„Dienen“ der Gruppe Ich + - Theologische Hochschule Friedensau
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„Dienen“ der Gruppe Ich + - Theologische Hochschule Friedensau
Spes Christiana 18–19, 2007–2008, 69–90 Heilssehnsucht und Soteriologisches in der gegenwärtigen deutschsprachigen Popularmusik: Das Lied „Dienen“ der Gruppe Ich + Ich Bettina Vogt „Warum Pop und Religion – was kann ein Dreieinhalb-Minuten-Format schon an religiösen Inhalten transportieren?“ (Schröder 2000, 41) Diese Frage, von Matthias Schröder in der Einleitung seines Aufsatzes über die religiöse Dimension von Popmusik aufgeworfen, mag sich auch dem Leser dieses Aufsatzes stellen, geht es bei der Frage nach „soteriologischen Entwürfen“ schließlich noch um mehr als allgemeine Religiosität. Ist es überhaupt legitim, den Begriff der Soteriologie ins Spiel zu bringen, wenn Liedtexte betrachtet werden, in denen weder von Gott noch von Christus die Rede ist? Auf diese Fragen sei mit einem Zitat aus dem Gästebuch des Popduos „Ich + Ich“ geantwortet: Hy … mein Name ist Kathi. Durch eure Musik habe ich wieder ins Leben gefunden gebe es euch nicht gebe es mich auch nicht … ihr seit meine Engel und habt mir kraft geschenkt („Gästebuch“, Eintrag vom 8. April 2006). Popularmusik hat hier offensichtlich eine ganz starke existenziell „errettende“ und „heilsschenkende“ Wirkung. In diesem Beitrag soll sie mit biblisch-theologischen Grundlinien in Beziehung gesetzt werden. Dabei wird der Schwerpunkt auf den Liedtexten der Gruppe „Ich + Ich“, und hier insbesondere auf ihrem Lied „Dienen“ liegen.1 Drei Ebenen werden dabei immer wieder berührt: Zunächst die des Liedtextes und seiner Aussagen. Dieser bietet deutliche Bezüge zur aktuellen gesellschaftlichen Situation (Stichwort: Postmoderne), und schließlich geht es darum, die herausgearbeiteten soteriologischen Aspekte in Beziehung zum biblisch-systematischen Kontext zu setzen. 1 Eine umfassende Studie zur deutschsprachigen Popularmusik diesbezüglich würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Verweisen möchte ich in diesem Zusammenhang jedoch auf Bernd Schwarzes Dissertation, in der er sich mit diesem Phänomen im Blick auf internationale Popularmusik intensiv beschäftigt (Schwarze 1997); vgl. auch die Friedensauer Schriftenreihe C: Musik – Kirche – Kultur, darunter u.a. Kabus 2006. 1. Christlich-religiöse Inhalte in der Popularmusik In der Auseinandersetzung mit aktueller Popularmusik erscheint es wichtig, zunächst einen kurzen Blick auf deren Hintergrund und Entstehungsgeschichte zu werfen. Die Wurzeln sind in der afroamerikanischen Musikkultur zu finden, im Spiritual und Gospel, und damit stark religiös geprägt. Auch in der weiteren Entwicklung hat diese Herkunft immer wieder eine zentrale Rolle gespielt.2 So stellt Gerd Buschmann fest, dass „Religion ein natürlicher und grundlegender Bestandteil aller (säkularen) Popmusik [ist], – das gilt es zunächst einmal sensibel wahrnehmen zu lernen“ (Buschmann 2004, 2). Weiterhin ist es notwendig, zwischen englisch- und deutschsprachiger Popularmusik zu differenzieren, da hier deutliche Unterschiede im Hinblick auf den Umgang mit christlichem Vokabular bestehen. Sowohl die Verwendung von christlichen und biblischen Begriffen außerhalb ihres ursprünglichen Kontexts als auch explizit „bekenntnishaft-gläubige“ Texte sind in der englischsprachigen Popularmusik seit jeher stark verbreitet und üben offensichtlich keinen mindernden Einfluss auf den Popularitätsgrad der jeweiligen Lieder aus.3 Auch im deutschsprachigen Raum erzielten solche Songs in den letzten Jahrzehnten große Erfolge. Dabei ist anzunehmen, dass durch die Fremdsprache in der Regel keine bewusste Reflexion der Textinhalte stattfindet und die englische Version christlicher Begriffe (z. B. „prayer“) im deutschen Ohr weitaus weniger fromm und konservativ – vielmehr sogar etwas „exotisch“ – klingen mag als die deutsche Entsprechung („Gebet“). Obwohl die englischen Titel mit religiösen Motiven also im deutschsprachigen Raum durchaus ähnlich populär waren und sind wie andere auch, ist bezüglich der Popmusik mit deutschen Texten eine Entwicklung zu erkennen. Im Jahr 1989 stellte Rolf Tischer noch fest: So finden sich kaum religiöse Texte in deutschen Songs… Deutsche Texte laufen ja Gefahr, verstanden zu werden (… und sich als Popstar religiös zu outen, ich bitte Sie!). Also ist das meiste an deutschsprachigen Texten, was … religiöse Inhalte hat, kritisch oder ironisch gemeint. Es macht eben einen Unterschied, ob man ‚God‘ oder ‚Lord‘ singt oder ‚Herr‘ und ‚Gott‘ (Tischer 1989, 24). 2 Nach dem Spiritual, in dem sich die schwarzen Sklaven Nordamerikas mit dem in Ägypten unterdrückten Volk Israel des Alten Testaments identifizierten, folgte der Blues, dessen Grundthema die afroamerikanische Theodizee ist. Den Rock ’n’ Roll könnte man schließlich als eine „säkulare Imitation baptistischer Kirchenerfahrung“ deuten (Feiner o. J.). 3 Hier seien einige der zum Teil bis in die Gegenwart besonders populären Beispiele angeführt, die jedoch nur eine Auswahl aus einem viel breiteren Spektrum darstellen: Bob Marley: Exodus; Bruce Springsteen: „My Father’s House“; Genesis: „Tell Me Why“; „Jesus He Knows Me“; Michael Jackson: „Will You Be There?“; „Heal the World“; Sting: „O My God“; Peter Gabriel: „Blood of Eden“; Prince: „The Cross“; R.E.M.: „Losing My Religion“; Madonna: „Like a Prayer“; Freddie Mercury: „Made in Heaven“; Faithless: „God is a DJ“. 70 Bis Mitte der 1990er Jahre wurden in Popsongs christlich-religiöse Inhalte in der Regel tabuisiert bzw. höchstens in kritischer Weise aufgegriffen.4 Seitdem ist ein neuer Trend zu beobachten: Religiöses ist zunehmend populär – nicht in jedem Fall explizit christlich, doch stößt man nun in der deutschen Popularmusik immer wieder auch auf biblisches Vokabular. So singt Nena – aus den 1980er Jahren bekannt mit Spaß-, Antikriegs- und leichten Liebesliedern – nun: „Wunder geschehn … wir dürfen nicht nur an das glauben, was wir sehn“. Hier und in anderen Texten wird die Liebe häufig als religiöse Erfahrung und als Weg der „Erlösung“ thematisiert. Daneben gibt es direkt christlich gefärbte deutsche Liedtexte: Xavier Naidoo, vom Spiegel als „Jesus der Hitparaden“ (Spiegel, 22. November 1999, 302) betitelt, outet sich als Christ und spricht in seinen Liedern von „Babylon“, dem „Himmel“, vom Thema „Alles für den Herrn“ – und genießt dabei zugleich eine ungeheure Popularität. In einer pluralistischen Gesellschaft existiert auch in der Musikszene eine ungeheure Vielfalt – es gibt praktisch nichts, was es nicht gibt. So tönen im Radio beispielsweise Songs, die die ewige Liebe beschwören (z. B. „Liebe ist“, Nena), nahtlos nach solchen, in denen Beziehung nur als „Spiel“ (z.B. „Das Spiel“, Annett Louisan) bezeichnet wird. Soziologen sprechen von einer völligen Individualisierung des Musikgeschmacks; so ist es schwierig, überhaupt noch grundsätzliche inhaltliche „Trends“ auszumachen. Dennoch ist zu beobachten, dass trotz der Vielfalt an Stilrichtungen die wirklich populären Lieder und die Interpreten,5 in der Anzahl wiederum relativ überschaubar sind. Zu ihnen gehören eben auch zunehmend Popsongs mit religiösen Motiven – das ist auffallend. Wie ist dieser Wandel zu erklären? Die Frage nach den Ursachen für diese Entwicklung und ihre Deutung wird später aufgegriffen. An dieser Stelle ging es zunächst darum, den allgemeinen Kontext aufzuzeigen, in dem das untersuchte Lied angesiedelt ist. Es ist also kein Einzelfall, sondern kann als exemplarisch betrachtet werden. 2. Das Popduo Ich + Ich Um Musik zu verstehen und deuten zu können, ist es notwendig, auch einen Blick auf die Personen zu werfen, die sie komponiert haben und die sie interpretieren. Ich + Ich ist der Name eines gemeinsamen Musikprojekts der deutschen Musiker Annette Humpe (55) und Adel Tawil (28), das seit 2004 melancholische 4 Beispiele: „Jesus“ (Marius Müller-Westernhagen), „Opium fürs Volk“; „Die 10 Gebote“ (Die toten Hosen), „Nie genug“ (Pur). 5 Allerdings ist die Frage nach einem Maßstab für Popularität schwierig zu beantworten (s. Wicke 1992). So können die Programme der privaten Radiosender als ein wichtiger Anzeiger für den Zeitgeist gelten, da hier aus kommerziellen Gründen nur die wirklich populären Songs gespielt werden – und das ist eine relativ festgelegte Auswahl. 71 Popmusik produziert. Die Liedtexte schreibt Annette Humpe, die auch als Musikproduzentin tätig ist und bereits in den 1980er Jahren auf große Erfolge im Zuge der „Neuen Deutschen Welle“ verweisen kann.6 Das gemeinsame Album des Popduos („Ich + Ich“), das 2005 erschien, gelangte unter die „Top 10“ der Chartplatzierungen. Die Lieder „Du erinnerst mich an Liebe“ (Single-Charts: Platz 4) und „Dienen“ (Platz 7) wurden die größten Erfolge. Interessant ist besonders der Wandel von Humpes Texten in den 80er Jahren zu der aktuellen, die der gesellschaftlichen Befindlichkeit entspricht: Stand damals der „Spaßfaktor“ im Mittelpunkt, so spiegeln heute ihre Texte von Ich + Ich eine neue Suche nach Werten, Halt und Sinn. Im Interview kommentiert Humpe ihre Musik folgendermaßen: Ich profitiere davon, dass es ganz lange eine inhaltslose Popmusik gab… [Meine Musik ist für alle Situationen], wo es etwas zum Trösten gibt. Das ist Musik für die Erschöpften (Zirnstein 2006). Wir wollen den Menschen mit unserer Musik Geborgenheit geben, wir wollen, dass sie sagen: Oh, das Lied haben die extra für mich geschrieben7 – so Tawil. Hier klingen bereits soteriologische Momente an, die bei der Analyse der Liedtexte im Folgenden konkretisiert werden. Dennoch betont Humpe: „Aber wir bekennen uns nicht zu einer bestimmten Religion“ (Peters 2005, 25). Tatsächlich ist Gott in ihren Texten kein Thema, obwohl die Bezüge zu biblisch-christlichen Inhalten an vielen Stellen so deutlich sind, dass diese Frage immer wieder gestellt wird, z. B. im Internet-Gästebuch von Ich + Ich, wie später noch ausgeführt wird. Diese Haltung, religiös zu sein, aber ohne Festlegung, entspricht dem heutigen gesellschaftlichen Trend: Glaube wird losgelöst von Tradition und Institution gelebt und empfunden.8 Festzustellen bleibt: Ich + Ich kann nicht spezifisch christlich eingeordnet werden. Das Duo äußert aber dennoch die Absicht, mit ihrer Musik religiöse, erlösende und sinnstiftende Momente zu vermitteln. Ein Zitat aus ihrem ersten Lied, das einige Zeit als Motto auf der Startseite ihres Internetauftritts erschien, bringt es auf den Punkt: Ich wünsche mir so sehr, dass alles gut wird für dich und alle Fragen eine Antwort finden! Liebe Grüße Annette & Adel9 6 Annette Humpe war Sängerin der Gruppe Ideal, Mitwirkende bei DÖF, Produzentin von Rio Reiser und den „Prinzen“; darüber hinaus Zusammenarbeit mit Udo Lindenberg; 1996 Deutscher Schallplattenpreis „Echo“ als „Produzentin national“. 7 Adel Tawil in einem Interview bei www.party-ludwigshafen.de (Zugriff: 10. Mai 2006). 8 Der Trendforscher Matthias Horx erklärt dazu: „‚Wo Wir (die Institution, die Norm) war, soll Ich werden‘ erzeugt auch ein ‚Egoisieren‘ des Glaubens. Bildlich gesprochen: Statt in der Kirche vor dem Altar zu knien, bauen wir uns zu Hause eine Kultstätte“ (Horx 1995, 103). 9 www.ich-und-ich.de (Zugriff: 10. Mai 2006; aus dem Lied: „Geht’s dir schon besser“). 72 3. Struktur des Liedtexts „Dienen“ und seine musikalische Interpretation Im Folgenden geht es nun um die Analyse des Lieds „Dienen“ von Ich + Ich. Bevor auf die Inhalte eingegangen wird, soll zunächst die Struktur des Texts und seine musikalische Interpretation betrachtet werden. Bei der Untersuchung des Liedtexts (s. Anhang A) ist eine klarer Aufbau zu erkennen. Es untergliedert sich in drei Teile: Die Strophen (A1/A2), den Refrain (B) und die Bridge (C1/C2), mit der das Lied dann auch ausklingt (C3). Sprachlich unterscheiden sich diese Elemente ebenfalls deutlich: Die Strophen sind in einer harten, absoluten (im Sinne eines geschlossenen Systems), negativen, teilweise trivialen Sprache gehalten. Der Refrain dagegen weist einen gehobenen Sprachstil auf, der ausdruckstarke, positive Adjektive verwendet und eine öffnende, verheißende Dimension aufweist. Die Bridge (der Zwischenteil) ist im Prinzip eine Steigerung des Refrains, sozusagen die Lösung, das Ziel. Ihre Sprache ist intensiv und poetisch mit stark religiösen Formulierungen gestaltet. Im Textumfang dieser Bridges ist eine Dynamik zu erkennen: Der erste Zwischenteil (C1) wird im zweiten (C2) um zwei Zeilen erweitert, während der dritte nur noch die letzte Zeile wiederholend aufgreift – und diese damit als konzentrierten Schlusspunkt setzt. Inhaltlich soll darauf in den nächsten beiden Abschnitten eingegangen werden. Musikalisch wird diese Struktur unterstrichen: Die Strophen sind relativ monoton, irgendwie „hämmernd“. Gesungen werden sie von einer weiblichen Stimme. Der Refrain dagegen ist harmonischer und melodischer komponiert. Er hebt sich durch den Wechsel zur männlichen Stimme zusätzlich von den Strophen ab. Das instrumentale Arrangement wird durch Gitarrenbegleitung erweitert. Nach der zweiten Strophe wird der Refrain bei der Wiederholung in seiner Tonlage erhöht und somit verstärkt. Der Zwischenteil ist in seinen drei Variationen am dynamischsten: Die erste Bridge (C1) nach der zweiten Strophe wird von einer Frauenstimme geflüstert, die zweite von der männlichen Stimme sehr betont und laut gesungen (C2), während bei der dritten (C3) die Frau singt, ausdrucksstark, aber wieder etwas weicher. 4. Die Strophen als Spiegel der Postmoderne und ihre theologische Deutung Nun soll der Liedtext im Detail betrachtet werden. Dabei seien zunächst die Strophen einer Analyse unterzogen – und zwar im Blick auf die postmoderne Gesellschaft –, um schließlich eine theologische Deutung vorzunehmen. (A 1) Du sagst, du beugst deine Knie vor Niemand Du sagst, dass dich Niemand bestimmt Du sagst, du bewegst deinen Arsch für Niemand Und dass Niemand dir was nimmt Du sagst, du verschenkst deine Zeit an Niemand 73 Und dass du auf Niemand schwörst Du sagst deine Liebe bekommt Niemand Dass du Niemand gehörst (A 2) Ich weiß, du bist der Sklave von Niemand Und dass dich Niemand regiert Du bist der Affe von Niemand Weil Niemand dich dressiert Du bist nur Dreck für Niemand Weil deine Liebe Niemand heißt Du musst dich trennen von Niemand Weil Niemand auf dich scheißt Der zentrale Begriff in beiden Strophen ist das Wort „niemand“; er erscheint 16mal. Es geht um die Beziehung zwischen dem Subjekt, dem Menschen von heute zu seiner sozialen Umwelt – und die ist charakterisiert mit „niemand“. Die erste Strophe (A1) beschreibt den völlig autonomen Menschen, wobei hier die Verben in Negativform im Mittelpunkt stehen: nicht die Knie beugen, den „Arsch“ bewegen, keine Zeit verschenken, keine Liebe geben mit der Absicht, nicht bestimmt zu werden, nichts genommen zu bekommen, niemandem zu gehören. Dies entspricht dem Menschen der Postmoderne, der durch materielle Sicherheit nicht mehr in dem Maße abhängig ist von der Gesellschaft und sich infolgedessen auch nicht mehr für diese engagieren muss. Heiner Barz führt diesen Gedanken weiter aus, wenn er schreibt: Wir stellen heute fest …, daß in einer Zeit der materiellen Sättigung sogenannte postmaterialistische Werte stark an Bedeutung gewinnen, daß die Menschen immer weniger zu purer Pflichterfüllung, zu Gehorsam und Unterordnung bereit sind, daß ihre Bereitschaft, sich anzupassen, zurückgeht und sie statt dessen sich stärker selbst verwirklichen wollen… Sie wollen etwas vom Leben haben und lassen sich immer weniger sagen, was sie zu tun haben (Barz 1997, 34). Ansätze für dieses Menschenbild sind bereits in der Moderne zu erkennen, in Versuch und Bemühen um autonome Selbstbegründung. Die Postmoderne stellt durch den von ihr in neuer Weise ausgeprägten Individualismus eine Art Übersteigerung dar: Der Einzelne muss sich nun isoliert gegenüber der Gemeinschaft durchsetzen. Diese theoretischen Überlegungen werden durch soziologische Untersuchungen belegt. So stellt die Jugend-Shell-Studie von 2002 „einen hohen Grad von Selbstzentriertheit [fest], der bis zu einem Egoismus in der Durchsetzung eigener Interessen im sozialen Umfeld gesteigert werden kann“ (Deutsche Shell 2002, 33). Von einer „egotaktischen Grundeinstellung und Lebensführung“ (ibid., 33) ist die Rede. Eine Folge ist nach Matthias Horx eine geminderte Bindungsfähigkeit: 74 Menschliche Beziehungen scheinen ungeheuer brüchig, eine merkwürdige Distanz zu den anderen, eine melancholische Unerreichbarkeit sind die Folgen (Horx 1993, 138). In einem Interview bestätigte Annette Humpe diese Deutung als Hintergrund für ihren Song „Dienen“: Es ist ja so, dass diese Gesellschaft irre vereinsamt. Alle eiern rum, machen sich aber dabei die ganze Zeit zum Zentrum aller Dinge. Das Miteinander ist nur noch wie ein Warenaustausch (Peters 2005, 25). In diesem Zusammenhang ist auch der Verweis auf den Namen ihrer Gruppe interessant: Ich + Ich. Im Gegensatz zu Martin Bubers theologisch-philosophischem Ansatz – „Ich und Du“ –, der in Begegnung das „wirkliche Leben“ sieht (Buber 1994, 18), scheint Beziehung hier nicht mehr zu gelingen. Natürlich gibt es noch Berührungspunkte, aber das Gegenüber wird nicht mehr als „Du“ wahrgenommen, sondern jeder bleibt bei seinem „Ich“. Nach der Charakterisierung des völlig autonomen, selbstzentrierten Menschen in der ersten Strophe des Liedes, klingt in der zweiten (A2) eine weitere Dimension an. Hier stehen nicht mehr die Verben im Mittelpunkt, sondern die ausdruckstarken Begriffe „Sklave“, „Affe“ und „Dreck“. Das Ganze erhält eine neue Dynamik: Während in der ersten Strophe noch Stärke und Unabhängigkeit demonstriert werden, schwingen hier Ängste mit, die Begleiterscheinungen und Folge der postmodernen Lebensweise sind. Dieser Lebensstil ist ja keine optionale Entscheidung, sondern er geht einher mit dem Gefühl der Bedrohung gegen das eigene Selbst. Pluralität, Relativismus, ständiger Wandel – all dies birgt neben seinen Chancen wie Vielfalt, Flexibilität und Fortschritt eben auch die Gefahr der „Selbstauflösung“10 in sich. Die Angst vor „Souveränitätsverlust“11 macht sich breit. Die Sorge, zu kurz zu kommen, übervorteilt zu werden – das tritt in den Strophen des Lieds „Dienen“ unmissverständlich hervor. Horx nennt bei der Beschreibung der „Generation X“ das „Gefühl, dass sie ärmer sein wird als die Eltern“ und das „Gefühl, anderen nicht vertrauen zu können“ (Horx 1993, 135 ff.) als zwei ihrer 10 Stickelbroeck gebraucht in der Unterscheidung von Moderne und Postmoderne sehr treffend die Begriffe des „modernen ‚Subjekts der Identität‘, … das seine Gebrochenheit in sich selbst negiert hat“ und dem „postmodernen ‚Subjekt der Multiplizität‘“, das wegen des Prozesses der totalen Differenzierung „sogar um seine Kohärenz besorgt sein“ muss, da ihm die Selbstauflösung angesichts der „auseinander driftenden Lebensabschnitte, Projekte und Optionen“ droht (Stickelbroeck 2002, 437). 11 Ottmar Fuchs reflektiert dazu: „Soziologen sagen uns, daß ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung tiefsitzende Ängste hat, im sozialen Status, im Lebensstandard und in der sozialen Sicherheit abzustürzen. Für diese Angst vor dem Einsturz der Lebenswelten sind folgende Stichworte wichtig: Arbeitslosigkeit, unheilbare Krankheit, Geldnot, Karrierebruch u.ä. Nach dem Motto: ‚Alles geht, aber nichts mehr ist sicher!‘ So spüren die Menschen einen Souveränitätsverlust über das eigene Leben … Massenhaft macht sich die Angst breit, im Leben zu kurz zu kommen.“ (Fuchs 1997, 174 f.) 75 vier zentralen Eigenschaften. Humpe spricht in diesem Zusammenhang wie bereits erwähnt von der Vereinsamung der Gesellschaft („Niemand“ ist mein Gegenüber – also bleibe nur noch ich). Einsamkeit ist ja die Kehrseite des Individualismus: Je größer unsere „Ichmacht“ wird, desto schmerzlicher empfinden wir die Einsamkeit, die darin liegt, und die narzißtischen Kränkungen, die uns die Grenzen unserer Körperlichkeit und unserer psychischen Kräfte auferlegt sind (Illies 2003, 188). Die Beschreibung des selbstbezogenen Verhaltens in der ersten Strophe sowie der abgrenzenden Haltung aus Sorge vor Autonomieverlust in der zweiten, die zunächst stark und souverän erscheinen, erfahren durch die Formulierung am Ende „weil Niemand auf dich scheißt“ eine explizit unglückliche Färbung, die dem gesellschaftlichen Zeitgeist entspricht. In der Bridge wird mit einer Formulierung auf die Situationsbeschreibung des Menschen in den Strophen deutend Bezug genommen: „Dein armes krankes Herz“. In anderen Liedern der Gruppe Ich + Ich wird dieses Thema wiederholt aufgegriffen: Du fühlst dich hässlich und klein, ein alter grauer Stein, im Dunkeln allein und traurig … Von niemandem begehrt … Von dir selbst getrennt … Ein verlorener Sohn, ohne Religion (aus „Fenster“ von Ich + Ich). Wenn meine Seele grau ist und nichts macht mehr Sinn Ich bin ganz oben und ich weiß nicht mehr wohin ich gehn soll (aus: „Du erinnerst mich an Liebe“; kompletter Text im Anhang C). Bedürftigkeit, Selbstentfremdung und Verlorenheit – all das steckt hinter der harten Fassade des autonomen Menschen, wobei interessant ist, dass hier nicht nur der „Verlierer-Typ“ angesprochen wird, sondern auch derjenige, der an die Grenzen des Erfolgs stößt. Das hier beschriebene Menschenbild zeigt auffallende Parallelen zur biblischen Anthropologie und enthält daher theologisches Potenzial. Das „kranke Herz“ ist ein Bild, das auch in der Bibel verwendet wird: „Trügerisch ist das Herz, mehr als alles, und unheilbar ist es. Wer kennt sich mit ihm aus?“ (Jer 17,9). Diese Beschreibung impliziert nicht nur das Leiden des einzelnen Menschen, sondern auch seine Unfähigkeit auf der Beziehungsebene – sei es im sozialen Bereich oder im Hinblick auf Gott. Schon die Urgeschichte endet mit dem Fazit: „das Sinnen des menschlichen Herzens ist böse von seiner Jugend an“ (Gen 8,21). Im Neuen Testament führt Jesus die Folgen dieses Zustands für das zwischenmenschliche Miteinander weiter aus: „Aus dem Herzen kommen hervor böse Gedanken: Mord, Ehebruch, Unzucht, Diebstahl, falsche Zeugnisse, Lästerungen“ (Mt 15,19). Luther benennt diesen von der Sünde gekennzeichneten Menschen als incurvatus in se ipsum (WA 56, 356,4; 40 II, 325,7), den in sich selbst Eingekrümmten. Er ist 76 in seinem natürlichen Fühlen und Denken auf sich geworfen und in sich selbst verliebt. Egoismus, Selbstverhaftung, Selbstverkrampfung – das ist das Schicksal des „alten Menschen“, des gefallenen Menschen ohne Gott. Sein Lebensmotto lautet: Jeder ist sich selbst der Nächste. Die Anthropologie der Bibel beschränkt sich jedoch nicht nur auf die Beschreibung des Ist-Zustands des Menschen, sondern sie weist auch auf seine ursprüngliche Bestimmung hin: Nach Genesis 1 und 2 ist der Mensch in erster Linie Geschöpf, in zweiter Linie zur zwischenmenschlichen Gemeinschaft geschaffen. Die Vorstellung von Autonomie im Hinblick auf den Schöpfer (das Sein-Wollen wie Gott) erweist sich in der Geschichte des Sündenfalls (Gen 3) als trügerisches Angebot, das in der Folge sowohl die Gemeinschaft mit Gott als auch das soziale Miteinander zerstört. So lässt sich die drastische Charakterisierung des Menschen in den Strophen des Lieds „Dienen“, die seinem postmodernen Lebensgefühl entspricht, dem „ungeschminkten“ Menschenbild nach dem Sündenfall aus biblisch-theologischer Perspektive zuordnen. 5. Der Refrain als neues Lebenskonzept und seine Korrelation zur biblischen Lehre Der Refrain von „Dienen“ birgt nicht nur musikalisch, sondern vor allem auch inhaltlich nach den Strophen eine Wende innerhalb des Liedes in sich: (B) Du wirst irgendwann jemandem dienen Jemand der weicher ist und zarter als du Du wirst irgendwann jemandem dienen Jemand der weiser ist und stärker als du Die Schlüsselwörter sind hier „dienen“ (8-mal im gesamten Lied), „jemand(em)“ (21-mal insgesamt, 5-mal davon im Zwischenteil) und die Adjektive, die diesem „Jemand“ zugeordnet werden („weicher“, „zarter“, „weiser“, „stärker“). Zunächst zum Begriff „Dienen“, der auch der Titel des ganzen Liedes ist – und dem somit zusätzliches Gewicht beizumessen ist. Das Wort „Dienen“ ist im heutigen Sprachgebrauch kaum noch enthalten. Es ist begrifflich veraltet und inhaltlich unpopulär – steht es doch den Trends der Postmoderne, wie sie im Rahmen der Strophen beschrieben wurden, diametral gegenüber. Dienen hat heutzutage, erst recht bei den eher jugendlichen Konsumenten von Popularmusik, sogar eine provozierende Wirkung. Trotzdem genießt dieses Lied eine ungeheure Popularität – und es gilt zu untersuchen, woher das kommt. Ist es einfach ein gewisser neo-konservativer Trend? Was ist hier eigentlich mit Dienen gemeint, welches „Lebenskonzept“ wird vermittelt? Annette Humpe selbst stellte im Interview erklärend zum Begriff Dienen fest: Ja, es provoziert. Aber das liegt nur daran, dass es ja negativ besetzt ist. Dienen scheint immer einen Herrn vorauszusetzen, der einen zum Dienen 77 zwingt. Doch der Gedanke, dass es etwas Freiwilliges sein kann, ist verloren gegangen… Wahrscheinlich wären Beziehungen leichter, wenn man den anderen betrachtet und sich fragt: Was braucht der gerade? Und das dann auch einfach abgibt. Und das ist Dienen. (Peters 2005, 25) Dienen ist demnach zu verstehen im Sinne der Selbsthingabe, des Daseins für den anderen, der bedürftig ist. Dieses Lebenskonzept wird im Refrain des Liedes dem in den Strophen als in sich selbst gefangen beschriebenen Menschen der Gegenwart gegenübergestellt: Menschsein heißt eben auch Mitmenschsein, die Aufgabe zu erkennen, Mensch für den anderen zu sein. Sinnerfüllung aus der Fürsorge für den Nächsten im altruistischen Sinn muss nicht zwingend religiös begründet werden, wobei die Nähe zur christlichen Botschaft offenkundig ist: Auch hier wird der Dienst am anderen betont und erwartet. Unter euch wird es nicht so sein; sondern wenn jemand unter euch groß werden will, wird er euer Diener sein, und wenn jemand unter euch der Erste sein will, wird er euer Sklave sein. (Mt 20,26 f.) Wesentlich ist bei der Analyse des Refrains die Frage nach der Beziehung zwischen Subjekt („du“) und Objekt („jemand“), da dies Aufschluss darüber geben kann, welchen Charakter das hier beschriebene Dienen hat. Es gibt beim Dienen grundsätzlich drei Möglichkeiten der Beziehungsebene: Dienst an einem gleich starken Gegenüber – im Sinne eines gegenseitigen Geben und Nehmens, oder auf der Grundlage einer Gefällebeziehung: Dienst am Schwächeren, Bedürftigen, oder aber Dienst für einen Größeren, Überlegenen. Annette Humpes zitierte Antwort zielt auf die ersten beiden Beziehungsebenen; eine genaue Textanalyse des Refrains deutet jedoch eher auf die dritte Ebene. Humpe betonte, „dass mit dem Dienen, so wie wir es verstehen, keine Herr- und Diener-Hierarchie einhergeht“ (Peters 2005, 25). Diese Aussage soll wohl darauf hindeuten, dass keinesfalls eine despotische, tyrannische Haltung des Gegenübers gemeint ist. Dennoch implizieren die Adjektive bei der Beschreibung des Objekts, dem gedient wird, durch den Komparativ ein starkes Gefälle: Es ist „jemand“, der auf allen Ebenen das Subjekt übertrifft – er ist weicher, zarter, weiser und stärker. Bedürftigkeit ist hier nicht zu erkennen. Die Auswahl der Eigenschaften gerät jedoch überraschend: Neben Stärke und Weisheit werden Begriffe genannt, die für sich isoliert eher Schwäche transportieren: Weichheit und Zartheit. In der Kombination mit den anderen beiden und in der Steigerungsform zeigen sie jedoch die Wirkung, dass sie der Überlegenheit dieses „Jemand“ noch eine tiefere Dimension verleihen. Selbsthingabe an jemanden, der Potenz und zugleich Sensibilität in sich vereint – das ist das Lebenskonzept, das im Refrain dieses Liedes beschrieben wird. Damit hebt es sich ab von den gängigen popularmusikalischen Liedtexten: Auch hier ist die Hingabe an einen anderen, einen Geliebten, oft das Thema. Entweder beruht sie auf Gegenseitigkeit oder sie ist geprägt von einer Abhängigkeit – und es ist Leiden damit verbunden, weil der andere überlegen ist oder sich dieser Hingabe 78 als nicht würdig erweist, indem er sie ablehnt oder ausnutzt. Im Lied „Dienen“ findet sich jedoch kein Hinweis auf eine Gegenseitigkeit – und dennoch hat das Dienen hier einen positiven einladenden Klang; es geschieht offensichtlich aus freien Stücken. Ein ähnliches Motiv findet sich in einem anderen Lied dieser Gruppe. In „Umarme mich“ (Liedtext: s. Anhang B), in dem es um ein Subjekt geht, das mit den Grenzen des Erfolgs konfrontiert wird, liegt die (Er-)Lösung in der Hinwendung an ein starkes, kraftspendendes Gegenüber: Gib mir von deiner Energie Ich steh als Bettler hier vor dir Die Frage, die sich hier aufdrängt, lautet: Wer wird hier besungen? Wer kann dieses Bild erfüllen? In diesem Liedtext klingt eine Tiefe an, die über eine zwischenmenschliche Liebesbeziehung hinauszugehen scheint. Das Ganze trägt religiöse Komponenten in sich: Die Orientierung nach Höherem und Größeren, das jedoch nicht nur eine höhere Macht ist, sondern überdies klare personale Züge in sich birgt. Reaktionen der Fans im Gästebuch von Ich + Ich bestätigen diesen Eindruck: Sagt mal, seid ihr christlich angehaucht, oder was bedeuten diese texte? („Gästebuch“, Eintrag vom 5. April 2006) die texte sind echt cool ich hab mich gefragt ob ihr vielleicht gläubig seid (ibid., 5. April 2006) „Umarme mich“ hört sich an wie ein Gebet (ibid., 20. Januar 2006). Das Thema der Sehnsucht nach Transzendenz, nach dem Aufgehen in einer größeren Wirklichkeit, trifft den Zeitgeist an einer ganz sensiblen Stelle: Die Illusion der Moderne, die „Kontrollphantasie“, die im technisch-aufklärerischen Menschenbild liegt, zeugt genau die gegenteilige Sehnsucht: geborgen sein, aufgehoben sein in einem „Wir“, einer höheren Ordnung, einer Matrix, einem Sinn-System, das uns einzelne entlastet.12 Aus christlicher Sicht findet diese Sehnsucht nach Sinn durch die hingebende Beziehung an ein größeres, personales Gegenüber in der Person Jesu Christi ihre tiefste Erfüllung. Im Neuen Testament werden ihm genau diese Eigenschaften zugeschrieben, die der Refrain des Liedes benennt: Er vereint in sich Überlegenheit in Weisheit (Lk 2,46 f.), Stärke und Macht über Naturgewalten, Tod und 12 Horx 1995, 105. Dabei geht es nicht primär um Nähe als solche, „vielmehr geht es hier um die Suche nach Gewißheit. Gesucht wird ein fester Boden, ein Korrektiv zur Kontingenz… Versuche der Wiederverzauberung würde ich hier einordnen, … Suchbewegungen, die auf Ganzheitlichkeit, Echtheit, Ursprünglichkeit zielen. Nicht Gefühle sind hier das Geltungskriterium, sondern der Glaube an einen sicheren, ahistorischen Seinsaspekt. Nicht ‚Kälte‘ wird gefürchtet, sondern Sinnverlust“ (Ziehe 1996, 128; Hervorhebungen im Original). 79 Leben (Mt 8,27, Joh 11,43 f., Mt 4,33) mit Weichheit in Form von Verletzbarkeit (Phil 2,7 f.) und Empathie (Mt 9,37) sowie liebevoller Zartheit (Joh 13,1). Besonders deutliche Berührungspunkte mit den Aussagen des Lieds „Dienen“ und biblischen Inhalten sind im biblischen Bericht von der Fußwaschung (Joh 13) zu sehen. Die Thematik der Autonomie ist hier ansatzweise durch das Verhalten des Petrus impliziert, der zunächst den Dienst Jesu ablehnt und der sich im Hinblick auf die Ankündigung seiner Verleugnung für stark und unangreifbar hält. Zentraler Begriff ist in diesem Bericht das Dienen: Die Absicht Jesu wird deutlich, seinen Jüngern durch diese Handlung das Lebenskonzept der dienenden Hingabe zu vermitteln. Wenn nun ich, der Herr und der Lehrer, eure Füße gewaschen habe, so seid auch ihr schuldig, einander die Füße zu waschen. Denn ich habe euch ein Beispiel gegeben, dass auch ihr tut, wie ich euch getan habe. Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ein Sklave ist nicht größer als sein Herr, auch ein Gesandter nicht größer als der, der ihn gesandt hat. (Joh 13,14–16) Der gegenseitige Dienst gewinnt in diesem Zusammenhang eine tiefere Dimension als nur die einer christlich-ethischen Forderung: Durch das Beispiel des Überlegenen (Jesus hat die Macht und Weisheit – V. 3 – und beschämt zugleich seine Jünger durch die Fähigkeit, diesen Anspruch loszulassen, ist so in gewisser Weise „weich“ und „zart“) bekommt er eine neue Qualität. Seine Motivation besteht im Weitergeben des selbst Erfahrenen. Es geht nicht um verordnetes Verhalten, sondern um (Sinn-)Erfüllung: „Wenn ihr dies wisst, glückselig seid ihr, wenn ihr es tut!“ (V. 17) Verglichen mit dem Lied „Dienen“ enthält das hier entworfene Lebenskonzept noch eine dritte Dimension: Während das Lied sich auf die Beziehung zwischen zweien beschränkt (das Subjekt „du“ und das Objekt „jemand“), geschieht hier die Erweiterung zu einem Dreieck. Der Mensch ist aufgerufen zum Dienst am Nächsten aufgrund des selbst erfahrenen Dienstes Christi an sich selbst. So lässt sich beides vereinigen: Dienst als Dasein für den Anderen in seiner Bedürftigkeit, der zugleich ein Dienst für einen Größeren ist, der wiederum selbst dienend im Sinne der Hingabe handelt und so die Grundlage für alles menschliche Tun schafft.13 Martin Buber spricht davon, dass die „Ich-Du-Beziehungen“ des Menschen, der sich Gott zuwendet, vor „Gottes Angesicht verklärt“ werden (Buber 1994, 159). Wenn Gott, Mensch und Mitmensch im richtigen Verhältnis zueinander stehen, kann Dienen aus einer gesunden Motivation heraus heilvoll geschehen. 13 Hanna-Barbara Gerl drückt dies so aus: „Um aus der Ich-Fixierung herauszukommen, das heißt wirklich den Schritt auf sich selbst zuzugehen, wäre eine weitere menschliche Grundspannung, jene vom Ich zum Du, wahrzunehmen… Denn der Mensch ist immer schon ausgestreckte Hand auf ein anderes, einen anderen hin. Hier kommt das Du Gottes ins Spiel, das ältere, unfaßbare, zutiefst personale. Die Beziehung zu diesem Antlitz … [entscheidet über] den Grad eigener Wirklichkeit.“ (Gerl 1992, 60) 80 6. Die Bridge: Soteriologischen Bezüge und (Er-)Lösung Die Bridge im Lied „Dienen“ ist auch inhaltlich das Zwischenstück, das die Brücke vom düsteren Menschenbild der Strophen hin zum zur Hingabe befreiten Individuum des Refrains bildet. Sie ist der Weg vom „Ist-Zustand“ zum „Sollbzw. Ideal-Zustand“. Zugleich enthält sie die Kernaussage, das Fundament dieses Liedes und klingt daher auch damit aus: „Jemand liebt dich und wird an deiner Seite gehn.“ Theologisch formuliert wird hier für die „Werke“, das menschliche Tun im Refrain (d. h. Dienen) die Grundlage geschaffen: Sie sind Folge und Frucht und nicht verdienstlich. Der komplette Text dieses Teils in der Mitte des Lieds (C 2) lautet: Dein armes krankes Herz wird in Liebe getränkt sein Jede Herrlichkeit auf Erden wird auch dir geschenkt sein Sieh die Wunder und die Zeichen sind schon geschehen Jemand liebt dich und wird an deiner Seite gehen Das zentrale Thema ist die Liebe, die begrifflich zwar bereits zweimal in den Strophen auftaucht, dort jedoch als Negativ-Aussage („deine Liebe bekommt Niemand“, „weil deine Liebe Niemand heißt“). Jetzt steht sie in Zusammenhang mit Heilung (das „arme kranke Herz“ wird darin „getränkt“ sein), der „Herrlichkeit auf Erden“, den „Zeichen und Wundern“ und der Verheißung eines mitgehenden Gegenübers. Wahre Sinnerfüllung lässt sich nicht auf dem Weg des richtigen Verhaltens erfahren, sondern letztlich nur durch bedingungslos zugesprochene und erfahrene Liebe, deren Folge dann auch neues Handeln sein wird. Die Einsamkeit des Subjekts in den Strophen findet hier ihre (Er-)Lösung im Zuspruch: Du bist nicht allein, jemand wird bei dir sein. Ebenso wie im Refrain drängt sich die Frage auf, wer diesem Liebenden entsprechen kann. Annette Humpe selbst distanziert sich von einer christlichen Deutung. Und doch verwendet sie in diesem Zusammenhang stark religiös behaftete Begriffe. Wenn sie hier also die zwischenmenschliche Liebe vor Augen hat, dann in einer überhöhten, transzendierenden Weise, die durchaus postmodernem Fühlen entspricht.14 Die Aussage des Lieds bekommt in diesem Zusammenhang eine nahezu soteriologische Überhöhung: Dieser „Jemand“ rettet und erlöst durch seine Liebe das Subjekt aus dem unheilvollen, gefangenen Zustand der Selbstbezogenheit und verheißt das absolute Glück. Die Sehnsucht nach Transzendenz, dem Aufgehen im Anderen, Größeren, wird auf die Liebesbeziehung projiziert. Ein enormer Anspruch an eine zwischenmenschliche Beziehung! Betrachtet man den Liedtext für sich – ohne die Kommentierung durch die Texterin –, so zeigen sich darin aus theologischer Perspektive Berührungspunkte 14 So stellt Ulrich Beck fest: „In den Idealisierungen moderner Liebesehen spiegelt sich noch einmal der Weg der Moderne. Die Überhöhung ist das Gegenbild zu den Verlusten, die diese hinterlässt. Gott nicht, Priester nicht, Klasse nicht, Nachbar nicht, dann wenigstens du. Und die Größe des du ist die umgedrehte Leere, die sonst herrscht.“ (Beck 1986, 188) 81 zum Konzept einer „relationalen Soteriologie“ (Sattler 1997, 332), in der das Heil in der Beziehung oder besser Begegnung mit einem annehmenden, bejahenden und liebenden Gott gesehen wird. Dieser Aspekt der Erlösung zieht sich durch die ganze Bibel hindurch. Im Alten Testament kommt er besonders durch die Theologie des Bundes zum Ausdruck und durch den Gottesnamen „Jahweh“, den mitgehenden Gott. Im Neuen Testament ist vor allem bei Johannes die Liebe und Gottesfreundschaft ein zentrales Anliegen; sogar das Kreuz wird bei ihm relational als Beweis der unbedingten Beziehungswilligkeit Gottes gedeutet (Joh 15,9 ff.). „Vollkommene Freude“ wird den Jüngern verheißen, die in enger Bindung zu Christus bleiben. Auch hier stellt sich eine Parallele zum Liedtext „Dienen“ dar: Verheißungsvoll ist die Rede von „jeder Herrlichkeit auf Erden“. Eine derartige Liebeserfahrung bleibt nicht ohne Folgen für den Menschen, der sich auf sie einlässt: Gottesfreundschaft ist die „Gemeinschaft der Vollendung“, in der dem Menschen das teilhaftig wird, was er über alles erstrebt… Die Erlösung zu einer lebendigen Freundschaft ist weder ein isoliertes, bloß geistiges Geschehen noch eine ausschließlich für das „Jenseits“ verheißene Vertröstung, sondern macht den Menschen zu einem gewissermaßen rundum „guten“, erfüllten und glücklichen Menschen. (Dörnemann 1997, 115, 185) Soteriologisch gesehen beschreibt der Begriff der Herrlichkeit in der Bibel das Ziel, die Vollendung. Sein Schwerpunkt liegt somit ganz klar auf der eschatologischen Dimension (Röm 5,5). Doch daneben oder besser darüber steht der Gedanke, dass diese Herrlichkeit mit der Gegenwart Gottes verknüpft ist: Im alten Bund sichtbar in Form der Schechina (Gen 40,34), im neuen dann erfahrbar in der Begegnung mit der Person Christi (2 Petr 1,16 f.) und zuletzt in der uneingeschränkten Gegenwart Gottes im himmlischen Jerusalem (Offb 21,2 ff.). Also liegt auch hier ganz klar eine beziehungsorientierte Theologie vor. In der Verbindung mit dem Herrlichkeitsbegriff kommt auch der theologische Gedanke des „Schon jetzt“ und „Noch nicht“ zum Ausdruck, zu dem es im Lied „Dienen“ ebenso Berührungspunkte gibt: Die verheißende Zukunftsform auf der einen Seite („dein Herz wird in Liebe getränkt sein“, „Herrlichkeit wird dir geschenkt sein“, „jemand wird an deiner Seite gehen“), auf der anderen Seite aber die Gewissheit durch die Formulierung „die Zeichen und Wunder sind schon geschehen“. Die Wendung „Zeichen und Wunder“ ist typisch biblisches Vokabular (38 Stellen), wobei hier meist sichtbar übernatürliches Eingreifen Gottes (oder des Teufels) gemeint ist. In „Dienen“ ist davon jedoch nicht auszugehen. Der Zusammenhang impliziert vielmehr, dass hier das „Wunder“ des Geliebt- und Begleitetseins durch ein starkes und zugleich sanftes Gegenüber gemeint ist, das dann die im Refrain verheißene Fähigkeit des Dienens bewirkt. Theologisch 82 gedeutet geht es dabei um das Wunder der erfahrbaren Liebe Gottes, die das Wunder der Umkehr bewirkt. 7. Chancen und Grenzen soteriologischer Momente in der Popularmusik Nach dieser Analyse eines konkreten Beispiels deutscher Popularmusik sollen nun davon ausgehend ihre Chancen und Grenzen hinsichtlich der in ihr enthaltenen soteriologischen Ansätze beleuchtet werden. Chancen zeigen sich auf drei verschiedenen Ebenen: 1. im Bereich der individuellen Erfahrung, 2. im Rahmen des Dialogs mit Nichtchristen und 3. im Blick auf einen Zugang zu einem neuen Bewusstsein. An erster Stelle bietet Popularmusik mit soteriologischen Inhalten die Chance für eine individuelle religiöse Erfahrung. Hierzu nochmals Zitate mehrerer Fans von Ich + Ich aus dem Gästebuch: ich finde eure Musik ganz toll. sie gibt mir hoffnung. Das lied „dienen“ höre ich hundertmal pro tag, und es gefällt mir immer mehr (Eintrag vom 6. April 2006). eure texte … erinnern mich an meine Fehler. wenn ich eure cd gehört habe habe ich frieden und liebe im herzen! (ibid., 1. April 2006) bei eurer musik wird mein tag egal wie blöd er war wieder gut ihr habt mir durch die schlimmste zeit meines lebens geholfen! (ibid., 2. März 2006) Euer Album (der Soundtrack zu meinem neuen Leben) gibt mir in vieler Hinsicht Kraft (ibid., 3. Februar 2006). Die soteriologische Wirkung dieser Lieder wird hier ganz deutlich. Hier werden Sehnsüchte angesprochen – nach Lebenshalt und -sinn – sowie Antworten darauf gegeben. Die Kombination von Text und Musik ermöglicht religiöses Erleben, und dies ist ein Bedürfnis, das vermutlich für viele junge Menschen auf keiner anderen Ebene so existenziell befriedigt wird. Popmusik vermittelt „Spiritualität, Sinnstiftung und Gemeinschaft“ (Treml 2000, 182). Daneben liegt eine Chance der Popularmusik dieser Art darin, dass sie durch die Verwendung von christlichem Vokabular den Dialog über religiöse Themen fördert, indem sie vor allem jungen Menschen einen darüber hinaus meist tabuisierten und in der Regel schon unbekannten Sprachschatz eröffnet. Matthias Schröder erklärt zu Recht: Popsongs helfen, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, daß religiöse Themen und Fragestellungen in ihrem Alltag eben doch noch vorkommen – teilweise ganz anders codiert, als man das traditionell gewohnt ist, teilweise aber auch dadurch, daß sie im Rückgriff auf biblisches Vokabular und Symbolik zum Wiederentdecken der eigenen kulturellen und religiösen Tradition animieren. Sie können Gesprächsanlässe bieten, indem sie Sprache leihen und Erfahrun83 gen anderer zur Verfügung stellen … Popsongs, die religiöse Inhalte in einfachen, modernen Worten transportieren, [können] einen Beitrag dazu leisten, den Jugendlichen Sprache zu leihen, ihnen zu helfen, wieder über religiöse Inhalte zu reden und Religiöses in die Alltagssprache zurückzuholen. (Schröder 2000, 75) Dieser Aspekt ist nicht zu unterschätzen, da so auch dem generationsübergreifenden Dialog sowie dem Gespräch zwischen nicht kirchlich eingebundenen Personen und überzeugten Christen neue Wege geebnet werden.15 Dass Religiosität in der Popularmusik so populär geworden ist, hängt eng damit zusammen, dass hier neue Codierungen verwendet werden, die den Bedürfnissen der postmodernen Gesellschaft entsprechen – wie beispielsweise der Ansatz einer relationalen Soteriologie in den Liedern der Gruppe Ich + Ich. So kann sich darüber auch der Sprachschatz der traditionell Gläubigen im Hinblick auf das persönliche Bekenntnis erweitern. Damit eröffnet sich die dritte Chance dieses neuen Trends in der Musikszene: Er kann dazu beitragen, dass die Kirchen ein aktuelleres Bewusstsein für ihre Umgebung erlangen, das sich wiederum belebend auf Dialog und Begegnung auswirken kann. Hier ist eine neue Sehnsucht nach Transzendenz, letztlich nach „Erlösung“, zu spüren, in Form einer „kulturellen Suchbewegung“ (Ziehe 1996, 125) als Reaktion auf die „verschärfte Dimension der Sinnproblematik“ (ibid., 123) angesichts der Postmoderne. Haben viele Christen in den vergangenen Jahrzehnten schrumpfende Kirchenmitgliedszahlenden auf die Säkularisierung im Sinne eines zunehmenden Desinteresses der Gesellschaft an religiösen Dingen gedeutet, so stellen Phänomene wie die Popularität dieses Liedes dies ein Stück weit infrage. So kann man fragen, ob [die] „Glaubensenergien“ [nur] von einem Bereich zum anderen umgelenkt wurden. „Systemisch“ gefragt: Ist Säkularisierung, der Prozeß des Glaubensverlusts, eigentlich möglich? Oder hat jede Gesellschaft die gleichen „Glaubensrate“, die sich nur auf verschiedene Objekte und Formen verteilt? (Horx 1995, 103) Die Einsicht, dass in der Gesellschaft nicht grundsätzlich eine umfassend atheistische Grundhaltung vorherrscht, sondern im Gegenteil sogar eine gewisse Offenheit aufgrund tiefer unerfüllter Sehnsüchte wahrzunehmen ist, könnte das Bemühen, Menschen das Evangelium nahezubringen, neu beflügeln. Dabei bleibt die große Herausforderung, neue, untraditionelle Wege dafür zu finden.16 15 Buschmann bemerkt in diesem Zusammenhang: „So müssten die Kirchen eigentlich dankbar sein, dass die Popkultur religiöse und christliche Themen auf so massenwirksame Weise ins Spiel bringt“ (Buschmann 2004, 5). 16 Es gilt den säkularen Menschen differenziert einzuschätzen und ihm dementsprechend zu begegnen: Unter den „jungen Konsumenten findet sich hier kaum noch die konventionelle Form bürgerlich-christlicher Religion (Stichwort: Traditionsabbruch), aber ebensowenig ein dezidierter Atheismus, sondern oft eine vorbewußte, diffuse Religiösität.“ (Tischer 1989, 4) 84 Neben den Chancen sind jedoch die Grenzen von Popularmusik mit religiösen Inhalten wahrzunehmen. Auch hier sind drei Aspekte sichtbar: 1. die Grenze, die in dem Religionsverständnis enthalten ist, die das Lied „Dienen“ und andere Lieder dieser Art möglicherweise vermitteln, 2. die Gefahr einer Überwertung von Liedtexten im Kontext der Musik als Ganzem und 3. das Bewusstsein dafür, dass es in diesem Kontext letztlich nicht um konkrete Inhalte geht, sondern vielmehr um das Aufgreifen tiefer menschlicher Sehnsüchte und Gefühle. Zum ersten Aspekt bezüglich der Grenzen einer solchen Auseinandersetzung und Deutung: Auch wenn man aus christlich-theologischer Perspektive in der Textanalyse erstaunliche Parallelen mit soteriologischen Momenten in Liedern wie „Dienen“ entdeckt, so muss doch im Bewusstsein bleiben, dass die Intention dieser Musik säkular orientiert ist und dass diese Berührungspunkte von vielen Hörern auch nicht so wahrgenommen werden. „Erlösung“ wird in unserer Gesellschaft – wenn auch selten so ausdrücklich formuliert – eher von überhöhter partnerschaftlicher Liebe erhofft und erwartet. Diese „säkulare Soteriologie“ bezeichnet Ottmar Fuchs zutreffend mit dem Begriff der „verkappten Religionen“,17 weil diese „mehr versprechen als sie halten. Weil sie sich den Geheimnissen der Menschen annähern, weniger aber dem Geheimnis Gottes“ (Fuchs 1997, 172). Der Liedtext „Dienen“ kann zwar von christlicher Seite aufgegriffen werden, um in einen Dialog zu treten mit heilsuchenden Menschen über mögliche Erlösungswege und die biblische Vorstellung vom unbedingten Beziehungswillen Gottes in diesem Zusammenhang. Er vermittelt dies im Kontext der säkularen Gesellschaft aber nicht aus sich heraus und ist somit auch nicht zwingend. Hinzu kommt, dass man sich bei aller Auseinandersetzung mit popularmusikalischen Texten stets der Tatsache bewusst bleiben muss, dass Popmusik in ihrer Wirkung eine komplexe Einheit aus Musik und Text darstellt – und ihr somit ein nüchterner, literaturwissenschaftlicher bzw. ein rein theologisch orientierter Ansatz mit der Suche nach der „Botschaft“ nicht gerecht wird: Gute Popmusik funktioniert eben eher wie ein Gospelgottesdienst, in dem es auf das fröhliche Erleben von Gemeinschaft und Gottesnähe ankommt, und nicht in erster Linie auf das nüchtern-rationale Hineinversenken in die Predigtinhalte, wie es im Protestantismus oft im Vordergrund steht (Schröder 2000, 76). Es findet in der Regel kein intensiv reflektierender Umgang mit den Liedinhalten statt. Vielmehr wird Popularmusik dazu eingesetzt, um eigene vorhandene Stimmungen zu verstärken bzw. abzuschwächen. Sie dient somit als eine Art 17 Fuchs 1997, 171. Er greift hier auf eine Definition von Carl Christian Bry zurück: „Religion sagt: Der letzte Sinn deines Daseins liegt jenseits deines Lebens, liegt über deinem Leben… Verkappte Religion hingegen sagt: Hinter deinem gewöhnlichen Leben und hinter der gewöhnlichen Welt liegt etwas bisher Verborgenes, etwas zwar seit langem Geahntes, aber für uns nie Verwirklichtes, eine noch nie realisierte Möglichkeit, der wir beikommen können.“ (Bry 1988 [1924], 30) 85 Spiegel des eigenen Lebensgefühls. Diese Reflexion anzuregen ist durchaus möglich, aber sie ist nicht automatisch durch die Musik selbst gegeben. Dabei sollte im Bewusstsein bleiben, dass die Wirkung dieser Lieder mehr umfasst, als durch eine Aufarbeitung der Textinhalte dargestellt werden kann. Schließlich ist bei einer theologischen Betrachtung von Popularmusik mit religiösen Motiven noch darauf hinzuweisen, dass ihre Inhalte im Grundansatz von menschlichen Sehnsüchten ausgehen und dass sie nicht das Anliegen verfolgen, konkrete Antworten zu geben, sodass man dementsprechend in der Regel auch nur von soteriologischen „Momenten“ sprechen kann. Das Lied „Dienen“ stellt eine gewisse Ausnahme dar, weil sich hieraus tatsächlich Anknüpfungspunkte zu theologischen (ohne jedoch den Gottesbegriff zu erwähnen) Grunddaten ableiten lassen – zum Zustand des unerlösten Menschen, zum Weg der Erlösung durch unverdiente, geschenkte Liebe und als Frucht dessen die Fähigkeit und Bereitschaft zum Dienen. Ohne eine Deutung und Einordnung in den biblisch-christlichen Zusammenhang ist dies jedoch nicht möglich. Aber das ist, wie bereits festgestellt, nicht als Mangel von Popularmusik zu bemerken, da sie einen Anspruch darauf gar nicht erhebt. Eine gewisser Grad an Unbestimmtheit, der Raum lässt für eine individuelle Deutung, gehört zum Wesen von Popularmusik wie allen Texten, die dem poetischen Genre zuzuordnen sind. 8. Schluss Wo Zeitknappheit, individuelle Glücksmaximierung und Sicherheitsbedürfnis rasant und neuralgisch erlebt werden, kann man keinen geschlossenen Himmel mehr aushalten. Krampfhaft und verkrampft versuchen die Menschen, von sich aus religiöse Teilöffnungen durchzustoßen, als müßten und könnten sie dessen Öffnung selbst machen. (Fuchs 1997, 184) Heilssehnsucht liegt in der Luft. Popularmusik spiegelt in einer von Medien geprägten Kultur das Lebensgefühl der Gesellschaft wider. Am Ende dieser Studie soll daher die Frage noch einmal explizit aufgeworfen werden: „Was für eine Botschaft haben die Kirchen in diesem Zusammenhang für die Menschen?“ (ibid., 184) In anderen Worten: Wie können wir aufgrund dieser aufgeworfenen Fragen in den Dialog treten und dabei glaubhaft und verständlich das vermitteln, was uns Sinn und Halt gibt – nämlich das Evangelium, die gute Nachricht von der Erlösung Gottes durch Jesus Christus? Die Frage dabei lautet: „Wie kommt diese Botschaft in die Herzen der Menschen, und zwar nicht als Behauptung, sondern als Erfahrung?“ (ibid., 184; Hervorhebung B. V.) Kann Popularmusik dazu einen Beitrag leisten? Endlich baut Gott in Jesus Christus selbst durch „heilige“ Lieder und Texte sein Reich hier auf Erden auf!! Danke Ich + Ich Team, dass ihr den Auftrag des HERRN angenommen habt!!! („Gästebuch“, Eintrag vom 2. März 2006) 86 So lautet ein Eintrag im Gästebuch der Homepage des Popduos. Ist das Blasphemie oder tatsächlich eine Option Gottes in seinem Heilsbemühen um die Menschen? Ist es denkbar, dass Gott – im Sinne von Johannes 3,8 („der Geist weht, wo er will“) – Menschen als Werkzeuge zum Bau seines Reiches gebraucht, die bewusst gar nicht diese Absicht verfolgen? Hier kann und soll diese Frage nicht letztlich beantwortet werden. Natürlich geht es nicht um eine neue „Heilsquelle“. Aber vielleicht können Lieder wie die von Ich + Ich eine Brücke sein, vielleicht können sie einen Weg ebnen vom Evangelium im Wort zu den Herzen der heutigen Menschen. Die Kirchen haben hier offensichtlich Nachholbedarf, um aus ihrer „Selbst-Ghettoisierung … in eine christliche Subkultur“ (Buschmann 2004, 5) herauszufinden und wieder „Salz der Erde“ zu sein. Ein Schritt in diese Richtung ist das Wahrnehmen und Aufgreifen der „Sehnsuchtseröffnung nach ‚mehr‘“ (Fuchs 1997, 184) in der Popularmusik, um dann auf den „Deus semper maior“ hinzuweisen, der Christen letztlich und in vollem Maße Heil bietet: „Der Dialog mit und das Sich-Einbringen in die Popkultur mit ihren (nicht selten fragwürdigen) Heilsangeboten ist aus christlicher Perspektive gefordert“ (Buschmann 2004, 5). Das schließt nicht den kritischen Umgang mit diesem Medium im Sinne von 1. Thessalonicher 5,21 („Prüft aber alles, das Gute haltet fest!“) aus – aber es geht um mehr als eine theologische Prüfung. Schließlich ist es die Aufgabe von Theologie und Kirche, „die lebensgestaltende Kraft der geheimnisvollen Wirklichkeit Gottes, welche sich in jedem Menschen wiederfindet, aufzuspüren“ (Treml 2000, 200). Literatur Barz, Heiner: „Wo und wie unsere plurale Gesellschaft das Heil sucht (mit einem Blick auf die Antwort der Kirchen).“ Eckhard Jaschinski (Hg.): Das Evangelium und die anderen Botschaften: Situation und Perspektiven des christlichen Glaubens in Deutschland. Nettetal: Steyler, 1997, 31–54. Beck, Ulrich: Risikogesellschaft: Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1986. Bry, Carl Christian: Verkappte Religionen: Kritik des kollektiven Wahns, Nördlingen: greno 10/20 (1988) [1924], 30. Buber, Martin: Ich und Du. 12. Aufl. Gerlingen: Schneider, 1994. Buschmann, Gerd: „Religiöse und biblische Motive in säkularer Popmusik: Eine Herausforderung und Chance christlicher Verkündigung.“ Magazin für Theologie und Ästhetik 27, 2004. Online: http://www.theomag.de/27/gb3.htm (Zugriff: 2. April 2006). 87 Deutsche Shell (Hg.): Jugend 2002: Zwischen pragmatischem Idealismus und robusten Materialismus. Frankfurt a. M.: Fischer, 2002. 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Anhang A: „Dienen“ (2005) A 1 Du sagst, Du beugst Deine Knie vor Niemand Du sagst, dass Dich Niemand bestimmt Du sagst, Du bewegst Deinen Arsch für Niemand Und dass Niemand Dir was nimmt Du sagst, Du verschenkst Deine Zeit an Niemand Und das Du auf Niemand schwörst Du sagst Deine Liebe bekommt Niemand Das Du Niemand gehörst B Du wirst irgendwann jemandem dienen Jemand der weicher ist und zarter als Du Du wirst irgendwann jemandem dienen Jemand der weiser ist und stärker als Du A 2 Ich weiß, Du bist der Sklave von Niemand Und dass Dich Niemand regiert Du bist der Affe von Niemand Weil Niemand Dich dressiert Du bist nur Dreck für Niemand Weil Deine Liebe Niemand heißt Du musst Dich trennen von Niemand Weil Niemand auf Dich scheißt B Auch Du wirst irgendwann jemandem dienen Jemand der weicher ist und zarter als Du Du wirst irgendwann jemandem dienen Jemand der weiser ist und stärker als Du (2x) C 2 Dein armes krankes Herz wird in Liebe getränkt sein Jede Herrlichkeit auf Erden wird auch Dir geschenkt sein Sieh die Wunder und die Zeichen sind schon geschehen Jemand liebt Dich und wird an Deiner Seite gehen B Auch Du wirst irgendwann jemandem dienen Jemand der weicher ist und zarter noch als Du Du wirst irgendwann jemandem dienen Jemand der weiser ist und stärker noch als Du C 3 Jemand liebt Dich Jemand liebt Dich Jemand liebt Dich und wird an Deiner Seite gehen C 1 Dein armes krankes Herz wird in Liebe getränkt sein Jede Herrlichkeit auf Erden wird auch Dir geschenkt sein Jemand liebt Dich 89 Anhang B: „Umarme mich“ (2005) Meine Gedanken sind weich Meine Augen tun weh Ich hab heut’ genug gehört und genug gesehen Das war ein echt harter Tag, kein Kinderspiel Es waren tausend Prozent Und von allem zu viel Ich hab `nen knochenharten Job Mein Geist ist total leer Meine Kraft ist am Ende Ich kann nicht mehr Vom Ehrgeiz getrieben Hätte ich nie gedacht Es weht ein eiskalter Wind In den Häusern der Macht Umarme mich Leg meinen Kopf in Deinen Schoss Beruhige mich Und lass mich nicht mehr los Gib mir von Deiner Energie Ich stehe als Bettler hier vor Dir Schau mich an Ich hab es weit gebracht Ich bin umgeben von Symbolen, Symbolen der Macht Ich wollte immer nach oben So lang ich denken kann Ich gebe immer mein Bestes Ich streng mich an Aber Glück wird bestimmt Von fremden Gnaden Ich weiß es hängt alles am seidenen Faden Umarme mich Leg meinen Kopf in Deinen Schoss Beruhige mich Und lass mich nicht mehr los Gib mir von Deiner Energie Ich stehe als Bettler hier vor Dir Umarme mich Hol mich in eine andere Welt Beruhige mich Sag das Du zu mir hältst Gib mir von Deiner Energie Ich stehe als Bettler hier vor Dir (2x) Anhang C: „Du erinnerst mich an Liebe“ (2005) Wenn meine Seele grau ist nichts macht mehr Sinn Ich bin ganz oben und ich weiß nicht mehr wohin ich gehen soll Wo viele Schatten sind, da ist auch Licht Ich laufe zu Dir, ich vergess’ Dich nicht Du kennst mich und mein wahres Gesicht Du erinnerst mich an Liebe Ich kann sehen wer Du wirklich bist Du erinnerst mich daran wie es sein kann Wozu der ganze Kampf um Macht und Geld Was soll ich sammeln hier auf dieser Welt Wenn ich doch gehen muss, wenn mein Tag gekommen ist Wenn meine innere Stimme zu mir spricht Ich bin taub und hör sie nicht Dann schau mich an und halte mich Erinner mich an Liebe Zeig mir wer Du wirklich bist Erinner mich daran wie es sein kann Erinner mich an Liebe Zeig mir wer Du wirklich bist Erinner mich daran wie es sein kann Da ist ein Weg so weit Und endet in Unendlichkeit Da ist ein Fluss lang und schön Ich kann das Ende nicht sehen Du erinnerst mich an Liebe Ich kann sehen wer Du wirklich bist Du erinnerst mich daran wie es sein kann Erinner mich an Liebe Zeig mir wer Du wirklich bist Erinner mich daran wie es sein kann Wenn meine Seele grau ist nichts macht mehr Sinn Ich bin ganz oben und ich weiß nicht mehr wohin ich gehen soll Bettina Vogt, Dipl.-theol., ist Religionslehrerin an der Montessori-Schule Neuruppin. 90