sagen zu können, dass das, was uns verbindet, Risikobereitschaft ist. Alexander Brenninkmeijer: Ja. Clemens Schick: Als ich vor Jahren über den Streit mit deiner Familie wegen deines Markennamens las, dachte ich: Da kommt jemand aus einer Unternehmerfamilie, beginnt im Konzern zu arbeiten, will neue Ideen einbringen, die werden abgelehnt, und er ent- 64 scheidet sich zu gehen. Du hast dich also dem Widerstand gestellt, der dir entgegengebracht wurde. Das hat mich interessiert. Alexander Brenninkmeijer: Was ist dein familiärer Hintergrund? Clemens Schick: Ich stamme aus einer Juristenfamilie. Ohne eine Parallele ziehen zu wollen: Ich weiß, was es heißt, eigene Vorstellungen zu haben und sie gegen Ablehnung durchzusetzen. Risikobereitschaft zu behalten, ist für mich wesentlich, um mich lebendig zu fühlen. Lieber bekomme ich eins drauf, als kein Risiko mehr einzugehen. Sicherheitsdenken macht einen am Ende unvital. Wie ist das bei dir? Die meisten Männer, die ich kenne, haben tatsächlich ein zwiespältiges Verhältnis zu Mode … Alexander Brenninkmeijer Alexander Brenninkmeijer: Ich bin in einer sehr großen Familie geboren und aufgewachsen, was viele positive Aspekte hat. Aber was mich manchmal an dieser Familiendynamik – und nicht nur dort – stört, ist, wenn alle aufspringen und in dieselbe Richtung laufen. Da bin ich eher jemand, der infrage stellt. Der innehält und erst mal überlegt. Und oft zu einem anderen Schluss kommt. Die Herausforderung anzunehmen und gegen die allgemeine Meinung zu handeln, ist meine Art von Risikobereitschaft. Aber das Risiko an sich suche ich nicht. Ich mache etwas trotz des Risikos. Clemens Schick: Wie ist das bei dir mit Zuneigung? Wenn du sie jemandem schenkst, dann auf Dauer? www.bethmannbank.de Im Dialog Alexander Brenninkmeijer: Ja, eher so. Wenn ich, wie gerade, mit einer neuen Kollektion von Clemens en August auf Tournee bin, lade ich vor allem Leute ein, die sich für die Marke interessieren oder sie bereits kennen und schätzen. Lieber verzichte ich auf bestimmte Medien oder Gäste, wenn ich finde, sie passen nicht ganz. Ich muss nicht durch jede neue Tür, die sich öffnet, auch hindurchgehen. Aber glaube nicht, es gäbe keine Veränderung bei mir! Clemens Schick: Du arbeitest an einem Projekt und ich arbeite an einem Projekt. Dein Projekt heißt Clemens en August, meines Clemens Schick. Die Plattform unserer Produkte ist die Öffentlichkeit. Ich muss mir bei jedem Bühnenstück, jedem Film bewusst sein, dass sie eine Konsequenz haben. Und du bei jedem Kleidungsstück, jedem Schnitt. Der kleinste Schritt, den wir machen, hat eine Konsequenz. Aber was steht dahinter? Unsere Lust zu tun, was wir tun! Alexander Brenninkmeijer: Wird es so leichter mit der Konsequenz? Clemens Schick: Finde ich schon. Nachdem ich aufgehört hatte, Theater zu spielen, und nur noch Filme machte, merkte ich eines Tages, dass ich zu kommerziell wurde. Das habe ich dann in eine andere Richtung zu lenken versucht, und jetzt, nach ungefähr drei Jahren, sehe ich mich dort, wo ich sein möchte. Bist du nicht auch jemand, für den Konsequenz wichtig ist, in der Form, dass man seinen Überzeugungen und Werten folgt? Alexander Brenninkmeijer: Hm, es würde mich sicher stören, wenn mir jemand vorwerfen würde, nicht in sich schlüssig zu handeln, falls du das mit Inkonsequenz meinst. Aber mich selbst als eine durch und durch konsequente Persönlichkeit zu bezeichnen, finde ich anmaßend. Clemens Schick: Die gibt es wahrscheinlich auch nicht. Man kann sich nur annähern. Konsequenz hat viel mit Neinsagen zu tun. Character Dezember 2014 65 Name: Alexander Brenninkmeijer Beruf: Modeunternehmer Stationen: Geboren 1968 in Hannover als Sohn eines der drei deutschen Twist entstehen in einem kleinen Team; zwei Mal im Jahr präsentiert Chefs des Textilunternehmens C & A, machte er in Amsterdam Abitur und und verkauft er sie in europäischen Metropolen an exklusiven Orten wie begann im Familienkonzern zu arbeiten. 1996 kündigte er, trampte ein Museen und Galerien. Jahr durch Asien und gründete nach einem sechsjährigen geschäftlichen Privates: Lebt mit Frau und Sohn in München, wo sich auch der Sitz des Intermezzo mit Kostas Murkudis 2004 die Marke Clemens en August. Unternehmens befindet. Seine minimalistisch-eleganten Kollektionen mit einem sportlichen Gegenwart Im Dialog 66 Name: Clemens Schick Beruf: Schauspieler Stationen: Geboren 1972, studierte er an der Berliner Schauspielschule Drehorten. Aktuelle Produktionen: „Praia do Futuro“ und „Point Break“. und war neben zahlreichen anderen Engagements von 2002 bis 2006 am Privates: Sein Outing vor kurzer Zeit ging durch die Medien. Schick hat Schauspielhaus Hannover verpflichtet. Mit einer Rolle in der James Bond- einen Zwillingsbruder und lebt in Berlin. Neuverfilmung von „Casino Royale“ gelang ihm ein glänzender Einstieg in das internationale Filmgeschäft. Seitdem pendelt Schick als einer der vielseitigsten deutschen Stars zwischen Hollywood und zahllosen anderen www.bethmannbank.de Character Alexander Brenninkmeijer: Ist es eine Charaktereigenschaft? Oder entwickelt man eine gewisse zielgerichtete Haltung, wenn man so wie wir eine Marke hat, die man positionieren und zum Erfolg bringen will? Clemens Schick: Das ist unsere Chance und Verantwortung. 67 Alexander Brenninkmeijer: Ich versuche, jeden Sonntag in die Kirche zu gehen, zusammen mit meiner Frau und meinem Sohn. Dieser Rhythmus ist mir ein Bedürfnis. Die Messe zu besuchen, ist eine Form, mich zu besinnen, zu hoffen und meiner Dankbarkeit Ausdruck zu verleihen. Clemens Schick: Demut? Alexander Brenninkmeijer: Also eher erlernt oder doch angeboren? Ich denke gerade an meine sechs Geschwister. Wir wurden alle gleich erzogen, und doch geht jeder von uns völlig unterschiedliche Wege. Clemens Schick: An wievielter Stelle stehst du? Alexander Brenninkmeijer: Ich bin der Zweitjüngste. Viele sagen mir, ich sähe meinem Bruder ähnlich, aber das ändert nichts an unserer Verschiedenheit. Phänomenal, nicht wahr? Clemens Schick: Ich bin ebenfalls der Zweitjüngste, wir sind fünf Kinder. Allerdings ist es mein Zwillingsbruder, der drei Minuten jünger ist. Alexander Brenninkmeijer: Hattet ihr auch einen katholischen Hintergrund, so, wie wir? Du warst sogar ein paar Monate im Kloster und wolltest in den französischen Männerorden Taizé eintreten … Clemens Schick: Damals war ich 22 und total entschlossen, in diese Gemeinschaft aufgenommen zu werden und in kleinen Bruderschaften in den Armenvierteln der Welt zu leben. Als die Mönche mich nach acht Monaten Probezeit ablehnten, war ich sehr unglücklich. Gibt es in eurer Familie nicht auch einige Schwestern und Brüder? Alexander Brenninkmeijer: Nicht direkt in meiner Familie, aber im größeren Kreis, ja. Katholizismus prägt uns alle stark. Clemens Schick: Heute spielt der Glaube bei mir nicht mehr die Rolle, die er einst hatte, nicht mehr in der Form von kirchlicher Autorität jedenfalls. Bei dir? Alexander Brenninkmeijer: Auch meiner Demut, ja. Heute spielt der Glaube bei mir nicht mehr die Rolle, die er einst hatte, nicht mehr in der Form von kirchlicher Autorität jedenfalls. Clemens Schick Clemens Schick: In Klöstern habe ich sehr interessante Schwestern und Brüder kennengelernt, die mir Vorbilder wurden. Leider gab es da immer die Diskrepanz zwischen der Institution und dem, was gelebt wurde. Irgendwann stellte ich fest, das brauche ich nicht mehr. Alexander Brenninkmeijer: Was ich ein wenig schade finde, ist, dass die Rituale und die Symbolik der Kirche heute nur noch eine untergeordnete Rolle spielen. Das gibt es tatsächlich nur noch im Kloster, dieses strikte Regelwerk, diese große Stille. Meiner Frau und mir ist wichtig, dass wir unserem Sohn die Möglichkeit geben, mit einem Glauben aufzuwachsen. Später kann er dann selbst entscheiden. Clemens Schick: Wie sind deine Arbeitsrituale, wie arbeitest du? Dezember 2014 Alexander Brenninkmeijer: In einem kleinen Team von rund einem halben Dutzend Mitarbeitern. Meine Frau Micheline zählt dazu und eine Designerin, die Partnerin ist. Letztlich macht bei uns jeder alles, vor allem wenn wir auf Tour sind. Jeweils drei Tage lang verkaufen wir direkt in den verschiedenen Städten. Wir schalten keine Werbung, deshalb sind wir vergleichsweise günstig, obwohl wir sehr hochwertig und in kleinen Stückzahlen produzieren. Clemens Schick: Von Mode habe ich wenig Ahnung. Was ich mag, sind klassische Sachen. Deshalb gefällt mir auch dein Anzug, den ich hier trage, sehr gut. Stil und Persönlichkeit interessieren mich mehr als Trends. Alexander Brenninkmeijer: Mit denen muss ich mich schon allein deshalb beschäftigen, weil wir über ein Jahr im Voraus entwerfen. Obwohl unser Geschäftsmodell ja eher trendresistent ist. Trotzdem gibt es von Saison zu Saison besondere Akzente, ob in den Farben oder Schnitten oder Stoffen. Es sind minimalistische Eingriffe oder kleine Brüche. Manchmal sind wir auch zu früh mit einem Look … Wir haben zum Beispiel vor zwei Jahren eine Damenjacke auf den Markt gebracht, die von einem Motorrad-Jacket inspiriert war. Damals wollte sie fast keiner, jetzt laufen alle damit herum. Es scheint, dass die meisten Leute diesen Billboard-Effekt brauchen, sie wollen einander gleichen. Clemens Schick: Was ist Mode für dich? Alexander Brenninkmeijer: Die Suche nach etwas Neuem, ohne dabei zu weit zu gehen. Die Beziehung zu Tradition und Handwerk nicht zu verlieren, ist wichtig. Clemens Schick: Ist es einfacher, Männermode zu entwerfen? Alexander Brenninkmeijer: Nein, dabei kommt es noch mehr auf Nuancen an. Die Schnitte selbst ändern sich wenig. Männer sind noch viel dankbarer, wenn sie etwas Gegenwart gefunden haben, das ihnen steht und in dem sie sich wohlfühlen. Am liebsten würden sie immer wieder das gleiche Modell kaufen. Clemens Schick: Wie ich. Meine bevorzugte Farbe ist Blau, meine Garderobe besteht zu neunzig Prozent aus T-Shirt, Pullover, Jeans, Jacke, Mütze, Sneakers, that’s it. Anzüge nur, wenn ich ausgehe. Alexander Brenninkmeijer: Dein Vorteil ist, dass dir alles steht. Die meisten Männer, die ich kenne, haben tatsächlich ein zwiespältiges Verhältnis zu Mode – vielleicht sogar eine typisch männliche Eigenschaft. Clemens Schick: Typisch männlich? Uns beide nehme ich als männlich wahr. Vielleicht ist man am männlichsten, wenn es für einen selbst keine Rolle spielt. Wenn du in den Spiegel blickst und es dir egal ist, wie du aussiehst. Alexander Brenninkmeijer: Das würde ich unterschreiben. Ein Selbstverständnis, das selbstverständlich ist. Wenn mir allerdings jemand sagt, ich sei männlich, finde ich das albern. Weil es scheint, als würde da jemand eben irgendwelche Klischees auf mich projizieren. Es gibt ja viele empfindsame, feinfühlige, nach denkliche, vorsichtige Männer. Sind sie weniger männlich, weil solche Attribute eher Frauen zugeschrieben werden? Sicher nicht, aber Medien und die Gesellschaft träufeln uns allen, ob männlich oder weiblich, von Kindheit an solche stereotypen Verhaltensmuster ein, ob wir wollen oder nicht. Das merke ich an meinem Sohn, wenn er sich mit mir misst: dein Bizeps, mein Bizeps. Aber das ist ein Spiel. Was ich dich die ganze Zeit fragen wollte, Clemens, wie wählst du deine Filme aus? Clemens Schick: Da gibt es einerseits meinen künstlerischen Anspruch, aber den kann ich mir andererseits nicht immer leisten. Also gehe ich als freischaffender Künstler auch Kompromisse ein, denn ich muss mein Leben finanzieren. Kennst du das auch? 68 Im Dialog Alexander Brenninkmeijer: Kompromisse? Natürlich. Geld ist wichtig, um so leben zu können, wie man es sich wünscht. Wenn ich viel Umsatz mache, ist das ein Gradmesser für Erfolg. Daneben realisiere ich wie du Projekte, die kommerziell uninteressant sind, mich aber mit besonderem Stolz erfüllen. Die meisten Zugeständnisse müssen wir wegen der langen Vorausplanung machen, die wir haben. Wir denken heute bereits über Sommer 2016 nach. Clemens Schick: Wie reist du, einfach oder luxuriös? Clemens Schick: Das Filmgeschäft ist dagegen sehr kurzfristig in der Planung, im Gegensatz zum Theater, das viel langfristiger funktioniert. Trotzdem habe ich damals meinen Vertrag am Schauspiel Hannover gekündigt, weil ich mich als zu eingeengt empfand. Eigentlich will ich genau das, was ich gerade habe. Dieses Gefühl von Freiheit. Alexander Brenninkmeijer: … hmmm … 22 Grad Wassertemperatur im Ammersee … am Steg sitzen … mit einem Drink … Und für dich? … mich selbst als eine durch und durch konsequente Persönlichkeit zu bezeichnen, finde ich anmaSSend. Alexander Brenninkmeijer: Der läuft doch gerade im Kino? Ich sehe ihn mir an! Einer meiner Lieblingsfilme ist „The Royal Tenenbaums“ von Wes Anderson, weil er so melodramatisch-komisch und edel-lässig im Stil ist. Er hat unsere vorletzte Kollektion inspiriert. Aber lass uns lieber über die Zukunft sprechen. Was sind deine nächsten Projekte? Alexander Brenninkmeijer Alexander Brenninkmeijer: Das vermisse ich manchmal. Im Vergleich mit dir bewege ich mich in einem Korsett aus festen Terminen und Verpflichtungen. Aber mein Team ist gleichzeitig meine Familie, das entschädigt mich. Clemens Schick: Ich bin auch am liebsten in Gemeinschaft. Reist ihr auch zusammen? Alexander Brenninkmeijer: Klar. Ich bin ein fahrender Händler mit Anhang, wie meine Vorfahren. www.bethmannbank.de Alexander Brenninkmeijer: Beides. Wobei das Zweite schwieriger ist, weil die Enttäuschung größer sein kann. Wenn man merkt, dass man unter Luxus etwas ganz anderes versteht als der Anbieter. Clemens Schick: Was bedeutet Luxus für dich? Clemens Schick: Gegensätzliche Welten kennenlernen, vielfältige Erfahrungen machen. Reisen findet bei mir eigentlich nur beruflich statt. Was aber schön ist – für „Praia do Futuro“ war ich zuletzt zwei Monate in Brasilien. Clemens Schick: Aktuell drehe ich „Point Break“, ein Remake von Kathryn Bigelows Actionthriller „Gefährliche Brandung“. Ich spiele einen Extremsportler. Nächstes Jahr folgt der österreichisch-deutsche ScienceFiction-Film „Stille Reserven“, in dem Valentin Hinz Regie führt. Alexander Brenninkmeijer: Wovon handelt er? Clemens Schick: Er erzählt von einer nicht allzu fernen Realität, in der Menschen nicht mehr sterben können, sondern als Bio-Reservate benutzt werden und Versicherungen abschließen müssen, um sterben zu dürfen. Ich bin ein Versicherungsvertreter. Character Alexander Brenninkmeijer: Hast du einen Lieblingsfilm? Clemens Schick: Immer mein nächster. Alexander Brenninkmeijer: Wie gehst du an eine Rolle heran? Clemens Schick: Da kommen viele Elemente zusammen. Meine Fantasie, die Ideen des Regisseurs, des Kameramanns, der Kostümbildnerin, der anderen Schauspieler. Dezember 2014 69 Eines führt zum anderen. Bei mir entstehen die meisten Fantasien in den Dämmermomenten zwischen Einschlafen und Aufwachen. Auf vieles habe ich jedoch keinen Einfluss. Angenommen, ich bin hervorragend vorbereitet, aber am Tag des Drehbeginns geschieht etwas in meinem Leben, das alles verändert … Genauso wenig Einfluss habe ich auf die Postproduktion, die Musik, die über meine Szenen gelegt wird, den Schnitt, das Colourgrading. Trotzdem macht es mich glücklich, mich in ein Projekt hineinzuar- beiten, es intensiv mit den Kollegen zu teilen und es nach drei Monaten abzuschließen. Danach kommt etwas Neues. Eine neue Geschichte. Geschichten erzählen, das ist das, was mir am meisten Spaß macht. Alexander Brenninkmeijer: Auch wir präsentieren unsere Kollektionen immer wieder als eine Art Geschichte. Wenn unsere Kunden sie verstehen, bin ich glücklich. Moderation: Dr. Eva Karcher Gegenwart HERAUSGEBER Fotos Bethmann Bank AG Bethmannstraße 7 – 9 60311 Frankfurt am Main www.bethmannbank.de S. 6 – 17 Character im Porträt Marc Krause S. 11 Mediterran, 100 kreative Rezepte rund ums Mittelmeer, ISBN 978-3-8310-2580-0, Dorling Kindersley Verlag / Foto: Maike Jessen S. 22 – 23 Zahlen, bitte! Shutterstock S. 24 – 25 12 Dinge, die man tun sollte Marc Krause S. 26 – 31 Für morgen S. 27 Getty Images S. 28 ©2006, Festo AG & Co. KG, 73726 Esslingen iStock S. 30 Porträt Jay Harmann S. 31 Arup Architects iStock S. 32 – 33Unterbewertet iStock S. 36 – 39 Unternehmen der Zukunft S. 37 Hilmar Poganatz S. 39 DriveNow S. 39 Porträt Tilman Schenk S. 40 – 43 Zwischen kommerziell und karitativ S. 40 – 41 fotolia S. 42 i-Stock Porträt Noah Foundation S. 44 – 51 Unternehmen mit Tradition Marc Krause S. 52 – 53Perspektivenwechsel Klaus Müller: vzbv / Marco Urban Dieter Schwer: BDI S. 54 – 57 Hello / Goodbye Nina Mann, Zürich S. 58 – 59Einplanen Nachweise auf der Seite S. 60 – 69 Im Dialog Joachim Baldauf Feedback zum Heft: [email protected] redaktion Frank Elsner Kommunikation für Unternehmen GmbH Kirchstraße 15a 49492 Westerkappeln [email protected] Presserechtlich verantwortlich Jens Heinen Bethmann Bank AG Bethmannstraße 7 – 9 60311 Frankfurt am Main www.bethmannbank.de Design Biedermann und Brandstift Creative Services GmbH Dreieichstraße 59 60594 Frankfurt am Main www.biedermannundbrandstift.com Impressum 70 Autoren Dieser Ausgabe Rechtliche Hinweise Die Zeitschrift und alle in ihr enthaltenen Inhalte, Beiträge und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Sämtliche Urheberrechte für Beiträge, Fotos sowie die grafische Gestaltung liegen beim Herausgeber. Eine Verwertung der Zeitschrift oder der in ihr enthaltenen Beiträge und Abbildungen, besonders durch Vervielfältigung oder Verbreitung, ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Herausgebers unzulässig, soweit sich aus dem Urhebergesetz nichts anderes ergibt. Insbesondere ist die Speicherung oder Verbreitung der Inhalte in Datenbanksystemen, zum Beispiel als elektronischer Pressespiegel oder Archiv, ohne Zustimmung des Herausgebers unzulässig. Alle Rechte vorbehalten. 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