Hochbegabte Underachiever als Jugendliche und junge Erwachsene
Transcrição
Hochbegabte Underachiever als Jugendliche und junge Erwachsene
Zeitschrift für Pädagogische Psychologie, 20 (3), 2006, 213–224 Z. pädagog. Psychol. 20 (3)J.R. © 2006 Sparfeldt VerlagetHans al.: Underachiever Huber, Hogrefe AG, – 2. Akt? Bern Hochbegabte Underachiever als Jugendliche und junge Erwachsene Des Dramas zweiter Akt? Jörn R. Sparfeldt, Susanne R. Schilling und Detlef H. Rost Fachbereich Psychologie, Philipps-Universität Marburg Zusammenfassung. Ausgehend von der bislang kaum beantworteten Frage nach der Entwicklung hochbegabter Underachiever werden die im Rahmen des Marburger Hochbegabtenprojekts von Hanses und Rost (1998) in der Grundschule identifizierten hochbegabten Underachiever (HBUA) als Jugendliche und junge Erwachsene mit parallelisierten und ebenfalls bereits als Grundschüler identifizierten hochbegabten Achievern (HBA; in der Grundschule: Vergleichbare Intelligenz, bessere Schulleistungen) und durchschnittlich begabten _ ___ Achievern (DBA; in der Grundschule: Vergleichbare__ Schulleistungen, geringere Intelligenz) verglichen. Trotz vergleichbarer Intelligenz beider Hochbegabtengruppen in der neunten Klasse (IQ = 128; HBUA: n = 18; HBA: n = 17; DBA: n = 17 mit IQ = 104) gingen HBUA in der 9. Klasse seltener auf ein Gymnasium und machten seltener Abitur als HBA. Während sich HBUA im Grundschulalter in verschiedenen Selbstkonzeptfacetten negativer beschrieben als HBA, zeichneten sie sich als Jugendliche nicht mehr durch derart negativere Selbstkonzepte aus. Mütter beurteilten HBUA in der Grundschule und in der 9. Klasse als kognitiv weniger leistungsfähig und sozialemotional unreifer als HBA, Väter im Jugendalter deutlicher als im Grundschulalter als sozial-emotional unreifer. Vergleichbar viele HBUA und DBA besuchten in der 9. Klasse ein Gymnasium, mehr HBUA machten Abitur. HBUA hatten im Jugendalter teilweise positivere und teilweise negativere Selbstkonzepte als DBA. Mütter beurteilten ihre DBA zu beiden Zeitpunkten als kognitiv weniger leistungsfähig als HBUA, Väter schätzten beide Gruppen ähnlich in ihrer kognitiven Leistungsfähigkeit, sozial-emotionalen Unreife und sozialen Kompetenz ein. Schlüsselwörter: Hochbegabung, Underachievement, Marburger Hochbegabtenprojekt, Jugendliche Gifted Underachievers as Adolescents and Young Adults: Second Part of the «Drama of Gifted Underachievers»? Abstract. The starting point of our study is a lack of findings regarding the development of gifted underachievers. Hanses and Rost (1998) called the situation of gifted underachievers in elementary school a «drama». Therefore, we compared gifted underachievers (GUA) with matched gifted achievers (GA; in elementary school: Similar intelligence, better achievements) and with matched non-gifted achievers (NGA; in elementary school: Similar achievements, lower intelligence) in grade 9 and in their young adulthood. The three _ ___ age. The mean intelligence of both gifted groups was identical groups were__identified by Hanses and Rost (1998) at elementary school in grade 9 (IQ = 128; GUA: n = 18; GA: n = 17; NGA: n = 17 with IQ = 104). GA graduated more often than GUA from the highest track in high school (i. e., Abitur). While GUA displayed more negative self-concepts than GA in elementary school, these differences disappeared partially in high school. Mothers of GUA considered their adolescents to be less cognitive able and more socio-emotional immature in elementary school and in high school than mothers of GA did. Fathers of GUA rated their adolescents to be more socioemotional immature only in high school than fathers of GA did. GUA graduated more often than NGA from the highest track in high school. In adolescence some self-concepts of GUA were more positive than those of NGA and some self-concepts were more negative. Mothers of GUA considered their adolescents to be more cognitive able in elementary school and in high school than mothers of NGA did. Fathers of GUA and fathers of NGA rated their adolescents to be similar socio-emotional immature, cognitive able, and social competent in elementary school and in high school. Keywords: giftedness, underachievement, adolescence 1 Ausgangslage Schüler, deren Schulleistungen schlechter sind als aufgrund ihrer allgemeinen Intelligenz zu erwarten, bezeichnet man als «Underachiever». Trotz vielfältiger Kritik am Konzept (vgl. z. B. Wahl, 1975; Schlee, 1976; Heckhausen, 1980a, b; Weinert & Petermann, 1980; siehe auch ThornDOI 10.1024/1010-0652.20.3.213 dike, 1963; Sparfeldt & Schilling, 2006) sprechen zwei zentrale Argumente für das Konstrukt «Underachievement»: Zum einen sind bei Underachievern sowohl die schlechten Schulleistungen als auch die (sehr) gute Intelligenz über die Zeit stabil, das Phänomen «Erwartungswidrigkeit» ist also reliabel. Zum anderen ist das «Underachievement-Syndrom» replizierbar, d. h. in einer Reihe von Variablen lassen sich immer wieder – insbesondere im Z. pädagog. Psychol. 20 (3) © 2006 Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern 214 J.R. Sparfeldt et al.: Underachiever – 2. Akt? Vergleich mit erwartungsgemäß leistenden Schülern – ähnliche und gegen den Zufall abzusichernde Gruppendifferenzen zuungunsten (insbesondere hochbegabter) Underachiever aufzeigen. Bei mittelhoch korrelierenden Merkmalen wie «Begabung» (Prädiktor) und «Schulleistung» (Kriterium) sind geringe Diskrepanzen zwischen tatsächlicher und vorhergesagter Leistung kaum «erwartungswidrig». Erst bei größeren Diskrepanzen (s. u.) könnte ein pädagogisch-psychologisch untersuchenswertes Phänomen resultieren. (Bei unterdurchschnittlich Begabten stellt sich die Frage nach Minderleistungen deshalb kaum, wohl aber bei Hochbegabten.) Die untersuchte Gruppe erwartungswidrig Leistender wird notwendigerweise klein sein. Nach bisherigen Befunden scheint diese kleine Gruppe besonders problembehaftet zu sein. Als Eigenschaften hochbegabter Underachiever, also als «Underachievement-Syndrom» im engeren Sinne, werden immer wieder folgende Aspekte genannt: Niedrigeres Selbstkonzept und Selbstwertgefühl, höhere Furcht vor Erfolg, niedrigere Erfolgs- und höhere Misserfolgsmotivierung, höhere Leistungsängstlichkeit, unrealistischere Ziele, eher externale Kontrollüberzeugung, geringere Leistungsorientierung sowie Perfektionismus, gelegentlich noch emotionale und soziale Anpassungsprobleme (z. B. Raph, Goldberg & Passow, 1966; McCall, Evahn & Kratzer, 1992; Butler-Por, 1993; Colangelo, Kerr, Christensen & Maxey, 1993; Reis & McCoach, 2000; Rimm, 2003). Allerdings sind die zugrunde liegenden Untersuchungen in der Regel querschnittlich angelegt, über die Entwicklung hochbegabter Underachiever sind also kaum Aussagen möglich. Der gemeinsame Nenner unterschiedlicher «Underachievementmodelle» ist die Annahme multipler Ursachen. Entsprechend gehen Krouse und Krouse (1981) von Defiziten in den Bereichen «schulische Fertigkeiten», «Persönlichkeit» und «Selbststeuerung» aus, die im Einzelfall in unterschiedlicher Gewichtung und Interaktion zu Underachievement führen sollen. Allerdings sind zum einen diese Faktorenbündel auf Personseite angesiedelt, die Bedeutung der Umwelt wird in dem Modell nicht berücksichtigt. Zum anderen ist der bisherige Untersuchungsansatz primär korrelativ, d. h. systematisch mit Underachievement kovariierende Variablen werden häufiger als Ursachenfaktoren interpretiert. Borkowski und Thorpe (1994) weisen insbesondere auf Schwächen in selbstregulativen Fähigkeiten als wichtige Ursache hin. Bei den wenigen entwicklungsorientierten Arbeiten über hochbegabte Underachiever finden sich überwiegend qualitativ orientierte Einzelfallanalysen oder (häufig ebenfalls einzelfallbasierte) Interventionsstudien (z. B. ButlerPor, 1987; Emerick, 1992; Baum, Renzulli & Hébert, 1995; Hébert & Olenchak, 2000; Peterson, 2002). Bei einigen der in Interventionsstudien (z. B. Supplee, 1989) untersuchten hochbegabten Underachiever dürfte es sich um eine stärkere Negativselektion handeln, da diese Personen in der Regel aufgrund deutlicher Auffälligkeiten näher betrachtet und dann als Underachiever identifiziert (und einer Intervention zugeführt) worden sind. Z. pädagog. Psychol. 20 (3) © 2006 Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern Zur Prognose der Entwicklung «unbehandelter» Underachiever schreiben McCall et al. (1992, S. 35) lediglich «no one knows, because underachievers rarely have been systematically studied in a longitudinal manner». In ihrer umfangreichen Studie verglichen sie u. a. Underachiever (darunter auch einige hochbegabte) mit vergleichbar begabten Achievern in den letzten beiden Klassenstufen und 13 Jahre später. Zu beiden Zeitpunkten differierten die Underachiever in diversen Variablen (z. B. Selbstwahrnehmung, Ziele, formale Bildung, Beruf, Einkommen) von den vergleichbar Begabten mit besseren Leistungen jeweils zu ihren Ungunsten. Die Studie ist schon älter, die erste Erhebungswelle lag in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts. Bezogen auf die Frage, was Personvariablen und die weitere Entwicklung stärker vorhersagt – die gezeigten Schulleistungen oder die intellektuelle Leistungsfähigkeit –, sind laut den Autoren Schulleistungen erklärungsmächtiger. Die Ergebnisse einer anderen Längsschnittuntersuchung von Peterson (2000), die eine Nachbefragung vier Jahre nach der high-school graduation vornahm, lassen sich – neben anderen methodischen Problemen – auch aufgrund der geringen Rücklaufquote (63 %) kaum generalisieren (vgl. z. B. Henkel, 1976) und werden deshalb hier nicht berichtet. Aussagekräftige Studien zu hochbegabten Underachievern liegen im deutschen Sprachraum nicht vor – mit Ausnahme der Arbeit von Hanses und Rost (1998; vgl. auch Rost & Hanses, 1997) zum «Underachievement-Syndrom» im Grundschulalter. In der nicht vorselegierten Stichprobe des Marburger Hochbegabtenprojekts (vgl. Rost, 1993a; 2000) identifizierten die Autoren 18 hochbegabte Underachiever, definiert als Schüler mit einem Intelligenzprozentrang PR ≥ 96 und einem Leistungsprozentrang PR ≤ 50, was ca. 12 % der Hochbegabten ausmacht. Das entspricht etwa dem Anteil, der bei einer Berechnung über die Verteilungsfunktion der zweidimensionalen Standardnormalverteilung bei Berücksichtigung der gewählten Grenzsetzungen und einer Interkorrelation von Intelligenz und Schulleistung von r = .45 zu erwarten ist, nämlich 11.4 % Underachiever unter den Hochbegabten (zur genauen Berechnung vgl. Hanses & Rost, 1998, S. 69, Anmerkung 6). Ihnen stellten sie – unter anderem – eine nach Geschlecht und sozioökonomischem Hintergrund streng parallelisierte Gruppe von 18 hochbegabten Achievern (vergleichbare Intelligenz, bessere Schulleistungen) sowie eine ebenfalls streng parallelisierte Gruppe von 18 durchschnittlich begabten Achievern (vergleichbare Schulleistungen, niedrigere Intelligenz) gegenüber. In der Selbstbeurteilung der Persönlichkeit und in verschiedenen Selbstkonzeptfacetten, in Elterneinschätzungen der Persönlichkeit des Kindes und der kindlichen Schulsituation (Begabung, Bildungsaspiration, Zufriedenheit, Leistungsattribution) sowie in Lehrerangaben zur Persönlichkeit war das Bild der hochbegabten Underachiever in weiten Teilen negativ – insbesondere im Vergleich mit hochbegabten Achievern, aber auch im Vergleich mit durchschnittlich begabten Achievern. Die Autoren sprechen daher vom «Drama des hoch- J.R. Sparfeldt et al.: Underachiever – 2. Akt? begabten Underachievers» in der Grundschule. Auch diese Untersuchung war querschnittlich angelegt, konnte also über die Stabilität des «Underachievement-Syndroms» und über die Situation im Jugendalter bzw. jungen Erwachsenenalter prinzipiell keine Auskunft geben. Vor dem Hintergrund des erwähnten Mangels einschlägiger Arbeiten zur Entwicklung hochbegabter Underachiever – die angloamerikanischen Ergebnisse lassen sich auch aufgrund des andersartigen Schulsystems vermutlich nur eingeschränkt auf die Situation in Deutschland übertragen – wollen wir mit der vorliegenden Studie feststellen, wie sich die 1998 von Hanses und Rost identifizierten Underachiever entwickelt haben: a) Wie stabil ist die Intelligenz der im 3. Schuljahr identifizierten hochbegabten Underachiever im Vergleich zu hochbegabten Achievern? b) Differieren die Verteilungen hochbegabter Underachiever und hochbegabter Achiever hinsichtlich der besuchten weiterführende Schulform in der 9. Klasse? c) Unterscheiden sich die Abitur- und Studienquoten hochbegabter Underachiever von denen der hochbegabten Achiever? d) Schreiben sich hochbegabte Underachiever als Jugendliche weiterhin – analog zu den Befunden im Grundschulalter – ein negativeres Selbstkonzept als hochbegabte Achiever zu? e) Erleben sich jugendliche hochbegabte Underachiever häufiger «anders» als hochbegabte jugendliche Achiever – und wie bewerten sie jeweils das «Anders-Sein»? f) Fällt die Persönlichkeitsbeschreibung durch die Eltern bei jugendlichen hochbegabten Underachievern – wie im Grundschulalter – immer noch negativer aus als bei hochbegabten Achievern? Neben diesen Vergleichen der hochbegabten Underachiever mit den hochbegabten Achievern (Gruppen mit gleicher Intelligenz, aber in der dritten Klasse differenten Schulleistungen) sollen ergänzend analoge Vergleiche zwischen hochbegabten Underachievern mit durchschnittlich begabten Achievern angestellt werden (Gruppen mit in der Grundschule vergleichbaren Schulleistungen, aber deutlich differenter Intelligenz). 2 Methode 2.1 Stichprobe Im Marburger Hochbegabtenprojekt (Rost, 1993a, 2000) wurde die kognitive Leistungsfähigkeit von N = 7023 Grundschülern der 3. Jahrgangsstufe aus neun «alten» Bundesländern mittels dreier standardisierter Testverfahren erfasst (CFT 20, Subtests Serien und Matrizen, Weiß, 1987; sprachliche Analogien, Portmann, 1974, 1975; Zahlen-Verbindungs-Test ZVT, Oswald & Roth, 1987). An- 215 hand einer im Sinne der allgemeinen Intelligenz «g» sensu Spearman (1927) gewichteten Kombination dieser drei Testverfahren (Ladungen auf der ersten unrotierten Hauptkomponente: Kombinationswert «Serien + Matrizen»: a = 0.83; sprachliche Analogien: a = 0.81; ZVT: a = 0.71; vgl. Rost, 1993b, S. 11) wurden zwei Stichproben gebildet, nämlich die Zielgruppe «Hochbegabte» (n = 151, davon 86 Jungen; IQ ≥ 130; mittlerer IQ = 135) und die Vergleichsgruppe «durchschnittlich Begabte» (n = 136, davon 78 Jungen; mittlerer IQ = 102). Beide Gruppen waren hinsichtlich potenzieller Störvariablen (Geschlecht, Schul- und Klassenumwelt, soziale Herkunft) vergleichbar. In Bezug auf den sozioökonomischen Hintergrund war die Vergleichbarkeit nicht vollständig erfüllt – Hochbegabte entstammen bekanntlich häufiger höheren sozialen Schichten (vgl. Rost, 1993b). Hanses und Rost (1998) identifizierten zunächst aus der Gruppe der Hochbegabten n = 18 Underachiever (10 Jungen), deren Schulleistungen schlechter als die oder vergleichbar denen der Gesamtgruppe durchschnittlich Begabter war; auf dem Versetzungszeugnis von der dritten zur vierten Klasse hatten die hochbegabten Underachiever einen Notendurchschnitt in den Fächern «Deutsch», «Mathematik» und «Sachkunde» von M = 2.6 (s = 0.4; Gesamtgruppe der durchschnittlich Begabten: M = 2.4, s = 0.4). Per «Kind-zu-Kind»-Zuordnung bildeten Hanses und Rost (1998) dann u. a. die beiden Vergleichsgruppen «hochbegabte Achiever» und «durchschnittlich begabte Achiever», welche in der Geschlechtszusammensetzung und dem sozioökonomischen Status nicht von der Gruppe der hochbegabten Underachiever differierten (sozioökonomischer Status: Hochbegabte Underachiever: M = 3.3, s = 1.6; hochbegabte Achiever: M = 3.2, s = 1.5; durchschnittlich begabte Achiever: M = 3.3, s = 1.6). Die hochbegabten Achiever (n = 18, 10 Jungen) waren hinsichtlich ihrer allgemeinen Intelligenz (M = 132, s = 2.4) mit den hochbegabten Underachievern (M = 132, s = 3.1) vergleichbar, hatten aber erheblich bessere Schulleistungen (M = 1.3, s = 0.3). Die durchschnittlich begabten Achiever waren hinsichtlich der Schulleistung mit den Underachievern vergleichbar (M = 2.6, s = 0.4), hatten aber eine erheblich geringere Intelligenz (M = 103, s = 4.3). Ein Jahr nach der Identifikation wurden die Kinder – damals in der vierten Klasse (mittleres Alter = 10 Jahre, s = 0.5) – und ihre Familien u. a. zu Persönlichkeits- und Selbstkonzeptvariablen befragt. Sechs bis sieben Jahre nach der Identifikation wurden die Teilnehmer des Marburger Hochbegabtenprojekts – also auch die hochbegabten Underachiever, die hochbegabten Achiever und die durchschnittlich begabten Achiever, jetzt in der Regel Schüler der neunten Klassenstufe – und deren Eltern erneut befragt. Informationen zur weiteren Schulkarriere (Schulabschluss, Aufnahme eines Studiums) wurden postalisch in den folgenden Jahren erhoben. Ein hochbegabter Achiever wies in einer erneuten Intelligenztestung (s. u.) einen derart großen Intelligenzabfall (37 IQPunkte) auf, dass u. E. nicht von einer «normalen» Fluktuation gesprochen werden kann, weshalb wir diese Person Z. pädagog. Psychol. 20 (3) © 2006 Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern 216 J.R. Sparfeldt et al.: Underachiever – 2. Akt? von der Auswertung ausgeschlossen haben. Ein durchschnittlich begabter Achiever schied vor der Erhebungsphase im Jugendalter aus dem Projekt aus. Die im Folgenden dargestellten Ergebnisse – auch die auf die Grundschule bezogenen – fußen auf dieser leicht reduzierten Stichprobe, um zu den Erhebungszeitpunkten identische Gruppen zu vergleichen (also: n = 18 hochbegabte Underachiever, n = 17 hochbegabte Achiever, n = 17 durchschnittlich begabte Achiever). Ein hochbegabter Achiever verstarb, und ein weiterer durchschnittlich begabter Achiever schied im Anschluss an die Erhebung im Jugendalter aus dem Projekt aus, so dass für diese beiden Personen keine Informationen zu Abitur und Studium vorliegen. 2.2 Datenerhebung und Variablen Eigens geschulte Untersucher (Dipl.-Psychologen, eine Dipl.-Pädagogin) befragten die Kinder und Jugendlichen sowie ihre Eltern zu Hause persönlich, ergänzend erfolgten einige postalische Erhebungen (selbstberichtete Selbstkonzepte im Jugendalter, weiterer schulischer und akademischer Werdegang). Neben der allgemeinen Intelligenz «g» interessieren in dieser Arbeit ausgewählte Variablen im Selbst- und Fremdbericht, die sowohl im Grundschul- als auch im Jugendalter erhoben wurden. Die Kinder bzw. Jugendlichen gaben Auskunft zu verschiedenen Selbstkonzeptfacetten, Mütter und Väter beurteilten diverse Persönlichkeitsaspekte. Verglichen mit Hanses und Rost (1998) waren die hier verwendeten Skalen zur Erfassung der Selbstkonzeptaspekte und fremdbeurteilter Persönlichkeitsfacetten (leicht) gekürzt, bestanden aber zu beiden Erhebungspunkten aus identischen Items. Weiterhin wurden Informationen zur schulischen und akademischen Laufbahn sowie zur «selbstperzipierten Andersartigkeit» aus der Sicht der Jugendlichen erhoben. 2.2.1 Datenquelle «Kind» bzw. «Jugendliche» – Intelligenz im Jugendalter. Es wurde eine Intelligenztestbatterie zusammengestellt, die im Jugendalter möglichst gut die allgemeine Intelligenz im Sinne des Spearmanschen «g»-Faktors erfasste und die strukturell der im Grundschulalter eingesetzten vergleichbar war. Die Jugendlichen bearbeiteten im Alter von 15 Jahren neben den Sprachlichen Analogien (AN) und den Zahlenreihen (ZR) aus dem Intelligenz-Struktur-Test (Amthauer, 1970) den Untertest 3 (SR, Symbolreihen) aus dem Leistungsprüfsystem von Horn (1983) sowie den ZVT (Oswald & Roth, 1987). Zur Kontrolle eventueller Normverschiebungen wurde die Testbatterie zeitlich parallel an einer größeren Schülerstichprobe (N = 919) der neun- ten Klassenstufe normiert (vgl. Hanses, 2000). Zahlenreihen und Symbolreihen gingen zusammengefasst in die Berechnung von «g» ein (Ladungen auf der ersten unrotierten Hauptkomponente: Kombinationswert «ZR + SR»: a = 0.86; AN: a = 0.70; ZVT: a = 0.69; vgl. Hanses, 2000, S. 118). – Weiterführender Schulbesuch, Abitur und Studium. Im Jugendalter (M = 15 Jahre) wurde nach der Art der besuchten weiterführenden Schule gefragt. Im Alter von 25 Jahren wurden die jungen Erwachsenen postalisch befragt, ob sie die Schule mit dem Abitur abgeschlossen bzw. ein Studium begonnen hatten (Stand 2003). – Selbstkonzept. Zur Erfassung unterschiedlicher Selbstkonzeptfacetten wurde im Grundschulalter und im Alter von ca. 15 Jahren (1994) eine (aus identischen Items bestehende) Kurzform der in der Hochbegabungsforschung häufig eingesetzten Piers-Harris-Selbstkonzeptskalen für Kinder administriert (Piers & Harris, 1969; Piers, 1984). Die Kurzform bestand pro Skala aus fünf nach inhaltlichen und psychometrischen Gesichtspunkten ausgewählten Items (ausführlicher: Rost & Hanses, 1995, S. 96–100): (1) Verhalten (αG = .79/αJ = .73; rG–J = .34; z. B. «Ich benehme mich zu Hause schlecht»),1 (2) Intellektueller und schulischer Status (αG = .64/αJ = .65; rG–J = .34; z. B. «Ich bin in der Schule gut»), (3) Aussehen und Einstellung zum eigenen Körper (αG = .68/αJ = .75; rG–J = .28; z. B. «Mein Aussehen bedrückt mich»), (4) Angst (αG = .69/αJ = .68; rG–J = .30; z. B. «Ich habe häufig Angst»), (5) Beliebtheit (αG = .70/αJ = .75; rG–J = .32; z. B. «Ich habe viele Freundschaften») und (6) Glück und Zufriedenheit (αG = .68/αJ = .84; rG–J = .25; z. B. «Ich bin fröhlich»). Ergänzend wurden sechs – teilweise in Anlehnung an die deutsche Adaptation des Sears Self-Concept Inventory (Ewert, 1979) formulierte – Items zur Erfassung des Selbstkonzepts (7) Kreativität und Phantasie vorgegeben (αG = .80/αJ = .79; rG–J = .37; z. B. «Ich habe neue, tolle Einfälle»). Die Items aller Skalen waren so gepolt, dass hohe Werte ein positives Selbstkonzept bezeichnen. Als Antwortformat diente eine fünfstufige Zustimmungsskala ([1] «stimmt genau» bis [5] «stimmt gar nicht»). Erwartungsgemäß zeigten sich bei den PiersHarris-Selbstkonzeptskalen nennenswerte Interkorrelationen (Grundschulalter: r = .35 [Mdn], r = .04 [min], r = .67 [max]; Jugendalter: r = .34 [Mdn], r = .04 [min], r = .59 [max]). Höher korrelierten jeweils zum einen die Selbstkonzepte Angst, Beliebtheit, Verhalten und Glück und Zufriedenheit sowie zum anderen die Selbstkonzepte Intellektueller und schulischer Status und Kreativität und Phantasie. – Selbstperzipierte Andersartigkeit. Das Gefühl der Andersartigkeit wurde im neunten Schuljahr (mit ca. 15 Jahren) mit dem Item «Denkst Du manchmal, dass Du 1 Der erste Kennwert (αG) bezieht sich hier und hinfort auf das Grundschulalter, der zweite (αJ) auf das Jugendalter. Die Korrelation zwischen den Messzeitpunkten Grundschul- und Jugendalter wird mit rG-J bezeichnet. Homogenitäts- und Stabilitätsberechnungen sowie Angaben zu Skaleninterkorrelationen beruhen auf den Daten der Gesamtstichprobe des Marburger Hochbegabtenprojekts (Nmin = 252; Nmax = 283). Z. pädagog. Psychol. 20 (3) © 2006 Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern J.R. Sparfeldt et al.: Underachiever – 2. Akt? anders bist als andere Jugendliche in Deinem Alter? Wie häufig denkst Du das?» erfragt (vierstufiges Antwortformat von [1] «nie» bis [4] «sehr häufig»). Ergänzend sollten die Jugendlichen die Frage «Findest Du es ‹schlecht› [1], ‹weniger schlecht› [2], ‹eher gut› [3] oder ‹gut› [4], wenn man anders ist?» beantworten. 2.2.2 Datenquelle «Eltern» – Persönlichkeit. Väter und Mütter beurteilten – getrennt voneinander – die Persönlichkeit ihres Kindes mit einer methodisch veränderten Kurzform des CaliforniaChild-Q-Sort von Block und Block (1980) in der Übersetzung von Göttert und Asendorpf (1989) – zum einen im Kindesalter und zum anderen im Jugendalter. Im Gegensatz zur Originalversion wurden die Aussagen nicht als Q-Sort, sondern in zufälliger Reihenfolge als Fragebogen vorgegeben: Auf einer sechsstufigen Antwortskala sollten die Eltern ankreuzen, wie «typisch» die jeweilige Verhaltensweise für ihr Kind bzw. ihren Jugendlichen ist. Im Jugendalter wurden einige Items entsprechend sprachlich angepasst (z. B. «Ist rücksichtsvoll und aufmerksam gegenüber anderen Kindern» → «Ist rücksichtsvoll und aufmerksam gegenüber anderen Jugendlichen»), ansonsten bestanden die Skalen zu beiden Erhebungspunkten aus identischen Items. Faktorenanalytisch resultierten in der Mütterstichprobe vier Skalen: Sozial-emotionale Unreife (8 Items, αG = .85/αJ = .86; rG–J = .60; z. B. «Ist leicht eingeschnappt»), Kognitive Leistungsfähigkeit (8 Items, αG = .82/αJ = .82; rG–J = .54; z. B. «Handelt überlegt und planvoll»), Soziale Kompetenz (7 Items, αG = .77/αJ = .78; rG–J = .59; z. B. «Kommt gut mit anderen Jugendlichen aus») und Autonomie und Ich-Stärke (7 Items, αG = .67/αJ = .71; rG–J = .49; z. B. «Ist selbstsicher, bringt sich zur Geltung»). – Für die Väter ergaben sich drei Skalen: Sozial-emotionale Unreife (8 Item, αG = .85/αJ = .88; rG–J = .51), Kognitive Leistungsfähigkeit (8 Items, αG = .81/αJ = .84; rG–J = .55) und Soziale Kompetenz (7 Items, αG = .77/αJ = .80; rG–J = .50). Diese waren mit den ersten drei «Mütter-Skalen» identisch. Sowohl im Grundschul- als auch im Jugendalter waren die datenquelleninternen Querbeziehungen der Skalen gering bis mittelhoch (r = .29–.34 [Mdn], r = .08–.29 [min], r = .34–.44 [max]). 2.3 Auswertung Die Intelligenzquotienten wurden anhand der Normierungsstichproben (s. o.) bestimmt. Sämtliche Analysen erfolgten getrennt für den Vergleich der hochbegabten Underachiever mit den hochbegabten Achievern und den Vergleich der hochbegabten Underachiever mit den durchschnittlich begabten Achievern. Die Differenzen in den Anteiligkeiten wurden inferenzstatistisch abgesichert (Fisher exact probability test; Siegel, 1956). Bei den Fra- 217 gebogendaten (Persönlichkeits- und Selbstkonzeptvariablen) wurden zweifaktorielle Varianzanalysen mit den jeweils zweigestuften Faktoren «Gruppe» und «Zeit» gerechnet (wobei der Zeiteffekt bei unserer Fragestellung nicht interessiert und deswegen nicht näher erläutert wird). Wir berichten stets die exakten p-Werte sowie die entsprechenden Effektstärken η² bzw. d (vgl. z. B. Cohen, 1988). Power-analytische Überlegungen führten zur Setzung des Signifikanzniveaus auf α = .15. Als Orientierung sei angeführt, dass bei der Durchführung eines t-Tests für unabhängige Stichproben mit n = 18 pro Gruppe und bei α = .15/.10/.05 sowie einseitiger bzw. zweiseitiger Testung Effektgrößen von |d| = 0.36/0.45/0.58 bzw. |d| = 0.51/0.58/ 0.70 statistisch signifikant wären. Bei |d| = 0.30 sprechen wir von einem kleinen, bei |d| = 0.50 von einem mittleren und bei |d| = 0.80 von einem großen Effekt. Zur Berechnung von d der Persönlichkeits- und Selbstkonzeptvariablen wurden Gruppendifferenzen jeweils an den Standardabweichungen der Gesamtstichprobe des Marburger Hochbegabtenprojekts des ersten Erhebungszeitpunkts relativiert (N = 287, abzüglich einzelner missings pro Instrument). Eine positive Effektstärke d indiziert im Querschnittsvergleich jeweils, dass hochbegabte Underachiever in der entsprechenden Variablen eine höhere Ausprägung als die hochbegabten Achiever bzw. die durchschnittlich begabten Achiever aufwiesen. Für die entwicklungsbezogene Interpretation von Gruppendifferenzen entsprechen positive Effektstärken d einer höheren Ausprägung im Grundschul- als im Jugendalter. 3 Ergebnisse 3.1 Hochbegabte Underachiever vs. hochbegabte Achiever 3.1.1 Datenquelle «Kind» bzw. «Jugendliche» – Intelligenz. Obwohl – wie aufgrund der Regression zur Mitte trotz der hohen Reliabilität der eingesetzten Testverfahren (vgl. Hanses, 2000; rG–J = .79) zu erwarten – die durchschnittliche Intelligenz in beiden Hochbegabtengruppen im Jugendalter etwas geringer als im Grundschulalter war, waren die hochbegabten Underachiever und Achiever hinsichtlich ihrer mittleren Intelligenz zu beiden Messzeitpunkten weitgehend vergleichbar (standardisiert an der Populationsstreuung, s = 15: d = –0.02 im Grundschulalter, d = 0.04 im Jugendalter; Tabelle 1; Haupteffekt «Gruppe»: p = .94; Wechselwirkung: p = .80). Das war für das Grundschulalter aufgrund der Gruppenzusammenstellung trivial, nicht jedoch für das Jugendalter. Bei den hochbegabten Underachievern war die Standardabweichung im Jugendalter größer als bei den hochbegabten Achievern (Levene-Test: Grundschulalter: p = .24; Jugendalter: p = .07). Z. pädagog. Psychol. 20 (3) © 2006 Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern 218 J.R. Sparfeldt et al.: Underachiever – 2. Akt? Tabelle 1 Intelligenzverteilung der 18 hochbegabten Underachiever (HBUA), der 17 hochbegabten Achiever (HBA) und der 17 durchschnittlich begabten Achiever (DBA) im Grundschulalter und im Jugendalter Grundschulalter Jugendalter INTELLIGENZ HBUA HBA DBA HBUA HBA DBA M 131.6 131.9 102.6 128.1 127.5 103.5 Minimum 125.8 127.8 90.9 105.5 110.4 79.7 Maximum 138.3 135.8 112.3 150.1 137.8 125.9 3.1 2.4 4.4 13.1 7.2 14.0 S Tabelle 2 Effektstärken1 d in den Selbstkonzeptfacetten: Vergleich der hochbegabten Underachiever (HBUA) mit den hochbegabten Achievern (HBA) und mit den durchschnittlich begabten Achievern (DBA) im Grundschulalter (G) und im Jugendalter (J) sowie Mittelwertsverschiebungen innerhalb der Gruppen G J G–J VARIABLE2 HBUA-HBA HBUA-DBA HBUA-HBA HBUA-DBA HBUA HBA DBA (1) Verhalten –0.81 –0.10 –0.61 –0.26 –0.06 0.14 –0.22 (2) Intellekt, Schule –0.85 –0.14 0.04 0.25 0.22 1.11 0.61 (3) Aussehen, Körper –0.56 –0.45 0.11 0.31 –0.48 0.18 0.28 (4) Angst –0.38 –0.41 –0.14 –0.26 0.12 0.36 0.28 (5) Beliebtheit –0.94 –0.97 –0.31 –0.60 –0.33 0.30 0.14 (6) Glück, Zufriedenheit –0.95 –0.84 –0.43 –0.87 0.34 0.87 0.31 (7) Phantasie, Kreativität –0.07 –0.13 0.35 0.48 –0.22 0.20 0.40 Für die Berechnung aller d-Werte wurde die Formel für unkorrelierte Messungen verwendet; im Querschnittsvergleich zeigen negative Werte ein niedrigeres Selbstkonzept der hochbegabten Underachiever, im Zeitvergleich ein niedrigeres Selbstkonzept im Grundschulalter. 2 Vgl. die ausführlichen Skalenbezeichnungen im Abschnitt 2.2 «Datenerhebung und Variablen». 1 – Besuchte weiterführende Schule. Fast alle hochbegabten Achiever besuchten in der neunten Klasse ein Gymnasium (16 von 17: 94 %, mittlerer IQ im Jugendalter = 129, mittlerer IQ im Grundschulalter = 132), einer ging zur Realschule (IQ im Jugendalter = 110, IQ im Grundschulalter = 132). Hingegen gingen «nur» 11 von 18 hochbegabten Underachievern zum Gymnasium (61 %, mittlerer IQ im Jugendalter = 133, mittlerer IQ im Grundschulalter = 133), fünf auf eine Realschule (28 %, mittlerer IQ im Jugendalter = 123, mittlerer IQ im Grundschulalter = 129) und zwei auf die Hauptschule (11 %, mittlerer IQ im Jugendalter = 117, mittlerer IQ im Grundschulalter = 129). Die Anteiligkeiten unterschieden sich statistisch bedeutsam (p = .04). – Abitur und Studium. Der Abiturientenanteil variierte entsprechend statistisch signifikant (p = .09): Von den hochbegabten Underachievern erlangten 12 von 18 (67 %) die allgemeine Hochschulreife, von den hochbegabten Achievern 15 von 16 (94 %). Der Hälfte der Underachiever, die ein Studium aufnahmen (9 von 18: 50 %), standen 12 von 16 (75 %) Achiever gegenüber (p = .17, n. s.). Beide Hochbegabtengruppen wiesen analoge Anteile an Studierenden unter den Abiturienten auf: So begannen 9 von 12 (75 %) der hochbegabten Underachiever und 12 von 15 (80 %) der hochbegabten Achiever mit Abitur ein Studium (p = .99). Z. pädagog. Psychol. 20 (3) © 2006 Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern – Selbstkonzepte. Ein statistisch bedeutsamer Gruppeneffekt zeigte sich in den Selbstkonzepten Verhalten, Beliebtheit und Glück und Zufriedenheit – jeweils mit einem niedrigeren Selbstkonzept der hochbegabten Underachiever als der hochbegabten Achiever. Die Effekte waren im Grundschulalter von großer praktischer Bedeutsamkeit und im Jugendalter von mindestens kleiner Größenordnung (vgl. Tabellen 2 und 3). Während hochbegabte Underachiever in der Grundschule ein niedrigeres schulisches Selbstkonzept als hochbegabte Achiever hatten (großer Effekt), waren die Werte im Jugendalter vergleichbar. Dies lag insbesondere an einem Selbstkonzeptabfall bei den hochbegabten Achievern. Die Wechselwirkung im Aussehen und Einstellung zum eigenen Körper spiegelte einen bedeutsamen und mittelgroßen Effekt im Sinne eines niedrigeren Selbstkonzepts der hochbegabten Underachiever im Grundschulalter, nicht jedoch im Jugendalter wider. Diese Veränderung ging insbesondere auf einen Selbstkonzeptanstieg bei den hochbegabten Underachievern zurück. – Selbstperzipierte Andersartigkeit. Hochbegabte Underachiever und hochbegabte Achiever gaben in vergleichbarem Ausmaß an, das Gefühl zu haben, «anders» als andere Jugendliche zu sein (d = 0.01, p = .95; Underachiever; M = 2.7, s = 0.8; Achiever: M = 2.7, s = 0.8). J.R. Sparfeldt et al.: Underachiever – 2. Akt? 219 Tabelle 3 Ergebnisse der zweifaktoriellen Varianzanalysen (η², ergänzt um die Überschreitungswahrscheinlichkeiten p [in Klammern]) über die Selbstkonzeptfacetten der Vergleiche der hochbegabten Underachiever (HBUA) mit den hochbegabten Achievern (HBA) sowie der Vergleiche der hochbegabten Underachiever mit den durchschnittlich begabten Achievern (DBA) HBUA – HBA 1 HBUA – DBA Gruppe Zeit WW Gruppe Zeit WW (1) Verhalten .223 (<.01) .002 (.80) .015 (.48) .009 (.60) .017 (.46) .005 (.68) (2) Intellekt, Schule .072 (.12) .345 (<.01) .193 (<.01) .002 (.82) .143 (.03) .036 (.27) (3) Aussehen, Körper .035 (.29) .012 (.53) .085 (.10) .002 (.79) .007 (.63) .095 (.07) (4) Angst .026 (.35) .064 (.14) .016 (.47) .034 (.29) .040 (.25) .006 (.65) (5) Beliebtheit .156 (.02) <.001 (.96) .052 (.19) .195 (<.01) .005 (.70) .029 (.33) (6) Glück, Zufriedenheit .132 (.03) .151 (.02) .032 (.30) .133 (.03) .055 (.18) <.001 (.95) (7) Phantasie, Kreativität .009 (.58) < .001 (.96) .053 (.18) .014 (.50) .009 (.59) .097 (.07) VARIABLE 1 Vgl. die ausführlichen Skalenbezeichnungen im Abschnitt 2.2 «Datenerhebung und Variablen». Gruppe: Haupteffekt «Gruppe»; Zeit: Haupteffekt «Zeit»; WW: Wechselwirkung Tabelle 4 Effektstärken1 d in der Persönlichkeitsbeurteilung der Eltern der Vergleiche der hochbegabten Underachiever (HBUA) mit den hochbegabten Achievern (HBA) und mit den durchschnittlich begabten Achievern (DBA) im Grundschulalter (G) und im Jugendalter (J) sowie Veränderungen innerhalb der Gruppen G VARIABLE HBUA-HBA J HBUA-DBA G–J HBUA-HBA HBUA-DBA HBUA HBA DBA –0.09 0.04 0.11 –0.22 Müttereinschätzung Soz.-emot. Unreife 0.40 0.17 0.47 Kogn. Leistungsfähigkeit –1.01 0.14 –0.51 0.59 –0.04 0.46 0.41 Soziale Kompetenz –0.34 –0.65 –0.51 –0.38 0.17 0.01 0.44 Autonomie, Ich-Stärke –0.28 –0.55 0.21 –0.23 –0.15 0.33 0.16 Vätereinschätzung Soz.-emot. Unreife 0.27 –0.21 0.90 0.08 –0.32 0.31 –0.02 Kogn. Leistungsfähigkeit –0.58 0.28 –0.63 0.54 0.30 0.26 0.57 Soziale Kompetenz –0.15 –0.19 –0.54 –0.13 0.14 –0.25 0.30 1 Für die Berechnung aller d-Werte wurde die Formel für unkorrelierte Messungen verwendet; im Querschnittsvergleich zeigen negative Werte eine niedrigere Ausprägung der hochbegabten Underachiever, im Zeitvergleich eine niedrigere Ausprägung im Grundschulalter. Bei der Interpretation sollte beachtet werden, dass Hochbegabte sich nicht merklich «anders» fühlten als «normale» Jugendliche (vgl. Schilling, 2002). Diese Andersartigkeit wurde von beiden Gruppen vergleichbar bewertet (d = 0.30, p = .39; Underachiever: M = 3.2, s = 0.9; Achiever: M = 2.9, s = 0.7). 2 3.1.2 Datenquelle «Eltern» – Persönlichkeit – Mütterbeurteilung. Hochbegabte Underachiever wurden im Grundschulalter von 18 Müttern (hochbegabte Achiever: 17), im Jugendalter von 17 Müttern (hochbegabte Achiever: 16) beurteilt.2 Zu bei- Die Ausfälle in den Mütter- bzw. Väterstichproben sind in allen Fällen auf Trennung/Scheidung oder den Tod eines Elternteils zurückzuführen. Z. pädagog. Psychol. 20 (3) © 2006 Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern 220 J.R. Sparfeldt et al.: Underachiever – 2. Akt? Tabelle 5 Ergebnisse der zweifaktoriellen Varianzanalysen (η², ergänzt um die Überschreitungswahrscheinlichkeiten p [in Klammern]) über die durch die Eltern beurteilten Variablen zur Persönlichkeit: Vergleiche der hochbegabten Underachiever (HBUA) mit den hochbegabten Achievern (HBA) sowie der Vergleiche der hochbegabten Underachiever mit den durchschnittlich begabten Achievern (DBA) HBUA – HBA 1 HBUA – DBA Gruppe Zeit WW Gruppe Zeit WW Soz.-emot. Unreife .069 (.14) .025 (.38) < .001 (.96) .002 (.83) .005 (.69) .051 (.20) Kogn. Leistungsfähigkeit .197 (.01) .069 (.14) .076 (.12) .063 (.15) .051 (.20) .057 (.18) Soziale Kompetenz .028 (.35) .009 (.60) .012 (.54) .043 (.24) .074 (.12) .011 (.55) Autonomie, Ich-Stärke < .001 (.99) .011 (.57) .036 (.29) .039 (.24) .001 (.89) .011 (.55) Soz.-emot. Unreife .050 (.26) .007 (.68) .193 (.02) .006 (.69) .026 (.39) .018 (.48) Kogn. Leistungsfähigkeit .070 (.18) .023 (.44) .001 (.91) .068 (.16) .081 (.13) .033 (.34) Soziale Kompetenz .024 (.43) .009 (.63) .039 (.31) .009 (.62) .032 (.35) .007 (.67) VARIABLE Müttereinschätzung Vätereinschätzung 1 Vgl. die ausführlichen Skalenbezeichnungen im Abschnitt 2.2. Gruppe: Haupteffekt «Gruppe»; Zeit: Haupteffekt «Zeit»; WW: Wechselwirkung den Zeitpunkten wurden hochbegabte Underachiever als sozial-emotional unreifer bewertet (jeweils kleiner Effekt; vgl. Tabellen 4 und 5). Hochbegabte Underachiever wurden zu beiden Zeitpunkten für kognitiv weniger leistungsfähig als hochbegabte Achiever befunden (großer bzw. mittelgroßer Effekt), die statistisch und praktisch bedeutsame Interaktion schränkte diese Interpretation nicht ein. Während sich keine substanzielle Veränderung in der Mütterbeurteilung der hochbegabten Underachiever nachweisen ließ, schätzten Mütter ihre hochbegabten Achiever im Jugendalter als weniger leistungsfähig ein als im Grundschulalter (kleiner Effekt). – Persönlichkeit – Väterbeurteilung. In der Väterbeurteilung hochbegabter Underachiever (Grundschulalter: 15; Jugendalter: 14) und hochbegabter Achiever (Grundschulalter 16; Jugendalter: 15)2 zeigte sich nur in der Skala sozial-emotionale Unreife eine Wechselwirkung «Zeit» × «Gruppe»: Diese spiegelte einen Abfall in der zugeschriebenen Unreife der hochbegabten Achiever über die Zeit und einen Anstieg bei den hochbegabten Underachievern wider (jeweils kleine Effekte). Hiermit korrespondierend wurden hochbegabte Underachiever von ihren Vätern im Jugendalter für deutlich unreifer befunden (großer Effekt; vgl. zu den weiteren Effektgrößen auch Tabellen 4 und 5). Z. pädagog. Psychol. 20 (3) © 2006 Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern 3.2 Hochbegabte Underachiever vs. durchschnittlich begabte Achiever 3.2.1 Datenquelle «Kind» bzw. «Jugendliche» – Intelligenz. Trivialerweise unterschieden sich hochbegabte Underachiever und durchschnittlich begabte Achiever im Grundschulalter deutlich in ihrer Intelligenz (standardisiert an der Populationsstreuung, s = 15: d = 1.93; vgl. Tabelle 1). Ein ähnlich großer Unterschied zeigte sich auch im Jugendalter (d = 1.64). Dementsprechend wurde in der Varianzanalyse der Haupteffekt «Gruppe» statistisch signifikant (p < .01), nicht jedoch die Wechselwirkung «Gruppe × Zeit» (p = .51). Die Varianzen waren in beiden Gruppen zu beiden Zeitpunkten vergleichbar (Grundschulalter: p = .66; Jugendalter: p = .59). – Besuchte weiterführende Schule. Den 11 von 18 (61 %) hochbegabten Underachievern auf dem Gymnasium standen 7 von 17 (41 %) durchschnittlich begabte Achiever gegenüber. Auf der Realschule waren 5 hochbegabte Underachiever (28 %) und 7 durchschnittlich begabte Achiever (42 %). In der neunten Klasse besuchten zwei hochbegabte Underachiever (11 %) und 3 durchschnittlich begabte Achiever (18 %) die Hauptschule. Die Anteiligkeiten der besuchten weiterführenden Schule in der 9. Klasse differierte nicht statistisch bedeutsam (p = .32). J.R. Sparfeldt et al.: Underachiever – 2. Akt? – Abitur und Studium. Den 12 von 18 (67 %) Abiturienten unter den hochbegabten Underachievern standen 5 durchschnittlich begabte Achiever von 16 (31 %) gegenüber (p = .08). Während, wie erwähnt, die Hälfte der hochbegabten Underachiever (9 von 18: 50 %) ein Studium begonnen hatten, taten dies alle 5 durchschnittlich begabten Achiever mit Abitur. Inferenzstatistisch war weder der Unterschied in den Studierendenanteilen (p = .22), noch in den Studierendenanteilen unter den Abiturienten bedeutsam (p = .52). – Selbstkonzepte. Hochbegabte Underachiever hatten sowohl im Grundschul- als auch im Jugendalter niedrigere Selbstkonzepte (mindestens mittelgroße Effekte) in den Skalen Beliebtheit und Glück und Zufriedenheit als durchschnittlich begabte Achiever (vgl. Tabellen 2, 3). Eine disordinale Wechselwirkung war in Aussehen und Einstellung zum eigenen Körper nachweisbar. Hochbegabte Underachiever schilderten ein niedrigeres entsprechendes Selbstkonzept in der Grundschule und ein höheres im Jugendalter als durchschnittlich begabte Achiever (jeweils kleiner Effekt). Hiermit korrespondierte eine kleine Selbstkonzeptzunahme bei hochbegabten Underachievern. Auch in Kreativität und Phantasie gab es eine statistisch bedeutsame Interaktion: Beide Gruppen hatten in der Grundschule vergleichbar ausgeprägte Selbstkonzepte, im Jugendalter war das Selbstkonzept der hochbegabten Underachiever höher als das der durchschnittlich begabten Achiever, bedingt durch einen substanziellen Selbstkonzeptabfall bei den durchschnittlich begabten Achievern. – Selbstperzipierte Andersartigkeit. Hochbegabte Underachiever schilderten häufiger als durchschnittlich begabte Achiever das Gefühl, «anders» als andere Jugendliche zu sein (Underachiever: M = 2.7, s = 0.8; Achiever: M = 1.9, s = 1.0; d = 0.96, p < .01). In der Bewertung dieser Andersartigkeit differierten beide Gruppen nicht statistisch bedeutsam (Underachiever: M = 3.2, s = 0.9; Achiever: M = 2.9, s = 0.7; d = 0.35; p = .31). 3.2.2 Datenquelle «Eltern» – Persönlichkeit – Mütterbeurteilung. Durchschnittlich begabte Achiever wurden im Grundschulalter und im Jugendalter von jeweils 17 Müttern beurteilt.2 Über beide Zeitpunkte wurden hochbegabte Underachiever als kognitiv leistungsfähiger eingeschätzt (vgl. Tabellen 4 und 5). – Persönlichkeit – Väterbeurteilung. Die durchschnittlich begabten Achiever wurden ebenfalls zu beiden Messzeitpunkten von 17 Vätern beurteilt. Inferenzstatistisch war in den drei Skalen kein bedeutsamer Gruppeneffekt zu belegen (vgl. insbesondere zu den Effektgrößen Tabellen 4 und 5). 221 4 Diskussion Ausgangspunkt unserer Studie war die bislang zwar häufiger thematisierte, aber empirisch kaum realisierte Betrachtung der Entwicklung hochbegabter minderleistender Grundschüler über einen Zeitraum von mindestens sechs Jahren bis ins junge Erwachsenenalter hinein. Hierfür griffen wir auf eine Underachiever-Stichprobe zurück, die einer nicht-vorselegierten Grundgesamtheit entstammte. Wir verglichen diese mit zwei nach Geschlecht und sozioökonomischem Status parallelisierten Stichproben, nämlich hochbegabten Achievern (als Grundschüler: Vergleichbare Intelligenz, bessere Schulleistungen) und durchschnittlich begabten Achievern (als Grundschüler: Vergleichbare Schulleistungen, geringere Intelligenz). Vor dem Hintergrund unserer Stichprobe und Operationalisierung lassen sich die eingangs formulierten Fragen wie folgt beantworten: a) Hochbegabte Underachiever und hochbegabte Achiever weisen auch als Jugendliche im Mittel eine vergleichbar hohe Intelligenz auf. Hochbegabte Underachiever sind auch im Jugendalter erheblich intelligenter als durchschnittlich begabte Achiever. b) Hochbegabte Underachiever und durchschnittlich begabte Achiever differieren nicht in der besuchten weiterführenden Schulform in der neunten Klasse, hingegen unterscheiden sich hochbegabte Underachiever und hochbegabte Achiever: Die hochbegabten Underachiever besuchen seltener ein Gymnasium. c) Mehr hochbegabte Achiever als hochbegabte Underachiever erlangen die allgemeine Hochschulreife, ebenso mehr hochbegabte Underachiever als durchschnittlich begabte Achiever. d) Die Anteile Studierender (hochbegabte Underachiever vs. hochbegabte Achiever; hochbegabte Underachiever vs. durchschnittlich begabte Achiever) unterscheiden sich nicht statistisch bedeutsam. e) Das weitgehend negative Selbstkonzeptbild der hochbegabten Underachiever im Grundschulalter findet keine Bestätigung im Jugendalter: Es ist keine nennenswerte weitere Verschlechterung eingetreten, in einigen Selbstkonzeptfacetten finden sich Verbesserungen. f) Hochbegabte Underachiever fühlen sich nicht häufiger «anders» als hochbegabte Achiever, aber häufiger «anders» als durchschnittlich begabte Achiever. Bei den Underachievern unterscheidet sich die Bewertung des «Andersseins» nicht bedeutsam von der der beiden Vergleichsgruppen. g) In der Mütterbeurteilung werden hochbegabte Underachiever zu beiden Zeitpunkten als kognitiv weniger leistungsfähig als hochbegabte Achiever und kognitiv leistungsfähiger als durchschnittlich begabte Achiever eingeschätzt. In der Vätereinschätzung werden hochbegabte Underachiever im Jugendalter als sozial-emotional unreifer beurteilt als hochbegabte Achiever. Die VäZ. pädagog. Psychol. 20 (3) © 2006 Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern 222 J.R. Sparfeldt et al.: Underachiever – 2. Akt? terbeurteilung hochbegabter Underachiever und durchschnittlich begabter Achiever differiert nicht bedeutsam. Bedingt durch den eher explorativen Charakter sind zahlreiche statistische Signifikanztestungen ohne α-Korrektur für multiple Testungen gerechnet worden. Deshalb haben wir zur besseren Einordnung der Befunde durchgehend Effektstärken angegeben. Die berichteten Befunde sollten also mit der erforderlichen Zurückhaltung interpretiert werden, eine Replikation ist wünschenswert. Auf die hohe Stabilität der allgemeinen Intelligenz braucht nicht eigens hingewiesen zu werden. Entsprechend gleichen sich die Mittelwerte der Gruppen hochbegabter Underachiever und hochbegabter Achiever bei der Retestung (Sechsjahresintervall) im Jugendalter, auch der deutliche Abstand zu den durchschnittlich begabten Achievern bleibt stabil. Im Jugendalter ist die Intelligenzstreuung der hochbegabten Underachiever größer als die der hochbegabten Achiever, jedoch nicht größer als die der durchschnittlich begabten Achiever. Als eine mögliche Erklärung bietet sich an, unterschiedliche Schulformen als differenzielle Entwicklungsmilieus aufzufassen (Baumert, Köller & Schnabel, 2000). Das Gymnasium scheint für die kognitive Entwicklung förderlicher zu sein als andere weiterführende Schulformen: Innerhalb der Gruppe der hochbegabten Underachiever haben die elf Gymnasiasten nämlich einen mittleren Intelligenzquotienten von IQ = 133, während die sieben Nicht-Gymnasiasten in der neunten Klasse «nur» eine mittlere Intelligenz von IQ = 121 besitzen. Im Grundschulalter unterscheidet sich der mittlere IQ beider Subgruppen lediglich um vier Punkte, also ist nur bei den Nicht-Gymnasiasten – nicht aber bei den Gymnasiasten – ein deutlicherer Abfall festzustellen. Auch bei den durchschnittlich begabten Achievern differiert der IQ im Jugendalter zwischen Gymnasiasten und Nicht-Gymnasiasten um 11 Punkte, im Grundschulalter jedoch nur um 4 Punkte. Obwohl die hochbegabten Underachiever in der Grundschule zu den 2 % Intelligenzbesten ihrer Kohorte gehören, erlangen nur zwei Drittel von ihnen die allgemeine Hochschulreife. Die von uns betrachteten hochbegabten Underachiever sind in der Grundschule mit einer Durchschnittsnote im Versetzungszeugnis in die vierte Klasse von 2.6 keine Schulversager. Die Wahrscheinlichkeit, dass Underachiever das Abitur machen und ein Studium beginnen, ist hoch, wenn sie trotz ihrer höchstens durchschnittlichen Schulleistungen (die in einigen Bundesländern vom Gymnasialbesuch ausschließen) auf das Gymnasium wechseln. Dabei zeigt sich auch in den von uns betrachteten Gruppen, dass «Aufstiege» in nächsthöhere Schulformen praktisch kaum stattfinden (vgl. z. B. Schümer, Tillmann & Weiß, 2002): Zwischen Grundschule bzw. Förder-/Orientierungsstufe und der 9. Klasse gibt es lediglich jeweils einen «Abstieg» (Wechsel vom Gymnasium in die Realschule) bei hochbegabten Achievern und hochbegabten Underachievern, aber keinen «Aufstieg». Von den hochbegabten Underachievern, die in der 9. Klasse nicht zum Gymnasium Z. pädagog. Psychol. 20 (3) © 2006 Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern gehen, schafft später nur einer das Abitur. Zwei durchschnittlich begabte Achiever wechseln bis zur 9. Klasse vom Gymnasium auf die Realschule, einer von der Realschule auf die Hauptschule. Weitere zwei Gymnasiasten erreichen nicht das Abitur. Der deutliche Abfall im schulischen Selbstkonzept bei den hochbegabten Achievern lässt sich im Einklang mit in der Selbstkonzeptforschung bekannten Bezugsgruppeneffekten interpretieren (vgl. Köller, 2004; Marsh, 2005a, b): Während die hochbegabten Achiever in der Grundschule zur Schulleistungsspitze ihrer Klasse gehören und, damit korrespondierend, ein sehr gutes schulisches Selbstkonzept (und entsprechend besseres als die hochbegabten Underachiever) haben, ändern sich die Bezugsgruppen mit dem Wechsel auf die weiterführende Schule. Die hochbegabten Achiever begegnen in der neuen (Gymnasial-)Klasse anderen leistungsstarken Schülern, was das deutlichere Absinken des mittleren Selbstkonzepts – zumindest zum Teil – erklären kann. – In einer anderen Situation befinden sich die hochbegabten Underachiever, aber auch die durchschnittlich begabten Achiever. Sie besuchen teilweise die Realschule und die Hauptschule. Dies kann die Nivellierung des Unterschieds beider Hochbegabtengruppen mitbedingt haben. Die Einschätzung der kognitiven Leistungsfähigkeit der hochbegabten Underachiever und der durchschnittlich begabten Achiever durch ihre Mütter und Väter gründet mehr auf den realisierten schulischen Leistungen als auf dem zugrunde liegenden Potential (zu ähnlichen Befunden bei Hochbegabten für Grundschullehrkräfte vgl. Rost & Hanses, 1997). Die Elterneinschätzung kovariiert nämlich mit der besuchten Schulform («Gymnasialeffekt»). So sind substanzielle Differenzen in der zugeschriebenen kognitiven Leistungsfähigkeit zwischen den hochbegabten Underachievern, die auf ein Gymnasium gehen, und denjenigen, die eine andere Schulform besuchen, zu beobachten – Gymnasiasten werden in der neunten Klasse jeweils als leistungsfähiger beurteilt (Mütterbeurteilung: d = 1.03; Väterbeurteilung: d = 1.33) als im Grundschulalter (Mütterbeurteilung: d = 0.23; Väterbeurteilung: d = –0.01). Ein ähnliches Muster zeigt sich auch bei durchschnittlich begabten Achievern (Grundschule: Mütterbeurteilung d = 0.44; Väterbeurteilung d = 0.27; Jugendalter: Mütterbeurteilung d = 0.84; Väterbeurteilung d = 0.73). Kritisch könnte eingewendet werden, dass es sich bei den von uns betrachteten Underachievern um eine kleine Gruppe von lediglich 18 Personen handelt. Allerdings sollte beachtet werden, dass die zugrunde liegende Ausgangsstichprobe über 7 000 Grundschulkinder umfasst. Da diese Stichprobe nicht nach Begabung und/oder Leistung vorselegiert war, dürfte es sich hierbei um eine weitgehend unverzerrte Underachiever-Stichprobe handeln. Damit sind im deutschen Sprachraum erstmals Aussagen über die weitere Entwicklung hochbegabter Underachiever möglich. Selbstverständlich gestattet unsere differenzialpsychologisch angelegte Arbeit keine Aussagen über zugrunde liegende Prozesse oder Mechanismen. Hier könnten eventuell J.R. Sparfeldt et al.: Underachiever – 2. Akt? qualitative Ansätze zur Hypothesengewinnung als Ausgangspunkt für weiterführende Feldstudien nützlich sein. Wenn auch der «zweite Akt» (Jugendalter) der «Underachiever» weniger dramatisch als der «erste Akt» (Grundschulalter) ausfällt, so verweist die hohe Bedeutung der Grundschulleistungen als Determinanten weiteren Bildungserfolgs auf die Relevanz einer möglichst frühen pädagogisch-psychologischen Intervention – nicht nur, aber besonders auch bei hochbegabten Underachievern. Ungelöst ist in diesem Zusammenhang die Frage, ob man Grundschullehrkräfte in ihrer Fähigkeit trainieren kann, frühzeitig das intellektuelle Potenzial ihrer Schüler zu erkennen, um Underachievement vorzubeugen. Die bisherigen Erfahrungen hierzu (Gear, 1978) sowie zur einschlägigen diagnostischen Kompetenz von Lehrkräften berechtigen zu Skepsis (vgl. Wild, 1991; Rost & Hanses, 1997; Ziegler & Stoeger, 2003; Schulthess-Singeisen, 2004). Anmerkung Die vorliegende Arbeit entstand im Rahmen des Marburger Hochbegabtenprojekts. Das Projekt wurde ab 1987 vom Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft (BMBW, Förderkennzeichen: B 360007.00.87) und ab 1993 vom Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie (BMFT, Förderkennzeichen: B 3979.00 B) finanziell gefördert. Eine bedeutende personelle und finanzielle Unterstützung erhielt das Projekt auch von der Philipps-Universität Marburg. Die Verantwortung für den Inhalt des Beitrags liegt bei den Autoren. Literatur Amthauer, R. (1970). Intelligenz-Struktur-Test (I-S-T 70). Göttingen: Hogrefe. Baum, S., Renzulli, J. S. & Hébert, T. P. (1995). Reversing underachievement: Creative productivity as a systematic intervention. Gifted Child Quarterly, 39, 224–235. Baumert, J., Köller, O. & Schnabel, K. (2000). Schulformen als differentielle Entwicklungsmilieus – eine ungehörige Fragestellung? In Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft GEW (Hrsg.), Messung sozialer Motivation. Eine Kontroverse. Schriftenreihe des Bildungs- und Förderungswerks der GEW, Bd. 14 (S. 28–68). Frankfurt/Main: Bildungs- und Förderungswerk der GEW. Block, J. H. & Block, J. (1980). The role of ego-control and egoresiliency in the organization of behavior. In W. H. Collins (Ed.), Minnesota Symposium on child psychology (Vol. 13, pp. 39–101). Hillsdale, NJ: Erlbaum. Borkowski, J. G. & Thorpe, P. K. (1994). Self-regulation and motivation: A life-span perspective on underachievement. In D. H. Schunk & B. J. Zimmerman (Eds.), Self-regulation of learning and performance (pp. 45–73). Hillsdale, NJ: Erlbaum. Butler-Por, N. (1987). Underachievers in school: Issues and intervention. Chichester: Wiley. Butler-Por, N. (1993). Underachieving gifted students. In K. A. 223 Heller, F. J. Mönks & A. H. Passow (Eds.), International handbook of research and development of giftedness and talent (pp. 649–668). Oxford: Pergamon. Cohen, J. (1988). Statistical power analysis for the behavioral sciences. Hillsdale, NJ: Erlbaum. Colangelo, N., Kerr, B., Christensen, P. & Maxey, J. (1993). A comparison of gifted underachievers and gifted high achievers. Gifted Child Quarterly, 37, 155–160. Emerick, L. J. (1992). Academic underachievement among the gifted: Student’s perceptions of factors that reverse the pattern. Gifted Child Quarterly, 36, 140–146. Ewert, O. (1979). Eine deutsche Version der Sears Self-Concept Inventory Scales (SSCI). In S.-H. Filipp (Hrsg.), Selbstkonzept-Forschung: Probleme, Befunde, Perspektiven (S. 191– 202). Stuttgart: Klett-Cotta. Gear, G. H. (1978). Effects of training on teacher’s accuracy in the identification of gifted children. The Gifted Child Quarterly, 22, 90–97. Göttert, R. & Asendorpf, J. (1989). Eine deutsche Version des California-Child-Q-Sort. Kurzform. Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie, 21, 70–82. Hanses, P. (2000). Stabilität von Hochbegabung. In D. H. Rost (Hrsg.), Hochbegabte und hochleistende Jugendliche: Neue Ergebnisse aus dem Marburger Hochbegabtenprojekt (S. 93– 159). Münster: Waxmann. Hanses, P. & Rost, D. H. (1998). Das «Drama» der hochbegabten Underachiever – «Gewöhnliche» oder «außergewöhnliche» Underachiever? Zeitschrift für Pädagogische Psychologie, 12, 53–71. Hébert, T. P. & Olenchak, F. R. (2000). Mentors for gifted underachieving males: Developing potential and realizing promise. Gifted Child Quarterly, 44, 196–207. Heckhausen, H. (Hrsg.). (1980a). Fähigkeit und Motivation in erwartungswidriger Schulleistung. Göttingen: Hogrefe. Heckhausen, H. (1980b). Von erwartungswidriger Schülerleistung zur Entwicklung schulischer Leistungsunterschiede. In H. Heckhausen (Hrsg.), Fähigkeit und Motivation in erwartungswidriger Schulleistung (S. 11–17). Göttingen: Hogrefe. Henkel, R. E. (1976). Tests of significance. Beverly Hills, CA: Sage. Horn, W. (1983). Leistungsprüfsystem LPS (2. Aufl.). Göttingen: Hogrefe. Köller, O. (2004). Konsequenzen von Leistungsgruppierungen. Münster: Waxmann. Krouse, J. H. & Krouse, H. J. (1981). Toward a multimodal theory of academic underachievement. Educational Psychologist, 16, 151–164. Marsh, H. W. (2005a). Big-Fish-Little-Pond Effect on academic self-concept. Zeitschrift für Pädagogische Psychologie, 19, 119–127. Marsh, H. W. (2005b). Big-Fish-Little-Pond Effect on academic self-concept: A reply to responses. Zeitschrift für Pädagogische Psychologie, 19, 141–144. McCall, R. B., Evahn, C. & Kratzer, L. (1992). High school underachievers: What do they achieve as adults? Newbury Park, CA: Sage. Oswald, W. D. & Roth, E. (1987). Der Zahlen-Verbindungs-Test (ZVT) (2. Aufl.). Göttingen: Hogrefe. Peterson, J. S. (2000). A follow-up study of one group of achievers and underachievers four years after high school graduation. Roeper Review, 22, 217–224. Z. pädagog. Psychol. 20 (3) © 2006 Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern 224 J.R. Sparfeldt et al.: Underachiever – 2. Akt? Peterson, J. S. (2002). A longitudinal study of post-high-school development in gifted individuals at risk for poor educational outcomes. Journal of Secondary Gifted Education, 14, 6–18. Piers, E. V. (1984). Piers-Harris Children’s Self-Concept Scale. Revised manual 1984. Los Angeles: Western Psychological Services. Piers, E. V. & Harris, D. B. (1969). Manual for the Piers-Harris Children’s Self-Concept Scale. Nashville, TN: Counselor Recordings and Tests. Portmann, R. (1974). Stufentests. Sprachliche Analogien 3/4. 308/408. Beiheft (unter Mitarbeit von I. Graudenz & G. Stark). Weinheim: Beltz. Portmann, R. (1975). Stufentests. Sprachliche Analogien 5/6. Beiheft (unter Mitarbeit von G. Kadatz). Weinheim: Beltz. Raph, J. B., Goldberg, M. L. & Passow, A. H. (1966). Bright underachievers. New York: Teachers College Press. Reis, S. M. & McCoach, D. B. (2000). The underachievement of gifted students: What do we know and where do we go? Gifted Child Quarterly, 44, 152–170. Rimm, S. B. (2003). Underachievement: A national epidemic. In N. Colangelo & G. A. Davis (Eds.), Handbook of gifted education (3rd ed., pp. 424–443). Boston: Allyn & Bacon. Rost, D. H. (1993a). Lebensumweltanalyse hochbegabter Kinder. Göttingen: Hogrefe. Rost, D. H. (1993b). Das Marburger Hochbegabtenprojekt. In D. H. Rost (Hrsg.), Lebensumweltanalyse hochbegabter Kinder (S. 1–33). Göttingen: Hogrefe. Rost, D. H. (2000). Hochbegabte und hochleistende Jugendliche: Neue Ergebnisse aus dem Marburger Hochbegabtenprojekt. Münster: Waxmann. Rost, D. H. & Hanses, P. (1995). Hochbegabte Jugendliche. Forschungsbericht Nr. 3. Marburg: Fachbereich Psychologie, Philipps-Universität. Rost, D. H. & Hanses, P. (1997). Wer nichts leistet, ist nicht begabt? Zur Identifikation hochbegabter Underachiever durch Lehrkräfte. Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie, 24, 167–177. Schilling, S. R. (2002). Hochbegabte Jugendliche und ihre Peers: Wer allzu klug ist, findet keine Freunde? Münster: Waxmann. Schlee, J. (1976). Legasthenieforschung am Ende? München: Urban & Schwarzenberg. Schulthess-Singeisen, L. C. (2004). Die Selbstkonzeptentwicklung unterschiedlich begabter Kinder im Kontext eines Förderprogramms. Unveröffentlichte Dissertation. Bern: Universität Bern. Z. pädagog. Psychol. 20 (3) © 2006 Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern Schümer, G., Tillmann, K.-J. & Weiß, M. (2002). Institutionelle und soziale Bedingungen schulischen Lernens. In Deutsches PISA-Konsortium (Hrsg.), PISA 2000 – Die Länder der Bundesrepublik Deutschland im Vergleich (S. 203–218). Opladen: Leske & Budrich. Siegel, S. (1956). Nonparametric statistics for the behavioral sciences. McGraw-Hill/Kogakusha: New York/Tokio. Sparfeldt, J. R. & Schilling, S. R. (2006). Underachievement. In D. H. Rost (Hrsg.), Handwörterbuch Pädagogische Psychologie (3. Aufl., S. 804–812). Weinheim: Psychologie Verlags Union. Spearman, C. (1927). The abilities of man. New York: Macmillan. Supplee, P. (1989). Students at risk: The gifted underachiever. Roeper Review, 11, 163–166. Thorndike, R. L. (1963). The concepts of over- and underachievement. New York: Teachers College Press, Columbia University. Wahl, D. (1975). Erwartungswidrige Schulleistungen. Weinheim: Beltz. Weinert, F. E. & Petermann, F. (1980). Erwartungswidrige Schülerleistung oder unterschiedlich determinierte Schulleistung. In H. Heckhausen (Hrsg.), Fähigkeit und Motivation in erwartungswidriger Schulleistung (S. 19–52). Göttingen: Hogrefe. Weiß, R. H. (1987). Grundintelligenztest Skala 2 (CFT 20). Göttingen: Hogrefe. Wild, K.-P. (1991). Identifikation hochbegabter Schüler. Lehrer und Schüler als Datenquelle. Heidelberg: Asanger. Ziegler, A. & Stoeger, H. (2003). Identification of underachievement: An empirical study on the agreement among various diagnostic sources. Gifted and Talented International, 18, 87–94. Dipl.-Psych. Jörn R. Sparfeldt Fachbereich Psychologie Philipps-Universität Marburg Gutenbergstr. 18 D-35032 Marburg Tel. +49 6421 2823653 Fax +49 6421 2823910 E-mail [email protected]