Birgit Vanderbeke Das lässt sich ändern

Transcrição

Birgit Vanderbeke Das lässt sich ändern
Nr. 5 | 29. Mai 2011
Ingeborg Bachmann Die Radiofamilie | Kuno Raeber Aus dem Nachlass |
Birgit Vanderbeke Das lässt sich ändern | Alain Badiou Lob der Liebe | Neue
Bücher zum Unternehmen Barbarossa | Porträt Chronos-Verlag | Weitere
Rezensionen zu James Sallis, Marshall McLuhan, Margarete Steiff,
Curt Riess, Viktor Vekselberg und anderen | Charles Lewinsky Zitatenlese
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Inhalt
Die heiteren
Seiten einer
Schwerenöterin
Im Herbst 1951 trat eine «kettenrauchende Meerfrau mit Engelhaar, die
mehr flüsterte als sprach» in das Hörspielressort von Radio «RotWeiss-Rot» in Wien ein. So schilderte ein Redaktor die 25-jährige
Kollegin, mit der er künftig im Turnus «Die Radiofamilie» schrieb: eine
halbstündige Soap über den Alltag der Familie Floriani, die jeweils am
Samstag um 21.30 Uhr ausgestrahlt wurde. Ingeborg Bachmann, so hiess
die Neue, schrieb zwei Jahre lang amüsante Episoden und Dialoge für
die populäre Kichersendung. Letzte Woche hat der Suhrkamp-Verlag
die verschollen geglaubten Hörspiel-Manuskripte erstmals publiziert.
Sie werfen ein völlig neues – heiteres – Licht auf die österreichische
Autorin, die bisher ja nicht gerade als Luftibus oder Ausbund von
Fröhlichkeit bekannt war (Seite 7).
Eine Offenbarung ist auch die soeben erschienene Biografie von
Douglas Coupland über Marshall McLuhan, der diesen Sommer 100
Jahre alt geworden wäre. Der Pop-Star der Medienforschung war im
Grunde genommen ein unmöglicher Kerl, den man aber schon wegen
seiner witzigen und brillanten Formulierungen einfach bewundern
muss (S. 18). – Neben Charles Lewinsky schreiben in dieser Nummer
auch andere Schriftsteller über Mitglieder ihrer Zunft: Michel Mettler
(S. 6), Judith Kuckart (S. 8) und Bruno Steiger (S. 10). Feinsinnige Texte,
die von präziser Beobachtung zeugen. Urs Rauber
Ingeborg
Bachmann (S. 7).
Illustration von
André Carrilho
Belletristik
Kurzkritiken Sachbuch
4 Kuno Raeber: Aus dem Nachlass I & II
Von Manfred Papst
15 Stiftung Lebenshilfe: Wir sind gleich. Und anders
Von Martin Zingg
Von Michel Mettler
6 Michael Stavarič: Brenntage
Breece D’J Pancake: Stories
7 Ingeborg Bachmann: Die Radiofamilie
Von Susanne Schanda
8 Joseph Mitchell: McSorley’s Wonderful
Saloon
Von Judith Kuckart
9 Birgit Vanderbeke: Das lässt sich ändern
Von Sandra Leis
Von Gerhard Mack
Von Bruno Steiger
Catherine Opie: Empty and Full
10 James Sallis: Der Killer stirbt
11 Dana Grigorcea: Baba Rada
Von Kathrin Meier-Rust
Daniel de Roulet: Fukushima, mon amour
Von Urs Rauber
Von Urs Rauber
Von Geneviève Lüscher
Jes Rust: Fossilien
22 Alice Chalupny: Victory und Vekselberg.
Der Poker um die Schweizer Industrie
Von Daniel Puntas Bernet
23 Konrad Hummler: Versuch, Irrtum, Deutung
Von Kathrin Meier-Rust
Von Hans Geiger
24 Alain Badiou: Lob der Liebe
Von David Signer
25 Annerose Sieck: Mystikerinnen
Peter Handke: Der Grosse Fall
Von Christina Hubbeling
Von Peter Keller
Matthias Wiesmann: Bier und Wir
26 Hildegard Hamm-Brücher: Und dennoch . . .
Nachdenken über Zeitgeschichte – Erinnern
für die Zukunft
Von Manfred Papst
Stephan Pörtner: Stirb, schöner Engel
Von Regula Freuler
José Saramago: Über die Liebe und das Meer
Von Manfred Papst
Von Urs Rauber
Das amerikanische Buch
Adam Goodheart: 1861 – The Civil War
Awakening
Von Andreas Mink
GUNNAR KNECHTEL / LAIF
Porträt
12 Gutenberg-Jünger an Flatscreens
Ein Besuch im Zürcher Chronos-Verlag
Von Urs Rauber
Kolumne
Das Zitat von George Bernard Shaw
Von Regula Freuler
15 Charles Lewinsky
Curt Riess, Esther Scheidegger: Café Odeon
Von Urs Bitterli
Von Reinhard Meier
16 John Steinbeck: Russische Reise
Christian Hartmann: Unternehmen
Barbarossa
Anna Reid: Blokada
11 Nathanael West: Eine glatte Million
Von Geneviève Lüscher
21 Victor Kocher: Terrorlisten. Die schwarzen
Löcher des Völkerrechts
Kurzkritiken Belletristik
Von Ina Boesch
18 Douglas Coupland: Marshall McLuhan
Von Kirsten Voigt
19 Gabriele Katz: Margarete Steiff
Von Irmgard Matthes
Von Simone von Büren
20 Kirsten A. Seaver: Mit Kurs auf Thule.
Die Entdeckungsreisen der Wikinger
Der Mann meines Lebens
Sachbuch
17 Stefan Ineichen: Endstation Eismeer. ­
Schweiz – Titanic – Amerika
Birgit Vanderbeke erzählt in ihrem neuen Roman von
einem glücklichen Landleben. Hier 2005 im Garten ihres
Hauses in Südfrankreich.
Agenda
27 Rolf Pflugshaupt: Verlorene Wünsche
Von Manfred Papst
Bestseller Mai 2011
Belletristik und Sachbuch
Agenda Juni 2011
Veranstaltungshinweise
Chefredaktion Felix E. Müller (fem.) Redaktion Urs Rauber (ura.) (Leitung), Regula Freuler (ruf.), Geneviève Lüscher (glü.), Kathrin Meier-Rust (kmr.), Manfred Papst (pap.)
Ständige Mitarbeit Urs Altermatt, Urs Bitterli, Andreas Isenschmid, Manfred Koch, Gunhild Kübler, Charles Lewinsky, Beatrix Mesmer, Andreas Mink, Klara Obermüller, Angelika Overath,
Stefan Zweifel Produktion Eveline Roth, Hans Peter Hösli (Art-Director), Urs Schilliger (Bildredaktion), Felix Eberlein und Manuela Klingler (Layout), Korrektorat St. Galler Tagblatt AG
Adresse NZZ am Sonntag, «Bücher am Sonntag», Postfach, 8021 Zürich. Telefon 044 258 11 11, Fax 044 261 70 70, E-Mail: [email protected]
29. Mai 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3
Belletristik
Schweizer Literatur Kuno Raeber (1922–1992) ist einer der grossen Aussenseiter
unter den hiesigen Schriftstellern. Das zeigen die Tagebücher und Briefe, Gedichte,
Erzählungen und Aufsätze aus seinem Nachlass
«Kunst ist Freiheit,
Frechheit, Frivolität»
Kuno Raeber: Aus dem Nachlass I & II.
Herausgegeben von Christine Wyrwa
und Matthias Klein. Scaneg,
München 2011. 660 und 446 Seiten,
zusammen Fr. 65.10.
Von Manfred Papst
Wirklich erfolgreich war er nie; weder
zu seinen Lebzeiten noch in den Jahren
danach, als eine fünfbändige, sorgsam
edierte Werkausgabe sein Schaffen würdigte. Obwohl Kuno Raeber gelegentlich
mit Preisen bedacht wurde und namhafte Kritiker wie Hanno Helbling und Beatrice von Matt immer wieder auf seinen
Rang als Lyriker und Erzähler hinwiesen, blieb er zeitlebens ein Aussenseiter
des Literaturbetriebs, der stets um seine
geistige und materielle Existenz zu
kämpfen hatte.
Das hatte innere und äussere Gründe.
Kuno Raeber entstammte dem katholischen Luzerner Grossbürgertum. Ursprünglich hiess er Zehnder, doch nachdem der Vater, ein Mediziner, seine Frau
und die vier kleinen Kinder verlassen
hatte, um in Kanada sein Glück zu suchen, nahm er den Nachnamen der Mutter an. Die entstammte der Familie des
Kuno Raeber
Kuno Raeber wurde 1922 in Klingnau geboren, wuchs in Luzern auf und studierte
in Basel. Als Historiker arbeitete er in
Rom, Tübingen und Hamburg. 1958 liess
er sich als freier Schriftsteller in München nieder. Dort verbrachte er, unterbrochen von längeren Aufenthalten in
Italien und den USA, fortan die meiste
Zeit seines Lebens. Raeber publizierte
sieben Lyrikbände und vier Romane, dazu
Erzählungen, Dramen, Hörspiele, Reiseskizzen und Essays. Er starb 1992 in
Basel. 2002-2004 erschien bei Nagel &
Kimche eine fünfbändige Werkausgabe,
die durch die beiden hier angezeigten
Bände ergänzt und abgeschlossen wird.
4 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. Mai 2011
wohlhabenden Verlegers und Buchdruckers Joseph Räber. Der Gutenberghof,
Ecke Morgarten- und Frankenstrasse in
Luzern, war Wohn- und Geschäftssitz
der Familie. Dort führte nach dem Verschwinden des Vaters Kunos Tante Luise
ein strenges Regiment. Sie fesselte und
traumatisierte den schwächlichen Knaben. Der blieb bis zu ihrem Tod 1981 finanziell und psychisch von ihr abhängig.
Erschütternde Notate
Kuno Raeber wächst im katholischen
Glauben auf und gerät als junger Mensch
in den Bann des Theologen (und damaligen Basler Studentenseelsorgers) Hans
Urs von Balthasar. Als Novize tritt er in
den Jesuitenorden ein. Doch ein Zerwürfnis mit seinem charismatischen
Lehrer und eine Glaubenskrise geben
seinem Leben eine abrupte Wendung.
Raeber verfällt zunächst in eine schwere
Depression. Dann studiert er Geschichte, dissertiert bei Werner Kaegi über Sebastian Franck, arbeitet als Historiker in
Italien und Deutschland. Er führt das
Leben eines weltoffenen Bildungsbürgers, ist scheinbar glücklich verheiratet
mit Meile Georgi, das Paar hat zwei
Töchter. Doch dann, Anfang, Mitte
dreissig, entdeckt Kuno Raeber seine
Homosexualität, die er in der Folge leidenschaftlich auslebt. Gleichzeitig wird
ihm klar, dass er Dichter sein will und
nichts anderes, auf jede Gefahr hin. Er
trennt sich von seiner Familie. Von 1958
an lebt er hauptsächlich in München.
Alle diese Dinge lassen sich in seinen
Tagebüchern, die nunmehr im Rahmen
einer zweibändigen Nachlassedition erschienen sind, nachlesen. Es sind erhellende und erschütternde Einträge. Sie
zeigen einen so gelehrten wie getriebenen Geist, der sich mit keinen Halbheiten zufrieden gibt. Schon im allerersten
Eintrag, unter dem 6. 3. 1941, lesen wir:
«Ich gehe meinen Weg grad und unbeirrt, ich will nicht nach rechts und
links schauen, immer nur vorwärts
gehen. Der junge Kleist sagte, er wolle
der grösste Dichter der Nation werden
oder dann keiner. So sage auch ich, auch
wenn ich mich abrackern muss, ich will
meine Sendung ganz erfüllen. [...] Meine
Sehnsucht macht noch nicht an den
Sternen Halt, denn was sind schon die
Sterne?»
Bei dieser Haltung bleibt er. «Kunst,
Literatur, das ist Freiheit, Frechheit, Frivolität, kühnes, tollkühnes Spiel mit dem
unendlichen Stoff Welt», notiert er am
19. 2. 1956. Und er geht konsequent seinen Weg. Die katholische Bild- und Bildungswelt bestimmt ihn auch nach seinem Abfall vom Kirchenglauben. Sein
Verhältnis zur Kunst bleibt ein sakrales.
In seinen persönlichen Aufzeichnungen
hantiert er stets mit den grössten Begriffen. Mit der tagespolitisch engagierten
Literatur seiner Zeit kann er wenig anfangen. Er denkt in Epochen und Äonen,
arbeitet an einer Remythologisierung
der Geschichte. Damit wird er in der
Gruppe 47, der er angehört, nicht verstanden. Er gilt dort allenfalls als komischer Vogel. Sein erster Roman wird
heftig kritisiert. In der Schweiz wiederum ist er kaum vorhanden, weil er in
München lebt, in deutschen Verlagen
publiziert, seine entscheidenden Erlebnisse Rom und New York verdankt. Als
Autor ist er ein ausgesprochener Stadtmensch. «Alexius unter der Treppe»
(1973) beschwört den Dämon New York,
«Wirbel im Abfluss» (1989) die heilige
Hure Rom. Raeber orientiert sich nicht
an Frisch und Dürrenmatt, sondern an
Hofmannsthal, Joyce und Borges.
Immerhin werden seine Texte publiziert. Am Anfang sind sie noch recht
konventionell. Erzählen linear, dichten
empfindsam. Doch dann, etwa von 1964
an, mit der Erzählung «Die Düne»,
lösen sie sich immer mehr vom Mainstream. Kuno Raeber entwickelt als Synästhetiker, der Farben hört und Töne
sieht, eine faszinierende Technik des
spiralförmigen Schreibens. Er arbeitet
mit Sprachkaskaden, die einen ungeheuren Sog entwickeln. Am überzeugendsten tut er das im Roman «Wirbel im Abfluss» (1989), einem WeltuntergangsSpektakel, das ursprünglich unter dem
Verleger-Titel «Sacco di Roma» erscheint. Man kann die damaligen Nöte
Egon Ammanns verstehen: «Wirbel im
Kuno Raeber,
hier 1988 vor den
Pyramiden in Gizeh,
dachte in Epochen
und Äonen.
JÖRG TROBITIUS
Abfluss» kann unfreiwillig komisch
klingen. «Sacco di Roma» wirkt unverfänglicher und zudem gebildet, deckt
aber nur einen kleinen Teil des Romangeschehens ab. Dieses nämlich konzentriert sich keineswegs auf die Plünderung Roms durch deutsche Landsknechte im Jahr 1527, sondern fährt mit der
Kulturgeschichte von zwei Jahrtausenden Karussell. Man hat diesen Roman
übrigens immer wieder gern als möglicherweise genial, aber unlesbar taxiert,
weil er auf 270 Seiten ohne Punkt auskommt. Er ist aber durchaus strukturiert
und keineswegs schwer zu lesen. Man
muss nur etwas Neugier mitbringen und
ihm eine Chance geben!
Der junge Kuno
Raeber in den 40er
Jahren, zu Beginn
seiner Laufbahn.
Freilich war Raeber nie ein Autor, dem
es um gefällige Plots ging. Er schrieb
keine Schmöker. Seine Abenteuer vollziehen sich in der Sprache, auch wenn
sie, wie der genialisch-böse, vom Hass
auf die Mutter geprägte Roman «Das
SCANEG VERLAG
Erste gründliche Biografie
Ei» (1981), Autobiografisches mitschleppen und verarbeiten. Das stellen seine
Herausgeber, Christine Wyrwa und
Matthias Klein, überzeugend heraus. Sie
haben schon die Werkausgabe für Nagel
& Kimche betreut. Nun haben sie
­Raebers Nachlass im Schweizerischen
Literaturarchiv Bern ausgewertet und
legen, nachdem der Zürcher Verlag
wegen der bisherigen Erfolglosigkeit
mit Raeber für ein Nachfolgeprojekt
nicht mehr zu gewinnen war, bei Scaleg
zwei gewichtige und abschliessende Ergänzungsbände vor. Eine editorische
Grosstat! Sie bringt eine Auswahl der
Tagebücher und Briefe, kapitelweise ergänzt um biografische Erläuterungen,
die in ihrer Gesamtheit ein eigenes Buch
und die erste gründliche Raeber-Biografie ausmachen, sowie bisher unpublizierte Gedichte, Erzählungen und Essays. Auf Schritt und Tritt lassen sich
hier die erstaunlichsten Funde machen
– vom eigenwilligen Stadtporträt «München 1970» bis zur tiefsinnigen Betrach-
tung «Protestantisch denken – katholisch leben».
Zeitzeugen wie der damalige Luchterhand-Lektor Thomas Scheuffelen berichten von Kuno Raebers Perfektionismus, von seiner unermüdlichen Arbeit
am Text, von seiner Insistenz auch:
Wenn er einen gemeisselten Satz als
richtig erkannt hatte, liess er nicht mehr
mit sich reden. Dieses Bemühen um den
genauen Gedanken zeigen auch die Tagebücher und Briefe. Wir haben es hier
mit einem wahrnehmungssensiblen und
sprachbesessenen Menschen zu tun, der
konsequent seinen Weg ging. Raebers
späteste Notizen knüpfen nahtlos an
seine frühesten an. Am 14. 10. 1991 notiert der bereits von der tödlichen AidsKrankheit gezeichnete Autor: «Kunst ist
für viele nur eine Tätigkeit wie eine andere. Ob sie dann ihre Zeit damit füllen
oder ihr Geld damit verdienen wollen:
Es geht ihnen nicht um Leben und Tod.
In Wirklichkeit aber ist Kunst alles oder
gar nichts.» l
29. Mai 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 5
Belletristik
Roman Erinnerungen an einen rätselhaften Brauch,
gesehen durch Kinderaugen
Michael Stavarič: Brenntage. C. H. Beck,
München 2011. 232 Seiten, Fr. 28.90.
Von Martin Zingg
Brenntage sind wunderbare Momente.
Am ersten Tag im Herbst tragen die Einwohner der Siedlung alles zusammen,
was sie nicht mehr benötigen: alte Möbelstücke, gebrauchte Kleider, Essensreste, Spielsachen oder Gummiwaren.
In «Brenntage», seinem jüngsten
Roman, lässt der Wiener Autor Michael
Stavarič seinen Ich-Erzähler immer wieder von dieser Entsorgungsmassnahme
schwärmen. Der Erzähler sagt uns aber
nicht, wo es diese Brenntage gibt, in
welcher Gegend also die Siedlung liegt,
die diesen reinigenden Brauch pflegt.
Überhaupt verschweigt uns der Erzähler allerhand: Wir erfahren nicht, wie er
heisst, und nicht, in welche Zeit seine
Geschichte fällt. Und wir haben auch
keine Ahnung, wie alt er ist.
Dass es sich um einen jungen Erzähler handeln muss, merken wir hingegen
sehr bald einmal. Er lebt, weil die Mutter
gestorben ist, bei Onkel und Tante, und
als diese auch bald stirbt, ist es der
Onkel, der sich fortan um ihn kümmert
und ihn allmählich in die Welt einführt.
In eine sehr ungewöhnliche Welt, wie
sich erweist.
«Brenntage» erzählt die allmähliche
Erschaffung dieser Welt, die einem Kosmos gleicht. Schauplatz ist eine Siedlung ohne Namen, entlegen und vergessen, den Ort bedient selbst die Eisenbahn nicht mehr. Es herrscht hier eine
seltsame, bisweilen irritierende Zeitlosigkeit, und einmal heisst es gar:
«Manchmal wusste ich nicht mehr, wie
viel Zeit schon vergangen, ob ich längst
erwachsen war oder noch immer ein
Kind.»
Dieser Ich-Erzähler ungewissen Alters ist ein genauer Beobachter. Seine
Wahrnehmungen ergänzt er um all das,
was ihm seine agile, in alle Richtungen
ausschwärmende Phantasie eingibt:
Auch auf das Unverstandene macht sich
der Junge seinen eigenen Reim. Daraus
entfaltet sich allmählich eine ganze
Welt, eine zudem, die zeitlich und örtlich nicht festzulegen ist. Viel ist etwa
die Rede von Bergbau, von Minen und
davon, dass diese erschöpft sind. Aus
diesen Minen lässt sich aber mit dem
Blick des Jugendlichen immer noch
etwas gewinnen. Ihn fasziniert etwa die
ungewöhnliche Sprache des Bergbaus.
Sprache bildet Welt ab, sie erschliesst
sie und schafft zugleich Realitäten, auch
davon handelt, gleichsam hinter dem
eigenen Rücken, Stavaričs wunderbar
offener, durchlässiger Roman.
Eine grosse Rolle spielen neben den
Minen die Wälder, die dunklen, verwunschenen Territorien neben der Siedlung.
In den Wäldern leben Tiere, sind Liebespaare zugange, hier nisten Geheimnisse und Ängste, hier lauert so vieles,
was noch keinen Namen hat und die
Phantasie okkupiert. In den Wäldern
können auch plötzlich Soldaten auftauchen, möglicherweise herrscht in der
Nähe gar Krieg, wer weiss, der junge Erzähler jedenfalls weiss es nicht und wird
diese Soldaten nie los.
BILDAGENTUR ZOONAR
Reinigendes Feuer
Wo es brennt, ist es
wunderbar: Michael
Stavaričs jugendlicher
Protagonist erschafft
sich eine Welt.
Und dennoch ist das, was der Erzähler vor unseren Augen allmählich, in
kleinen Schüben, ausbreitet, durchaus
von dieser unserer Welt. Spürbar wird
das, wenn etwa die Rede ist von Mikrowellen-Öfen, die an den Brenntagen
zum Sperrgut getragen werden, oder
vom Fernsehen. Diese Realität wird hier
durch Kinderaugen gesehen, und sie gehorcht keiner herkömmlichen Logik.
Wie weit den Kinderaugen und
-ohren zu trauen ist, bleibt unklar, bis
zuletzt. Das Wort, das letzte Wort hat
stets der Heranwachsende. Er bewegt
sich in breiten Vorstellungsgefilden und
Erinnerungsvorräten, er erzählt sich
durch einen dichten Dschungel voran,
legt sich mit Schleifen und gelegentlich
fast schon surrealen Volten einen Weg
frei, seinen Weg, getrieben vom Wunsch,
endlich «Teil dieser Welt» zu sein – und
natürlich bleibt man gespannt, wohin
das führen, wie das enden kann, was Michael Stavarič hier auf eindrückliche
Weise inszeniert. ●
Erzählungen Unsentimentale Texte des amerikanischen Autors Breece Dexter Pancake (1952-1979)
Das Nebenstrassenamerika
Breece D’J Pancake: Stories. Aus dem
Amerikanischen von K. Böhmer. Weissbooks, Frankfurt 2011. 216 S., Fr. 30.50.
Von Michel Mettler
Billie Holiday ist bekannt als jene Sängerin, die mit komplett lädiertem Organ in
die Jazzgeschichte einging und zur Säulenheiligen wurde. Die kratzige, mit
ihrem Zerbrechen spielende Stimme gilt
in den Stammlanden des Showbusiness
als beliebtes Instrument, um die Kehrseite von Glamour-Amerika ins Blickfeld zu rücken. Wenn dazu noch ein früher Suizid kommt und ein schmales,
nachgelassenes Werk, dann besteht Mythisierungsgefahr. Doch Breece Dexter
Pancakes Texte (das «D’J» spielt auf die
fehlerhafte Abkürzung seines Namens
unter seinem ersten publizierten Text
an) können ohne Rückgriff auf die Biografie ihres Verfassers mühelos beste6 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. Mai 2011
hen. Ihr Ton ist zwar brüsk und mitleidlos, doch ein Lackwegkratzer des Mittelstandslebens wie Raymond Carver oder
John Cheever ist Pancake nicht: Die
Schauplätze seiner Stories sind unlackiert. Es ist eine Welt abseits von Hochglanz und Urbanität, und ihre eigenbrötlerischen Bewohner entstammen der
werktätigen Schicht: Es sind Bergarbeiter, Trucker, Farmer oder Automechaniker. Zwischen ihnen geht es hemdsärmelig zu, und Pancake kommt ihnen
mit seiner ebenso einfühlsamen wie unsentimentalen Sprache packend nah.
Atmosphärisch und thematisch breiter gefächert als Bukowski, im Ton
schroffer als Carver, revitalisiert Pancake jene Erzählgattung, die den Hinterhof des American Dream ausleuchtet. Er
tut es mit Gespür für Figuren und Schauplätze, in einem straffen, posefreien Stil,
dessen Tonfall immer schon die gesamte
Botschaft enthält. Die ersten Sätze seiner Stories hallen von dem vielen wider,
was ihre Figuren an Ungemach noch erwartet. Im sozialen Abseits eines Nebenstrassenamerikas war Pancake selber zuhause, genauer im Bergbaugebiet
von West Virginia. Dort wurde er 1952
geboren. Nur zwölf kurze Erzählungen
hat der jung, durch einen Schuss aus seiner Waffe selbstverschuldet aus dem
Leben geschiedene Autor hinterlassen
(ob es Suizid oder Unfall war, ist umstritten). 1983 wurden sie in den USA
veröffentlicht, nun liegen sie in einem
schönen, bei weissbooks erschienenen
Band erstmals auf Deutsch vor. Das
Leben ihres Verfassers war kurz, doch es
scheint, als habe er seine Zeit genutzt.
Davon zeugt der emotionale Reichtum
seiner Prosa. Er hat dem Leben in den
Rachen geblickt. Und das Leben war
keine Fee, sondern ein Ungeheuer. ●
Michel Mettler ist Schriftsteller, Musiker
und Dramaturg. Er lebt in Brugg. Zuletzt
erschienen seine Erzählungen «H stellt
sich vor».
Hörspiel Ingeborg Bachmanns erfolgreiche Radioserie aus der Nachkriegszeit war eine
Soap Opera. Ihre Wiederentdeckung zeigt eine neue Facette des Werks
Als sie dem Gewicht der Welt
noch heiter begegnete
Ingeborg Bachmann: Die Radiofamilie.
Herausgegeben von Joseph McVeigh.
Suhrkamp, Berlin 2011. 412 Seiten,
Fr. 37.90.
Von Susanne Schanda
Man glaubte, alles sei gesagt zum Werk
der 1973 in Rom verstorbenen Ingeborg
Bachmann, doch nun zeigt sich mit der
Publikation der Hörspiel-Skripte «Die
Radiofamilie» ein neues Gesicht der österreichischen Dichterin. Bereits der
Briefwechsel mit Paul Celan («Herzzeit») und das «Kriegstagebuch» dokumentierten die Nachkriegszeit. Doch
niemand interessierte sich bisher für
Bachmanns Arbeit als Redaktorin und
Autorin beim amerikanischen Besatzungssender «Rot-Weiss-Rot» in Wien.
Von 1951 bis 1953 produzierte sie dort Radioskripte und Entwürfe für Sendungen
des Unterhaltungsprogramms. Sie selbst
betrachtete diese Stelle als Brotjob und
sprach kaum darüber. Dabei trug sie wesentlich zum Erfolg der zusammen mit
zwei Kollegen produzierten Hörspielreihe «Die Radiofamilie» bei.
Nun hat der amerikanische Germanist Joseph McVeigh die lange verschollen geglaubten Skripte Bachmanns herausgegeben, um einen Beitrag «zu einem
neuen Verständnis der Dichterin und
ihres Werkes in den frühen fünfziger
Jahren» zu leisten, wie er in seinem erhellenden Nachwort schreibt. Es ist die
Zeit vom Auftauchen der damals 25-Jährigen in den Wiener Literatenkreisen,
als sie ihre ersten Gedichte in Zeitschriften veröffentlichte und ihre Dissertation
über Martin Heideggers Existentialphilosophie abschloss; zudem der Beginn
einer schwierigen Beziehung mit dem
jüdischen Lyriker Paul Celan, der nur
knapp dem Tod durch die Nazis entkommen war und Bachmanns Leben
und Werk tief prägen sollte.
Die Hörspiele der
jungen Ingeborg
Bachmann (19261973) waren von einer
amüsanten Note
geprägt (Aufnahme
1955, mit Martin
Walser und Heinrich
Böll, von links).
die gemeinsame Geburtstagsfeier des
zwölfjährigen Wolferl und seiner Tante
Liesl, begleitete die Familie zu einer
Kunstausstellung und verfolgte eine
Diskussion über Koedukation. Neben familiären und privaten wurden auch politische Themen verhandelt wie die Entnazifizierung, der Wiederaufbau und
die Korruption. Das von der US-Besatzungsmacht vorgegebene pädagogische
Ziel der Sendung war, eine optimistische Lebenseinstellung in amüsante Geschichten zu verpacken.
Ingeborg Bachmann, die sich in dieser Zeit literarisch mit den seelischen
Wunden des Krieges auseinandersetzte
und in «Entfremdung» dichtete: «Ich
kann in keinem Weg mehr einen Weg
sehen» – musste für «Die Radiofamilie»
eine humoristische Alltagssprache mit
Bodenhaftung finden. Dies ist ihr erstaunlich gut gelungen, selbst bei dem
für sie heiklen Thema der Nazi-Mitläufer. Bachmanns Vater war selbst 1932 in
die NSDAP eingetreten. Die Schuld der
Väter zieht sich als düsteres Thema
durch ihr Werk bis zum «Todesarten»Zyklus. In der «Radiofamilie» ist Onkel
Guido «ein Trottel, der auf den Hitler
hereingefallen ist», wie so viele andere.
Das hört sich im Dialog mit seinem
Halbbruder Hans Floriani so an:
«Guido: In mir war immer etwas
Faustisches, ein deutsches Schicksal, ja...
Hans: Erinnere mich lieber nicht an
dein deutsches Schicksal. Du weisst, in
dem Punkt bin ich empfindlich. Nach
wie vor.
Guido: (leicht gekränkt) Bitte, bitte,
ich hab halt zuerst geglaubt, dass die sozusagen den Nihilismus des 20. Jahrhunderts überwinden würden. Du musst
doch zugeben, dass man damals sehr –
wie drücke ich mich aus – empfänglich
war. Aber das Faustische, das ist doch
wohl erlaubt, in einem höheren Sinne,
im goethischen, meine ich.
Hanni: Onkel Guido, wir sollen jetzt
den Faust lesen, du, der war aber ganz
anders als du!»
Frisch und leicht
Die humoristischen Geschichten über
den Alltag des Oberlandesgerichtsrats
Floriani und seiner Familie aus dem
Wiener Mittelstand passten nicht so
recht zum Karrierestart einer ambitiösen jungen Autorin.
Die damals in den USA bereits erfolgreiche Form des Radiodramas als Serie,
die Soap Opera, schlug auch in Österreich ein und machte «Die Radiofamilie» zur beliebtesten Sendung der Nachkriegszeit. Anfangs wurde sie jeden
zweiten Samstag um 21.30 Uhr gesendet,
wegen des grossen Erfolgs aber schon
bald im Wochenrhythmus. Sie nahm
die Hörerinnen und Hörer mit zur Familie Floriani an der Taubengasse 18, an
ULLSTEIN BILD
Ein Strassenfeger
Mit ihren spontanen Bemerkungen entlarven die Kinder Floriani so manche
Attitüde der Erwachsenen und verleihen der etwas biederen Familienidylle
eine frische Leichtigkeit. Dies zeigt sich
in Folge 54, als die Florianis in der Stadt
von einem Regenguss überrascht werden und auf der Suche nach einem
schützenden Dach ungeplant in die Eröffnung einer Ausstellung über moderne Kunst geraten. Während die Eltern
etwas ratlos vor den Bildern stehen, beobachtet die 16-jährige Tochter fasziniert das Vernissagepublikum und fragt:
«Du Papa, glaubst, schau, der in der
Schnürlsamthose ist ein Künstler? Er
sagt, er hat eine ‹Abstraktion in Blau›
hängen.» Wolferl erklärt seinem Vater,
was auf den Bildern zu sehen ist, und
bittet ihn dann, eines zu kaufen: «Die
sind viel schöner und gar nicht so dumm
wie der Hirsch, den wir damals aus dem
Dorotheum mitgebracht haben.»
Die treffsichere Alltagssprache ist
einmalig in Bachmanns Werk und lässt
«Die Radiofamilie» als heiteres Gegenstück zum Nachkriegsfilm «Der dritte
Mann» erscheinen, der Wien als düsteren Umschlagplatz von Spionen und
Mördern zeichnet. Das Heitere sollte im
späteren Werk der Dichterin allerdings
nicht mehr vorkommen. Im Gegenteil
zitiert sie in ihrem «Malina»-Roman gerade den «Dritten Mann» im Kontext
der Schuld der Väter. Der ÖsterreichPatriotismus der amerikanischen Kulturpolitik habe sich wohl nicht mit dem
«Lastbewusstsein» Bachmanns von der
politischen Vergangenheit des Landes
vereinbaren lassen, vermutet der Herausgeber Joseph McVeigh.
Dennoch ist die Soap Opera im Werk
der Bachmann kein Ausrutscher, sondern der Versuch, dem Gewicht der
Welt mit Leichtigkeit beizukommen. ●
29. Mai 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 7
Belletristik
Klassiker Die Porträts des New Yorker Autors Joseph Mitchell sind heute noch wundervoll zu lesen
Schriftsteller der Hafenkneipen
und Einwanderungsviertel
Joseph Mitchell: McSorley's Wonderful
Saloon. New Yorker Geschichten. Aus
dem Amerikanischen von Andrea
Stumpf und Sven Koch. Diaphanes,
Zürich, Berlin 2011. 448 Seiten, Fr. 34.90.
Von Judith Kuckart
GREGORY BULL / AP
Er soll gestickte Gänseblümchen auf
dem Hutband gehabt haben, dieser Joseph Mitchell. Ich würde gern ein Porträt schreiben über ihn, der so wunderbare Porträts schrieb. Er ging auch bei
sommerlicher Hitze in Mantel mit Hut
und Schlips aus, der Schlips muss rot
mit waldgrünen Punkten gewesen sein,
und die Socken dazu ebenfalls in passendem Rot. Mitchell war ein Zuhörer,
der, wenn ihm gewisse Fragen gestellt
wurden, die Katzen füttern ging. Einmal
fuhr er zur See, auf einem russischen
Frachter im Sommer 1931, aber im Herbst
war er zurück. Ansonsten lebte er in möblierten Zimmern zur Untermiete. Er
muss ein zärtliches Herz gehabt haben,
das sehe ich seinen Texten an.
Joseph Mitchell, der Mann mit dem
genauen Blick und den noch genaueren
Ohren, starb 1996 im Alter von 88 Jahren.
Er war 1929 von North Carolina nach
New York gekommen. Diese Herkunft
aus den Südstaaten führt er selber als
einen wichtigen Einfluss für sein Schreiben an: «Mein Thema waren nicht die
kleinen Leute. Sie sind so gross wie du
und ich, ganz egal, wer wir sein mögen.»
Seine Reportagen aus der Zeit zwischen
1938 bis in die fünfziger Jahre, die er für
den «New Yorker» schrieb, sind jetzt
auf Deutsch erschienen. Es sind Porträts von Menschen, auf die selten jemand genau schaut. Mitchell geht in die
Hafen- und Einwanderungsviertel, in
die Kneipen. Er geht zu den Verrückten,
8 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. Mai 2011
Strassen der Bowery und die Unterwelt
von Chinatown und verteilt Geld und
kleine Seifenstückchen an jene, die kein
Geld für Seife haben. Joseph Mitchell ist
ihr Porträtist.
«Mazie» wurde 1940 geschrieben,
und dieser siebzehn Seiten lange Text
hat ihn sicher mehr als siebzehn Tage
Arbeit gekostet. Denn Mitchell verbringt viel Zeit mit den Menschen, die
er beschreibt. Was macht ein gutes
Porträt aus? Lebenswahrheit? Ähnlichkeit? Wahrscheinlichkeit? Lebendigkeit?
Oder wenn die Individualität des Dargestellten im Gleichgewicht ist mit der Individualität der Darstellung?
den Predigern und Bettlern und auch zu
Mazie Gordon, die an der Kinokasse des
Venice-Theaters in der Park Row sitzt,
da wo die Bowery beginnt, da wo auch
«McSorley’s» ist, die älteste Kneipe der
Stadt, der Saloon, der Mitchells New
Yorker Geschichten den gemeinsamen
Familiennamen gegeben hat.
«Auf ihrem Rundgang versucht Mazie
sich von den anderen nur allzu bekannten schrägen Gestalten fernzuhalten, die
sich nachts in der Bowery herumtreiben. Dazu gehören die Witwe und die
Heulsuse. Die Heulsuse ist ein alter Obdachloser, der stundenlang (…) herzzerreissend schluchzt. Einmal hat ihn
Mazie auf die Schulter getippt und gefragt, was los sei. ‹Ich habe eine unverzeihliche Sünde begangen›, gab er zur
Antwort. Auf die Frage, worin die Sünde
bestehe, begann er eine theologische Erklärung, die sie nicht begriff…»
Bloss keine schlechten Sätze
Kinokassierin Mazie Gordon
In meiner Phantasie wäre Mazie Gordon
eine Freundin von Ilse Aichinger und
Else Lasker-Schüler gewesen, wenn sie
sich hätten begegnen können.
Mazie Gordon, zu der die Obdachlosen kommen, um im Kinodunkel zu
schlafen, Mazie, die für Ordnung während der Vorführungen sorgt, indem sie
mit ihren zu einem Knüppel zusammengerollten True-Romance-Heftchen Störenfriede rausschmeisst, Mazie, die platinblond und klein ist, aber eine grosse
Brust hat und so eine Mae West für
Arme ist, einen Spitz names Fluffy besitzt und viele Verehrer dazu, darunter
auch anonyme und nicht ungefährliche,
genau diese Mazie Gordon, eine jüdische Verehrerin des katholischen Glaubens und Traumdeuterin für alle, die
bedürftig und beladen sind, streunt nach
über zehn Stunden Arbeit durch die
McSorley’s Bar in
New York: Hier fand
Joseph Mitchell
(1908–1996) die
Menschen, die er in
seinen Reportagen
beschreibt (Aufnahme
2004).
Die einen nennen Mitchell einen Outsider, die anderen einen Insider, wie der
Autor Jimmy Breslin in einer Hommage
in der «New York Times» 2001 geschrieben hat. Joseph Mitchell: Wenn man die
Fotos von ihm anschaut, denkt man, er
muss ein Talent gehabt haben, seine Zurückhaltung offensiv zu nutzen. Glühpunkt seiner Texte kann die nächste
Person, die nächste und wieder die
nächste Person sein, die ihm interessant
zu sein scheint. Er ist ein guter Zuhörer
gewesen, aber er hat nicht gern telefoniert. Er wäre lieber eines gewaltsamen
Todes gestorben, als mit einem schlechten Satz erwischt zu werden. So werden
seine Reportagen zu Kurzgeschichten:
nicht, weil der Mann Schriftsteller sein
will, sondern weil er einer ist. Meine
Grossmutter hätte gesagt: Er kann zaubern. Denn es ist selten, dass jemand
ohne sichtliche Anstrengung so schreiben kann. In seinen Texten sagt er «ich».
Sie haben eine stille Gültigkeit, weil er
bar dafür bezahlt mit seiner Person. Ob
er wohl auf die Toilette gegangen ist, um
aufzuschreiben, was in der Orgie des Erzählens ihm ein anderer Mensch mitgeteilt hatte? Ob es Menschen gibt, die sich
nicht umgebracht haben, weil Mitchell
ihnen zugehört hat?
Eines Tages, dreissig Jahre vor seinem
Tod, hört Mitchell auf zu schreiben,
kommt aber noch jeden Tag in die Redaktion. Man hört ihn sogar tippen, hinter verschlossener Tür.
Seltsam ist meine Leseerfahrung mit
diesen in dem Band «McSorley’s Wonderful Saloon» versammelten Geschichten. Das Buch ist 416 Seiten dick, aber
eigentlich ist es noch viel dicker, wenn
man es genau liest. Denn die Texte, die
Mitchell in den letzten dreissig Jahren
seines Lebens nicht mehr geschrieben
hat, sind mit dabei, unsichtbar, aber lesbar, wenn man genau hinschaut und
genau hinhört, wie es der Autor einen
gelehrt hat. ●
Judith Kuckart lebt als Autorin und
Regisseurin in Berlin und Zürich. Zuletzt
erschien ihr Roman «Die Verdächtige».
Roman Birgit Vanderbeke schreibt in ihrem neuen Buch von einer Mesalliance und
einem geglückten Leben auf dem Land
Lob der einfachen Dinge
Birgit Vanderbeke: Das lässt sich ändern.
Piper, München 2011. 147 Seiten, Fr. 25.90.
Von Sandra Leis
Tochter aus gutem Haus trifft Naturburschen. Sie studiert Linguistik, er sucht
Sperrmülldeponien nach Wiederverwertbarem ab und schleppt heim, was
sich reparieren lässt – und das ist viel,
denn erstens kann er alles flicken, und
zweitens weiss man nie, wozu das eine
oder andere Zeug dereinst nützlich ist.
Die Mesalliance ist perfekt. Ihre Eltern, denen es vollkommen fremd ist,
selber einen Nagel einzuschlagen oder
einen Knopf anzunähen, legen Wert auf
Etikette und hoffen, dass die Anziehungskraft allmählich nachlässt. Doch
weit gefehlt: Die Ich-Erzählerin und ihr
Adam bleiben ein Paar, bekommen zwei
Kinder und ziehen dann aufs Land nach
Ilmenstett, «jottwehdeh» (janz weit
draussen).
Richtet man den Fokus auf Birgit Vanderbekes Gesamtwerk, so fällt ihr kühler
und entlarvender Blick aufs Familienleben auf. Mit Aplomb betrat sie als
34-Jährige 1990 die literarische Bühne,
las in Klagenfurt einen Auszug aus
ihrem Erstlingsmanuskript «Das Mu-
Zerrissenes Land Blick auf die USA unter Obama
Von überall her waren die Menschen nach
Washington gereist. Anderthalb Millionen füllten am
20. Januar 2009 die National Mall in Washington, um
dabei zu sein, als der erste Afroamerikaner als
44. Präsident der USA vereidigt wurde. Die Wahl
Barack Obamas war für viele ein Zeichen des
Aufbruchs. Nach den schwierigen Bush-Jahren
erhofften sich viele Amerikaner den Beginn einer
neuen Zeit. Vielleicht würde der Kampf gegen
Diskriminierung leichter, das Land ein klein wenig
gerechter werden. Catherine Opie war damals dabei
und hat die Menschen fotografiert, die viele Stunden
in der Kälte warteten. Die Gesichter, die sie
eingefangen hat, sind abwartend. Fast ist es so, als
nähmen die Blicke schon die Enttäuschung vorweg,
welche die nächsten Jahre bringen sollten. Die
Kräfte, die sich schnell gegen Obama und seine
Politik formierten, hat die 1961 geborene Fotografin
ebenfalls bei ihren Demonstrationen beobachtet.
«I didn’t vote for this Obamanation» ist auf einem
Plakat der Tea Party zu lesen. Andere fordern «more
jobs less spending». Gekürzt werden soll bei denen,
die ohnehin wenig haben und vor zwei Jahren von
«change» träumten. Ein nachdenklich stimmender
Band über ein zerrissenes Land. Gerhard Mack
Catherine Opie: Empty and Full. Hrsg. Helen
Molesworth. Hatje Cantz, Ostfildern 2011. 168 Seiten,
53 Farbabbildungen, Fr. 43.90.
schelessen» und gewann den IngeborgBachmann-Preis. Stand damals ein tyrannischer Vater im Zentrum, so porträtierte sie in «Friedliche Zeiten» (1996)
eine depressiv-neurotische Mutter. 1985
selbst Mutter geworden, schrieb die Autorin mit «Gut genug» (1993) eine herrliche Satire auf Schwangerschaft, Geburt und Elternschaft; in «Ich sehe, was
Du nicht siehst» (1999) schliesslich
schilderte sie, wie die Ich-Erzählerin
und ihr Kind es wagen, aus der grossstädtischen Enge des wiedervereinigungsgeschädigten Berlin aufzubrechen
und in der Fremde des ländlichen Südfrankreich anzukommen.
Südfrankreich: Hier lebt seit vielen
Jahren auch Birgit Vanderbeke. 1956 in
der DDR geboren, wuchs sie nach der
Übersiedlung ihrer Eltern in den Westen Deutschlands in Frankfurt am Main
auf, wo sie später Jura, Germanistik und
Romanistik studierte. Von ihr stammt
der Satz: «Ich glaube, dass man als Autorin nicht das Recht hat, Erfahrungen aus
dem Weg zu gehen.» In ihren Büchern
steckt immer auch eigene Lebenserprobung und -anschauung. Und so ist man
nicht vollkommen verblüfft, dass es in
der Realität einen Menschen gibt, der
zumindest Ähnlichkeiten hat mit dem
Helden Adam Czupek aus dem neuen
Roman «Das lässt sich ändern» – Vanderbekes Ehemann.
Der Buchtitel ist Adams Lebensmotto, und so wird aus einem anfänglich klassischen Tochter-Eltern-Konflikt
eine Aussteiger-Geschichte, die in einen
Aufbruch in eine bessere Welt mündet.
Sie arbeitet als Logopädin, er baut Küchen ein, und die Kinder finden im alten
Bauern von nebenan einen Ersatzgrossvater. Das Landleben entpuppt sich als
Herrlichkeit inklusive Selbstversorgung
und Nachbarschaftshilfe. Doch auch in
Ilmenstett findet sich immer jemand,
«der die Bullen ruft». Staccatohaft
schreibt Vanderbeke weiter: «Schwarzarbeit, Kinderarbeit, was weiss ich.
Keine Zulassung. Keine Lizenz. Die Kanalisation. Die Europanorm. Der Sortenkatalog. Die Hygiene. Die Sicherheit.
Wenn das alle so machen würden.»
Doch trotz Anfechtungen von aussen
bleibt die Idylle.
Erträglich ist das nur dank Vanderbekes extrem reduziertem und verknapptem Stil. Da ist kein Wort zu viel, und
glaubhaft ist, dass zwei Menschen sich
füreinander und für ein naturnahes
Leben entscheiden. Merkwürdig mutet
einzig der Umstand an, dass die Sprachmächtige und der Wortkarge – mit einer
einzigen unvergesslichen Ausnahme! –
sich nicht in die Wolle kriegen. Wie authentisch wäre es doch, mitzuverfolgen,
wie die beiden ungleichen Pole sich aneinander reiben. Birgit Vanderbeke verzichtet darauf. Ihr Buch, das auch märchenhafte Züge hat, ist ein Lob auf die
einfachen Dinge. Nicht mehr, aber auch
nicht weniger. ●
29. Mai 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 9
Belletristik
Kriminalroman Das neue Buch des Amerikaners James Sallis bestätigt dessen Ruf, immer für eine
erzählerische Überraschung gut zu sein
Gewiss ist nur der Tod
James Sallis: Der Killer stirbt. Aus dem
Amerikanischen von Jürgen Bürger und
Kathrin Bielfeldt. Liebeskind, München
2011. 250 Seiten, Fr. 29.90.
Was geht da vor? Worauf läuft es hinaus?
Was steckt dahinter? Auch beim neuen
Roman des amerikanischen Schriftstellers James Sallis kommt man um solche
Fragen nicht herum. Sie zielen auf Erhellung eines Plots, der dem Erzählgeschehen zugrunde liegt und sich im Lauf der
Handlung entfaltet, auf welchen Umwegen auch immer. Seine eigene Haltung
dazu hat Sallis unlängst in einem Interview dargelegt: «Das ist für mich das
Reizvolle am Krimi, dass sich die Handlung eigentlich von selbst ergibt. Man
muss sich damit nicht furchtbar abmühen, sondern kann sich ganz darauf konzentrieren, interessante Figuren zu erfinden.»
Der Plot, könnte das heissen, ist Nebensache oder Zugabe, sein Einsatz vielleicht allein noch eine Konzession an
die Regeln des Genres. Im Extremfall
bleibt er ein Geheimnis des Autors. So
einfach ist es nur selten. In «Der Killer
stirbt» ist es viel, viel einfacher.
Drei «interessante Figuren» sind es,
denen der 67-Jährige in seinem Buch die
Hauptrollen zuweist. Im Mittelpunkt
steht ein älterer, todkranker Berufsmörder namens Christian. Via Internet ist er
auf einen harmlosen Buchhalter angesetzt worden. Geduldig umkreist er sein
Opfer, wartet den passenden Moment
zur Erledigung des Auftrags ab. Doch
jemand anderes kommt ihm zuvor. Der
Buchhalter wird in seinem Büro niedergeschossen und schwer verletzt in ein
Krankenhaus gebracht. Es beginnt die
Suche des gedungenen Mörders nach
seinem schnelleren Konkurrenten. Die
Suche gipfelt in Christians Erkenntnis,
dass insgesamt nicht weniger als fünf
einander vollkommen unbekannte Männer mit der Angelegenheit betraut
waren. Alle waren sie im Internet gesucht, gefunden und aufgeboten worden, von einem im digitalen Dunkel bleibenden Auftraggeber.
Bilder in Grautönen
Auch Sayles, der die Untersuchung leitende Polizist, kommt der Sache nicht
näher. Ausgiebig und in sacht nuancierten Grautönen wird sein eher schon tristes als nur ödes Alltagsleben geschildert. Am Fall des angeschossenen Buchhalters scheint ihn vorab das Fehlen
jedes Motivs zu faszinieren. Aus Faszination wird Verstörung, Sayles’ Ratlosigkeit wächst sich zu der grundsätzlichen Frage aus, ob es denn überhaupt
«irgendetwas» gebe, das erkannt und
verstanden werden kann. Den einzigen
ihm nützlich erscheinenden Tipp erhält
10 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. Mai 2011
ANNETTE SCHREYER / LAIF
Von Bruno Steiger
Die Geschichten des
Krimiautors James
Sallis spielen in
einem Zwischenreich
aus Träumen und
Erinnerungen.
er ausgerechnet von Christian. «Puppenhandel» lautet das Stichwort, das
Sayles zu nächtelangen Recherchen am
Computer veranlasst. Stetig mehren,
vermengen, verwischen sich die Rätsel,
Sayles muss sich mit dem Schluss begnügen, bei seinen Erkundungen am
Bildschirm «direkt unter der Oberfläche
seiner eigenen auf eine ganz andere
Welt gestossen zu sein».
Innovativer Krimiautor
Es ist eine noch einmal deutlich «andere» Welt, die den alles überschattenden
Nebenschauplatz des Romans bildet. Sie
wird bewohnt vom Knaben Jimmie.
Dass er von seinen Eltern verlassen
wurde, hält er geheim. Mit der lange eingeübten Unterschrift der Mutter begleicht der Zwölfjährige die anfallenden
Rechnungen, das Geld dafür beschafft er
sich als Vorleser in einem Altenheim
und mit dem Ebay-Handel von Kinderspielzeug. Der elektronische Markt ist
«gross, breit gestreut und absurd»; dass
sich unter all den ausführlich beschriebenen Beispielen auch «Negerbabypuppen» finden, mag Zufall sein.
James Sallis, 1944 in Arkansas geboren, heute in Phoenix, Arizona, lebend,
gilt als einer der innovativsten Autoren
der amerikanischen Krimiszene. Er debütierte 1970 mit einem Gedichtband,
und noch sein vor drei Jahren mit dem
Deutschen Krimipreis ausgezeichneter,
schlichtweg grossartiger Kurzroman
«Driver» hat hohe poetische Qualitäten.
Ebenso unübersehbar ist Sallis’ Verankerung in den tradierten Formen von
Pulp und Noir. Zu den Noir-Vätern Jim
Thompson und David Goodies hat er
sich essayistisch geäussert, Chester
Himes erwies er die Reverenz mit einer
Biografie. Seine Übersetzungen von
Puschkin und Raymond Queneau weisen auf ein literarisches Interesse hin,
das weit über das Genre Krimi hinausgeht.
Die Welt in Sallis’ Büchern ist ein
Zwischenreich aus Träumen und Erinnerungen, durchsetzt mit Fragmenten
einer weitgehend medial geprägten
Wirklichkeit. Fast in jeder Szene läuft
irgendwo im Hintergrund ein Radio
oder ein Fernseher, auch Filme und
Filmzitate spielen in Sallis’ Prosa eine
eminente Rolle. Es ist eine Welt auf der
Kippe, eingehüllt in eine Dämmerung,
aus der es kein Erwachen zu geben
scheint. In Sallis’ ziemlich gnadenlosem,
zugleich merkwürdig begeistertem
Blick auf die dunklen Seiten des amerikanischen Alltags wird sie zu der Welt,
in der wir alle leben und in welcher bekanntlich nur eines gewiss ist: der Tod.
Womit der Plot des Romans in seiner
ganzen schmerzlichen «Einfachheit»
umrissen wäre; überflüssigerweise, wird
er doch schon im Buchtitel benannt. An
welcher Krankheit der Killer leidet,
bleibt unklar. Seine Schwierigkeiten
beim Wasserlösen könnten eine Alterserscheinung sein, die regelmässige Einnahme von Medikamenten lässt Schlimmeres erahnen. Dass er kurz vor seinem
Tod erblindet, ist die metaphorische
Volte, mit der die reichlich undurchsichtige Geschichte zur Parabel wird.
Das Buch bestätigt James Sallis’ Ruf,
immer für eine Überraschung gut zu
sein. Als Einstieg in sein Werk eignet es
sich jedoch nur bedingt. ●
Bruno Steiger lebt als freier Schriftsteller
und Literaturkritiker in Zürich. Zuletzt
erschien von ihm der Band «Zwischen
Unorten» mit Kritiken und Essays.
Débutroman Geschichte einer
skrupellosen Dorfgemeinschaft
Erwürgte Männer,
Affären und
reichlich Schnaps
Kurzkritiken Belletristik
Nathanael West: Eine glatte Million.
Roman. Deutsch von Dieter E. Zimmer.
Manesse, Zürich 2011. 224 Seiten, Fr. 30.90.
Peter Handke: Der Grosse Fall.
Erzählung. Suhrkamp, Berlin 2011.
279 Seiten, Fr. 37.90.
Grosses Glück widerfuhr Nathanael
West nicht in seinem kurzen Leben. 1903
als Sohn wohlhabender litauischer Juden
in New York geboren, träumte er vom
Schriftstellerleben und hielt sich knapp
als Vertragsautor in Hollywood über
Wasser. Neun Monate nach seiner Heirat
1940 starb er bei einem Autounfall, einen
Tag nach seinem Freund F. Scott Fitzgerald. West hinterliess vier Romane,
etwas Lyrik, Kurzgeschichten. Kritiker
schätzten ihn hoch. «Eine glatte Million», 1933 rasch niedergeschrieben, fiel
hingegen durch. Mit einer Neuübersetzung (die erste erschien 1972) und einem
kundigen Nachwort gibt uns Dieter E.
Zimmer erneut Gelegenheit, den Autor
kennenzulernen. Diese Hanswurstiade
zu Zeiten der Wirtschaftskrise, unter
drohendem Faschismus, mag damals zu
früh gekommen zu sein. Heute liest man
sie mit ebensoviel Vergnügen wie Bewunderung für ihren Autor.
Regula Freuler
Ein Schauspieler geht im Lauf eines
Tages vom Land in die Stadt. Er passiert
einen Wald, durchquert das Niemandsland der Vororte, begegnet einer Reiterin, einem Priester, Obdachlosen und
Polizisten, einem joggenden Staatsmann. Am Abend dieses Tages soll er
einen Preis entgegennehmen, anderntags in einem Film einen Amokläufer
spielen. Hinter dem Schauspieler darf
man den Sprachartisten Handke vermuten, hinter der Stadt die Metropole Paris.
Wie in den meisten Büchern dieses
grossen Erzählers passiert auch hier äusserlich betrachtet nicht viel, doch Handkes Wahrnehmung ist so subtil und ihre
Umsetzung in Sprache so präzis, dass
wir uns keine Sekunde langweilen. Wir
folgen dem Protagonisten des Buchs auf
seiner Wanderung, nehmen aber auch
an seinen Phantasien teil, etwa dem mit
abgründigem Humor entwickelten Konzept eines Irrtumslehrpfads.
Manfred Papst
Stephan Pörtner: Stirb, schöner Engel.
Kriminalroman. Bilgerverlag, Zürich 2011.
398 Seiten, Fr. 36.–.
José Saramago: Über die Liebe und das
Meer. Gedichte. Deutsch von Niki Graça.
Hoffmann & Campe, 2011. 103 Seiten, Fr. 25.–.
Seit 1998 hat der Zürcher Schriftsteller
Stephan Pörtner seinen Jakob «Köbi»
Robert bereits viermal auf Ermittlungstour geschickt. Köbis fünfter Fall, den er
aus Gründen der Liebe, aber widerwillig
übernimmt, reicht zurück in die siebziger Jahre. Damals wurde eine junge Frau
auf bestialische Weise ermordet. Eine
neue Leiche, drapiert wie ein gefallener
Engel, lässt auf einen Serienmörder
schliessen. Sauber legt Autor Pörtner
die Erzählfäden aus, doch das Ganze ist
gar sauber aufgefädelt. Vielleicht fühlte
der Autor sich dazu bemüssigt, weil er
das Buch in vier Teile gliedert, die 1973,
2009, 1990 und wieder 2009 spielen.
Scharniere bilden erklärende Kapitel,
die den Leser an der Hand nehmen wie
einen Kindergärtner, der zum ersten
Mal die Strasse überquert. Auch vermisst man die wunderbaren Sprachbilder. Auf ein nächstes, Köbi!
Regula Freuler
Der portugiesische Nobelpreisträger
José Saramago (1922–2010) ist vor allem
durch Romane wie «Das Memorial»,
«Die Stadt der Blinden» und «Die Reise
des Elefanten» bekannt geworden. Er
hat auch Essays, Tagebücher, Dramen
und Lyrik verfasst. Erstmals liegt nun
eine Auswahl seiner Gedichte auf
Deutsch vor. Sie bringt Auszüge aus den
Bänden «Os Poemas Possíveis» («Die
möglichen Gedichte») und «Provalvemente Alegria» («Wahrscheinlich Freude»), die 1966 (sowie überarbeitet 1982)
und 1970 erstmals erschienen. Der Autor
zeigt sich hier als zugleich sinnlicher
und formbewusster Poet, der am liebsten den traditionellen zehnsilbigen Vers
verwendet, um die Liebe und die maritime Natur zu besingen, aber allmählich
auch zu freien Rhythmen findet. Unter
der katholischen Diktatur Salazars
waren diese Texte durchaus ein Wagnis.
Manfred Papst
Dana Grigorcea: Baba Rada. Das Leben
ist vergänglich wie die Kopfhaare.
KaMeRu, Zürich 2011. 156 Seiten, Fr. 29.–.
KATRIN SCHÖN
Von Simone von Büren
In der weitläufigen Schilf-Wasser-Landschaft des rumänischen Donaudeltas
lässt sich der Himmel nur schwer von
der Erde unterscheiden, es wird dunkel,
«ohne dass es zuvor hell gewesen wäre»,
und Bestattete werden immer wieder an
die Oberfläche gespült. Hier siedelt die
32-jährige Dana Grigorcea ihren eigenwilligen Débutroman an. Die Orientierung fällt in der Geschichte, die er erzählt, ebenso schwer wie in der Landschaft, in der er spielt. Denn Grigorceas
alte Erzählerin, die Titelfigur Baba Rada
mit den knochigen Fingern und dem
zahnlosen Mund, gibt sie zerstückelt
wieder, in Fetzen, die der Wind verweht
und das Eis halb zudeckt.
Es geht um erwürgte Männer, heimliche Liebschaften und Schnaps, um einen
verschlagenen rotbärtigen Milizkommissar und einen entflohenen Terroristen, der in einem Motorboot in Baba
Radas abgelegenes Dorf gebracht wird.
Die ruchlose Greisin, von der man munkelt, sie habe ihren Mann umgebracht,
hat nichts mehr zu verlieren und noch
einiges zu gewinnen: Das Boot zum Beispiel und den Terroristen als Mann für
ihre hysterische «phosphoreszierende
Albinatochter».
Skrupel kennt in der mittellosen
Dorfgemeinschaft niemand. Hier werden Traditionen – gleichermassen geprägt von der orthodoxen Kirche, der
kommunistischen Vergangenheit und
urtümlichem Geisterglauben – nach Bedarf angepasst und erfunden. Und auch
die Geschichten, die man anderen und
sich selbst erzählt, müssen vor allem gut
klingen und bestimmten Zwecken dienen. Mit der Wahrheit haben sie nicht
zwingend zu tun.
In ihrer unverschämten, kraftstrotzenden Erzählerin findet die in Bukarest
geborene, zweisprachig aufgewachsene
und heute in Zürich lebende Autorin ein
faszinierendes Gefäss für ihre lustvoll
überschäumende Erzählkunst. Humorvoll und in bildstarker Sprache
lässt sie in dreissig kurzen Kapiteln
eine unwirtliche Welt entstehen, in
der die Menschen mit ihren Lüsten
und Leiden bloss ein verschwindend kleiner Teil sind, verglichen mit der mächtigen Natur,
und in der die Grenze zwischen Traum und Wachsein,
Lebenden und Toten immer
wieder verschwimmt wie die
Linie zwischen Himmel und
Erde im Donaudelta. ●
29. Mai 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 11
Porträt
Der Zürcher Chronos-Verlag hat 1000 Bücher publiziert und ist der
wichtigste Vermittler von Geistes- und Sozialwissen aus Schweizer
Universitäten. Worin liegt das Erfolgsrezept dieses Editionshauses?
Urs Rauber hat Hans-Rudolf Wiedmer und sein Team besucht
Gutenberg-Jünger
an Flatscreens
Als der Mainzer Johannes Gutenberg um 1450
den Buchdruck mit beweglichen Lettern erfindet, ist das eine Revolution der Buchherstellung wie auch der öffentlichen Kommunikation: Auf einen Schlag werden die Bibel, die
­Ablassbriefe und die Kalender einem breiten
Publikum zugänglich gemacht. Wenn 530 Jahre
später das Desktop Publishing die gutenbergsche Satzherstellung ablöst, macht der Buchdruck erneut einen Quantensprung.
Zwei junge Zürcher Universitätsabsolventen
gründen in dieser Zeit einen Dissertationenverlag und setzen von Beginn weg auf diese Digitalisierung. Sie tragen dazu bei, dass Doktorarbeiten, die bisher nur in Bibliotheken schlummern,
plötzlich im Buchhandel zu kaufen sind. Ein
Meilenstein in der Demokratisierung universitären Wissens.
«Aus einer Mischung von Verlegenheit und
Laune haben Dieter Brupbacher und ich 1985
den ‹Chronos-Verlag für Geschichte› gegründet», erzählt Hans-Rudolf Wiedmer, ein Mann
mit kräftigem rasiertem Gesicht und buschigen
Augenbrauen. Als ersten Titel verlegen die
zwei die Dissertation eines Studienkollegen.
Sie trägt einen für das akademische Milieu ungewöhnlich knalligen Titel: «Seelennöte der
Untertanen. Selbstmord, Melancholie und Religion im Alten Zürich». Autor ist Markus Schär,
der spätere Präsident der SP Thurgau.
Editorische Meisterleistung
Mit ihren Einlagen von je 30 000 Franken kaufen die beiden Jungunternehmer teure grosse
Macintosh-Geräte, auf denen sie das Gestaltungsprogramm PageMaker installieren. «Diesen Startvorsprung haben wir drei oder vier
Jahre behalten, bis sich die neue Technologie
durchgesetzt hat», sagt Wiedmer. Er sitzt mit
aufgekrempelten Hemdsärmeln hinter einem
dunklen schweren Holzpult an der Eisengasse 9
im Zürcher Seefeld. Die etwas ältliche Möblierung erinnert eher an Gutenberg als an Steve
Jobs. Doch Hans-Rudolf Wiedmer, 56, seit dem
Ausstieg seines Mitstreiters Alleininhaber und
Geschäftsführer der Chronos Verlags AG, ist
ein moderner Unternehmer. Kein Literat mit
wehendem Haar, aber auch kein trendiger Chef
vor einer Batterie von USM-Haller-Regalen.
Wiedmer, den alle «Tschigi» nennen – den
Übernamen hat ihm als Kind ein Tessiner
Nachbarsbub verpasst –, trägt die Hauptverantwortung für ein erfolgreiches KMU, den führenden Schweizer Geschichtsverlag. Und er
12 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. Mai 2011
steht für solide Transparenz: Chronos publiziert heute jährlich 50 Bücher und generiert
einen Umsatz von rund 1,5 Millionen Franken.
Der Verlag, der auf anderthalb Stockwerken
einer Altbauliegenschaft verteilt ist, beschäftigt
neben dem Chef fünf Angestellte mit insgesamt
420 Stellenprozenten. Die Jahreslöhne um
95 000 Franken brutto können sich in der Branche sehen lassen.
Zu den ersten Buchprojekten, die Chronos an
Land zieht, gehört das Mammutwerk «Arbeiterschaft und Wirtschaft in der Schweiz 1880–
1914» des renommierten Berner Historikers
Erich Gruner. Für ihn hat Wiedmer einige Jahre
Das Who is who der Autoren
liest sich wie ein
Panoptikum der Schweizer
Geisteswissenschaft.
als Assistent gearbeitet. Die Herausgabe des
5000-Seiten-Manuskripts mit vielen handschriftlichen Korrekturen wird zur editorischen Meisterleistung. Gruner willigt ein, einen
Vorschuss von 100 000 Franken zu leisten.
Wiedmer und Brupbacher stecken den Betrag
sogleich in die Aufrüstung ihrer Soft- und
Hardware.
Aus Sicherheitsgründen besteht Erich Gruner auf einem ausführlichen Vertrag. Als die
Juristin, eine Studienkollegin Tschigis, sich
nach dem Alter des Verfassers erkundigt und
Wiedmer entgegnet: «Gruner ist 70 – genau 40
Jahre älter als ich», drängt die Anwältin auf
eine Zusatzklausel. «Es war mir etwas unangenehm, aber ich musste Gruner diese Frage stellen. Er lächelte nur und fragte: ‹Und was passiert, wenn Sie sterben, bevor alles fertig ist?›»
So kommt eine gegenseitige Sterbeklausel in
den Vertrag. Und nach gut anderthalb Jahren
sind die vier dicken schwarzen Bände gedruckt,
ohne Leichen am Wegrand.
Der Chronos-Verlag hat in 25 Jahren rund
1000 Titel herausgebracht. Das Who is who der
Autoren liest sich wie ein Panoptikum der
Schweizer Geisteswissenschafter des letzten
Vierteljahrhunderts. Von Rudolf Braun über
Hans Ulrich Jost, Georg Kreis, Beatrix Mesmer,
Roger Sablonier, Brigitte Studer bis zu Jakob
Tanner und anderen sind fast alle Historikerin-
nen und Historiker vertreten, die in der Schweiz
Rang und Namen haben.
Zu den Chronos-Autoren gehören aber auch
Philosophen wie Michael Hampe und Georg
Kohler. Politologen wie Dieter Ruloff, Regula
Stämpfli und Albert Stahel. Prominente wie
Sigi Feigel, Peter Maurer, Klara Obermüller und
Rudolf Strahm. Und diesen Frühling hat der
Verlag gar einen unveröffentlichten Roman
(«Das Wunder des Baums») aus dem Nachlass
von Annemarie Schwarzenbach publiziert.
«Wir sind stolz, dass wir das Spektrum von Geschichte in Richtung Philosophie, Literatur,
Theater und Musik ausweiten konnten.»
Furios gegen Buchpreisbindung
Wer Tschigi allerdings die Frage stellt, welches
seine Lieblingsautoren seien, löst bei ihm einen
mittleren Bedenkensanfall aus. «Eine völlig unkorrekte Frage», findet er. Zaudert, setzt an,
zögert wieder – und winkt dann ab. Nein, das
könne er nicht beantworten, da er sonst «einige
verprelle». Political correctness ist dem abwägend formulierenden Geschäftsmann in Fleisch
und Blut übergegangen.
Ins Feuer gerät der Chronos-Mann freilich,
wenn die Rede auf die Buchpreisbindung
kommt. «Ich bin als Verleger dezidiert dagegen», sagt er. Die Preisbindung habe mit dem
Buchhandlungssterben ebensowenig zu tun
wie mit der Quersubventionierung hochstehender Bücher durch Bestseller – «eine Mär».
Wiedmer empört sich vielmehr darüber, wie
grosse Buchhandelsketten kleineren Verlagen
«das Messer auf die Brust setzen, um Einkaufsrabatte zu diktieren». Bitte keine Namen nennen, ermahnt er. Um gleichzeitig lebhaft zu
schildern, wie eine bekannte Grossbuchhandlung vom Verlag «unverschämtes Geld für die
Präsentation von Büchern» bei der Kasse und
auf dem Plakataushang verlange.
Ein Lieblingsbuch möchte der Chronos-Verleger dennoch nennen: «Schön war draussen …»
von Max Perkal, die Aufzeichnungen eines
19-jährigen Juden aus dem Jahr 1945. Wiedmer
hat den Auschwitz-Überlebenden 1995 kennengelernt, ist mit ihm durch Zürich spaziert und
freut sich bis heute über die eindrückliche Begegnung. Chronos hat das erschütternde Büchlein in der Reihe «Zeitzeugnisse» in einer
deutsch-englischen Ausgabe publiziert.
Zu den Verlagsjuwelen gehören auch Carsten Goehrkes dreibändige Geschichte «Russischer Alltag» (2003–2005), ein Werk von inter-
MARION NITSCH
Pause im Chronos-Verlag. Von links nach rechts: Geschäftsführer und Inhaber Hans-Rudolf «Tschigi» Wiedmer, Monika Bucheli und Roman Pargätzi.
29. Mai 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 13
Porträt
Chronos: Viele Titel, bekannte Autoren, kleine Auflagen.
nationalem Rang. Dann das Erfolgsbuch
«Fleisch und Blut» von Susanna Schwager
(2004), das die Welt ihres Grossvaters beschreibt. Es hat mit 25 000 Exemplaren die Spitzenauflage aller Chronos-Titel erzielt. Und natürlich das Prestigeobjekt: die 25 Bände der
Bergier-Kommission (2002), die mit Ausnahme
des Raubkunst-Bandes «weniger als je tausend
Mal» verkauft wurden. Der klassische Fall einer
Publikation, über die alle reden und die fast niemand gelesen hat.
Ein geschickter Schachzug ist der Erwerb
der Rechte an Werner Rings Bestsellern
«Schweiz im Krieg 1933–1945» und «Raubgold
aus Deutschland», die Chronos 1997 neu auflegt. «Werner Rings war ein charmanter und
geistreicher Herr, bereits über 80, als ich ihn
kennenlernte», erzählt Wiedmer. Als Rings, der
damals in Ascona lebte, ein neues Nachwort
schreiben wollte, habe er ihn überredet, einen
Computer zu kaufen. «Ich habe ihm gesagt,
wenn er einen Mac kaufe, könne ich ihm das am
Telefon beibringen. Er hat mich dann angerufen
und gefragt: Ich sitze jetzt vor dem Computer.
Was muss ich tun? Ich sagte ihm: Ganz einfach,
schalten Sie den Strom ein, klicken Sie mit der
Maus auf das Icon und schieben Sie die Diskette ins Laufwerk. Dann sagte er: Maus? Icon?
Diskette? Was ist das?» So erklärt Wiedmer
dem Autodidakten Rings Schritt für Schritt, wo
der Schlitz für die Disketten sei, wie er die
Maus bewegen müsse usw. «Jedenfalls hat es
funktioniert, Rings hat sein Nachwort von­
30 Seiten auf einem Macintosh geschrieben.
Und mir hat’s Spass gemacht.»
annehmen können. «Aber es ist halt unsere
Aufgabe, aus einem Manuskript ein gutes Buch
zu machen. Wir sind ein Dienstleistungsunternehmen», sagt Pargätzi lakonisch, der vor
einem eleganten grossen A3-Flatscreen sitzt.
Ins gleiche Horn stösst Monika Bucheli,
ebenfalls Mitarbeiterin der ersten Stunde:
«Viele Dissertationen sind heute schlecht geschrieben. Man sieht, wie riesige Quellenexzerpte einfach aus anderen Werken in den eigenen Text kopiert statt zusammengefasst werden.» Sie seien die einzigen Personen, die ein
solches Buch genau lesen – und vor allem an die
Leserschaft denken. «Die Herren Doktorväter», sagt die grazile Frau mit der feinen SilberHalskette, «gehen oft zu leichtfertig über die
Arbeiten ihrer Studenten hinweg.»
Bei einzelnen Manuskripten geht die Bearbeitung sehr weit. Schon das erste Buch «Schaufeln – sprengen – karren», das Bucheli lektoriert
hat, eine Darstellung der Lebensbedingungen
der Eisenbahnbauarbeiter im 19. Jahrhundert,
sei «halb umgeschrieben worden». Im intensiven Kontakt mit den Autoren engagiert sich die
Chronos-Pionierin mit Herzblut für «ihre» Bücher. So auch im letzten Jahr, als eine bildnerische Gestalterin mit einer vagen Idee und vielen Fotos über ihre Grossmutter zu ihr kommt.
Die Büchermacherin entdeckt im Material sofort «eine fantastische Geschichte». Mit Hinweisen, Tipps und Fragen «stupft» sie die Autorin, noch dies und jenes zu recherchieren. Und
gemeinsam bringt man das Skript in eine gute
Der Bergier-Bericht ist der
klassische Fall eines Buches,
über das alle reden, das aber
fast niemand gelesen hat.
Form. Mit Erfolg: «Die Frau des Dorfarztes und
der Wehrmachtoffizier» von Andrea Blunschi
(2010) wird zu einem Bestseller – dem Buch mit
der dritthöchsten Auflage (über 6000 Exemplare) in der Chronos-Geschichte. Monika Bucheli
zählt zu jenen Lektorinnen, die sich so lange für
ihr Kind engagieren, bis es in den passenden
Kleidern zur Welt kommt. «Ja, es war ein aufwendiges Buch», bemerkt Tschigi nur, unter
einem Anflug von Stöhnen.
Die meisten Chronos-Titel erscheinen in
Auflagen von 500 bis 1500 Exemplaren, «im
Schnitt aber näher bei 500». Wer eine Doktor-
arbeit bringt, muss in die eigene Tasche greifen:
bei einfachen, nicht illustrierten Werken einen
Betrag zwischen drei- bis zehntausend Franken
aufbringen. Heute machen die Dissertationen
noch einen Fünftel der Chronos-Produktion
aus. Dazu kommen Sammelbände von Tagungen und wissenschaftliche Reihen – etwa zur
Kulturgeschichte der Technik («Interferenzen», hrsg. von David Gugerli), zur Philosophie
(«Legierungen», hrsg. von Michael Hampe)
oder zur Jüdischen Geschichte (hrsg. vom
Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund). «Wir sind ein Scharnier zwischen Wissenschaft und Publikum», sagt Wiedmer. Und
bringt auf den Punkt, dass Chronos einen bedeutenden Wissenstransfer von der Universität
in die Öffentlichkeit leistet.
Weg vom linken Etikett
Tschigi Wiedmer und sein Team haben den aus
dem kritischen Historikermilieu der achtziger
Jahre gewachsenen Diss-Verlag inzwischen
zum führenden historischen Fach- und Sachbuchverlag umgebaut. «Wir hatten früher das
Etikett eines linken Verlages. Das passte uns
überhaupt nicht, wir wollten nie ein politisches
Programm machen, sondern wissenschaftliche
Werke und Sachbücher verlegen.» Nur gelegentlich blitzt noch ein altlinker Reflex durch:
Wenn etwa ein renommierter Historiker –
«bitte den Namen nicht nennen» – im Nachwort seines Buches einen Dank an Christoph
Blocher für einen Druckkostenbeitrag anbringen will, «dann», sagt Wiedmer zerknirscht,
«würde ich das lieber nicht lesen».
Eine Erfolgsgeschichte ist auch die innere
Entwicklung des Verlages. Drei von sechs Mitarbeitern sind seit 25 Jahren dabei und auch
unter den später Dazugestossenen gibt’s kaum
Fluktuation. Zweimal im Tag trifft man sich zur
Kaffeepause, feste Sitzungen mag Tschigi nicht.
Lieber regelt er alles wichtige bilateral. Dagegen will zwar niemand hörbar murren. Dass der
Eigentümer allein entscheidet, wird mit Achselzucken oder einem spöttischen Lächeln quittiert. «Er ist halt für die Ökonomie zuständig»,
heisst es dann, «und wir für die Qualität.»
Einig aber sind sich die Chronos-Leute im
Stolz, «dass es uns nach 25 Jahren noch gibt –
sogar mit erweitertem Programm» (Monika
Bucheli). Und in der Freude darüber, «immer
wieder auf interessante, neue Geschichten zu
stossen» (Roman Pargätzi). Daraus stellen sie
dann an ihren schönen Flatscreens mit Leidenschaft ein neues Buch her. l
Gibt’s Bücher, die die Chronisten lieber nicht
verlegt hätten? «Natürlich gibt es immer wieder Werke, von deren Qualität man nicht so
überzeugt ist», räumt der Chronos-Leiter ein,
will aber keine Namen nennen. «Stell Dir vor,
wir würden Dissertationen ablehnen, die die
Professoren Jakob Tanner oder Philipp Sarasin
akzeptiert haben? Das wäre schwierig! Was
aber nicht heisst, dass wir nicht manchmal Bedenken bei gewissen Arbeiten haben.»
Bei diesem Thema werden andere Verlagsmitarbeiter deutlicher. Roman Pargätzi, ein bärtiger Historiker, der seit Beginn bei Chronos
lektoriert, verhehlt nicht, wie er sich immer
wieder über «das Geschreibsel von unfähigen
Autoren» ärgert. Bei manchem Manuskript verstehe er nicht, wie man es als Doktorarbeit habe
14 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. Mai 2011
ALLE FOTOS: MARION NITSCH
Schlechte Doktorarbeiten
Moderne Technologie für alte Themen: Die Schreibmaschine dient nur noch zur Adressierung von Buchpaketen.
Kolumne
GAËTAN BALLY / KEYSTONE
Charles Lewinskys Zitatenlese
Charles Lewinsky ist
Schriftsteller und
arbeitet in den
verschiedensten
Sparten. Sein neuer
Roman «Gerron»
erscheint in diesem
Sommer bei
Nagel & Kimche.
Mit Ausnahme von
Homer hasse ich
keinen berühmten
Schriftsteller so sehr
wie Shakespeare. Ich würde ihn am
liebsten ausgraben und steinigen.
Kurzkritiken Sachbuch
Stiftung Lebenshilfe (Hrsg.): Wir sind
gleich. Und anders. NZZ Libro, Zürich 2011.
195 Seiten, Fr. 44.–.
Daniel de Roulet: Fukushima, mon amour.
Brief an eine Japanerin. Hoffmann und
Campe, Hamburg 2011. 47 Seiten, Fr. 8.40.
Früher nannte man sie geistig behindert.
Heute sind es Menschen mit kognitiver
Beeinträchtigung. Wie herzerfrischend
direkt und bewegend sie Auskunft geben
können über ihr Leben, ihre Arbeit und
ihr Wohlbefinden, zeigen die schönen
Gesprächsprotokolle, die Otto Scherer
in Werkstätten der Stiftung Lebenshilfe
aufgezeichnet hat. «Die Zeit vergeht so
unheimlich schnell. Ich habe ein ausgefülltes Leben. Um halb elf bin ich im
Bett», sagt Paul Z. Die Lebenshilfe in
Reinach (AG) hat zu ihrem 50-jährigen
Bestehen einen reich bebilderten Band
herausgegeben, der nebst rund 30 Beiträgen von Behinderten, Angehörigen
und Betreuungspersonen auch Informationen zur Sozial- und Heilpädagogik
bietet. «Kommt mir noch etwas in den
Sinn? Dass ich zufrieden bin. Dass alles
tipptopp ist», sagt Joel A., Koch in Reinach. Wie viele stressgeplagte Normalmenschen können das von sich sagen?
Kathrin Meier-Rust
Der in Frankreich lebende Genfer Daniel de Roulet hat interessante, meist autobiografische Romane wie «Die blaue
Linie» und «Double» geschrieben. Aufsehen erregte seine unsägliche Chronik
«Ein Sonntag in den Bergen», in der er
sich zum Brandanschlag auf ein Chalet
von Axel Springer bekannte. Im vorliegenden Brief an eine japanische Freundin macht er sich die Aktualität um den
Unfall von Fukushima zunutze. Als langjähriger AKW-Gegner holt er nochmals
die alte Katastrophen-Prosa hervor,
schreibt von Ohnmacht, Beklemmung
und «meinen atomaren Schuldgefühlen». Die Antwort der Adressatin nimmt
er im Buch vorweg: Er möge sich doch
bitte um seine eigenen Angelegenheiten
kümmern. Bereits 1995 hat ihm nach
dem Erdbeben von Kobe ein japanischer
Student erklärt, wenn ein Europäer in
einem Roman von Hiroshima spreche,
dann sei das geschmacklos.
Urs Rauber
Der Mann meines Lebens. Autoren über
den wichtigsten Mann in ihrem Leben. Kein
& Aber, Zürich 2011. 175 Seiten, Fr. 27.90.
Jes Rust: Fossilien. Meilenstein der
Evolution. Primus, Darmstadt 2011.
160 Seiten, Fr. 43.50.
Es sind Männer – nicht Frauen –, die hier
über den wichtigsten Mann in ihrem
Leben schreiben: einen Lehrer, den
Grossvater, einen Freund, Partner oder
Mentor. 12 Autoren haben sich aufgemacht, darunter Dieter Meier, Jakob
Hein und Harry Rowohlt. Philipp Tingler tänzelt exzentrisch um seinen «Ehemann», Dieter Meier selbstironisch um
sein literarisches Alter ego – in einem
Roman, an dem er seit über 20 Jahren
schreibt. Gekünstelt mutet Joseph von
Westphalens Erguss über den Tod an.
Am berührendsten das Porträt des früheren «Folio»-Redaktors Mikael Krogerus über den Geliebten seiner Mutter,
der nicht sein biologischer, wohl aber
sein idealistischer Vater war: «Vater
Morgana». Eine witzige, lockere Sammlung meist inspirierender Texte, die zum
Nachdenken über diese Figur im eigenen Leben anregen.
Urs Rauber
Auf dem Umschlag prangen seltsame
Käfer: Trilobiten mit Stielaugen, sie sind
aus Stein. Weitere Überraschungen fürs
Auge finden sich beim Blättern. Da ist
eine in Bernstein gefangene Mücke; ihre
durchsichtigen Flügel, die behaarten
Fühler, die zarten Beine, alles ist perfekt
erhalten. Oder der versteinerte Fisch im
Jurakalk, bei dem sich jede Gräte, jeder
Wirbel zählen lassen. Und doch sind
diese Tiere seit Jahrmillionen tot. Der
Paläontologe Jes Rust führt uns mit diesen Fossilien in die faszinierende Welt
der Evolution. Er präsentiert die wichtigsten Lagerstätten und erklärt die
grossen Massensterben – das jüngste
findet seiner Meinung nach soeben
statt. Es ist vor allem die reiche Bebilderung der vergangenen Welt, die fesselt,
den Text hätte man sich etwas einfacher
gewünscht; ganz kann sich der Autor
nicht vom Wissenschaftsjargon lösen.
Geneviève Lüscher
George Bernard Shaw
Letzthin klagte mir ein Schriftstellerkollege, er leide darunter, dass ein
anderer Autor schlecht über ihn geurteilt habe.
Und es sei erst noch einer gewesen,
auf dessen Urteil er etwas gebe.
Ich konnte ihm sein Leid nachfühlen.
Wenn einen ein Kritiker verreisst, kann
man sich immer darauf rausreden, das
Verhältnis zwischen Hunden und
Laternenpfählen sei nun mal nicht
anders.
Aber wenn ein Kollege der Meinung
ist, das Buch, das man gerade publiziert
hat, tauge höchstens als Unterlage für
einen wackligen Tisch, dann tut das
schon weh.
Gegen diesen Seelenschmerz habe
ich ein Rezept entwickelt, das ich allen
unter Kollegenschelte leidenden
Berufskollegen wärmstens empfehle.
Man nehme den grössten, unbestrittensten, anerkanntesten aller Dichter:
William Shakespeare. Und mache sich
klar, wie oft und gründlich er von anderen Autoren verrissen worden ist. Ich
garantiere: Mit jeder abwertenden Bemerkung über ihn tut der blaue Fleck
auf der eigenen Eitelkeit weniger weh.
Es fing schon bei seinen Zeitgenossen an, als ihn Robert Greene «eine emporgekommene Krähe, fein herausgeputzt mit unseren Federn» nannte. Und
wenig später bezeichnete Samuel Pepys
den «Sommernachtstraum» in seinen
Tagebüchern als «das fadeste und
lächerlichste Theaterstück, das ich in
meinem ganzen Leben gesehen habe».
Und Voltaire meinte: «Shakespeare ist
ein einziger grosser Misthaufen.»
Lässt der Schmerz schon nach? Noch
nicht? Dann schnell noch ein Löffelchen Tolstoj nachschieben: «Shakespeare ist primitiv, unmoralisch, vulgär
und dumm.»
Merken Sie, wie Sie sich besser fühlen? Immer noch leichtes Seelen-Aua?
Tatsächlich? Dann helfen bestimmt die
patentierten Charles-Darwin-Pillen:
«Ich habe vor kurzem versucht, Shakespeare zu lesen, fand ihn aber so unglaublich langweilig, dass mir übel
wurde.» Oder die unfehlbaren SamuelJohnson-Tropfen: «Shakespeare hat
nicht einmal sechs Zeilen zusammenbekommen, ohne dabei einen Fehler zu
machen. Vielleicht auch sieben, wenn
man lang genug danach sucht, aber das
kann meinen Eindruck von ihm auch
nicht widerlegen.»
Ah, tut das gut.
Vergessen Sie aber nicht, den Beipackzettel zu lesen.
Dort steht nämlich:
«Nur weil ein Kollege Sie
schlecht findet, sind Sie
nicht automatisch so gut
wie Shakespeare.»
29. Mai 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 15
Sachbuch
Russland Vor 70 Jahren überfiel Hitler die Sowjetunion.
Das Unternehmen Barbarossa führte zu den
schrecklichsten Verbrechen des Zweiten Weltkrieges
«Ich sterbe
und möchte
doch leben»
John Steinbeck: Russische Reise. Mit
Fotografien von Robert Capa. Edition
Büchergilde, Frankfurt am Main 2011.
298 Seiten, Fr. 30.50.
Christian Hartmann: Unternehmen
Barbarossa. Der deutsche Krieg im
Osten 1941–1945. C. H. Beck Wissen,
München 2011. 128 Seiten, Fr. 14.50.
Anna Reid: Blokada. Die Belagerung von
Leningrad 1941–1944. Berlin-Verlag,
Berlin 2011. 566 Seiten, Fr. 50.90.
Von Kathrin Meier-Rust
Ernst oder ausgelassen, in Stiefeln oder
barfuss, in Moskau und auf dem Lande
– überall tanzten die jungen Frauen. Als
der Schriftsteller John Steinbeck und
der Kriegsfotograf Robert Capa im Sommer 1947 in die Sowjetunion reisten,
nach Moskau, Kiew, Stalingrad und in
Georgien, waren die Verheerungen des
Krieges allgegenwärtig: Trümmer, ausgebrannte Dörfer, fehlende junge Männer. Anders als europäische MoskauPilger, die meist als blinde Verehrer
(Lion Feuchtwanger) oder als erbitterte
Kritiker (Andre Gide) aus Stalins Reich
zurückkehrten, wollten die beiden
durchaus fröhlichen Amerikaner nur
über das ganz normale Leben der russischen Menschen berichten.
Es ist ihnen in erstaunlichem Masse
gelungen. Steinbecks humorvoller Bericht verschweigt nichts und enthält
sich doch jeden Urteils, schildert Menschen, die ihr Wissen zwar aus der «Prawda» beziehen, sich aber als mutig,
herzlich und von überströmender Gastfreundschaft zeigen, durchdrungen von
der Hoffnung, «dass das Morgen besser
sein wird als das Heute». Ganz nebenbei
entsteht auch ein amüsant-liebevolles
Porträt von Robert Capa, der einige
Jahre später in Vietnam ums Leben kam.
1948 in den USA mit grossem Erfolg pu16 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. Mai 2011
bliziert, liegt Steinbecks «Russische
Reise» nun erstmals auf Deutsch vor,
leider ohne kluges Nachwort zu den historischen Umständen dieser Reise ins
Herz des beginnenden Kalten Krieges.
Wahnwitziger Angriffskrieg
Der heisse Krieg, der an einem strahlenden Sonntagmorgen vor 70 Jahren, am
22. Juni 1941, mit dem deutschen Überfall
auf die verbündete Sowjetunion begann,
überfordert unsere Vorstellungskraft bis
heute. Alles ist masslos an diesem Krieg:
sein Schauplatz Russland, seine 3000
Kilometer-Front von den Finnischen
Wäldern bis zum Schwarzen Meer, die
Zahl der Teilnehmer (10 Millionen Soldaten auf deutscher Seite, 30 Millionen
auf sowjetischer) und jene der Abermillionen Opfer sowieso. Das «Unternehmen Barbarossa», dieser wahnwitzige
deutsche Angriffskrieg ohne jede Not,
war ein Existenzkampf der beiden totalitären Regimes des 20. Jahrhunderts, in
dem das eine unterging und das andere
zur Weltmacht aufstieg. Als seinen «Urgrund» sieht Christian Hartmann eine
monströse, rassenideologische Utopie
der Umsiedlung, Beraubung und Vernichtung ganzer Völker. In seinem
schmalen Bändchen zum deutschen
Krieg im Osten legt der Historiker des
Instituts für Zeitgeschichte in München
eine präzise, analytisch durchdrungene
und äusserst lesbare Übersicht über das
gewaltige Geschehen vor.
Im September 1941 kam die Heeresgruppe Nord vor Leningrad zum Stehen.
Hitler beschloss, die Stadt weder zu
stürmen noch ihre Kapitulation anzunehmen (sie kam auch nie), sondern
ihrem Schicksal zu überlassen. Die Hungersnot war eine zynisch und offen deklarierte Strategie dieser Belagerung,
die sich dann über 872 Tage hinziehen
sollte. Anders als in Russland stellt dieses Kriegsverbrechen der Wehrmacht
Moskau 1947: Frauen
tanzen zur 800-JahrFeier der Stadt. Es
fehlen die Männer
(Foto Robert Capa).
im europäischen historischen Gedächtnis eher ein Randereignis dar.
Mit ihrer vorzüglichen Darstellung
der «Blokada» möchte die britische Osteuropa-Historikerin Anna Reid dies ändern. Gestützt auf neue, seit der Auflösung der Sowjetunion zugängliche
Quellen, insbesondere nun erstmals unzensiert erschienene Tagebücher und
Erinnerungen, unternimmt sie eine unvoreingenommene Schilderung jenseits
aller ideologischen Vereinnahmung und
Mythen. Ausgiebige Zitate aus Tagebüchern und aus Gesprächen, die Reid mit
hochbetagten Überlebenden führen
konnte, lassen einzelne Schicksale
gleichsam zum roten Faden durch die
Zahlen und Fakten des Grauens werden:
der Literaturwissenschafter Dmitri
Lichatschow etwa, ein hochgeachteter
Zeuge von Hunger und Terror, die junge
damals populäre Dichterin Olga Berggolz oder der verschollene 15-jährige
Juri Rjabkin. «Ich sterbe und möchte
doch so gerne leben» hatte er in sein Tagebuch gekritzelt – ein russisches Pendant zu Anne Frank.
Der schlimmste von vielen furchtbaren Fehlern Stalins war es, die Zivilbevölkerung nicht rechtzeitig evakuiert zu
haben. Zwar verliessen 600 000 Men-
Geschichte 1912 sank die Titanic und eine
Schweizer Expedition erreichte die Arktis
Von Aufbruch
und Untergang
Stefan Ineichen: Endstation Eismeer.
Schweiz – Titanic – Amerika. Limmat,
Zürich 2011. 168 Seiten, Fr. 44.–.
ROBERT CAPA / INTERNATIONAL CENTER OF PHOTOGRAPHY / MAGNUM
Von Ina Boesch
schen bis Ende August die Stadt (ebenso
viele hatte London in wenigen Tagen
evakuiert). Doch 2,5 Millionen Menschen blieben im eingeschlossenen Leningrad zurück, darunter 400 000 Kinder. Ihr Schicksal sollte furchtbar sein:
Strom und Wasser versiegten, die beständig beschossene Stadt erstarrte im
Eis, wochenlang lagen die Leichen auf
offener Strasse. Rund 700 000 Menschen sind, so die gängigen Schätzungen, während der Blokada qualvoll an
Hunger und Kälte gestorben.
Gekochte Leichen
Korruption, Gewalt und Kriminalität,
Birkenspäne und Tischlerleim – sie sind
traurige Begleiter jeder Hungersnot.
Was Leningrad auszeichnet, sind zwei
Merkmale des Sowjetregimes von besonderer Brutalität: zum einen ein Rationierungssystem, das Nahrung schon
seit dem Bürgerkrieg kaltblütig als politisches Instrument benutzte, nämlich
um Nutzlose zu beseitigen, Nützliche
am Leben zu erhalten und den Parteiapparat zu belohnen. Das Resultat war
eine klares demografisches Muster des
Sterbens: Zuerst starben Grossväter und
Kleinkinder, dann Grossmütter und
Väter, zuletzt die Mütter und die Halb-
wüchsigen, während Parteikader in
durchaus wohlgenährtem Zustand evakuiert wurden.
Die zweite schreiende Ungerechtigkeit war der zwar im Krieg zunächst gemilderte, aber immer präsente Terror:
9500 Menschen wurden allein im ersten
Winter vom Geheimdienst verhaftet –
alle sind sie im Gefängnis verhungert.
«Wir wurden zweifach belagert: von
innen und von aussen», sagt Dmitri
Lichatschow.
«Blokada» enthält viele und furchtbare Zahlen. Doch Anna Reid versteht es
auch immer wieder, sie zu unvergesslichen Geschichten zu flechten: In 1000
Kisten verpackt wurde die Kunst der Ermitage nach Swerdlowsk abtransportiert. 85 Tiere des Leningrader Zoos
blieben dank höchst erfindungsreicher
Nahrungsbeschaffung am Leben, darunter ein berühmtes Nilpferdweibchen.
2015 Menschen wurden wegen «Leichenfresserei» verhaftet, die meisten
von ihnen Frauen, die mit gekochten
Leichenteilen ihre Familie zu retten versuchten. «Der wirkliche Krieg wird nie
in die Bücher gelangen», meinte der
amerikanische Dichter Walt Whitman.
In Anna Reids Buch hat er es jedoch
ziemlich weit gebracht. ●
Am 15. April 1912, am selben Tag, an dem
die für unsinkbar gehaltene Titanic unterging, notierte der Schweizer Arktisforscher Alfred de Quervain in seinem
Tagebuch: «Hurra! Grönlands Küstenberge erscheinen!» Diese beiden Fakten
– das Ende der Titanic sowie der Beginn
der Grönlandexpedition – verknüpft der
Zürcher Autor Stefan Ineichen in seinem Sachbuch über die Titanic und
ihren Bezug zur Schweiz geschickt miteinander. Auch wenn die beiden
Geschehnisse, oberflächlich gesehen,
nichts miteinander zu tun hatten, so entspringen sie doch einem ähnlichen
Geist: dem Glauben an Fortschritt und
dem Drang zur Eroberung der Natur.
Diesem Zeitgeist spürt Ineichen nach,
indem er die (durch Günter Bäbler beispielhaft aufgearbeiteten) Geschichten
der Schweizer Passagiere und Angestellten auf der Titanic mit Ereignissen verbindet, die – wie die Grönlandexpedition – in der Schweiz zeitgleich geschahen: etwa mit dem Staatsbesuch von
Kaiser Wilhelm II., mit den Streiks von
Malern und Schlossern oder mit den
Touristenströmen in die Eisgrotte des
Eigers und auf die Eisberge der Alpen.
So versucht er, die Stimmung einzufangen, die vor dem Ersten Weltkrieg in der
Schweiz und vor allem in Zürich geherrscht hat. Dabei lenkt er den Blick
auf Geschehnisse, die an Aktualität
nichts eingebüsst haben: die Wohnungsnot, die Diskussion über den hohen Anteil an Ausländern, die drahtlose Kommunikation oder die Globalisierung.
Die Idee ist reizvoll, das Resultat
etwas enttäuschend. Indem der Ökologe
und Schriftsteller sehr zurückhaltend
und rein sachlich Fakten aneinanderreiht, entsteht das ziemlich farblose Bild
einer Zeit, die eigentlich so viel Stoff für
grandiose Geschichten böte. Farbtupfer
sind vor allem die Illustrationen, zeitgenössische Postkarten aus der reichen
Sammlung des Autors. Verdienstvollerweise lenkt Ineichen jedoch mit Zitaten
die Aufmerksamkeit auf einen Roman,
den wieder zu lesen sich lohnt. Im
Zürichroman «Alles in Allem» beschreibt der in Vergessenheit geratene
Kurt Guggenheim die Atmosphäre vor
dem Ersten Weltkrieg derart plastisch,
dass man den dicken Wälzer nicht mehr
aus der Hand legen möchte. ●
29. Mai 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 17
Sachbuch
Kommunikation Douglas Coupland erzählt die Geschichte des genialen Denkers
Marshall McLuhan (1911–1980) und der Missverständnisse um seine Person
Hochbegabter
mit autistischen Zügen
Douglas Coupland: Marshall McLuhan.
Eine Biografie. Tropen, Stuttgart 2011. 222
Seiten, Fr. 28.90.
Von Kirsten Voigt
«Ich bin nicht unbedingt mit allem einverstanden, was ich sage.» Solche Scherze liebte Marshall McLuhan. Einige seiner Fans wären wohl mit ihm auch nicht
einverstanden gewesen, hätten sie verstanden, was er tatsächlich meinte.
Mancher Erfolg beruht auf einem Missverständnis. Douglas Couplands Biografie des Kommunikationsforschers Marshall McLuhan scheint von diesem Phänomen zu handeln. Der Urheber der
Formulierungen «Das Medium ist die
Botschaft» und die Welt sei dank der
medialen Vernetzung ein «globales
Dorf», war ein konservativer, passioniert katholischer Gelehrter, ein erstaunlich prophetischer Kritiker und
gerade eben nicht ein Apologet dieser
Errungenschaften.
Medium wichtiger als Inhalt
AP
Medientheorie war bei McLuhan Medienkritik, Innovationsskepsis. Coupland spricht gar von dessen Hass auf die
Technik. Er hält den Pop-Star der Medienforschung für einen genial ideenreichen Künstler, einen Inspirator. Spätestens seit der Existenz des Internets habe
sich dessen Annahme bewahrheitet,
dass das Medium selbst und dessen Nutzung auf unser Bewusstsein und Dasein
mächtiger wirken als all seine Inhalte.
Douglas Coupland, 1961 in Rheinmüns-
18 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. Mai 2011
ter-Söllingen, einem kanadischen NatoStützpunkt in Süddeutschland, geboren
und in Vancouver aufgewachsen, beschreibt McLuhans Leben und Denken
mit derart spritziger, zuweilen forscher
Heiterkeit, dass sich diese Karriere wie
eine bewegende Tragikomödie ausnimmt. Coupland, der als Romancier
mit «Generation X» berühmt wurde und
viel Zeitdiagnostisches nachlegte, unternimmt es dabei überdies, auf diverse
Art sein eigenes Metier mit zu reflektieren. Zum Beispiel, wenn er über die ambivalenten Empfindungen eines Biografen meditiert, der einerseits grausam sei
wie das Leben selbst, andererseits aber
in der Lage, «das scheinbar Verlorene
oder nicht hoch genug Bewertete aus
dem Leben eines Menschen wieder hervorzuholen». Das glückt Coupland frappant, nicht zuletzt, weil sein «pathographischer» Ansatz stark darauf setzt,
einige von McLuhans denkerischen
Leistungen und Eskapaden auf hirnphysiologische Faktoren zurückzuführen –
im Produktiven wie im Prekären.
Tatsächlich hält Coupland den vor
einhundert Jahren, am 21. Juli 1911, geborenen Landsmann für einen zur
Mustererkennung Hochbegabten mit
annähernd autistischen Zügen. Seine
Überempfindlichkeiten gegenüber Berührungen und Geräuschen scheinen
Indizien dafür. Ausserdem wurde bei
McLuhan eine höchst seltene Gefässanomalie diagnostiziert, die darin
bestand, dass seine linke Gehirnhälfte
über zwei Arterien mit Blut versorgt
wurde. In seiner Familie ereigneten sich
überdurchschnittlich viele Schlaganfäl-
le. Und schliesslich hatten die mitunter
kruden Wortwitze, Thesen und Schlüsse, die der Professor vor staunenden
Studenten Anfang der sechziger Jahre
zum Besten gab, seine Zerstreutheit,
seine gelegentlichen Erstarrungen mitten im Gespräch einen weiteren besorgniserregenden Grund: ein gutartiger, zitronengrosser Tumor war in McLuhans
Gehirn gewachsen. Er wurde 1967 erfolgreich entfernt. Zwölf Jahre später
nahm dem Eloquenten jedoch ein heftiger Schlaganfall die Sprache und 1980
das Leben.
Brillanter Analytiker
Marshall McLuhan
in seinem Büro
(1968). Der
Medienforscher wird
von seinem Biografen
Douglas Coupland
als Skeptiker
des Fortschritts
beschrieben.
Seine Mutter, eine Sprecherzieherin,
hatte seine Begeisterung für Artikulation, Wortspiele, das Auswendiglernen
geprägt. McLuhan studierte Literaturwissenschaft, unter anderem in Cambridge, wo er – durch den «New Criticism» geprägt – die Autorintention als
nachrangig zu begreifen und struktureller nach den Wirkweisen von Literatur
auf den Leser zu forschen begann. Er
liebte Joyce, Eliot, Keats, Poe und zitierte am häufigsten den Philosophen Alfred North Whitehead. Seine Promotion
widmete McLuhan jedoch Thomas
Nashe, einem kaum bekannten englischen Satiriker des 16. Jahrhunderts.
Mit «Die mechanische Braut» betrat
McLuhan 1951 eine andere Bühne. Er
analysierte brillant die Produkte der
Massenkultur. An der Universität von
Toronto gelang es ihm – der nächtelang
mit Glenn Gould telefonierte –, sich mit
einem interdisziplinären Team der
neuen Kommunikationstechniken anzunehmen. In «Die Gutenberg-Galaxis»
(1962) und «Understanding Media»
(1964) zeigt sich, wie sich sein Interesse
von den Inhalten weg auf die Grammatik der Medien verschob. Er wurde zu
einem der gefragtesten und höchstbezahlten Referenten jener Jahre, der die
Gesellschaft in der Gefahr schweben
sah, durch das Fernsehen in das Entwicklungsstadium einer auf nur mehr
oraler Kommunikation beruhenden
Stammeskultur zurückzufallen.
Allmählich blieben die Studenten aus,
forderten Verlage von ihm Vorschüsse
für lange nicht realisierte Buchprojekte
zurück und wurden die Einladungen zu
Vorträgen rarer. McLuhan widmete sich
am Ende seines Lebens Theorien der
Zukunft eines «körperlosen» Menschen
und dem Nachdenken über die unterschiedlichen Funktionen der beiden
Hirnhälften.
Coupland ist ein begeisterter Biograf.
Sein Text liest sich nicht nur hochgradig
instruktiv und anregend. Er trifft wohl
auch kongenial McLuhans Sinn für Experiment, Spekulation und unkonventionelle Denkstrategien. ●
Spielzeug Wie die Plüschtiere der durch Kinderlähmung behinderten Margarete Steiff
zu einem Welterfolg wurden
Es begann mit einem Elefäntle
trierten Katalogen, stets unter Hinweis
auf das hochwertige Material, nie aber
mit pädagogischem Unterton. Die Neffen schaffen bald Kontakte nach Florenz, Amsterdam, London und New
York. 1906 beschäftigt die «Erste Filzspielwaren-Fabrik Deutschlands» 400
feste Mitarbeiterinnen, etwa 1800 Heimarbeiterinnen stehen für die Stosszeiten
bereit.
Zum Inbegriff der Steiff-Tiere wird
der Teddybär aus Mohairfell mit run-
Gabriele Katz: Margarete Steiff. Die
Biografie. Osburg, Berlin 2011.
336 Seiten, Fr. 37.90.
Von Irmgard Matthes
Nein, eine Emanze war sie nicht, auch
wenn sie die oberste Forderung der
deutschen Frauenbewegung – ökonomische Unabhängigkeit – erfüllte. Aber
was war sie dann?
Margarete Steiff, die Schöpferin der
berühmten Plüschtiere mit dem Knopf
im Ohr, wird 1847 in Giengen bei Ulm als
zweites von vier Kindern in eine Baumeisterfamilie geboren. Mit 15 Monaten
erkrankt das Mädchen an Kinderlähmung und bleibt zeitlebens an den Rollstuhl gebunden. Die Füsse gehorchen
ihr nicht mehr, doch die Kleine ist eigenwillig und erfinderisch, holt sich in
ihrem Wägelchen Anerkennung unter
den Kindern, indem sie Geschichten erzählt und Spiele organisiert. Nach dem
Schulabschluss bleibt ihr als einzige
Fortbildungsmöglichkeit das Nähen.
Mit der Linken arbeitend und die Nähmaschine kurzerhand umdrehend, überwindet sie die Schwäche der rechten
Hand. Mit 29 Jahren eröffnet sie ein
Konfektionsgeschäft für Kleider und
Gebrauchsartikel aus Filz; Material und
kaufmännisches Wissen liefert ein Verwandter.
1879 stellt Margarete ihr erstes Stofftier, das berühmte Elefäntle, her. Es findet derartig Anklang, dass sie die
Produktion vorsichtig ausbaut, sind
Stofftiere doch neben dem gängigen
Holz- und Blechspielzeug eine absolute
Neuheit. 1890 gehören zum Zoo aus
Plüsch, Filz oder Fell bereits rund 8000
Elefanten, Affen, Kamele, Hasen und andere Tiere; 1892 kommen Puppen hinzu.
Margarete zieht Verwandte zur Mithilfe
heran: zum Nähen die Frauen, für Stoffeinkauf, Organisation und Design drei
Neffen, deren Ausbildung sie gezielt unterstützt hat. Geworben wird mit illus-
Der Teddybär aus
Mohairfell gilt als
Inbegriff der SteiffTiere. Schon 1907
wird fast eine Million
davon produziert.
dem Gesicht, stumpfer Schnauze und
gestickter Nase, der mit seinem ursprünglichen Namen «Teddy’s Bär» auf
Theodore Roosevelt, den amerikanischen Präsidenten und passionierten
Bärenjäger, anspielt.
1907 werden vom beliebten Kuscheltier und Maskottchen 974 000 Stück produziert. Damit ist ein Höhepunkt erreicht, der in Giengen an drei ultramodernen Produktionshallen aus Glas und
Stahl abzulesen ist, kaufmännisch an der
Umwandlung der Firma zur GmbH mit
den Neffen als Teilhabern. Dieser Erfolg
verdankt sich kluger Kompetenzverteilung und Planung wie dem hohen Massstab, den die Chefin punkto Zuverlässigkeit, Fleiss und Sorgfalt bei den Mitarbeitenden anlegt. Dabei zeigt sie bei
aller Strenge mütterliche Fürsorge, feiert gerne mit ihren Leuten die Jahresfeste und liebt es wie als Kind, im Wagen
auszufahren. Bei ihrem Tod im Jahre
1909 spricht der Pfarrer von einem
Wunder, weil sie «tausend andere versorgt» hat, obwohl ihr als «Krüppel»
eine «fast vergessene Existenz im Winkel» vorgezeichnet schien.
Die Historikerin Gabriele Katz dokumentiert dieses Lebenswerk mit
umfangreichem Material aus dem
Firmenarchiv und schafft interessante Bezüge zur Wirtschaftsund Sozialgeschichte. Wo es dagegen um die Persönlichkeit
Margarete Steiffs geht, die in
ihrem Tagebuch kaum je tiefergehende Motive ihres Handelns
beleuchtet hat, verfällt die Autorin mit Mutmassungen und ausschweifenden Seitenblicken, u. a.
auf die Frauenbewegung, in übertriebenen Deutungseifer. Die von
Jugend an stark durch den Pietismus
geprägte, überaus pragmatische Geschäftsfrau an den Forderungen ihrer
intellektuellen Zeitgenossinnen zu messen, ihr gar ein emanzipierteres Bewusstsein zu wünschen, ist eine Schablone, die nicht passt. ●
neuerscheinungen bei hier + jetzt
Die Schweizer Biergeschichte
Bier und wir
Geschichte der Brauereien
und des Bierkonsums
in der Schweiz
Matthias Wiesmann
266 S., über 200 Abb.,
gebunden
Fr.58.–, € 39.80
Schweizer Industriegeschichte
wie ein Krimi
Fremdsprachig im eigenen
Land
Die industrielle
Schweiz – vom 18. ins
21. Jahrhundert
Aufgebaut und ausverkauft
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Hans-Peter Bärtschi
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Kunst der Möbelmalerei
Ein ungeschriebenes
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Kunstgeschichte
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29. Mai 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 19
Sachbuch
Grönland Der mittelalterlichen Kolonisation der
Nordinsel und Amerikas war kein Erfolg beschieden
Kirsten A. Seaver: Mit Kurs auf Thule.
Die Entdeckungsreisen der Wikinger.
Theiss, Stuttgart 2011. 284 S., Fr. 37.90.
Von Geneviève Lüscher
Viele Mythen ranken sich um die nordische Kolonie auf Grönland, von wo aus
um das Jahr 1000 erstmals Nordamerika
entdeckt worden ist. Begonnen hatte die
Auswanderungsbewegung im 10. Jahrhundert in Island. Fünf Jahrhunderte
überlebten die Siedler auf Grönland.
Warum die Kolonie gegen Ende des
15. Jahrhunderts aufgegeben wurde, ist
bis heute ungeklärt. Ebenso ungeklärt
ist die Frage, warum in Nordamerika bis
jetzt nur eine einzige Wohnstätte aus
dieser Zeit entdeckt worden ist. Diesen
Fragen geht die amerikanische Historikerin Kirsten A. Seaver nach und versucht, Antworten jenseits abenteuerlicher Spekulationen zu finden.
In ihrem Buch nennt Seaver die Kolonisten Grönlands stets «Nordmänner»
(Frauen sind mitgemeint), nie braucht
sie dafür die Bezeichnung «Wikinger»,
was im Widerspruch steht zum Untertitel des Buches, der vermutlich vom Verlag stammt. «Die Wikinger waren sicher
Nordmänner, doch nicht alle Menschen
aus dem Norden waren Wikinger», erklärt sie. Nicht die als gewalttätige Piraten und Plünderer bekannten Wikinger
besiedelten Grönland und erreichten
Nordamerika. Die Menschen, die sich
aus Westnorwegen, Island und Däne-
mark nach Westen aufmachten, lebten
ehrbar von Ackerbau, Fischfang, Jagd
und Handel.
Zweierlei Quellen stehen für die Koloniegeschichte zur Verfügung: Einerseits verschiedene Schriften – isländische Sagen, bischöfliche Rechenschaftsberichte an den Papst in Rom und diverse Kartenwerke – und anderseits die archäologischen Funde von Ausgrabungen, die noch heute im Gange sind. Die
Schriftquellen, erklärt Seaver, haben
den Nachteil, dass keine einzige aus
Grönland selber ist, die Berichte also
immer aus zweiter Hand stammen.
Zudem kranken sie daran, dass über die
geografische Lage nicht nur Grönlands,
sondern auch der Kolonie selber, in der
alten Heimat viel Konfusion herrschte.
Nach der Besiedlung unter Führung
des Isländers Eirik Thorvaldsson um
986 bis 990 stehen die Kolonisten in
regem Schiffskontakt mit ihrer Heimat.
Der Handel floriert, die Nordmänner
liefern Walross-Elfenbein und Pelze
nach Europa, Bischöfe werden eingesetzt, Kirchen gebaut. Schon bald segeln
die Nordmänner weiter nach Westen,
und der Sohn von Eirik, Leif Eiriksson,
erreicht Nordamerika. Die einzige Siedlung, L’Anse aux Meadows auf Neufundland, das die Kolonisten Vinland nennen, wird gegründet. Laut Seaver hatte
die Fahrt nach Westen nie das Ziel einer
weiteren Landnahme, sondern war ein
Handelsunternehmen. Die Kolonisten
suchten nach Holz, dem einzigen Rohstoff, den sie brauchten und der in Grön-
ILLUSTRATION: OLAF RAHARDT / ULLSTEIN
Rätsel um Vinland
bleibt ungelöst
Nordmänner landen
im 10. Jahrhundert an
der Küste Grönlands.
Gemälde von Olaf
Rahardt, 2010.
land nicht zur Verfügung stand. In Neufundland bleiben die Nordmänner nur
kurz, denn Holz können sie sich auch an
der näheren Küste Labradors holen.
Seaver beschreibt anschaulich das
schwierige Leben in der grönländischen
Kolonie, soweit es sich aus den Schriftquellen und den archäologischen Bodenfunden erschliessen lässt.
Die Kontakte der Kolonisten zu Skandinavien nahmen mit der Zeit ab, bis
Grönland eines Tages nicht mehr angefahren wurde. Die Kolonisten blieben
aber in Erinnerung. Spätere Erkundungsfahrten fanden jedoch, wenn sie
Grönland überhaupt erreichten, nur
verlassene Siedlungen vor. Was genau
geschehen ist, weiss niemand. Als Hypothesen zirkulieren: tödliche Seuchen,
Hunger, innerkoloniale Fehden, Überfälle durch die Inuit? Seaver vermutet
etwas nüchtern, dass die Siedler eines
Tages einfach beschlossen hatten, in
ihre Heimat zurückzukehren. Aber auch
sie kann ihre These nicht beweisen. So
bleibt der Untergang der Kolonie auch
nach Lektüre dieses Buches, was er bis
anhin war: ein Rätsel. ●
Zürich Das hundert Jahre alte Café Odeon als Bühne für die Prominenz
Erinnerungen an ein Kultlokal
Curt Riess, Esther Scheidegger: Café
Odeon. Europa-Verlag, Zürich 2010.
350 Seiten, Fr. 34.–.
Von Urs Bitterli
Am 1. Juli 2011 wird das Café Odeon am
Bellevue hundert Jahre alt. Das Etablissement hat sich, ein Opfer der Drogenszene der siebziger Jahre, leider nicht in
seiner ursprünglichen Form erhalten;
aber es bleibt ein «lieu de mémoire» in
Zürichs Kulturgeschichte.
Aus Anlass des kommenden Jubiläums hat Esther Scheidegger das Buch
neu herausgegeben, das Curt Riess im
Jahre 1973 dem Odeon gewidmet hatte.
Die Herausgeberin weist in ihrer Einleitung auf die Bedeutung des Cafés hin
und schildert im Nachwort seine Ge20 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. Mai 2011
schichte nach der vorübergehenden
Schliessung im Jahre 1972. Nur kurz
kommt sie auf die Persönlichkeit des
Autors zu sprechen.
Der Journalist und Schriftsteller Curt
Riess emigrierte 1933 aus HitlerDeutschland zuerst nach Paris, dann
nach New York und liess sich nach
Kriegsende bei Zürich nieder. Heute
nahezu vergessen, war er einer der
produktivsten Autoren seiner Zeit. Er
schrieb über Goebbels und das Schauspielhaus, über Ascona und Gottlieb
Duttweiler, über Furtwängler und Sankt
Moritz – kurz: über alles, was auf breites
Publikumsinteresse zu stossen versprach. Riess besass die Neigung und
das Geschick, Fakten attraktiv zu präsentieren, Ereignisse wirkungsvoll zu
inszenieren und Geschichten zur reizvollen Anekdote umzuformen.
Die Geschichte des Odeon schildert
Riess als eine «histoire romancée»: Er
lässt die prominenten Gäste des Cafés
wie auf einer Bühne auftreten und legt
ihnen Gespräche in den Mund, die sie so
vielleicht nie geführt haben, wohl aber
hätten führen können. Wir begegnen
Schriftstellern wie Stefan Zweig und
Bert Brecht, Professoren wie Emil Staiger und Jean Rudolf von Salis, Schauspielern wie Alexander Moissi und Emil
Hegetschweiler. Das alles ist unterhaltsam zu lesen, aber nicht unbedingt historisch verlässlich.
In einer Zeit, da Jubiläen zu den wichtigsten Anlässen gehören, bei denen
sich Geschichte vermitteln lässt, ist die
Neuauflage dieses flüssig geschriebenen
Buches zu begrüssen. ●
Urs Bitterli ist emeritierter Professor für
neuere Geschichte an der Uni Zürich.
Völkerrecht Ein Buch wird zum Vermächtnis des NZZ-Korrespondenten Viktor Kocher
Franz Kafka und die Terrorlisten
Victor Kocher: Terrorlisten. Die schwarzen
Löcher des Völkerrechts. Promedia, Wien
2011. 221 Seiten, Fr. 25.90.
Von Reinhard Meier
Was sind Terrorlisten? Victor Kocher,
der in diesem Frühjahr völlig unerwartet und viel zu früh verstorbene NahostKorrespondent der NZZ, hat sich mit
diesem Thema mit der für ihn charakteristischen Hartnäckigkeit auseinandergesetzt. Die Terrorlisten, von denen in
seinem Buch die Rede ist, sind eine – in
den Augen des Autors giftige – Frucht
der grossen Terroranschläge islamistischer Fanatiker, vor allem natürlich der
welterschütternden Attacke von 9/11 in
New York und Washington.
Es geht um die vom Uno-Sicherheitsrat erstellte Liste von Personen und Organisatoren, die verdächtigt werden –
und sich teilweise auch stolz dazu bekennen –, die Ziele der al-Kaida oder der
Taliban aktiv zu unterstützen. Wer auf
dieser Liste steht, dem sollen sämtliche
Guthaben, Konten und Kreditkarten
eingefroren und alle Finanzbeziehungen
untersagt werden. Und alle Länder sollen die betreffenden Personen am Überschreiten von Landesgrenzen hindern.
Diese Liste, die im Internet zugänglich
ist, umfasste Ende 2010 485 Einträge,
davon sind 393 Personen und 92 Gruppierungen.
Grundsätzlich leuchtet das Prinzip
ein, dass international agierende Terrornetzwerke durch international koordinierte Präventivstrategien wie die Unterbindung von Finanzflüssen, bekämpft
werden sollen. Victor Kocher stellt denn
auch klar, dass er nicht gegen die Terrorbekämpfung plädiert. Er vertritt aber
die Ansicht, dass diesem «Krieg gegen
den Terror» ein zu hoher und aufwendiger Stellenwert beigemessen wird – namentlich im Vergleich zu anderen politischen und sozialen Anstrengungen.
Kocher geht es darum, nachzuweisen,
dass mit den Terrorlisten des Uno-Sicherheitsrates ein unsichtbares und unkontrolliertes Sanktionssystem geschaffen wurde, von dessen «Würgeschlingen» auch Unschuldige erfasst werden,
die keine Chance hätten, sich wieder
davon zu befreien. Damit würden
rechtsstaatliche Grundrechte verletzt.
Um diese These zu untermauern, hat
der Autor aufwendige Gespräche mit
Betroffenen, mit Spezialisten des Sanktionsregimes und deren Kritikern sowie
mit der von der Uno für diesen Komplex
eingesetzten Ombudsfrau geführt. Die
Lektüre gibt tiefe Einblicke in ein labyrinthisches, gegenüber rechtsstaatlichen Einwänden aber keineswegs immunes Regime.
Im letzten Kapitel versucht Kocher,
die komplexe Materie mit einem Vergleich zur Situation von Josef K. in Kafkas «Prozess» auf den Punkt zu bringen.
Doch dieser Vergleich hinkt: Viele der
auf der Uno-Terrorliste geführten
Namen sind – anders als Josef K. – absolut nicht unschuldig, sie brüsten sich ja
mit ihren blutigen Taten.
Und anders als Josef K., der keine
Chance hat, dem Todesurteil zu entkommen, sind dank entschiedener Interventionen einige Dutzend Verdächtigte wieder von der Terrorliste gestrichen worden. Auch das erfährt man in
Victor Kochers Buch. ●
Offizielle Sondermünze 2011
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BücheramSonntag
29. Mai 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 21
Sachbuch
Wirtschaft Zwischen 2005 und 2007 greifen
österreichische Finanzinvestoren nach Schweizer
Industrieperlen
Alice Chalupny: Victory und Vekselberg.
Der Poker um die Schweizer Industrie.
Rüffer & Rub, Zürich 2011. 264 Seiten,
Fr. 38.-.
Von Daniel Puntas Bernet
Dieser Plot ist für einen Wirtschaftskrimi wie geschaffen: Auf der Angreiferseite drei aggressive österreichische Finanzinvestoren, auf der Opferseite ein Dutzend behäbige Schweizer Industriekapitäne der alten Schule. Dazwischen ein
etwas naiver russischer Oligarch sowie
Bankmanager, die als Gehilfen der Österreicher um die Beute, von der auch
für sie etwas abfallen wird, kreisen. Weiter stehen auf der Bühne: Journalisten
als instrumentalisierte Sprachrohre und
lahme Aufsichtsbehörden.
Wer noch einmal Revue passieren
lässt, wie Mirko Kovats, Ronny Pecik
und Georg Stumpf ihre Attacken auf einige Perlen der Schweizer Industrie orchestrierten, kommt nicht umhin, sich
erneut die Augen zu reiben. In der kurzen Zeit zwischen April 2005 und August 2007 gerieten die Unternehmen OC
Oerlikon (vormals Unaxis), Saurer,
Ascom und Sulzer nacheinander in das
Auge des Hurrikans, der diese gehörig
durchschütteln und zum Teil nachhaltig
verändern sollte.
Am Ende der Übernahmeschlacht ist
Saurer nun Teil der OC Oerlikon, der
Russe Viktor Vekselberg Grossaktionär
von Sulzer, und die österreichischen Finanzjongleure sind über alle Berge. Der
Zürcher Kantonalbank wird «der grösste Reputationsschaden in ihrer 140-jährigen Geschichte beschert». Die Frechheit, mit welcher die charmant auftretenden Herren aus dem Nachbarland
vorgingen, ist hinlänglich bekannt. Doch
das Buch «Victory und Vekselberg. Der
Poker um die Schweizer Industrie» der
Wirtschaftsjournalistin Alice Chalupny
beschäftigt sich nicht nur mit den drei
Finanzjongleure aus Wien.
Im Licht der sorgfältig zusammengetragenen Fakten und chronologisch abgefassten Darstellung wird allzu deutlich, dass die Schweizer Verwaltungsräte besagter Unternehmen nicht eben
glücklich agierten, ja sich von den hochfliegenden Plänen der Emporkömmlinge teils sogar blenden liessen. Und von
der Gier: In einem Gespräch zwischen
Ascom-Verwaltungsratspräsident Juhani Anttila und dem CEO Rudolf Hadorn
zeigt sich, dass Hadorn vor dem Hintergrund der Übernahmepläne der Österreicher seine geleistete Arbeit in Gefahr
sieht: Da reichen auch zwei angebotene
Jahressaläre von je einer Million Franken als goldener Fallschirm nicht zur
Beruhigung aus.
Chalupny hat laut Klappentext mit 50
zentralen Akteuren gesprochen und öffentlich zugängliche sowie vertrauliche
Akten gesichtet. Es ist zu begrüssen,
dass sie nicht der Versuchung nachgab,
dramaturgisch noch eins draufzugeben:
Der Inhalt enthält genügend Brisantes.
Dass ihr Stil dabei öfters in flache Wirtschaftsrhetorik abfällt, hängt wohl damit
zusammen, dass auf den Teppichetagen
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22 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. Mai 2011
URS FLÜELER / KEYSTONE
Wie das Gerangel
um Macht
und Geld abläuft
Ronny Pecik (links)
und Mirko Kovats
von der Wiener
Investmentfirma
Victory posieren für
den Fotografen an der
Unaxis-GV in Luzern,
28. Juni 2005.
börsenkotierter Unternehmen und in
den Handelsräumen der involvierten
Banken so geredet wird: Da legen sich
Investoren «mit Industriellen zusammen ins Bett», es werden «Übernahmen
gestemmt», das Schweizer Wirtschaftsestablishment wird «in Angst und
Schrecken versetzt» oder es wird ganz
einfach attackiert, gekämpft und niedergerungen, was das Zeug hält. «Das wäre
tödlich für Sie», sagt der Chef der Neuen
Zürcher Bank Martin Eberhard an einer
Stelle zu Sulzer-CEO und Verwaltungsratspräsident Ulf Berg.
Auch wenn einige der Einschätzung
spekulativ bleiben und viele Zitate im
Buch von einer nicht namentlich genannten Quelle stammen, so liefert Chalupny einen lehrreichen und unterhaltsamen Einblick in das Gerangel um
Macht und Geld auf den Chefetagen. ●
Börse Zwanzig Jahre Anlagekommentare aus der Feder von Privatbankier Konrad Hummler
Pointierte Meinungen jenseits
der politischen Korrektheit
Konrad Hummler: Versuch, Irrtum,
Deutung. Anlagekommentare 1990 bis
2010. Ausgewählt, bearbeitet und
eingeleitet von Hans-Christoph
Kesselring. Orell Füssli, Zürich 2011.
372 Seiten, Fr. 69.–.
Seit zwanzig Jahren publiziert Konrad
Hummler, geschäftsführender Teilhaber
bei der Privatbank Wegelin & Co., alle
sechs bis acht Wochen einen mehrseitigen Anlagekommentar, der heute in
über 100 000 Exemplaren erscheint und
damit fast die Auflage der NZZ erreicht.
Seit kurzem ist Hummler auch Verwaltungsratspräsident der NZZ-Gruppe.
Hummlers Anlagekommentare geniessen bei einer treuen Leserschaft
Kultstatus. Und für diese Leser entspricht eine gebundene Sammlung seiner pointierten Analysen und Meinungen einem echten Bedürfnis. Hummler
schreibt im Geleitwort, dass er sich lange gegen die Herausgabe eines Sammelbandes gewehrt habe, da die Kommentare jeweils «für die momentane Befindlichkeit des Lesers verfasst» worden
seien. Dies ist eine grobe Untertreibung.
Hummler liebt die scharfe und unabhängige Analyse und eine klare Sprache
jenseits der politischen Korrektheit.
Aus der Laune des Tages
Für ihn ist der geistige Prozess des Versuchens und Irrens als Mittel zum Ordnen und Verstehen der Welt ein Privileg,
das die «Seele läutert und den Geist
klärt». Das Resultat seiner Reflektionen
ist die Deutung, der Versuch, im Tagesgeschehen gültige Muster und deren gegenseitige Beziehungen aufzuspüren.
Das Besondere an diesem Band ist,
dass der Autor die letzten zwanzig Jahre
nicht im Rückblick als allwissender
Weiser deutet und wertet, sondern diese
Periode dramatischer Entwicklungen
und Zäsuren aus der jeweiligen Sicht
und Laune des Tages darstellt. «Versuch, Irrtum, Deutung» ist keine Geschichtsschreibung,
sondern
eine
Sammlung der Protokolle eines kritischen Zeitgenossen. Seine Ausführungen sind Ausdruck einer Ordnung der
Gedanken für eine gewisse Zeit. «Konsistenz mit Verfalldatum» nennt Hummler das Resultat seines gnadenlosen Antriebsgeistes.
Der älteste Kommentar stammt aus
dem Jahr 1990 und widmet sich der
weltpolitischen Instabilität im Gefolge
der Auflösung des Ostblocks. Besorgt
äussert sich Hummler darin zur gesellschaftlichen Stabilität, die als «kaum
überschätzbares Aktivum […] in letzter
Zeit stark in Frage gestellt» werde, wodurch «einer der wesentlichsten Wohl-
DDP IMAGES
Von Hans Geiger
Hummler versucht,
im Tagesgeschehen
die Welt zu verstehen:
Handelsbörse Chicago
am 13. Mai 2010.
standsfaktoren gefährdet» sei. Einen der
jüngsten Kommentare aus dem Jahr
2009 stellte Hummler unter den Titel
«Abschied von Amerika». Er erregte
Aufsehen weit über die Landesgrenzen
hinaus. Ausgehend vom Abkommen
zwischen der Schweiz und den USA
über die Auslieferung von Kundendaten
der UBS seziert Hummler die steuerlichen Auseinandersetzungen und Konfliktherde zwischen den USA und anderen Ländern mit scharfem Skalpell.
Er erachtet die Annahme der Amerikaner, die USA blieben als Zielland für
Investoren problemlos und unangefochten attraktiv, als kreuzfalsch. Und er
schliesst, dass man gut beraten sei, den
Abschied von Amerika zu vollziehen:
Das ist etwa so radikal wie es der Rat an
den Volkswagenkonzern wäre, sich vom
Benzinmotor zu verabschieden. Heute
akzeptiert die Bank Wegelin keine amerikanischen Kunden und Wertpapiere
mehr. So führt die intellektuelle Analyse
nicht nur zum Anlagekommentar für die
Leser, sondern zum Anlagegrundsatz
für die Bank.
Aus den rund 140 Kommentaren der
letzten zwanzig Jahre hat Hans-Christoph Kesselring mit grosser Subtilität
eine Auswahl von 50 getroffen, diese um
die Bezüge zur jeweiligen Wirtschaftslage gekürzt und teilweise durch Kommentare und Quellenhinweise in Fussnoten ergänzt. Kesselring hat die Beiträge in fünf grosse Themengruppen
geordnet und diese kurz kommentiert.
Der erste Teil ist den grossen Trends gewidmet, er beginnt mit der Auseinandersetzung mit den Instabilitäten der
frühen 90er Jahre und schliesst mit
einem Beitrag aus dem Jahr 2008, in dem
sich Hummler mit der Frage auseinandersetzt, ob es in Zukunft denn noch
Banken brauche.
Der zweite Teil fasst Kommentare zu
den Finanzmärkten und -produkten zusammen. Der Beitrag aus dem Jahr 1992
enthält zum Anlass des Todes von Friedrich August von Hayek ein liberales
Plädoyer für die freie Marktwirtschaft.
Spätere Kommentare analysieren mit
Bildern aus der Wurstfabrikation (Gammelfleisch) und Entsorgung (Sondermülldeponie Kölliken) Fehlentwicklungen bei Finanzinnovationen.
Kompass für liberale Leser
Im dritten und umfangreichsten Teil
legt Hummler Zeugnis ab von seiner
ordnungspolitischen liberalen Sicht von
Staat und Markt. Teil vier fasst Beiträge
zur Wertschöpfung und zur Führung
von Unternehmen zusammen. Der
Schlussteil unter dem Titel «Rendite
und Risiko sind nicht alles» widmet sich
der Bewahrung und Vermehrung sowie
der Bedrohung des Vermögens und der
Privatsphäre der Bürger.
Das Buch wird allen Freunden einer
scharfsinnigen und -züngigen Auseinandersetzung mit der Gesellschaft,
Wirtschaft und Finanzwelt herzlich zur
Lektüre und zum gelegentlichen Nachschlagen empfohlen. Dem liberalen
Leser beschert der Band grosse Freude.
Für Etatisten und Anhänger von «human
design» bietet er Anlass, Positionen zu
überdenken. ●
Hans Geiger ist emeritierter Professor für
Finance am Institut für schweizerisches
Bankwesen an der Universität Zürich.
29. Mai 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 23
Sachbuch
Philosophie Der französische Mathematiker und Romancier Alain Badiou schreibt in seinem
Bestseller eine Eloge auf den Eros
Liebe vertraut dem Unterschied
Alain Badiou: Lob der Liebe.
Passagen, Wien 2011. 87 Seiten, Fr. 17.50.
Von David Signer
AURORA PHOTOS / MASTERFILE
Die Philosophie, die Liebe zur Weisheit,
beginnt mit der Liebe. «Wer nicht mit
der Liebe anfängt», sagte Platon, «wird
niemals wissen, was Philosophie ist.»
Und im Gegensatz zu dem, was man
heute «platonische Liebe» nennt, denkt
Platon dabei den Eros mit. In späteren
Jahrhunderten – bis heute – fasst man
Erotik und Denken gerne als Gegensatzpaar auf. Nicht so bei Platon: Der Eros
ist ihm ein Helfer beim Erkennen.
In unserer Zeit gibt es kaum noch Philosophen, die sich mit der Liebe befassen. Man hat das Thema einerseits den
Populärpsychologen und der Unterhaltungsindustrie überlassen, andererseits
den christlich angehauchten Ethikern,
die aus der (entsexualisierten) Liebe
eine moralische Pflicht gemacht haben.
Wie bedauerlich das ist, fällt einem spätestens bei der Lektüre von Alain Badious «Lob der Liebe» auf. Badiou, Philosoph, Mathematiker und Romancier,
geboren in Marokko, ist heute Professor
an der Ecole normale supérieure in
Paris. Zu seinen Werken gehören «Das
Sein und das Ereignis», «Das Jahrhundert» und «Wofür steht der Name Sarkozy?». «Eloge de l’Amour», wie das ak-
24 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. Mai 2011
scheinlichkeit, ein doppeltes Risiko: Sie
beginnt mit dem Unvorhersehbaren,
und ausgerechnet darauf versuchen wir
dann, ein wetterfestes Gebäude zu erstellen. Badiou macht sich denn auch
lustig über die Dating-Websites, die «berechenbare Liebe mit Erfolgsgarantie»
versprechen. Liebe mit Vollkaskoversicherung ist nicht zu haben; ohne Risiko
gibt es keine Intensität, höchstens unverbindliche, behagliche und konsumistische Freizügigkeit, ohne die «tiefe Erfahrung der Andersheit», die für Badiou
erst die rückhaltlose Liebe auszeichnet.
Ebenso viel Mut erfordert die Umwandlung des «coup de foudre» in einen
Prozess, in eine gemeinsame Neuerfindung des Lebens, in ein «hartnäckiges
Abenteuer». Badiou geht dabei auf die
verbreitete Ansicht ein, die Liebe sei eigentlich nur ein Deckmäntelchen für
das sexuelle Begehren. Im Gegenteil,
sagt er. Entgegen der Rede von der körperlichen Verschmelzung habe in der
Sexualität jeder grossteils mit sich selbst
zu tun. Das sexuelle Geniessen sei
immer – wenn auch durch Vermittlung
des anderen Körpers – das eigene. Erst
in der Liebe «geht das Subjekt über sich,
über seinen Narzissmus hinaus».
tuelle Werk im Original heisst, wurde in
Frankreich zum Bestseller.
Zu Recht. Denn es ist schlichtweg
wunderbar, wie es Badiou schafft, so
präzis und poetisch zugleich über ein
Thema zu schreiben, das so schwer zu
fassen ist und unablässig breitgewalzt
und verkitscht wird.
Wenn zwei eine Welt bauen
Das Buch ist, natürlich, ein Dialog. Zwischen Alain Badiou und Nicolas Truong.
Denn der springende Punkt bei der
Liebe ist für Badiou die «Zwei»: Zwei
getrennte, unterschiedliche Menschen
mit ihrer je eigenen Wirklichkeit und
Wahrheit kommen zusammen und konstruieren sich eine neue Welt, ausgehend vom Unterschied und nicht von
der Identität.
Die Liebe, das sind nicht nur zwei Individuen, sondern auch zwei Etappen:
Zuerst das Ereignis der Begegnung zwischen zweien, die sich gar nicht kennen.
Und dann der Versuch, diese Singularität, diesen Überraschungstreffer zu fixieren, ihm Ewigkeit zu verleihen. Oft
steht zwischen diesen beiden Polen, als
«völlig mysteriöser Übergang vom Zufall zum Schicksal», eine Liebeserklärung: Das Versprechen, aus dem unerwarteten Anfang «eine Dauer, eine
Hartnäckigkeit, eine Verpflichtung, eine
Treue zu machen». Mit anderen Worten:
Die Liebe ist eine doppelte Unwahr-
Vom «coup de foudre»
zur Neuerfindung des
Lebens: verliebtes
Paar im Sächsischen
Garten in Warschau.
Subversiv und gesetzlos
Badiou ist auch ein politischer Philosoph, und das Ende des Buches nimmt
eine unerwartete gesellschaftskritische
Wendung. Er spricht im Zusammenhang
mit Sarkozy von einer «reaktionären
Identitätslogik». Wann immer sie vorherrsche, sei die Liebe gefährdet, indem
man ihre Faszination für den Unterschied, ihre geschlechtliche, soziale und
nationale Grenzen überschreitende
Kraft in Frage stelle.
Man werde, so Badiou, «Propaganda
für eine ‹Liebe› machen, die ganz sicher
und in vollkommener Übereinstimmung
mit den Sicherheitsvorkehrungen ist.
Eine der Aufgaben der Gegenwart ist
also die Verteidigung der Liebe, insofern
sie subversiv und dem Gesetz fremd
ist.»
Badiou, der in früheren Jahren Schauspieler war, erwähnt in diesem Zusammenhang Romeo und Julia. Im Kampf
der zufälligen Liebe gegen das notwendige Gesetz macht er den klassischen
Theaterkonflikt aus. «In der Liebe vertraut man dem Unterschied, anstatt ihn
zu verdächtigen.» Womit er zur zentralen These – zum Kern – seines Essays
vorstösst: «Dem Identitätskult der Wiederholung muss man die Liebe zu dem
entgegenstellen, was unterschiedlich
und einzigartig ist, was nichts wiederholt, was erratisch und fremd ist.» Das
könnte auch – nicht als Wiederholung,
aber als Nachhall – des schönen und geheimnisvollen Satzes gelesen werden,
den er vor dreissig Jahren in «Théorie
du sujet» formulierte: «Liebt, was ihr
kein zweites Mal sehen werdet!» ●
Bier Prost auf den freien Markt
Biografie Über das Leben
von Mystikerinnen im
Mittelalter
Verzückt
oder
verrückt?
Annerose Sieck: Mystikerinnen.
Biografien visionärer Frauen.
Jan Thorbecke, Sigmaringen 2011.
208 Seiten, Fr. 34.90.
Sie wurden verehrt, belächelt, wegen
Ketzerei zum Tode verurteilt – und faszinieren heute mehr denn je: Die Mystikerinnen aus dem Mittelalter. Einige,
wie etwa Hildegard von Bingen, geniessen nahezu Kultstatus. Diese Frauen hatten Visionen, gerieten in göttliche Ekstase und fühlen sich Christus, dem
«himmlischen Bräutigam», nahe.
Mittelalterliche Mystik war eine persönliche, liebende Begegnung mit Gott
– und hatte wenig mit der heutigen – oft
oberflächlichen – Form von Spiritualität
zu tun. Für viele Frauen im Mittelalter
war der mystische Lebensstil, das Leben
hinter Klostermauern, auch eine Flucht
vor der Realität und mitunter der einzige Weg, einer Zwangsehe zu entgehen.
Oft brachten die Mystikerinnen ihre
Visionen zu Papier. Um diese Schriften
lesen und verstehen zu können, muss
man eine «mittelalterliche Brille» aufsetzen und sich den historischen Kontext vor Augen halten – ansonsten muten
die Texte eher wie Hirngespinste mehr
oder weniger verrückter Frauen an.
Wenn etwa eine Mechthild von Magdeburg schreibt: «O Herr, minne mich gewaltig, oft und lang (…). Je gewaltiger Du
mich minnest, umso schöner werde
ich», so wirkt das nach heutigem Verständnis absurd. Doch gerade diese
Minne-Mystik war damals hoch im Kurs.
Die Autorin Annerose Sieck stellt in
ihrem neusten Buch die herausragendsten Frauenfiguren vor und gibt einen
anschaulichen Überblick über die zahlreichen Facetten mittelalterlicher Frauenmystik. Dass sämtliche Texte ins Neudeutsche übersetzt sind, macht das Buch
zwar verständlicher und für ein breites
Publikum zugänglich, bringt uns aber
um den Lesegenuss des Originalwortlautes.
Dass die Mystik derzeit auf grosses
Interesse stösst, führt Annerose Sieck
auf den grassierenden Materialismus
zurück. Sie schreibt von einer neuen
Sehnsucht, die sich mit der Hoffnung
verbinde, Leben sei mehr, als sich mit
Geld bezahlen liesse. Ob dem so sei,
muss individuell beurteilt werden. Sicher ist: Die Lebensgeschichten und Visionen der Mystikerinnen verdienen es,
gelesen zu werden. Umso besser, wenn
bei der Lektüre ein spiritueller Mehrwert herausschaut. ●
FOTOARCHIV WOLF / STAATSARCHIV BASEL
Von Christina Hubbeling
Das waren noch glückbringende Zeiten, als die
Hausfrauen die Kaminfeger mit einem schäumenden
Bier empfangen haben (das Bild entstand um 1932).
In jenen Zeiten belastete der Fiskus den Gerstensaft
erstmals mit einem Malzzoll-Zuschlag. 1935 formten
die Brauereien das Bierkartell, mit dem die Branche
Liefergebiete und Kunden unter den Marktteilnehmern aufteilte, also nichts von direktem
Konkurrenzkampf. Die Konvention konnte sich bis
Anfang der neunziger Jahre halten. Da die
Produzenten – wenig überraschend – nicht allzu
wettbewerbstauglich waren, landeten sie bald unter
den Fittichen grosser ausländischer Bierkonzerne wie
Carlsberg und Heineken. In deren Schatten haben
sich jedoch über 300 Klein- und Kleinstbrauereien
mit Spezialitäten etabliert. Das lesenswerte Buch
beschreibt die abwechslungsreiche Geschichte des
Biers in der Schweiz. Peter Keller
Matthias Wiesmann: Bier und Wir. Geschichte der
Brauereien und des Bierkonsums in der Schweiz.
Hier + Jetzt, Baden 2011. 268 Seiten, zahlreiche
Abbildungen, Fr. 58.–.
29. Mai 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25
Sachbuch
Deutschland Die frühere FDP-Politikerin Hildegard Hamm-Brücher zieht ihre Lebensbilanz
«Mädle, Sie müsset in die Politik»
Hildegard Hamm-Brücher: Und dennoch...
Nachdenken über Zeitgeschichte –
Erinnern für die Zukunft. Siedler,
München 2011. 176 Seiten, Fr. 29.90.
Von Urs Rauber
Zu ihrem 90. Geburtstag am 11. Mai hat
sie noch einmal Bilanz gezogen. Hildegard Hamm-Brücher gehört zu den noch
lebenden aktiven Gestaltern der Bundesrepublik Deutschland. Die promovierte Chemikerin wurde 1948 – mit 27
Jahren – in München zur Stadträtin und
zwei Jahre später zur bayerischen Landtagsabgeordneten gewählt. Ihr Förderer,
der spätere Bundespräsident Theodor
Heuss, den sie als Journalistin kurz nach
dem Krieg kennengelernt hatte, riet ihr:
«Mädle, Sie müsset in die Politik.»
So kam die begabte Hildegard Brücher über den Heuss-Freund Thomas
Dehler, den Gründer der bayerischen
Freien Demokraten (FDP), zu ihrem En-
gagement in München. Dort traf sie
ihren späteren Mann, den CSU-Stadtrat
Erwin Hamm, mit dem sie zwei Kinder
hatte. Die Geschichte der Bundesrepublik hat sie von der Schaffung des Grundgesetzes (1949) bis zur Wiedervereinigung (1989) mitgestaltet, hat Glanz und
Elend des politischen Liberalismus
ebenso miterlebt wie den dornenvollen
Weg einer Frau, die sich in der männlichen Welt der Berufspolitik behaupten
musste. «Eine brave Mitläuferin war ich
nie», hält sie in ihrem locker geschriebenen Lebensbericht fest.
Schon die äusseren Daten sind beeindruckend: 38 Jahre Volksvertreterin,
nach dem Stadt- und Landratsmandat elf
Jahre als Mitglied des Deutschen Bundestages sowie elf Jahre als Regierungsmitglied, zuletzt als Staatsministerin im
Auswärtigen Amt (1976-1982) unter
Hans-Dietrich Genscher. Ungeteilte Bewunderung brachte sie vor allem Kanzler Helmut Schmidt entgegen. Als die
sozialliberale Koalition von SPD und
FDP am 1. Oktober 1982 über ein konstruktives Misstrauensvotum zu Fall kam,
gehörte Hamm-Brücher zu jenen FDPDissidenten, die sich dem Koalitionswechsel zur CDU widersetzten.
Hamm-Brüchers Partei war die linksliberale FDP eines Ralf Dahrendorf und
Gerhart Baum. Für Franz-Josef Strauss
war sie eine «Kampfhenne», für andere
wegen ihrer fortschrittlichen Auffassungen die «bestgehasste» Abgeordnete,
wie sie freimütig einräumt. Dank ihres
kantigen Profils wurde sie jeweils «Häufelkönigin» der FDP, die Kandidatin mit
den meisten Zweitstimmen aus anderen
Parteien. 1994 engagierte sie sich ein
letztes Mal, als sie mit über 70 erfolglos
zur Bundespräsidenten-Wahl gegen Roman Herzog (CDU) und Johannes Rau
(SPD) antrat. Mit dem Spasswahlkampf
der FDP unter Vizechef Jürgen Möllemann tat sie sich schwer, weshalb sie im
September 2002 den Austritt gab. «Als
Parteisoldatin», schreibt sie, «war ich
ziemlich unbrauchbar.» ●
Das amerikanische Buch Der Weg in den Bruderkrieg vor 150 Jahren
Am 12. April 1861 eröffneten Kanoniere
der konföderierten Armee das Feuer
auf das von föderalen Truppen besetzte
Fort Sumter im Hafen der SüdstaatenMetropole Charleston. Damit begann
das bis heute mit Abstand blutigste
Ringen der amerikanischen Geschichte. Bei einer damaligen Gesamtbevölkerung von 32 Millionen Menschen hat
der Bürgerkrieg 620 000 Soldaten das
Leben gekostet – mehr als sämtliche
Konflikte der USA seither zusammengenommen. Der 150. Jahrestag der
Kanonade hat die von Experten auf
weit über 50 000 geschätzte Zahl von
Büchern zum Bürgerkrieg noch einmal
um eine nicht überschaubare Flut von
Titeln vermehrt. Darunter sticht für
viele Fachleute und Rezensenten ein
Werk über den Weg in den Konflikt
hervor, der vom Umschlag und der mitunter an Mark Twain erinnernden
Sprache her etwas altbacken anmutet:
1861 – The Civil War Awakening
(Knopf, 481 Seiten) des jungen Historikers Adam Goodheart.
Am Rand eingefärbt, soll der Einband
von «1861» vergilbt wirken. Aber das
Buch überzeugt durch einen frischen
Ansatz. Goodheart beschreibt den Weg
in den Bruderkrieg nicht aus der Sicht
der hohen Politik, sondern begibt sich
in den damaligen Alltag. Auf ausgiebiges Studium und Zitate aus Tagebüchern, Briefen, Memoiren und
Presseartikeln gestützt, führt der Historiker an einzelne Schauplätze. Dort
begegnet der Leser Akteuren wie dem
von deutschen Immigranten in Missouri gegründeten «Schwarzen Jägerkorps», die heute bestenfalls in
Fussnoten auftauchen, 1860-61 jedoch
26 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. Mai 2011
Verständnis Lincolns. «Honest Abe»
galt nach seiner Wahl 1860 weithin als
leicht manipulierbarer Hinterwäldler,
entpuppte sich jedoch rasch als entscheidungsstarke Persönlichkeit mit
einem feinen Gespür für den Zeitgeist.
Dieser war dank der Industrialisierung
im Norden von einer Rastlosigkeit
gezeichnet, die junge Männer wie
Ellsworth nach grossen, sinnstiftenden
Aufgaben hungern liess.
Guerillatruppen in
Missouri während
des amerikanischen
Bürgerkriegs 18611865. Autor Adam
Goodheart (unten).
für kurze Momente im Zentrum des
Geschehens standen. Etliche dieser obskuren Figuren stehen auf überraschende
Weise in direkter Verbindung zu Präsident Abraham Lincoln.
So erwähnt Goodheart, dass der Kommandeur von Fort Sumter Jahrzehnte
zuvor den jungen Lincoln als Milizionär
für einen Feldzug gegen Indianer angeworben hatte. Der reife Lincoln empfindet dagegen tiefe Sympathie für den
Anwaltsgehilfen Elmer Ellsworth, der
1859 in Chicago ein «Zouaven-Korps»
gründete und sich dadurch zur Identifikationsfigur der urbanen Jugend des
Nordens entwickelte. Er starb im Mai
1861 bei einem Vorstoss nach Virginia.
«Rache für Ellsworth!» wurde zum
Sammelruf für Hundertausende von
Freiwilligen. Mit derartigen Einblicken
leistet «1861» nicht nur einen spannenden Beitrag zur amerikanischen Sozialgeschichte, sondern auch zum
Als solche bot sich der Krieg gegen die
Sklavenstaaten an. Dabei macht der Autor deutlich, dass auch im Norden Vorbehalte gegen Schwarze gang und gäbe
waren. Für Goodheart liegt auf der
Hand, dass die Konföderierten den
Krieg durch Provokationen, im Kern
aber durch ihr unnachgiebiges Bestehen auf der Ausweitung der Sklaverei
ausgelöst haben: Südstaaten-Politiker
zielten nicht nur auf die Einführung der
«merkwürdigen Institution» in den
neuen Gliedstaaten im Westen ab, sie
wollten zudem frühere Kompromisse
mit den Nordstaaten etwa über geflohene Sklaven rückgängig machen.
So zog der Norden eher der Ehre als
der Schwarzen halber in den Krieg.
Mit dieser differenzierten Argumentation hat «1861» die hiesige Kritik
überzeugt. Allerdings moniert etwa die
«New York Times» zu Recht, dass
Goodheart die Stimmung in den Südstaaten nur en passant und in einem
schroffen, urteilenden Tonfall diskutiert. Damit zeigt der Historiker jedoch,
wie nahe der blutige Konflikt ihrer
Vorväter den heutigen Amerikanern
immer noch ist. ●
Von Andreas Mink
Agenda
Letzte Ruhe Geschichten von unbekannten Toten
Agenda Juni 2011
Basel
Montag, 6. Juni, 19 Uhr
Sjón: Das Gleissen der Nacht. Lesung,
Fr. 17.–. Literaturhaus, Barfüssergasse 3,
Tel. o61 261 29 50.
Mittwoch, 8. Juni, 19 Uhr
Michail Schischkin: Venushaar. Lesung,
Fr. 17.–. Literaturhaus (s. oben).
Mittwoch, 15. Juni, 19.30 Uhr
Thalia-Buchhändlerinnen stellen Bücher
vor: Empfehlungen für die Sommerferien
und andere Mussestunden. Thalia, Freie
Strasse 32, Tel. 061 264 26 55.
Bern
Matthias Zschokke:
Lieber Niels. Lesung, Fr.
15.–, inkl. Apéro. Anmeldung: buchhandlung@
haupt.ch. Haupt Buchhandlung, Falkenplatz 14.
KEYSTONE
Mittwoch, 8. Juni, 19 Uhr
Sonntag, 19. Juni, 11 bis 12.30 Uhr
Kulturen und Religionen mit dem Tod. Er fotografiert
schlichte einzelne Grabsteine, aber auch Nekropolen
und farbenfrohen Kitsch. Unser Bild zeigt drei Gräber
in Costa Rica, die keine Namenszüge tragen und an
Bauten aus Spielzeugsteinen erinnern. Ergänzt
werden Rolf Pflugshaupts stimmungsvolle
Fotografien durch lyrische Texte von Raphael
Urweider und Andreas Urweider. Manfred Papst
Rolf Pflugshaupt: Verlorene Wünsche.
Benteli, Bern 2011. 144 Seiten, Fr. 58.–.
Sachbuch
1 Diogenes. 208 Seiten, Fr. 27.40.
2 Heyne. 448 Seiten, Fr. 25.40.
3 Fischer. 352 Seiten, Fr. 21.60.
4 Hanser. 320 Seiten, Fr. 24.90.
5 Hanser. 192 Seiten, Fr. 23.70.
6 Wunderlich. 448 Seiten, Fr. 29.60.
7 Diogenes. 208 Seiten, Fr. 26.40.
8 Rowohlt. 304 Seiten, Fr. 27.70.
9 Diogenes. 352 Seiten, Fr. 35.10.
10 Fischer. 192 Seiten, Fr. 25.90.
1 Langenscheidt. 128 Seiten, Fr. 16.90.
2
Giger. 300 Seiten, Fr. 43.90.
3
NZZ Libro. 144 S., Fr. 39.–.
4 Faro. 224 Seiten, Fr. 29.90.
5 Schwarzkopf & Schwarzkopf. 272 S., Fr. 30.50.
6 Orell Füssli. 192 Seiten, Fr. 34.90.
7 Dromer/Knaur. 304 Seiten, Fr. 25.90.
8
Orell Füssli. 176 Seiten, Fr. 34.90.
9 Riva. 200 Seiten, Fr. 15.90.
10 Integral. 272 Seiten, Fr. 29.90.
Carlos Ruiz Zafón: Marina.
Alex Capus: Léon und Louise.
Arno Geiger: Der alte König in seinem Exil.
Simon Beckett: Verwesung.
Martin Suter: Allmen und die Libellen.
Siri Hustvedt: Der Sommer ohne Männer.
Martin Walker: Schwarze Diamanten.
Peter Stamm: Seerücken.
Freitag, 3., bis Sonntag, 5. Juni
33. Solothurner Literaturtage. Detailliertes Programm unter www.literatur.ch.
Zürich
Dragan Aleksić: Vorvorgestern.
Geschichten, die vom Glück handeln.
Lesung, Fr. 18.–, inkl. Apéro. Literaturhaus, Limmatquai 62, Tel. 044 254 50 00.
Belletristik
Nicholas Sparks: Wie ein Licht in der Nacht.
Solothurn
Donnerstag, 9. Juni, 20 Uhr
Bestseller Mai 2011
Paulo Coelho: Schutzengel.
Bern – Literatur unter den Lauben. Literarischer Stadtrundgang, Fr. 30.–. Anmeldung unter www.literaturspur.ch.
Nina Puri: Langenscheidt Katze – Deutsch.
Brigitte Balzarini-Voss: Mein Leben mit
Steve.
Benjamin Steffen, Christof Gertsch: Fabian
Cancellaras Welt.
Nik Hartmann: Über Stock und Stein 3.
Carlo Perdersoli: Bud Spencer.
Martin Betschart: Ich weiss, wie du tickst.
Rhonda Byrne: The Power.
Philipp Löpfe, Werner Vontobel: Aufruhr im
Paradies.
Barney Stinson: Der Bro Code.
Walter Kohl: Leben oder gelebt werden.
Erhebung Media Control im Auftrag des SBVV; 17. 5.2011. Preise laut Angaben von www.buch.ch.
Mittwoch , 15. Juni, 19 Uhr
Susanna Schwager liest aus
ihren Werken. Verleihung
des Schillerpreises,
Laudatio Urs Widmer.
Reservation über das
Literaturhaus (s. oben).
ALICE VOLLENWEIDER
Seit Jahrzehnten besucht der 1934 geborene Berner
Fotograf Rolf Pflugshaupt Friedhöfe: in der Schweiz
und Deutschland, in Frankreich und Italien, Ungarn
und Rumänien, aber auch in fernen Ländern wie den
USA, Costa Rica und Madagaskar. Dabei geht es ihm
nicht um die Grabstätten berühmter Persönlichkeiten. Sie spart er in seinem Buch «Verlorene
Wünsche» bewusst aus. Ihn interessieren vielmehr
die Geschichten, welche Gräber von unbekannten
Toten erzählen, um den Umgang verschiedener
Donnerstag, 16. Juni, 20 Uhr
Angelika Overath: Alle Farben des
Schnees. Lesung, Fr. 18.–, inkl. Apéro.
Literaturhaus (s. oben).
Sonntag, 19. Juni, 17 Uhr
Michael Köhlmeier, Monika Helfer: Rosie und der Urgrossvater. Lesung, Fr. 15.–.
Theater Stadelhofen, Stadelhoferstrasse
12, [email protected].
Mittwoch, 22. Juni, 20 Uhr
Nina Maria Marewski: Die Moldau im
Schrank. Buchpremiere, Lesung, Fr. 25.–.
Kaufleuten, Festsaal, Pelikanplatz 1,
Tel. 044 225 33 77.
Bücher am Sonntag Nr. 6
erscheint am 26. 6. 2011
Weitere Exemplare der Literaturbeilage «Bücher am
Sonntag» können bestellt werden per Fax 044 258 13 60
oder E-Mail [email protected]. Oder sind – solange
Vorrat – beim Kundendienst der NZZ, Falkenstrasse 11,
8001 Zürich, erhältlich.
29. Mai 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27
Geschichte und Wirtschaft
Urs Bitterli, Irene Riesen (Hrsg.)
Jean Rudolf von Salis
Ausgewählte Briefe
1930 –1993
392 Seiten / gebunden
Daniel Trachsler
Bundesrat
Max Petitpierre
Schweizerische Aussenpolitik
im Kalten Krieg 1945–1961
416 Seiten / gebunden
War er der weitsichtige Architekt des erfolgreichen Sonderfalls Schweiz, oder
ist er vielmehr der Verursacher der gegenwärtigen aussenpolitischen Blockade
der Schweiz? Die erste quellengestützte Biografie des Magistraten klärt auf.
«Das flüssig geschriebene Buch ist Pflichtlektüre.» Aargauer Zeitung
Von Salis’ umfangreiche Korrespondenz zwischen 1930 und 1993 wird hier erstmals vorgestellt und kommentiert. Zu seinen Adressaten gehörten u. a. Max Petitpierre, Gottlieb Duttweiler, Friedrich Dürrenmatt und Max Frisch.
Fr. 54.– / € 45.–
Fr. 54.– / € 45.–
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<wm>10CFXKsQrDMAyE4SeSOJ2s2KrH4i1kCN29lM59_ylOtw7HD8e37z0Uvz3H8RpnN6CEmCdq9MhQrjZSUWpHWBJmDzR6WdD_vMByc_i8jWDdOdGEFNYZlfp9fy5jHVvFcgAAAA==</wm>
Urs Schoettli
R. James Breiding,
Gerhard Schwarz
Wirtschaftswunder
Schweiz
Ursprung und Zukunft
eines Erfolgsmodells
432 Seiten / gebunden
Geld, Gold und Geist
Vermögen und Reichtum in Asien
192 Seiten / Klappenbroschur
Die Asiaten haben ein eigenes Verständnis von Vermögen und Reichtum, das bis
heute seine Geltung bewahrt hat. Schoettli leistet in seinem neuen Buch wertvolle
Vermittlungsarbeit. «Es liefert Einsichten, denen sich niemand verschliessen mag,
wenn er in Asien unterwegs ist.» NZZ
Wie schaffte es die an Ressourcen arme Schweiz in so vielen Wirtschaftssektoren
zu einem so wichtigen globalen Player zu werden? «Das Werk erzählt die spannenden Geschichten von Unternehmern und ihrer teilweise enormen Risikobereitschaft.» Basler Zeitung
Fr. 36.– / € 30.–
Fr. 58.– / € 45.–
www.nzz-libro.ch