Birgit Vanderbeke Das lässt sich ändern
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Birgit Vanderbeke Das lässt sich ändern
Nr. 5 | 29. Mai 2011 Ingeborg Bachmann Die Radiofamilie | Kuno Raeber Aus dem Nachlass | Birgit Vanderbeke Das lässt sich ändern | Alain Badiou Lob der Liebe | Neue Bücher zum Unternehmen Barbarossa | Porträt Chronos-Verlag | Weitere Rezensionen zu James Sallis, Marshall McLuhan, Margarete Steiff, Curt Riess, Viktor Vekselberg und anderen | Charles Lewinsky Zitatenlese <wm>10CAsNsjY0MDAx1TU0tjQwNwIAZ5aoSw8AAAA=</wm> <wm>10CFXKqw6AMAxG4Sfq8rddt5VKMkcQBD9D0Ly_4uIQx5x8yxKW8DX3de9bMJCNWB1VwtyS1BJNJCHXgLELmCc0ZOYC_3kCe1HoeA3h2T7QCEJahmak6zhvjf0FX3IAAAA=</wm> Mobilisieren Sie Ihr Wissen. 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So schilderte ein Redaktor die 25-jährige Kollegin, mit der er künftig im Turnus «Die Radiofamilie» schrieb: eine halbstündige Soap über den Alltag der Familie Floriani, die jeweils am Samstag um 21.30 Uhr ausgestrahlt wurde. Ingeborg Bachmann, so hiess die Neue, schrieb zwei Jahre lang amüsante Episoden und Dialoge für die populäre Kichersendung. Letzte Woche hat der Suhrkamp-Verlag die verschollen geglaubten Hörspiel-Manuskripte erstmals publiziert. Sie werfen ein völlig neues – heiteres – Licht auf die österreichische Autorin, die bisher ja nicht gerade als Luftibus oder Ausbund von Fröhlichkeit bekannt war (Seite 7). Eine Offenbarung ist auch die soeben erschienene Biografie von Douglas Coupland über Marshall McLuhan, der diesen Sommer 100 Jahre alt geworden wäre. Der Pop-Star der Medienforschung war im Grunde genommen ein unmöglicher Kerl, den man aber schon wegen seiner witzigen und brillanten Formulierungen einfach bewundern muss (S. 18). – Neben Charles Lewinsky schreiben in dieser Nummer auch andere Schriftsteller über Mitglieder ihrer Zunft: Michel Mettler (S. 6), Judith Kuckart (S. 8) und Bruno Steiger (S. 10). Feinsinnige Texte, die von präziser Beobachtung zeugen. Urs Rauber Ingeborg Bachmann (S. 7). Illustration von André Carrilho Belletristik Kurzkritiken Sachbuch 4 Kuno Raeber: Aus dem Nachlass I & II Von Manfred Papst 15 Stiftung Lebenshilfe: Wir sind gleich. Und anders Von Martin Zingg Von Michel Mettler 6 Michael Stavarič: Brenntage Breece D’J Pancake: Stories 7 Ingeborg Bachmann: Die Radiofamilie Von Susanne Schanda 8 Joseph Mitchell: McSorley’s Wonderful Saloon Von Judith Kuckart 9 Birgit Vanderbeke: Das lässt sich ändern Von Sandra Leis Von Gerhard Mack Von Bruno Steiger Catherine Opie: Empty and Full 10 James Sallis: Der Killer stirbt 11 Dana Grigorcea: Baba Rada Von Kathrin Meier-Rust Daniel de Roulet: Fukushima, mon amour Von Urs Rauber Von Urs Rauber Von Geneviève Lüscher Jes Rust: Fossilien 22 Alice Chalupny: Victory und Vekselberg. Der Poker um die Schweizer Industrie Von Daniel Puntas Bernet 23 Konrad Hummler: Versuch, Irrtum, Deutung Von Kathrin Meier-Rust Von Hans Geiger 24 Alain Badiou: Lob der Liebe Von David Signer 25 Annerose Sieck: Mystikerinnen Peter Handke: Der Grosse Fall Von Christina Hubbeling Von Peter Keller Matthias Wiesmann: Bier und Wir 26 Hildegard Hamm-Brücher: Und dennoch . . . Nachdenken über Zeitgeschichte – Erinnern für die Zukunft Von Manfred Papst Stephan Pörtner: Stirb, schöner Engel Von Regula Freuler José Saramago: Über die Liebe und das Meer Von Manfred Papst Von Urs Rauber Das amerikanische Buch Adam Goodheart: 1861 – The Civil War Awakening Von Andreas Mink GUNNAR KNECHTEL / LAIF Porträt 12 Gutenberg-Jünger an Flatscreens Ein Besuch im Zürcher Chronos-Verlag Von Urs Rauber Kolumne Das Zitat von George Bernard Shaw Von Regula Freuler 15 Charles Lewinsky Curt Riess, Esther Scheidegger: Café Odeon Von Urs Bitterli Von Reinhard Meier 16 John Steinbeck: Russische Reise Christian Hartmann: Unternehmen Barbarossa Anna Reid: Blokada 11 Nathanael West: Eine glatte Million Von Geneviève Lüscher 21 Victor Kocher: Terrorlisten. Die schwarzen Löcher des Völkerrechts Kurzkritiken Belletristik Von Ina Boesch 18 Douglas Coupland: Marshall McLuhan Von Kirsten Voigt 19 Gabriele Katz: Margarete Steiff Von Irmgard Matthes Von Simone von Büren 20 Kirsten A. Seaver: Mit Kurs auf Thule. Die Entdeckungsreisen der Wikinger Der Mann meines Lebens Sachbuch 17 Stefan Ineichen: Endstation Eismeer. Schweiz – Titanic – Amerika Birgit Vanderbeke erzählt in ihrem neuen Roman von einem glücklichen Landleben. Hier 2005 im Garten ihres Hauses in Südfrankreich. Agenda 27 Rolf Pflugshaupt: Verlorene Wünsche Von Manfred Papst Bestseller Mai 2011 Belletristik und Sachbuch Agenda Juni 2011 Veranstaltungshinweise Chefredaktion Felix E. Müller (fem.) Redaktion Urs Rauber (ura.) (Leitung), Regula Freuler (ruf.), Geneviève Lüscher (glü.), Kathrin Meier-Rust (kmr.), Manfred Papst (pap.) Ständige Mitarbeit Urs Altermatt, Urs Bitterli, Andreas Isenschmid, Manfred Koch, Gunhild Kübler, Charles Lewinsky, Beatrix Mesmer, Andreas Mink, Klara Obermüller, Angelika Overath, Stefan Zweifel Produktion Eveline Roth, Hans Peter Hösli (Art-Director), Urs Schilliger (Bildredaktion), Felix Eberlein und Manuela Klingler (Layout), Korrektorat St. Galler Tagblatt AG Adresse NZZ am Sonntag, «Bücher am Sonntag», Postfach, 8021 Zürich. Telefon 044 258 11 11, Fax 044 261 70 70, E-Mail: [email protected] 29. Mai 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3 Belletristik Schweizer Literatur Kuno Raeber (1922–1992) ist einer der grossen Aussenseiter unter den hiesigen Schriftstellern. Das zeigen die Tagebücher und Briefe, Gedichte, Erzählungen und Aufsätze aus seinem Nachlass «Kunst ist Freiheit, Frechheit, Frivolität» Kuno Raeber: Aus dem Nachlass I & II. Herausgegeben von Christine Wyrwa und Matthias Klein. Scaneg, München 2011. 660 und 446 Seiten, zusammen Fr. 65.10. Von Manfred Papst Wirklich erfolgreich war er nie; weder zu seinen Lebzeiten noch in den Jahren danach, als eine fünfbändige, sorgsam edierte Werkausgabe sein Schaffen würdigte. Obwohl Kuno Raeber gelegentlich mit Preisen bedacht wurde und namhafte Kritiker wie Hanno Helbling und Beatrice von Matt immer wieder auf seinen Rang als Lyriker und Erzähler hinwiesen, blieb er zeitlebens ein Aussenseiter des Literaturbetriebs, der stets um seine geistige und materielle Existenz zu kämpfen hatte. Das hatte innere und äussere Gründe. Kuno Raeber entstammte dem katholischen Luzerner Grossbürgertum. Ursprünglich hiess er Zehnder, doch nachdem der Vater, ein Mediziner, seine Frau und die vier kleinen Kinder verlassen hatte, um in Kanada sein Glück zu suchen, nahm er den Nachnamen der Mutter an. Die entstammte der Familie des Kuno Raeber Kuno Raeber wurde 1922 in Klingnau geboren, wuchs in Luzern auf und studierte in Basel. Als Historiker arbeitete er in Rom, Tübingen und Hamburg. 1958 liess er sich als freier Schriftsteller in München nieder. Dort verbrachte er, unterbrochen von längeren Aufenthalten in Italien und den USA, fortan die meiste Zeit seines Lebens. Raeber publizierte sieben Lyrikbände und vier Romane, dazu Erzählungen, Dramen, Hörspiele, Reiseskizzen und Essays. Er starb 1992 in Basel. 2002-2004 erschien bei Nagel & Kimche eine fünfbändige Werkausgabe, die durch die beiden hier angezeigten Bände ergänzt und abgeschlossen wird. 4 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. Mai 2011 wohlhabenden Verlegers und Buchdruckers Joseph Räber. Der Gutenberghof, Ecke Morgarten- und Frankenstrasse in Luzern, war Wohn- und Geschäftssitz der Familie. Dort führte nach dem Verschwinden des Vaters Kunos Tante Luise ein strenges Regiment. Sie fesselte und traumatisierte den schwächlichen Knaben. Der blieb bis zu ihrem Tod 1981 finanziell und psychisch von ihr abhängig. Erschütternde Notate Kuno Raeber wächst im katholischen Glauben auf und gerät als junger Mensch in den Bann des Theologen (und damaligen Basler Studentenseelsorgers) Hans Urs von Balthasar. Als Novize tritt er in den Jesuitenorden ein. Doch ein Zerwürfnis mit seinem charismatischen Lehrer und eine Glaubenskrise geben seinem Leben eine abrupte Wendung. Raeber verfällt zunächst in eine schwere Depression. Dann studiert er Geschichte, dissertiert bei Werner Kaegi über Sebastian Franck, arbeitet als Historiker in Italien und Deutschland. Er führt das Leben eines weltoffenen Bildungsbürgers, ist scheinbar glücklich verheiratet mit Meile Georgi, das Paar hat zwei Töchter. Doch dann, Anfang, Mitte dreissig, entdeckt Kuno Raeber seine Homosexualität, die er in der Folge leidenschaftlich auslebt. Gleichzeitig wird ihm klar, dass er Dichter sein will und nichts anderes, auf jede Gefahr hin. Er trennt sich von seiner Familie. Von 1958 an lebt er hauptsächlich in München. Alle diese Dinge lassen sich in seinen Tagebüchern, die nunmehr im Rahmen einer zweibändigen Nachlassedition erschienen sind, nachlesen. Es sind erhellende und erschütternde Einträge. Sie zeigen einen so gelehrten wie getriebenen Geist, der sich mit keinen Halbheiten zufrieden gibt. Schon im allerersten Eintrag, unter dem 6. 3. 1941, lesen wir: «Ich gehe meinen Weg grad und unbeirrt, ich will nicht nach rechts und links schauen, immer nur vorwärts gehen. Der junge Kleist sagte, er wolle der grösste Dichter der Nation werden oder dann keiner. So sage auch ich, auch wenn ich mich abrackern muss, ich will meine Sendung ganz erfüllen. [...] Meine Sehnsucht macht noch nicht an den Sternen Halt, denn was sind schon die Sterne?» Bei dieser Haltung bleibt er. «Kunst, Literatur, das ist Freiheit, Frechheit, Frivolität, kühnes, tollkühnes Spiel mit dem unendlichen Stoff Welt», notiert er am 19. 2. 1956. Und er geht konsequent seinen Weg. Die katholische Bild- und Bildungswelt bestimmt ihn auch nach seinem Abfall vom Kirchenglauben. Sein Verhältnis zur Kunst bleibt ein sakrales. In seinen persönlichen Aufzeichnungen hantiert er stets mit den grössten Begriffen. Mit der tagespolitisch engagierten Literatur seiner Zeit kann er wenig anfangen. Er denkt in Epochen und Äonen, arbeitet an einer Remythologisierung der Geschichte. Damit wird er in der Gruppe 47, der er angehört, nicht verstanden. Er gilt dort allenfalls als komischer Vogel. Sein erster Roman wird heftig kritisiert. In der Schweiz wiederum ist er kaum vorhanden, weil er in München lebt, in deutschen Verlagen publiziert, seine entscheidenden Erlebnisse Rom und New York verdankt. Als Autor ist er ein ausgesprochener Stadtmensch. «Alexius unter der Treppe» (1973) beschwört den Dämon New York, «Wirbel im Abfluss» (1989) die heilige Hure Rom. Raeber orientiert sich nicht an Frisch und Dürrenmatt, sondern an Hofmannsthal, Joyce und Borges. Immerhin werden seine Texte publiziert. Am Anfang sind sie noch recht konventionell. Erzählen linear, dichten empfindsam. Doch dann, etwa von 1964 an, mit der Erzählung «Die Düne», lösen sie sich immer mehr vom Mainstream. Kuno Raeber entwickelt als Synästhetiker, der Farben hört und Töne sieht, eine faszinierende Technik des spiralförmigen Schreibens. Er arbeitet mit Sprachkaskaden, die einen ungeheuren Sog entwickeln. Am überzeugendsten tut er das im Roman «Wirbel im Abfluss» (1989), einem WeltuntergangsSpektakel, das ursprünglich unter dem Verleger-Titel «Sacco di Roma» erscheint. Man kann die damaligen Nöte Egon Ammanns verstehen: «Wirbel im Kuno Raeber, hier 1988 vor den Pyramiden in Gizeh, dachte in Epochen und Äonen. JÖRG TROBITIUS Abfluss» kann unfreiwillig komisch klingen. «Sacco di Roma» wirkt unverfänglicher und zudem gebildet, deckt aber nur einen kleinen Teil des Romangeschehens ab. Dieses nämlich konzentriert sich keineswegs auf die Plünderung Roms durch deutsche Landsknechte im Jahr 1527, sondern fährt mit der Kulturgeschichte von zwei Jahrtausenden Karussell. Man hat diesen Roman übrigens immer wieder gern als möglicherweise genial, aber unlesbar taxiert, weil er auf 270 Seiten ohne Punkt auskommt. Er ist aber durchaus strukturiert und keineswegs schwer zu lesen. Man muss nur etwas Neugier mitbringen und ihm eine Chance geben! Der junge Kuno Raeber in den 40er Jahren, zu Beginn seiner Laufbahn. Freilich war Raeber nie ein Autor, dem es um gefällige Plots ging. Er schrieb keine Schmöker. Seine Abenteuer vollziehen sich in der Sprache, auch wenn sie, wie der genialisch-böse, vom Hass auf die Mutter geprägte Roman «Das SCANEG VERLAG Erste gründliche Biografie Ei» (1981), Autobiografisches mitschleppen und verarbeiten. Das stellen seine Herausgeber, Christine Wyrwa und Matthias Klein, überzeugend heraus. Sie haben schon die Werkausgabe für Nagel & Kimche betreut. Nun haben sie Raebers Nachlass im Schweizerischen Literaturarchiv Bern ausgewertet und legen, nachdem der Zürcher Verlag wegen der bisherigen Erfolglosigkeit mit Raeber für ein Nachfolgeprojekt nicht mehr zu gewinnen war, bei Scaleg zwei gewichtige und abschliessende Ergänzungsbände vor. Eine editorische Grosstat! Sie bringt eine Auswahl der Tagebücher und Briefe, kapitelweise ergänzt um biografische Erläuterungen, die in ihrer Gesamtheit ein eigenes Buch und die erste gründliche Raeber-Biografie ausmachen, sowie bisher unpublizierte Gedichte, Erzählungen und Essays. Auf Schritt und Tritt lassen sich hier die erstaunlichsten Funde machen – vom eigenwilligen Stadtporträt «München 1970» bis zur tiefsinnigen Betrach- tung «Protestantisch denken – katholisch leben». Zeitzeugen wie der damalige Luchterhand-Lektor Thomas Scheuffelen berichten von Kuno Raebers Perfektionismus, von seiner unermüdlichen Arbeit am Text, von seiner Insistenz auch: Wenn er einen gemeisselten Satz als richtig erkannt hatte, liess er nicht mehr mit sich reden. Dieses Bemühen um den genauen Gedanken zeigen auch die Tagebücher und Briefe. Wir haben es hier mit einem wahrnehmungssensiblen und sprachbesessenen Menschen zu tun, der konsequent seinen Weg ging. Raebers späteste Notizen knüpfen nahtlos an seine frühesten an. Am 14. 10. 1991 notiert der bereits von der tödlichen AidsKrankheit gezeichnete Autor: «Kunst ist für viele nur eine Tätigkeit wie eine andere. Ob sie dann ihre Zeit damit füllen oder ihr Geld damit verdienen wollen: Es geht ihnen nicht um Leben und Tod. In Wirklichkeit aber ist Kunst alles oder gar nichts.» l 29. Mai 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 5 Belletristik Roman Erinnerungen an einen rätselhaften Brauch, gesehen durch Kinderaugen Michael Stavarič: Brenntage. C. H. Beck, München 2011. 232 Seiten, Fr. 28.90. Von Martin Zingg Brenntage sind wunderbare Momente. Am ersten Tag im Herbst tragen die Einwohner der Siedlung alles zusammen, was sie nicht mehr benötigen: alte Möbelstücke, gebrauchte Kleider, Essensreste, Spielsachen oder Gummiwaren. In «Brenntage», seinem jüngsten Roman, lässt der Wiener Autor Michael Stavarič seinen Ich-Erzähler immer wieder von dieser Entsorgungsmassnahme schwärmen. Der Erzähler sagt uns aber nicht, wo es diese Brenntage gibt, in welcher Gegend also die Siedlung liegt, die diesen reinigenden Brauch pflegt. Überhaupt verschweigt uns der Erzähler allerhand: Wir erfahren nicht, wie er heisst, und nicht, in welche Zeit seine Geschichte fällt. Und wir haben auch keine Ahnung, wie alt er ist. Dass es sich um einen jungen Erzähler handeln muss, merken wir hingegen sehr bald einmal. Er lebt, weil die Mutter gestorben ist, bei Onkel und Tante, und als diese auch bald stirbt, ist es der Onkel, der sich fortan um ihn kümmert und ihn allmählich in die Welt einführt. In eine sehr ungewöhnliche Welt, wie sich erweist. «Brenntage» erzählt die allmähliche Erschaffung dieser Welt, die einem Kosmos gleicht. Schauplatz ist eine Siedlung ohne Namen, entlegen und vergessen, den Ort bedient selbst die Eisenbahn nicht mehr. Es herrscht hier eine seltsame, bisweilen irritierende Zeitlosigkeit, und einmal heisst es gar: «Manchmal wusste ich nicht mehr, wie viel Zeit schon vergangen, ob ich längst erwachsen war oder noch immer ein Kind.» Dieser Ich-Erzähler ungewissen Alters ist ein genauer Beobachter. Seine Wahrnehmungen ergänzt er um all das, was ihm seine agile, in alle Richtungen ausschwärmende Phantasie eingibt: Auch auf das Unverstandene macht sich der Junge seinen eigenen Reim. Daraus entfaltet sich allmählich eine ganze Welt, eine zudem, die zeitlich und örtlich nicht festzulegen ist. Viel ist etwa die Rede von Bergbau, von Minen und davon, dass diese erschöpft sind. Aus diesen Minen lässt sich aber mit dem Blick des Jugendlichen immer noch etwas gewinnen. Ihn fasziniert etwa die ungewöhnliche Sprache des Bergbaus. Sprache bildet Welt ab, sie erschliesst sie und schafft zugleich Realitäten, auch davon handelt, gleichsam hinter dem eigenen Rücken, Stavaričs wunderbar offener, durchlässiger Roman. Eine grosse Rolle spielen neben den Minen die Wälder, die dunklen, verwunschenen Territorien neben der Siedlung. In den Wäldern leben Tiere, sind Liebespaare zugange, hier nisten Geheimnisse und Ängste, hier lauert so vieles, was noch keinen Namen hat und die Phantasie okkupiert. In den Wäldern können auch plötzlich Soldaten auftauchen, möglicherweise herrscht in der Nähe gar Krieg, wer weiss, der junge Erzähler jedenfalls weiss es nicht und wird diese Soldaten nie los. BILDAGENTUR ZOONAR Reinigendes Feuer Wo es brennt, ist es wunderbar: Michael Stavaričs jugendlicher Protagonist erschafft sich eine Welt. Und dennoch ist das, was der Erzähler vor unseren Augen allmählich, in kleinen Schüben, ausbreitet, durchaus von dieser unserer Welt. Spürbar wird das, wenn etwa die Rede ist von Mikrowellen-Öfen, die an den Brenntagen zum Sperrgut getragen werden, oder vom Fernsehen. Diese Realität wird hier durch Kinderaugen gesehen, und sie gehorcht keiner herkömmlichen Logik. Wie weit den Kinderaugen und -ohren zu trauen ist, bleibt unklar, bis zuletzt. Das Wort, das letzte Wort hat stets der Heranwachsende. Er bewegt sich in breiten Vorstellungsgefilden und Erinnerungsvorräten, er erzählt sich durch einen dichten Dschungel voran, legt sich mit Schleifen und gelegentlich fast schon surrealen Volten einen Weg frei, seinen Weg, getrieben vom Wunsch, endlich «Teil dieser Welt» zu sein – und natürlich bleibt man gespannt, wohin das führen, wie das enden kann, was Michael Stavarič hier auf eindrückliche Weise inszeniert. ● Erzählungen Unsentimentale Texte des amerikanischen Autors Breece Dexter Pancake (1952-1979) Das Nebenstrassenamerika Breece D’J Pancake: Stories. Aus dem Amerikanischen von K. Böhmer. Weissbooks, Frankfurt 2011. 216 S., Fr. 30.50. Von Michel Mettler Billie Holiday ist bekannt als jene Sängerin, die mit komplett lädiertem Organ in die Jazzgeschichte einging und zur Säulenheiligen wurde. Die kratzige, mit ihrem Zerbrechen spielende Stimme gilt in den Stammlanden des Showbusiness als beliebtes Instrument, um die Kehrseite von Glamour-Amerika ins Blickfeld zu rücken. Wenn dazu noch ein früher Suizid kommt und ein schmales, nachgelassenes Werk, dann besteht Mythisierungsgefahr. Doch Breece Dexter Pancakes Texte (das «D’J» spielt auf die fehlerhafte Abkürzung seines Namens unter seinem ersten publizierten Text an) können ohne Rückgriff auf die Biografie ihres Verfassers mühelos beste6 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. Mai 2011 hen. Ihr Ton ist zwar brüsk und mitleidlos, doch ein Lackwegkratzer des Mittelstandslebens wie Raymond Carver oder John Cheever ist Pancake nicht: Die Schauplätze seiner Stories sind unlackiert. Es ist eine Welt abseits von Hochglanz und Urbanität, und ihre eigenbrötlerischen Bewohner entstammen der werktätigen Schicht: Es sind Bergarbeiter, Trucker, Farmer oder Automechaniker. Zwischen ihnen geht es hemdsärmelig zu, und Pancake kommt ihnen mit seiner ebenso einfühlsamen wie unsentimentalen Sprache packend nah. Atmosphärisch und thematisch breiter gefächert als Bukowski, im Ton schroffer als Carver, revitalisiert Pancake jene Erzählgattung, die den Hinterhof des American Dream ausleuchtet. Er tut es mit Gespür für Figuren und Schauplätze, in einem straffen, posefreien Stil, dessen Tonfall immer schon die gesamte Botschaft enthält. Die ersten Sätze seiner Stories hallen von dem vielen wider, was ihre Figuren an Ungemach noch erwartet. Im sozialen Abseits eines Nebenstrassenamerikas war Pancake selber zuhause, genauer im Bergbaugebiet von West Virginia. Dort wurde er 1952 geboren. Nur zwölf kurze Erzählungen hat der jung, durch einen Schuss aus seiner Waffe selbstverschuldet aus dem Leben geschiedene Autor hinterlassen (ob es Suizid oder Unfall war, ist umstritten). 1983 wurden sie in den USA veröffentlicht, nun liegen sie in einem schönen, bei weissbooks erschienenen Band erstmals auf Deutsch vor. Das Leben ihres Verfassers war kurz, doch es scheint, als habe er seine Zeit genutzt. Davon zeugt der emotionale Reichtum seiner Prosa. Er hat dem Leben in den Rachen geblickt. Und das Leben war keine Fee, sondern ein Ungeheuer. ● Michel Mettler ist Schriftsteller, Musiker und Dramaturg. Er lebt in Brugg. Zuletzt erschienen seine Erzählungen «H stellt sich vor». Hörspiel Ingeborg Bachmanns erfolgreiche Radioserie aus der Nachkriegszeit war eine Soap Opera. Ihre Wiederentdeckung zeigt eine neue Facette des Werks Als sie dem Gewicht der Welt noch heiter begegnete Ingeborg Bachmann: Die Radiofamilie. Herausgegeben von Joseph McVeigh. Suhrkamp, Berlin 2011. 412 Seiten, Fr. 37.90. Von Susanne Schanda Man glaubte, alles sei gesagt zum Werk der 1973 in Rom verstorbenen Ingeborg Bachmann, doch nun zeigt sich mit der Publikation der Hörspiel-Skripte «Die Radiofamilie» ein neues Gesicht der österreichischen Dichterin. Bereits der Briefwechsel mit Paul Celan («Herzzeit») und das «Kriegstagebuch» dokumentierten die Nachkriegszeit. Doch niemand interessierte sich bisher für Bachmanns Arbeit als Redaktorin und Autorin beim amerikanischen Besatzungssender «Rot-Weiss-Rot» in Wien. Von 1951 bis 1953 produzierte sie dort Radioskripte und Entwürfe für Sendungen des Unterhaltungsprogramms. Sie selbst betrachtete diese Stelle als Brotjob und sprach kaum darüber. Dabei trug sie wesentlich zum Erfolg der zusammen mit zwei Kollegen produzierten Hörspielreihe «Die Radiofamilie» bei. Nun hat der amerikanische Germanist Joseph McVeigh die lange verschollen geglaubten Skripte Bachmanns herausgegeben, um einen Beitrag «zu einem neuen Verständnis der Dichterin und ihres Werkes in den frühen fünfziger Jahren» zu leisten, wie er in seinem erhellenden Nachwort schreibt. Es ist die Zeit vom Auftauchen der damals 25-Jährigen in den Wiener Literatenkreisen, als sie ihre ersten Gedichte in Zeitschriften veröffentlichte und ihre Dissertation über Martin Heideggers Existentialphilosophie abschloss; zudem der Beginn einer schwierigen Beziehung mit dem jüdischen Lyriker Paul Celan, der nur knapp dem Tod durch die Nazis entkommen war und Bachmanns Leben und Werk tief prägen sollte. Die Hörspiele der jungen Ingeborg Bachmann (19261973) waren von einer amüsanten Note geprägt (Aufnahme 1955, mit Martin Walser und Heinrich Böll, von links). die gemeinsame Geburtstagsfeier des zwölfjährigen Wolferl und seiner Tante Liesl, begleitete die Familie zu einer Kunstausstellung und verfolgte eine Diskussion über Koedukation. Neben familiären und privaten wurden auch politische Themen verhandelt wie die Entnazifizierung, der Wiederaufbau und die Korruption. Das von der US-Besatzungsmacht vorgegebene pädagogische Ziel der Sendung war, eine optimistische Lebenseinstellung in amüsante Geschichten zu verpacken. Ingeborg Bachmann, die sich in dieser Zeit literarisch mit den seelischen Wunden des Krieges auseinandersetzte und in «Entfremdung» dichtete: «Ich kann in keinem Weg mehr einen Weg sehen» – musste für «Die Radiofamilie» eine humoristische Alltagssprache mit Bodenhaftung finden. Dies ist ihr erstaunlich gut gelungen, selbst bei dem für sie heiklen Thema der Nazi-Mitläufer. Bachmanns Vater war selbst 1932 in die NSDAP eingetreten. Die Schuld der Väter zieht sich als düsteres Thema durch ihr Werk bis zum «Todesarten»Zyklus. In der «Radiofamilie» ist Onkel Guido «ein Trottel, der auf den Hitler hereingefallen ist», wie so viele andere. Das hört sich im Dialog mit seinem Halbbruder Hans Floriani so an: «Guido: In mir war immer etwas Faustisches, ein deutsches Schicksal, ja... Hans: Erinnere mich lieber nicht an dein deutsches Schicksal. Du weisst, in dem Punkt bin ich empfindlich. Nach wie vor. Guido: (leicht gekränkt) Bitte, bitte, ich hab halt zuerst geglaubt, dass die sozusagen den Nihilismus des 20. Jahrhunderts überwinden würden. Du musst doch zugeben, dass man damals sehr – wie drücke ich mich aus – empfänglich war. Aber das Faustische, das ist doch wohl erlaubt, in einem höheren Sinne, im goethischen, meine ich. Hanni: Onkel Guido, wir sollen jetzt den Faust lesen, du, der war aber ganz anders als du!» Frisch und leicht Die humoristischen Geschichten über den Alltag des Oberlandesgerichtsrats Floriani und seiner Familie aus dem Wiener Mittelstand passten nicht so recht zum Karrierestart einer ambitiösen jungen Autorin. Die damals in den USA bereits erfolgreiche Form des Radiodramas als Serie, die Soap Opera, schlug auch in Österreich ein und machte «Die Radiofamilie» zur beliebtesten Sendung der Nachkriegszeit. Anfangs wurde sie jeden zweiten Samstag um 21.30 Uhr gesendet, wegen des grossen Erfolgs aber schon bald im Wochenrhythmus. Sie nahm die Hörerinnen und Hörer mit zur Familie Floriani an der Taubengasse 18, an ULLSTEIN BILD Ein Strassenfeger Mit ihren spontanen Bemerkungen entlarven die Kinder Floriani so manche Attitüde der Erwachsenen und verleihen der etwas biederen Familienidylle eine frische Leichtigkeit. Dies zeigt sich in Folge 54, als die Florianis in der Stadt von einem Regenguss überrascht werden und auf der Suche nach einem schützenden Dach ungeplant in die Eröffnung einer Ausstellung über moderne Kunst geraten. Während die Eltern etwas ratlos vor den Bildern stehen, beobachtet die 16-jährige Tochter fasziniert das Vernissagepublikum und fragt: «Du Papa, glaubst, schau, der in der Schnürlsamthose ist ein Künstler? Er sagt, er hat eine ‹Abstraktion in Blau› hängen.» Wolferl erklärt seinem Vater, was auf den Bildern zu sehen ist, und bittet ihn dann, eines zu kaufen: «Die sind viel schöner und gar nicht so dumm wie der Hirsch, den wir damals aus dem Dorotheum mitgebracht haben.» Die treffsichere Alltagssprache ist einmalig in Bachmanns Werk und lässt «Die Radiofamilie» als heiteres Gegenstück zum Nachkriegsfilm «Der dritte Mann» erscheinen, der Wien als düsteren Umschlagplatz von Spionen und Mördern zeichnet. Das Heitere sollte im späteren Werk der Dichterin allerdings nicht mehr vorkommen. Im Gegenteil zitiert sie in ihrem «Malina»-Roman gerade den «Dritten Mann» im Kontext der Schuld der Väter. Der ÖsterreichPatriotismus der amerikanischen Kulturpolitik habe sich wohl nicht mit dem «Lastbewusstsein» Bachmanns von der politischen Vergangenheit des Landes vereinbaren lassen, vermutet der Herausgeber Joseph McVeigh. Dennoch ist die Soap Opera im Werk der Bachmann kein Ausrutscher, sondern der Versuch, dem Gewicht der Welt mit Leichtigkeit beizukommen. ● 29. Mai 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 7 Belletristik Klassiker Die Porträts des New Yorker Autors Joseph Mitchell sind heute noch wundervoll zu lesen Schriftsteller der Hafenkneipen und Einwanderungsviertel Joseph Mitchell: McSorley's Wonderful Saloon. New Yorker Geschichten. Aus dem Amerikanischen von Andrea Stumpf und Sven Koch. Diaphanes, Zürich, Berlin 2011. 448 Seiten, Fr. 34.90. Von Judith Kuckart GREGORY BULL / AP Er soll gestickte Gänseblümchen auf dem Hutband gehabt haben, dieser Joseph Mitchell. Ich würde gern ein Porträt schreiben über ihn, der so wunderbare Porträts schrieb. Er ging auch bei sommerlicher Hitze in Mantel mit Hut und Schlips aus, der Schlips muss rot mit waldgrünen Punkten gewesen sein, und die Socken dazu ebenfalls in passendem Rot. Mitchell war ein Zuhörer, der, wenn ihm gewisse Fragen gestellt wurden, die Katzen füttern ging. Einmal fuhr er zur See, auf einem russischen Frachter im Sommer 1931, aber im Herbst war er zurück. Ansonsten lebte er in möblierten Zimmern zur Untermiete. Er muss ein zärtliches Herz gehabt haben, das sehe ich seinen Texten an. Joseph Mitchell, der Mann mit dem genauen Blick und den noch genaueren Ohren, starb 1996 im Alter von 88 Jahren. Er war 1929 von North Carolina nach New York gekommen. Diese Herkunft aus den Südstaaten führt er selber als einen wichtigen Einfluss für sein Schreiben an: «Mein Thema waren nicht die kleinen Leute. Sie sind so gross wie du und ich, ganz egal, wer wir sein mögen.» Seine Reportagen aus der Zeit zwischen 1938 bis in die fünfziger Jahre, die er für den «New Yorker» schrieb, sind jetzt auf Deutsch erschienen. Es sind Porträts von Menschen, auf die selten jemand genau schaut. Mitchell geht in die Hafen- und Einwanderungsviertel, in die Kneipen. Er geht zu den Verrückten, 8 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. Mai 2011 Strassen der Bowery und die Unterwelt von Chinatown und verteilt Geld und kleine Seifenstückchen an jene, die kein Geld für Seife haben. Joseph Mitchell ist ihr Porträtist. «Mazie» wurde 1940 geschrieben, und dieser siebzehn Seiten lange Text hat ihn sicher mehr als siebzehn Tage Arbeit gekostet. Denn Mitchell verbringt viel Zeit mit den Menschen, die er beschreibt. Was macht ein gutes Porträt aus? Lebenswahrheit? Ähnlichkeit? Wahrscheinlichkeit? Lebendigkeit? Oder wenn die Individualität des Dargestellten im Gleichgewicht ist mit der Individualität der Darstellung? den Predigern und Bettlern und auch zu Mazie Gordon, die an der Kinokasse des Venice-Theaters in der Park Row sitzt, da wo die Bowery beginnt, da wo auch «McSorley’s» ist, die älteste Kneipe der Stadt, der Saloon, der Mitchells New Yorker Geschichten den gemeinsamen Familiennamen gegeben hat. «Auf ihrem Rundgang versucht Mazie sich von den anderen nur allzu bekannten schrägen Gestalten fernzuhalten, die sich nachts in der Bowery herumtreiben. Dazu gehören die Witwe und die Heulsuse. Die Heulsuse ist ein alter Obdachloser, der stundenlang (…) herzzerreissend schluchzt. Einmal hat ihn Mazie auf die Schulter getippt und gefragt, was los sei. ‹Ich habe eine unverzeihliche Sünde begangen›, gab er zur Antwort. Auf die Frage, worin die Sünde bestehe, begann er eine theologische Erklärung, die sie nicht begriff…» Bloss keine schlechten Sätze Kinokassierin Mazie Gordon In meiner Phantasie wäre Mazie Gordon eine Freundin von Ilse Aichinger und Else Lasker-Schüler gewesen, wenn sie sich hätten begegnen können. Mazie Gordon, zu der die Obdachlosen kommen, um im Kinodunkel zu schlafen, Mazie, die für Ordnung während der Vorführungen sorgt, indem sie mit ihren zu einem Knüppel zusammengerollten True-Romance-Heftchen Störenfriede rausschmeisst, Mazie, die platinblond und klein ist, aber eine grosse Brust hat und so eine Mae West für Arme ist, einen Spitz names Fluffy besitzt und viele Verehrer dazu, darunter auch anonyme und nicht ungefährliche, genau diese Mazie Gordon, eine jüdische Verehrerin des katholischen Glaubens und Traumdeuterin für alle, die bedürftig und beladen sind, streunt nach über zehn Stunden Arbeit durch die McSorley’s Bar in New York: Hier fand Joseph Mitchell (1908–1996) die Menschen, die er in seinen Reportagen beschreibt (Aufnahme 2004). Die einen nennen Mitchell einen Outsider, die anderen einen Insider, wie der Autor Jimmy Breslin in einer Hommage in der «New York Times» 2001 geschrieben hat. Joseph Mitchell: Wenn man die Fotos von ihm anschaut, denkt man, er muss ein Talent gehabt haben, seine Zurückhaltung offensiv zu nutzen. Glühpunkt seiner Texte kann die nächste Person, die nächste und wieder die nächste Person sein, die ihm interessant zu sein scheint. Er ist ein guter Zuhörer gewesen, aber er hat nicht gern telefoniert. Er wäre lieber eines gewaltsamen Todes gestorben, als mit einem schlechten Satz erwischt zu werden. So werden seine Reportagen zu Kurzgeschichten: nicht, weil der Mann Schriftsteller sein will, sondern weil er einer ist. Meine Grossmutter hätte gesagt: Er kann zaubern. Denn es ist selten, dass jemand ohne sichtliche Anstrengung so schreiben kann. In seinen Texten sagt er «ich». Sie haben eine stille Gültigkeit, weil er bar dafür bezahlt mit seiner Person. Ob er wohl auf die Toilette gegangen ist, um aufzuschreiben, was in der Orgie des Erzählens ihm ein anderer Mensch mitgeteilt hatte? Ob es Menschen gibt, die sich nicht umgebracht haben, weil Mitchell ihnen zugehört hat? Eines Tages, dreissig Jahre vor seinem Tod, hört Mitchell auf zu schreiben, kommt aber noch jeden Tag in die Redaktion. Man hört ihn sogar tippen, hinter verschlossener Tür. Seltsam ist meine Leseerfahrung mit diesen in dem Band «McSorley’s Wonderful Saloon» versammelten Geschichten. Das Buch ist 416 Seiten dick, aber eigentlich ist es noch viel dicker, wenn man es genau liest. Denn die Texte, die Mitchell in den letzten dreissig Jahren seines Lebens nicht mehr geschrieben hat, sind mit dabei, unsichtbar, aber lesbar, wenn man genau hinschaut und genau hinhört, wie es der Autor einen gelehrt hat. ● Judith Kuckart lebt als Autorin und Regisseurin in Berlin und Zürich. Zuletzt erschien ihr Roman «Die Verdächtige». Roman Birgit Vanderbeke schreibt in ihrem neuen Buch von einer Mesalliance und einem geglückten Leben auf dem Land Lob der einfachen Dinge Birgit Vanderbeke: Das lässt sich ändern. Piper, München 2011. 147 Seiten, Fr. 25.90. Von Sandra Leis Tochter aus gutem Haus trifft Naturburschen. Sie studiert Linguistik, er sucht Sperrmülldeponien nach Wiederverwertbarem ab und schleppt heim, was sich reparieren lässt – und das ist viel, denn erstens kann er alles flicken, und zweitens weiss man nie, wozu das eine oder andere Zeug dereinst nützlich ist. Die Mesalliance ist perfekt. Ihre Eltern, denen es vollkommen fremd ist, selber einen Nagel einzuschlagen oder einen Knopf anzunähen, legen Wert auf Etikette und hoffen, dass die Anziehungskraft allmählich nachlässt. Doch weit gefehlt: Die Ich-Erzählerin und ihr Adam bleiben ein Paar, bekommen zwei Kinder und ziehen dann aufs Land nach Ilmenstett, «jottwehdeh» (janz weit draussen). Richtet man den Fokus auf Birgit Vanderbekes Gesamtwerk, so fällt ihr kühler und entlarvender Blick aufs Familienleben auf. Mit Aplomb betrat sie als 34-Jährige 1990 die literarische Bühne, las in Klagenfurt einen Auszug aus ihrem Erstlingsmanuskript «Das Mu- Zerrissenes Land Blick auf die USA unter Obama Von überall her waren die Menschen nach Washington gereist. Anderthalb Millionen füllten am 20. Januar 2009 die National Mall in Washington, um dabei zu sein, als der erste Afroamerikaner als 44. Präsident der USA vereidigt wurde. Die Wahl Barack Obamas war für viele ein Zeichen des Aufbruchs. Nach den schwierigen Bush-Jahren erhofften sich viele Amerikaner den Beginn einer neuen Zeit. Vielleicht würde der Kampf gegen Diskriminierung leichter, das Land ein klein wenig gerechter werden. Catherine Opie war damals dabei und hat die Menschen fotografiert, die viele Stunden in der Kälte warteten. Die Gesichter, die sie eingefangen hat, sind abwartend. Fast ist es so, als nähmen die Blicke schon die Enttäuschung vorweg, welche die nächsten Jahre bringen sollten. Die Kräfte, die sich schnell gegen Obama und seine Politik formierten, hat die 1961 geborene Fotografin ebenfalls bei ihren Demonstrationen beobachtet. «I didn’t vote for this Obamanation» ist auf einem Plakat der Tea Party zu lesen. Andere fordern «more jobs less spending». Gekürzt werden soll bei denen, die ohnehin wenig haben und vor zwei Jahren von «change» träumten. Ein nachdenklich stimmender Band über ein zerrissenes Land. Gerhard Mack Catherine Opie: Empty and Full. Hrsg. Helen Molesworth. Hatje Cantz, Ostfildern 2011. 168 Seiten, 53 Farbabbildungen, Fr. 43.90. schelessen» und gewann den IngeborgBachmann-Preis. Stand damals ein tyrannischer Vater im Zentrum, so porträtierte sie in «Friedliche Zeiten» (1996) eine depressiv-neurotische Mutter. 1985 selbst Mutter geworden, schrieb die Autorin mit «Gut genug» (1993) eine herrliche Satire auf Schwangerschaft, Geburt und Elternschaft; in «Ich sehe, was Du nicht siehst» (1999) schliesslich schilderte sie, wie die Ich-Erzählerin und ihr Kind es wagen, aus der grossstädtischen Enge des wiedervereinigungsgeschädigten Berlin aufzubrechen und in der Fremde des ländlichen Südfrankreich anzukommen. Südfrankreich: Hier lebt seit vielen Jahren auch Birgit Vanderbeke. 1956 in der DDR geboren, wuchs sie nach der Übersiedlung ihrer Eltern in den Westen Deutschlands in Frankfurt am Main auf, wo sie später Jura, Germanistik und Romanistik studierte. Von ihr stammt der Satz: «Ich glaube, dass man als Autorin nicht das Recht hat, Erfahrungen aus dem Weg zu gehen.» In ihren Büchern steckt immer auch eigene Lebenserprobung und -anschauung. Und so ist man nicht vollkommen verblüfft, dass es in der Realität einen Menschen gibt, der zumindest Ähnlichkeiten hat mit dem Helden Adam Czupek aus dem neuen Roman «Das lässt sich ändern» – Vanderbekes Ehemann. Der Buchtitel ist Adams Lebensmotto, und so wird aus einem anfänglich klassischen Tochter-Eltern-Konflikt eine Aussteiger-Geschichte, die in einen Aufbruch in eine bessere Welt mündet. Sie arbeitet als Logopädin, er baut Küchen ein, und die Kinder finden im alten Bauern von nebenan einen Ersatzgrossvater. Das Landleben entpuppt sich als Herrlichkeit inklusive Selbstversorgung und Nachbarschaftshilfe. Doch auch in Ilmenstett findet sich immer jemand, «der die Bullen ruft». Staccatohaft schreibt Vanderbeke weiter: «Schwarzarbeit, Kinderarbeit, was weiss ich. Keine Zulassung. Keine Lizenz. Die Kanalisation. Die Europanorm. Der Sortenkatalog. Die Hygiene. Die Sicherheit. Wenn das alle so machen würden.» Doch trotz Anfechtungen von aussen bleibt die Idylle. Erträglich ist das nur dank Vanderbekes extrem reduziertem und verknapptem Stil. Da ist kein Wort zu viel, und glaubhaft ist, dass zwei Menschen sich füreinander und für ein naturnahes Leben entscheiden. Merkwürdig mutet einzig der Umstand an, dass die Sprachmächtige und der Wortkarge – mit einer einzigen unvergesslichen Ausnahme! – sich nicht in die Wolle kriegen. Wie authentisch wäre es doch, mitzuverfolgen, wie die beiden ungleichen Pole sich aneinander reiben. Birgit Vanderbeke verzichtet darauf. Ihr Buch, das auch märchenhafte Züge hat, ist ein Lob auf die einfachen Dinge. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. ● 29. Mai 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 9 Belletristik Kriminalroman Das neue Buch des Amerikaners James Sallis bestätigt dessen Ruf, immer für eine erzählerische Überraschung gut zu sein Gewiss ist nur der Tod James Sallis: Der Killer stirbt. Aus dem Amerikanischen von Jürgen Bürger und Kathrin Bielfeldt. Liebeskind, München 2011. 250 Seiten, Fr. 29.90. Was geht da vor? Worauf läuft es hinaus? Was steckt dahinter? Auch beim neuen Roman des amerikanischen Schriftstellers James Sallis kommt man um solche Fragen nicht herum. Sie zielen auf Erhellung eines Plots, der dem Erzählgeschehen zugrunde liegt und sich im Lauf der Handlung entfaltet, auf welchen Umwegen auch immer. Seine eigene Haltung dazu hat Sallis unlängst in einem Interview dargelegt: «Das ist für mich das Reizvolle am Krimi, dass sich die Handlung eigentlich von selbst ergibt. Man muss sich damit nicht furchtbar abmühen, sondern kann sich ganz darauf konzentrieren, interessante Figuren zu erfinden.» Der Plot, könnte das heissen, ist Nebensache oder Zugabe, sein Einsatz vielleicht allein noch eine Konzession an die Regeln des Genres. Im Extremfall bleibt er ein Geheimnis des Autors. So einfach ist es nur selten. In «Der Killer stirbt» ist es viel, viel einfacher. Drei «interessante Figuren» sind es, denen der 67-Jährige in seinem Buch die Hauptrollen zuweist. Im Mittelpunkt steht ein älterer, todkranker Berufsmörder namens Christian. Via Internet ist er auf einen harmlosen Buchhalter angesetzt worden. Geduldig umkreist er sein Opfer, wartet den passenden Moment zur Erledigung des Auftrags ab. Doch jemand anderes kommt ihm zuvor. Der Buchhalter wird in seinem Büro niedergeschossen und schwer verletzt in ein Krankenhaus gebracht. Es beginnt die Suche des gedungenen Mörders nach seinem schnelleren Konkurrenten. Die Suche gipfelt in Christians Erkenntnis, dass insgesamt nicht weniger als fünf einander vollkommen unbekannte Männer mit der Angelegenheit betraut waren. Alle waren sie im Internet gesucht, gefunden und aufgeboten worden, von einem im digitalen Dunkel bleibenden Auftraggeber. Bilder in Grautönen Auch Sayles, der die Untersuchung leitende Polizist, kommt der Sache nicht näher. Ausgiebig und in sacht nuancierten Grautönen wird sein eher schon tristes als nur ödes Alltagsleben geschildert. Am Fall des angeschossenen Buchhalters scheint ihn vorab das Fehlen jedes Motivs zu faszinieren. Aus Faszination wird Verstörung, Sayles’ Ratlosigkeit wächst sich zu der grundsätzlichen Frage aus, ob es denn überhaupt «irgendetwas» gebe, das erkannt und verstanden werden kann. Den einzigen ihm nützlich erscheinenden Tipp erhält 10 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. Mai 2011 ANNETTE SCHREYER / LAIF Von Bruno Steiger Die Geschichten des Krimiautors James Sallis spielen in einem Zwischenreich aus Träumen und Erinnerungen. er ausgerechnet von Christian. «Puppenhandel» lautet das Stichwort, das Sayles zu nächtelangen Recherchen am Computer veranlasst. Stetig mehren, vermengen, verwischen sich die Rätsel, Sayles muss sich mit dem Schluss begnügen, bei seinen Erkundungen am Bildschirm «direkt unter der Oberfläche seiner eigenen auf eine ganz andere Welt gestossen zu sein». Innovativer Krimiautor Es ist eine noch einmal deutlich «andere» Welt, die den alles überschattenden Nebenschauplatz des Romans bildet. Sie wird bewohnt vom Knaben Jimmie. Dass er von seinen Eltern verlassen wurde, hält er geheim. Mit der lange eingeübten Unterschrift der Mutter begleicht der Zwölfjährige die anfallenden Rechnungen, das Geld dafür beschafft er sich als Vorleser in einem Altenheim und mit dem Ebay-Handel von Kinderspielzeug. Der elektronische Markt ist «gross, breit gestreut und absurd»; dass sich unter all den ausführlich beschriebenen Beispielen auch «Negerbabypuppen» finden, mag Zufall sein. James Sallis, 1944 in Arkansas geboren, heute in Phoenix, Arizona, lebend, gilt als einer der innovativsten Autoren der amerikanischen Krimiszene. Er debütierte 1970 mit einem Gedichtband, und noch sein vor drei Jahren mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichneter, schlichtweg grossartiger Kurzroman «Driver» hat hohe poetische Qualitäten. Ebenso unübersehbar ist Sallis’ Verankerung in den tradierten Formen von Pulp und Noir. Zu den Noir-Vätern Jim Thompson und David Goodies hat er sich essayistisch geäussert, Chester Himes erwies er die Reverenz mit einer Biografie. Seine Übersetzungen von Puschkin und Raymond Queneau weisen auf ein literarisches Interesse hin, das weit über das Genre Krimi hinausgeht. Die Welt in Sallis’ Büchern ist ein Zwischenreich aus Träumen und Erinnerungen, durchsetzt mit Fragmenten einer weitgehend medial geprägten Wirklichkeit. Fast in jeder Szene läuft irgendwo im Hintergrund ein Radio oder ein Fernseher, auch Filme und Filmzitate spielen in Sallis’ Prosa eine eminente Rolle. Es ist eine Welt auf der Kippe, eingehüllt in eine Dämmerung, aus der es kein Erwachen zu geben scheint. In Sallis’ ziemlich gnadenlosem, zugleich merkwürdig begeistertem Blick auf die dunklen Seiten des amerikanischen Alltags wird sie zu der Welt, in der wir alle leben und in welcher bekanntlich nur eines gewiss ist: der Tod. Womit der Plot des Romans in seiner ganzen schmerzlichen «Einfachheit» umrissen wäre; überflüssigerweise, wird er doch schon im Buchtitel benannt. An welcher Krankheit der Killer leidet, bleibt unklar. Seine Schwierigkeiten beim Wasserlösen könnten eine Alterserscheinung sein, die regelmässige Einnahme von Medikamenten lässt Schlimmeres erahnen. Dass er kurz vor seinem Tod erblindet, ist die metaphorische Volte, mit der die reichlich undurchsichtige Geschichte zur Parabel wird. Das Buch bestätigt James Sallis’ Ruf, immer für eine Überraschung gut zu sein. Als Einstieg in sein Werk eignet es sich jedoch nur bedingt. ● Bruno Steiger lebt als freier Schriftsteller und Literaturkritiker in Zürich. Zuletzt erschien von ihm der Band «Zwischen Unorten» mit Kritiken und Essays. Débutroman Geschichte einer skrupellosen Dorfgemeinschaft Erwürgte Männer, Affären und reichlich Schnaps Kurzkritiken Belletristik Nathanael West: Eine glatte Million. Roman. Deutsch von Dieter E. Zimmer. Manesse, Zürich 2011. 224 Seiten, Fr. 30.90. Peter Handke: Der Grosse Fall. Erzählung. Suhrkamp, Berlin 2011. 279 Seiten, Fr. 37.90. Grosses Glück widerfuhr Nathanael West nicht in seinem kurzen Leben. 1903 als Sohn wohlhabender litauischer Juden in New York geboren, träumte er vom Schriftstellerleben und hielt sich knapp als Vertragsautor in Hollywood über Wasser. Neun Monate nach seiner Heirat 1940 starb er bei einem Autounfall, einen Tag nach seinem Freund F. Scott Fitzgerald. West hinterliess vier Romane, etwas Lyrik, Kurzgeschichten. Kritiker schätzten ihn hoch. «Eine glatte Million», 1933 rasch niedergeschrieben, fiel hingegen durch. Mit einer Neuübersetzung (die erste erschien 1972) und einem kundigen Nachwort gibt uns Dieter E. Zimmer erneut Gelegenheit, den Autor kennenzulernen. Diese Hanswurstiade zu Zeiten der Wirtschaftskrise, unter drohendem Faschismus, mag damals zu früh gekommen zu sein. Heute liest man sie mit ebensoviel Vergnügen wie Bewunderung für ihren Autor. Regula Freuler Ein Schauspieler geht im Lauf eines Tages vom Land in die Stadt. Er passiert einen Wald, durchquert das Niemandsland der Vororte, begegnet einer Reiterin, einem Priester, Obdachlosen und Polizisten, einem joggenden Staatsmann. Am Abend dieses Tages soll er einen Preis entgegennehmen, anderntags in einem Film einen Amokläufer spielen. Hinter dem Schauspieler darf man den Sprachartisten Handke vermuten, hinter der Stadt die Metropole Paris. Wie in den meisten Büchern dieses grossen Erzählers passiert auch hier äusserlich betrachtet nicht viel, doch Handkes Wahrnehmung ist so subtil und ihre Umsetzung in Sprache so präzis, dass wir uns keine Sekunde langweilen. Wir folgen dem Protagonisten des Buchs auf seiner Wanderung, nehmen aber auch an seinen Phantasien teil, etwa dem mit abgründigem Humor entwickelten Konzept eines Irrtumslehrpfads. Manfred Papst Stephan Pörtner: Stirb, schöner Engel. Kriminalroman. Bilgerverlag, Zürich 2011. 398 Seiten, Fr. 36.–. José Saramago: Über die Liebe und das Meer. Gedichte. Deutsch von Niki Graça. Hoffmann & Campe, 2011. 103 Seiten, Fr. 25.–. Seit 1998 hat der Zürcher Schriftsteller Stephan Pörtner seinen Jakob «Köbi» Robert bereits viermal auf Ermittlungstour geschickt. Köbis fünfter Fall, den er aus Gründen der Liebe, aber widerwillig übernimmt, reicht zurück in die siebziger Jahre. Damals wurde eine junge Frau auf bestialische Weise ermordet. Eine neue Leiche, drapiert wie ein gefallener Engel, lässt auf einen Serienmörder schliessen. Sauber legt Autor Pörtner die Erzählfäden aus, doch das Ganze ist gar sauber aufgefädelt. Vielleicht fühlte der Autor sich dazu bemüssigt, weil er das Buch in vier Teile gliedert, die 1973, 2009, 1990 und wieder 2009 spielen. Scharniere bilden erklärende Kapitel, die den Leser an der Hand nehmen wie einen Kindergärtner, der zum ersten Mal die Strasse überquert. Auch vermisst man die wunderbaren Sprachbilder. Auf ein nächstes, Köbi! Regula Freuler Der portugiesische Nobelpreisträger José Saramago (1922–2010) ist vor allem durch Romane wie «Das Memorial», «Die Stadt der Blinden» und «Die Reise des Elefanten» bekannt geworden. Er hat auch Essays, Tagebücher, Dramen und Lyrik verfasst. Erstmals liegt nun eine Auswahl seiner Gedichte auf Deutsch vor. Sie bringt Auszüge aus den Bänden «Os Poemas Possíveis» («Die möglichen Gedichte») und «Provalvemente Alegria» («Wahrscheinlich Freude»), die 1966 (sowie überarbeitet 1982) und 1970 erstmals erschienen. Der Autor zeigt sich hier als zugleich sinnlicher und formbewusster Poet, der am liebsten den traditionellen zehnsilbigen Vers verwendet, um die Liebe und die maritime Natur zu besingen, aber allmählich auch zu freien Rhythmen findet. Unter der katholischen Diktatur Salazars waren diese Texte durchaus ein Wagnis. Manfred Papst Dana Grigorcea: Baba Rada. Das Leben ist vergänglich wie die Kopfhaare. KaMeRu, Zürich 2011. 156 Seiten, Fr. 29.–. KATRIN SCHÖN Von Simone von Büren In der weitläufigen Schilf-Wasser-Landschaft des rumänischen Donaudeltas lässt sich der Himmel nur schwer von der Erde unterscheiden, es wird dunkel, «ohne dass es zuvor hell gewesen wäre», und Bestattete werden immer wieder an die Oberfläche gespült. Hier siedelt die 32-jährige Dana Grigorcea ihren eigenwilligen Débutroman an. Die Orientierung fällt in der Geschichte, die er erzählt, ebenso schwer wie in der Landschaft, in der er spielt. Denn Grigorceas alte Erzählerin, die Titelfigur Baba Rada mit den knochigen Fingern und dem zahnlosen Mund, gibt sie zerstückelt wieder, in Fetzen, die der Wind verweht und das Eis halb zudeckt. Es geht um erwürgte Männer, heimliche Liebschaften und Schnaps, um einen verschlagenen rotbärtigen Milizkommissar und einen entflohenen Terroristen, der in einem Motorboot in Baba Radas abgelegenes Dorf gebracht wird. Die ruchlose Greisin, von der man munkelt, sie habe ihren Mann umgebracht, hat nichts mehr zu verlieren und noch einiges zu gewinnen: Das Boot zum Beispiel und den Terroristen als Mann für ihre hysterische «phosphoreszierende Albinatochter». Skrupel kennt in der mittellosen Dorfgemeinschaft niemand. Hier werden Traditionen – gleichermassen geprägt von der orthodoxen Kirche, der kommunistischen Vergangenheit und urtümlichem Geisterglauben – nach Bedarf angepasst und erfunden. Und auch die Geschichten, die man anderen und sich selbst erzählt, müssen vor allem gut klingen und bestimmten Zwecken dienen. Mit der Wahrheit haben sie nicht zwingend zu tun. In ihrer unverschämten, kraftstrotzenden Erzählerin findet die in Bukarest geborene, zweisprachig aufgewachsene und heute in Zürich lebende Autorin ein faszinierendes Gefäss für ihre lustvoll überschäumende Erzählkunst. Humorvoll und in bildstarker Sprache lässt sie in dreissig kurzen Kapiteln eine unwirtliche Welt entstehen, in der die Menschen mit ihren Lüsten und Leiden bloss ein verschwindend kleiner Teil sind, verglichen mit der mächtigen Natur, und in der die Grenze zwischen Traum und Wachsein, Lebenden und Toten immer wieder verschwimmt wie die Linie zwischen Himmel und Erde im Donaudelta. ● 29. Mai 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 11 Porträt Der Zürcher Chronos-Verlag hat 1000 Bücher publiziert und ist der wichtigste Vermittler von Geistes- und Sozialwissen aus Schweizer Universitäten. Worin liegt das Erfolgsrezept dieses Editionshauses? Urs Rauber hat Hans-Rudolf Wiedmer und sein Team besucht Gutenberg-Jünger an Flatscreens Als der Mainzer Johannes Gutenberg um 1450 den Buchdruck mit beweglichen Lettern erfindet, ist das eine Revolution der Buchherstellung wie auch der öffentlichen Kommunikation: Auf einen Schlag werden die Bibel, die Ablassbriefe und die Kalender einem breiten Publikum zugänglich gemacht. Wenn 530 Jahre später das Desktop Publishing die gutenbergsche Satzherstellung ablöst, macht der Buchdruck erneut einen Quantensprung. Zwei junge Zürcher Universitätsabsolventen gründen in dieser Zeit einen Dissertationenverlag und setzen von Beginn weg auf diese Digitalisierung. Sie tragen dazu bei, dass Doktorarbeiten, die bisher nur in Bibliotheken schlummern, plötzlich im Buchhandel zu kaufen sind. Ein Meilenstein in der Demokratisierung universitären Wissens. «Aus einer Mischung von Verlegenheit und Laune haben Dieter Brupbacher und ich 1985 den ‹Chronos-Verlag für Geschichte› gegründet», erzählt Hans-Rudolf Wiedmer, ein Mann mit kräftigem rasiertem Gesicht und buschigen Augenbrauen. Als ersten Titel verlegen die zwei die Dissertation eines Studienkollegen. Sie trägt einen für das akademische Milieu ungewöhnlich knalligen Titel: «Seelennöte der Untertanen. Selbstmord, Melancholie und Religion im Alten Zürich». Autor ist Markus Schär, der spätere Präsident der SP Thurgau. Editorische Meisterleistung Mit ihren Einlagen von je 30 000 Franken kaufen die beiden Jungunternehmer teure grosse Macintosh-Geräte, auf denen sie das Gestaltungsprogramm PageMaker installieren. «Diesen Startvorsprung haben wir drei oder vier Jahre behalten, bis sich die neue Technologie durchgesetzt hat», sagt Wiedmer. Er sitzt mit aufgekrempelten Hemdsärmeln hinter einem dunklen schweren Holzpult an der Eisengasse 9 im Zürcher Seefeld. Die etwas ältliche Möblierung erinnert eher an Gutenberg als an Steve Jobs. Doch Hans-Rudolf Wiedmer, 56, seit dem Ausstieg seines Mitstreiters Alleininhaber und Geschäftsführer der Chronos Verlags AG, ist ein moderner Unternehmer. Kein Literat mit wehendem Haar, aber auch kein trendiger Chef vor einer Batterie von USM-Haller-Regalen. Wiedmer, den alle «Tschigi» nennen – den Übernamen hat ihm als Kind ein Tessiner Nachbarsbub verpasst –, trägt die Hauptverantwortung für ein erfolgreiches KMU, den führenden Schweizer Geschichtsverlag. Und er 12 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. Mai 2011 steht für solide Transparenz: Chronos publiziert heute jährlich 50 Bücher und generiert einen Umsatz von rund 1,5 Millionen Franken. Der Verlag, der auf anderthalb Stockwerken einer Altbauliegenschaft verteilt ist, beschäftigt neben dem Chef fünf Angestellte mit insgesamt 420 Stellenprozenten. Die Jahreslöhne um 95 000 Franken brutto können sich in der Branche sehen lassen. Zu den ersten Buchprojekten, die Chronos an Land zieht, gehört das Mammutwerk «Arbeiterschaft und Wirtschaft in der Schweiz 1880– 1914» des renommierten Berner Historikers Erich Gruner. Für ihn hat Wiedmer einige Jahre Das Who is who der Autoren liest sich wie ein Panoptikum der Schweizer Geisteswissenschaft. als Assistent gearbeitet. Die Herausgabe des 5000-Seiten-Manuskripts mit vielen handschriftlichen Korrekturen wird zur editorischen Meisterleistung. Gruner willigt ein, einen Vorschuss von 100 000 Franken zu leisten. Wiedmer und Brupbacher stecken den Betrag sogleich in die Aufrüstung ihrer Soft- und Hardware. Aus Sicherheitsgründen besteht Erich Gruner auf einem ausführlichen Vertrag. Als die Juristin, eine Studienkollegin Tschigis, sich nach dem Alter des Verfassers erkundigt und Wiedmer entgegnet: «Gruner ist 70 – genau 40 Jahre älter als ich», drängt die Anwältin auf eine Zusatzklausel. «Es war mir etwas unangenehm, aber ich musste Gruner diese Frage stellen. Er lächelte nur und fragte: ‹Und was passiert, wenn Sie sterben, bevor alles fertig ist?›» So kommt eine gegenseitige Sterbeklausel in den Vertrag. Und nach gut anderthalb Jahren sind die vier dicken schwarzen Bände gedruckt, ohne Leichen am Wegrand. Der Chronos-Verlag hat in 25 Jahren rund 1000 Titel herausgebracht. Das Who is who der Autoren liest sich wie ein Panoptikum der Schweizer Geisteswissenschafter des letzten Vierteljahrhunderts. Von Rudolf Braun über Hans Ulrich Jost, Georg Kreis, Beatrix Mesmer, Roger Sablonier, Brigitte Studer bis zu Jakob Tanner und anderen sind fast alle Historikerin- nen und Historiker vertreten, die in der Schweiz Rang und Namen haben. Zu den Chronos-Autoren gehören aber auch Philosophen wie Michael Hampe und Georg Kohler. Politologen wie Dieter Ruloff, Regula Stämpfli und Albert Stahel. Prominente wie Sigi Feigel, Peter Maurer, Klara Obermüller und Rudolf Strahm. Und diesen Frühling hat der Verlag gar einen unveröffentlichten Roman («Das Wunder des Baums») aus dem Nachlass von Annemarie Schwarzenbach publiziert. «Wir sind stolz, dass wir das Spektrum von Geschichte in Richtung Philosophie, Literatur, Theater und Musik ausweiten konnten.» Furios gegen Buchpreisbindung Wer Tschigi allerdings die Frage stellt, welches seine Lieblingsautoren seien, löst bei ihm einen mittleren Bedenkensanfall aus. «Eine völlig unkorrekte Frage», findet er. Zaudert, setzt an, zögert wieder – und winkt dann ab. Nein, das könne er nicht beantworten, da er sonst «einige verprelle». Political correctness ist dem abwägend formulierenden Geschäftsmann in Fleisch und Blut übergegangen. Ins Feuer gerät der Chronos-Mann freilich, wenn die Rede auf die Buchpreisbindung kommt. «Ich bin als Verleger dezidiert dagegen», sagt er. Die Preisbindung habe mit dem Buchhandlungssterben ebensowenig zu tun wie mit der Quersubventionierung hochstehender Bücher durch Bestseller – «eine Mär». Wiedmer empört sich vielmehr darüber, wie grosse Buchhandelsketten kleineren Verlagen «das Messer auf die Brust setzen, um Einkaufsrabatte zu diktieren». Bitte keine Namen nennen, ermahnt er. Um gleichzeitig lebhaft zu schildern, wie eine bekannte Grossbuchhandlung vom Verlag «unverschämtes Geld für die Präsentation von Büchern» bei der Kasse und auf dem Plakataushang verlange. Ein Lieblingsbuch möchte der Chronos-Verleger dennoch nennen: «Schön war draussen …» von Max Perkal, die Aufzeichnungen eines 19-jährigen Juden aus dem Jahr 1945. Wiedmer hat den Auschwitz-Überlebenden 1995 kennengelernt, ist mit ihm durch Zürich spaziert und freut sich bis heute über die eindrückliche Begegnung. Chronos hat das erschütternde Büchlein in der Reihe «Zeitzeugnisse» in einer deutsch-englischen Ausgabe publiziert. Zu den Verlagsjuwelen gehören auch Carsten Goehrkes dreibändige Geschichte «Russischer Alltag» (2003–2005), ein Werk von inter- MARION NITSCH Pause im Chronos-Verlag. Von links nach rechts: Geschäftsführer und Inhaber Hans-Rudolf «Tschigi» Wiedmer, Monika Bucheli und Roman Pargätzi. 29. Mai 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 13 Porträt Chronos: Viele Titel, bekannte Autoren, kleine Auflagen. nationalem Rang. Dann das Erfolgsbuch «Fleisch und Blut» von Susanna Schwager (2004), das die Welt ihres Grossvaters beschreibt. Es hat mit 25 000 Exemplaren die Spitzenauflage aller Chronos-Titel erzielt. Und natürlich das Prestigeobjekt: die 25 Bände der Bergier-Kommission (2002), die mit Ausnahme des Raubkunst-Bandes «weniger als je tausend Mal» verkauft wurden. Der klassische Fall einer Publikation, über die alle reden und die fast niemand gelesen hat. Ein geschickter Schachzug ist der Erwerb der Rechte an Werner Rings Bestsellern «Schweiz im Krieg 1933–1945» und «Raubgold aus Deutschland», die Chronos 1997 neu auflegt. «Werner Rings war ein charmanter und geistreicher Herr, bereits über 80, als ich ihn kennenlernte», erzählt Wiedmer. Als Rings, der damals in Ascona lebte, ein neues Nachwort schreiben wollte, habe er ihn überredet, einen Computer zu kaufen. «Ich habe ihm gesagt, wenn er einen Mac kaufe, könne ich ihm das am Telefon beibringen. Er hat mich dann angerufen und gefragt: Ich sitze jetzt vor dem Computer. Was muss ich tun? Ich sagte ihm: Ganz einfach, schalten Sie den Strom ein, klicken Sie mit der Maus auf das Icon und schieben Sie die Diskette ins Laufwerk. Dann sagte er: Maus? Icon? Diskette? Was ist das?» So erklärt Wiedmer dem Autodidakten Rings Schritt für Schritt, wo der Schlitz für die Disketten sei, wie er die Maus bewegen müsse usw. «Jedenfalls hat es funktioniert, Rings hat sein Nachwort von 30 Seiten auf einem Macintosh geschrieben. Und mir hat’s Spass gemacht.» annehmen können. «Aber es ist halt unsere Aufgabe, aus einem Manuskript ein gutes Buch zu machen. Wir sind ein Dienstleistungsunternehmen», sagt Pargätzi lakonisch, der vor einem eleganten grossen A3-Flatscreen sitzt. Ins gleiche Horn stösst Monika Bucheli, ebenfalls Mitarbeiterin der ersten Stunde: «Viele Dissertationen sind heute schlecht geschrieben. Man sieht, wie riesige Quellenexzerpte einfach aus anderen Werken in den eigenen Text kopiert statt zusammengefasst werden.» Sie seien die einzigen Personen, die ein solches Buch genau lesen – und vor allem an die Leserschaft denken. «Die Herren Doktorväter», sagt die grazile Frau mit der feinen SilberHalskette, «gehen oft zu leichtfertig über die Arbeiten ihrer Studenten hinweg.» Bei einzelnen Manuskripten geht die Bearbeitung sehr weit. Schon das erste Buch «Schaufeln – sprengen – karren», das Bucheli lektoriert hat, eine Darstellung der Lebensbedingungen der Eisenbahnbauarbeiter im 19. Jahrhundert, sei «halb umgeschrieben worden». Im intensiven Kontakt mit den Autoren engagiert sich die Chronos-Pionierin mit Herzblut für «ihre» Bücher. So auch im letzten Jahr, als eine bildnerische Gestalterin mit einer vagen Idee und vielen Fotos über ihre Grossmutter zu ihr kommt. Die Büchermacherin entdeckt im Material sofort «eine fantastische Geschichte». Mit Hinweisen, Tipps und Fragen «stupft» sie die Autorin, noch dies und jenes zu recherchieren. Und gemeinsam bringt man das Skript in eine gute Der Bergier-Bericht ist der klassische Fall eines Buches, über das alle reden, das aber fast niemand gelesen hat. Form. Mit Erfolg: «Die Frau des Dorfarztes und der Wehrmachtoffizier» von Andrea Blunschi (2010) wird zu einem Bestseller – dem Buch mit der dritthöchsten Auflage (über 6000 Exemplare) in der Chronos-Geschichte. Monika Bucheli zählt zu jenen Lektorinnen, die sich so lange für ihr Kind engagieren, bis es in den passenden Kleidern zur Welt kommt. «Ja, es war ein aufwendiges Buch», bemerkt Tschigi nur, unter einem Anflug von Stöhnen. Die meisten Chronos-Titel erscheinen in Auflagen von 500 bis 1500 Exemplaren, «im Schnitt aber näher bei 500». Wer eine Doktor- arbeit bringt, muss in die eigene Tasche greifen: bei einfachen, nicht illustrierten Werken einen Betrag zwischen drei- bis zehntausend Franken aufbringen. Heute machen die Dissertationen noch einen Fünftel der Chronos-Produktion aus. Dazu kommen Sammelbände von Tagungen und wissenschaftliche Reihen – etwa zur Kulturgeschichte der Technik («Interferenzen», hrsg. von David Gugerli), zur Philosophie («Legierungen», hrsg. von Michael Hampe) oder zur Jüdischen Geschichte (hrsg. vom Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund). «Wir sind ein Scharnier zwischen Wissenschaft und Publikum», sagt Wiedmer. Und bringt auf den Punkt, dass Chronos einen bedeutenden Wissenstransfer von der Universität in die Öffentlichkeit leistet. Weg vom linken Etikett Tschigi Wiedmer und sein Team haben den aus dem kritischen Historikermilieu der achtziger Jahre gewachsenen Diss-Verlag inzwischen zum führenden historischen Fach- und Sachbuchverlag umgebaut. «Wir hatten früher das Etikett eines linken Verlages. Das passte uns überhaupt nicht, wir wollten nie ein politisches Programm machen, sondern wissenschaftliche Werke und Sachbücher verlegen.» Nur gelegentlich blitzt noch ein altlinker Reflex durch: Wenn etwa ein renommierter Historiker – «bitte den Namen nicht nennen» – im Nachwort seines Buches einen Dank an Christoph Blocher für einen Druckkostenbeitrag anbringen will, «dann», sagt Wiedmer zerknirscht, «würde ich das lieber nicht lesen». Eine Erfolgsgeschichte ist auch die innere Entwicklung des Verlages. Drei von sechs Mitarbeitern sind seit 25 Jahren dabei und auch unter den später Dazugestossenen gibt’s kaum Fluktuation. Zweimal im Tag trifft man sich zur Kaffeepause, feste Sitzungen mag Tschigi nicht. Lieber regelt er alles wichtige bilateral. Dagegen will zwar niemand hörbar murren. Dass der Eigentümer allein entscheidet, wird mit Achselzucken oder einem spöttischen Lächeln quittiert. «Er ist halt für die Ökonomie zuständig», heisst es dann, «und wir für die Qualität.» Einig aber sind sich die Chronos-Leute im Stolz, «dass es uns nach 25 Jahren noch gibt – sogar mit erweitertem Programm» (Monika Bucheli). Und in der Freude darüber, «immer wieder auf interessante, neue Geschichten zu stossen» (Roman Pargätzi). Daraus stellen sie dann an ihren schönen Flatscreens mit Leidenschaft ein neues Buch her. l Gibt’s Bücher, die die Chronisten lieber nicht verlegt hätten? «Natürlich gibt es immer wieder Werke, von deren Qualität man nicht so überzeugt ist», räumt der Chronos-Leiter ein, will aber keine Namen nennen. «Stell Dir vor, wir würden Dissertationen ablehnen, die die Professoren Jakob Tanner oder Philipp Sarasin akzeptiert haben? Das wäre schwierig! Was aber nicht heisst, dass wir nicht manchmal Bedenken bei gewissen Arbeiten haben.» Bei diesem Thema werden andere Verlagsmitarbeiter deutlicher. Roman Pargätzi, ein bärtiger Historiker, der seit Beginn bei Chronos lektoriert, verhehlt nicht, wie er sich immer wieder über «das Geschreibsel von unfähigen Autoren» ärgert. Bei manchem Manuskript verstehe er nicht, wie man es als Doktorarbeit habe 14 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. Mai 2011 ALLE FOTOS: MARION NITSCH Schlechte Doktorarbeiten Moderne Technologie für alte Themen: Die Schreibmaschine dient nur noch zur Adressierung von Buchpaketen. Kolumne GAËTAN BALLY / KEYSTONE Charles Lewinskys Zitatenlese Charles Lewinsky ist Schriftsteller und arbeitet in den verschiedensten Sparten. Sein neuer Roman «Gerron» erscheint in diesem Sommer bei Nagel & Kimche. Mit Ausnahme von Homer hasse ich keinen berühmten Schriftsteller so sehr wie Shakespeare. Ich würde ihn am liebsten ausgraben und steinigen. Kurzkritiken Sachbuch Stiftung Lebenshilfe (Hrsg.): Wir sind gleich. Und anders. NZZ Libro, Zürich 2011. 195 Seiten, Fr. 44.–. Daniel de Roulet: Fukushima, mon amour. Brief an eine Japanerin. Hoffmann und Campe, Hamburg 2011. 47 Seiten, Fr. 8.40. Früher nannte man sie geistig behindert. Heute sind es Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung. Wie herzerfrischend direkt und bewegend sie Auskunft geben können über ihr Leben, ihre Arbeit und ihr Wohlbefinden, zeigen die schönen Gesprächsprotokolle, die Otto Scherer in Werkstätten der Stiftung Lebenshilfe aufgezeichnet hat. «Die Zeit vergeht so unheimlich schnell. Ich habe ein ausgefülltes Leben. Um halb elf bin ich im Bett», sagt Paul Z. Die Lebenshilfe in Reinach (AG) hat zu ihrem 50-jährigen Bestehen einen reich bebilderten Band herausgegeben, der nebst rund 30 Beiträgen von Behinderten, Angehörigen und Betreuungspersonen auch Informationen zur Sozial- und Heilpädagogik bietet. «Kommt mir noch etwas in den Sinn? Dass ich zufrieden bin. Dass alles tipptopp ist», sagt Joel A., Koch in Reinach. Wie viele stressgeplagte Normalmenschen können das von sich sagen? Kathrin Meier-Rust Der in Frankreich lebende Genfer Daniel de Roulet hat interessante, meist autobiografische Romane wie «Die blaue Linie» und «Double» geschrieben. Aufsehen erregte seine unsägliche Chronik «Ein Sonntag in den Bergen», in der er sich zum Brandanschlag auf ein Chalet von Axel Springer bekannte. Im vorliegenden Brief an eine japanische Freundin macht er sich die Aktualität um den Unfall von Fukushima zunutze. Als langjähriger AKW-Gegner holt er nochmals die alte Katastrophen-Prosa hervor, schreibt von Ohnmacht, Beklemmung und «meinen atomaren Schuldgefühlen». Die Antwort der Adressatin nimmt er im Buch vorweg: Er möge sich doch bitte um seine eigenen Angelegenheiten kümmern. Bereits 1995 hat ihm nach dem Erdbeben von Kobe ein japanischer Student erklärt, wenn ein Europäer in einem Roman von Hiroshima spreche, dann sei das geschmacklos. Urs Rauber Der Mann meines Lebens. Autoren über den wichtigsten Mann in ihrem Leben. Kein & Aber, Zürich 2011. 175 Seiten, Fr. 27.90. Jes Rust: Fossilien. Meilenstein der Evolution. Primus, Darmstadt 2011. 160 Seiten, Fr. 43.50. Es sind Männer – nicht Frauen –, die hier über den wichtigsten Mann in ihrem Leben schreiben: einen Lehrer, den Grossvater, einen Freund, Partner oder Mentor. 12 Autoren haben sich aufgemacht, darunter Dieter Meier, Jakob Hein und Harry Rowohlt. Philipp Tingler tänzelt exzentrisch um seinen «Ehemann», Dieter Meier selbstironisch um sein literarisches Alter ego – in einem Roman, an dem er seit über 20 Jahren schreibt. Gekünstelt mutet Joseph von Westphalens Erguss über den Tod an. Am berührendsten das Porträt des früheren «Folio»-Redaktors Mikael Krogerus über den Geliebten seiner Mutter, der nicht sein biologischer, wohl aber sein idealistischer Vater war: «Vater Morgana». Eine witzige, lockere Sammlung meist inspirierender Texte, die zum Nachdenken über diese Figur im eigenen Leben anregen. Urs Rauber Auf dem Umschlag prangen seltsame Käfer: Trilobiten mit Stielaugen, sie sind aus Stein. Weitere Überraschungen fürs Auge finden sich beim Blättern. Da ist eine in Bernstein gefangene Mücke; ihre durchsichtigen Flügel, die behaarten Fühler, die zarten Beine, alles ist perfekt erhalten. Oder der versteinerte Fisch im Jurakalk, bei dem sich jede Gräte, jeder Wirbel zählen lassen. Und doch sind diese Tiere seit Jahrmillionen tot. Der Paläontologe Jes Rust führt uns mit diesen Fossilien in die faszinierende Welt der Evolution. Er präsentiert die wichtigsten Lagerstätten und erklärt die grossen Massensterben – das jüngste findet seiner Meinung nach soeben statt. Es ist vor allem die reiche Bebilderung der vergangenen Welt, die fesselt, den Text hätte man sich etwas einfacher gewünscht; ganz kann sich der Autor nicht vom Wissenschaftsjargon lösen. Geneviève Lüscher George Bernard Shaw Letzthin klagte mir ein Schriftstellerkollege, er leide darunter, dass ein anderer Autor schlecht über ihn geurteilt habe. Und es sei erst noch einer gewesen, auf dessen Urteil er etwas gebe. Ich konnte ihm sein Leid nachfühlen. Wenn einen ein Kritiker verreisst, kann man sich immer darauf rausreden, das Verhältnis zwischen Hunden und Laternenpfählen sei nun mal nicht anders. Aber wenn ein Kollege der Meinung ist, das Buch, das man gerade publiziert hat, tauge höchstens als Unterlage für einen wackligen Tisch, dann tut das schon weh. Gegen diesen Seelenschmerz habe ich ein Rezept entwickelt, das ich allen unter Kollegenschelte leidenden Berufskollegen wärmstens empfehle. Man nehme den grössten, unbestrittensten, anerkanntesten aller Dichter: William Shakespeare. Und mache sich klar, wie oft und gründlich er von anderen Autoren verrissen worden ist. Ich garantiere: Mit jeder abwertenden Bemerkung über ihn tut der blaue Fleck auf der eigenen Eitelkeit weniger weh. Es fing schon bei seinen Zeitgenossen an, als ihn Robert Greene «eine emporgekommene Krähe, fein herausgeputzt mit unseren Federn» nannte. Und wenig später bezeichnete Samuel Pepys den «Sommernachtstraum» in seinen Tagebüchern als «das fadeste und lächerlichste Theaterstück, das ich in meinem ganzen Leben gesehen habe». Und Voltaire meinte: «Shakespeare ist ein einziger grosser Misthaufen.» Lässt der Schmerz schon nach? Noch nicht? Dann schnell noch ein Löffelchen Tolstoj nachschieben: «Shakespeare ist primitiv, unmoralisch, vulgär und dumm.» Merken Sie, wie Sie sich besser fühlen? Immer noch leichtes Seelen-Aua? Tatsächlich? Dann helfen bestimmt die patentierten Charles-Darwin-Pillen: «Ich habe vor kurzem versucht, Shakespeare zu lesen, fand ihn aber so unglaublich langweilig, dass mir übel wurde.» Oder die unfehlbaren SamuelJohnson-Tropfen: «Shakespeare hat nicht einmal sechs Zeilen zusammenbekommen, ohne dabei einen Fehler zu machen. Vielleicht auch sieben, wenn man lang genug danach sucht, aber das kann meinen Eindruck von ihm auch nicht widerlegen.» Ah, tut das gut. Vergessen Sie aber nicht, den Beipackzettel zu lesen. Dort steht nämlich: «Nur weil ein Kollege Sie schlecht findet, sind Sie nicht automatisch so gut wie Shakespeare.» 29. Mai 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 15 Sachbuch Russland Vor 70 Jahren überfiel Hitler die Sowjetunion. Das Unternehmen Barbarossa führte zu den schrecklichsten Verbrechen des Zweiten Weltkrieges «Ich sterbe und möchte doch leben» John Steinbeck: Russische Reise. Mit Fotografien von Robert Capa. Edition Büchergilde, Frankfurt am Main 2011. 298 Seiten, Fr. 30.50. Christian Hartmann: Unternehmen Barbarossa. Der deutsche Krieg im Osten 1941–1945. C. H. Beck Wissen, München 2011. 128 Seiten, Fr. 14.50. Anna Reid: Blokada. Die Belagerung von Leningrad 1941–1944. Berlin-Verlag, Berlin 2011. 566 Seiten, Fr. 50.90. Von Kathrin Meier-Rust Ernst oder ausgelassen, in Stiefeln oder barfuss, in Moskau und auf dem Lande – überall tanzten die jungen Frauen. Als der Schriftsteller John Steinbeck und der Kriegsfotograf Robert Capa im Sommer 1947 in die Sowjetunion reisten, nach Moskau, Kiew, Stalingrad und in Georgien, waren die Verheerungen des Krieges allgegenwärtig: Trümmer, ausgebrannte Dörfer, fehlende junge Männer. Anders als europäische MoskauPilger, die meist als blinde Verehrer (Lion Feuchtwanger) oder als erbitterte Kritiker (Andre Gide) aus Stalins Reich zurückkehrten, wollten die beiden durchaus fröhlichen Amerikaner nur über das ganz normale Leben der russischen Menschen berichten. Es ist ihnen in erstaunlichem Masse gelungen. Steinbecks humorvoller Bericht verschweigt nichts und enthält sich doch jeden Urteils, schildert Menschen, die ihr Wissen zwar aus der «Prawda» beziehen, sich aber als mutig, herzlich und von überströmender Gastfreundschaft zeigen, durchdrungen von der Hoffnung, «dass das Morgen besser sein wird als das Heute». Ganz nebenbei entsteht auch ein amüsant-liebevolles Porträt von Robert Capa, der einige Jahre später in Vietnam ums Leben kam. 1948 in den USA mit grossem Erfolg pu16 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. Mai 2011 bliziert, liegt Steinbecks «Russische Reise» nun erstmals auf Deutsch vor, leider ohne kluges Nachwort zu den historischen Umständen dieser Reise ins Herz des beginnenden Kalten Krieges. Wahnwitziger Angriffskrieg Der heisse Krieg, der an einem strahlenden Sonntagmorgen vor 70 Jahren, am 22. Juni 1941, mit dem deutschen Überfall auf die verbündete Sowjetunion begann, überfordert unsere Vorstellungskraft bis heute. Alles ist masslos an diesem Krieg: sein Schauplatz Russland, seine 3000 Kilometer-Front von den Finnischen Wäldern bis zum Schwarzen Meer, die Zahl der Teilnehmer (10 Millionen Soldaten auf deutscher Seite, 30 Millionen auf sowjetischer) und jene der Abermillionen Opfer sowieso. Das «Unternehmen Barbarossa», dieser wahnwitzige deutsche Angriffskrieg ohne jede Not, war ein Existenzkampf der beiden totalitären Regimes des 20. Jahrhunderts, in dem das eine unterging und das andere zur Weltmacht aufstieg. Als seinen «Urgrund» sieht Christian Hartmann eine monströse, rassenideologische Utopie der Umsiedlung, Beraubung und Vernichtung ganzer Völker. In seinem schmalen Bändchen zum deutschen Krieg im Osten legt der Historiker des Instituts für Zeitgeschichte in München eine präzise, analytisch durchdrungene und äusserst lesbare Übersicht über das gewaltige Geschehen vor. Im September 1941 kam die Heeresgruppe Nord vor Leningrad zum Stehen. Hitler beschloss, die Stadt weder zu stürmen noch ihre Kapitulation anzunehmen (sie kam auch nie), sondern ihrem Schicksal zu überlassen. Die Hungersnot war eine zynisch und offen deklarierte Strategie dieser Belagerung, die sich dann über 872 Tage hinziehen sollte. Anders als in Russland stellt dieses Kriegsverbrechen der Wehrmacht Moskau 1947: Frauen tanzen zur 800-JahrFeier der Stadt. Es fehlen die Männer (Foto Robert Capa). im europäischen historischen Gedächtnis eher ein Randereignis dar. Mit ihrer vorzüglichen Darstellung der «Blokada» möchte die britische Osteuropa-Historikerin Anna Reid dies ändern. Gestützt auf neue, seit der Auflösung der Sowjetunion zugängliche Quellen, insbesondere nun erstmals unzensiert erschienene Tagebücher und Erinnerungen, unternimmt sie eine unvoreingenommene Schilderung jenseits aller ideologischen Vereinnahmung und Mythen. Ausgiebige Zitate aus Tagebüchern und aus Gesprächen, die Reid mit hochbetagten Überlebenden führen konnte, lassen einzelne Schicksale gleichsam zum roten Faden durch die Zahlen und Fakten des Grauens werden: der Literaturwissenschafter Dmitri Lichatschow etwa, ein hochgeachteter Zeuge von Hunger und Terror, die junge damals populäre Dichterin Olga Berggolz oder der verschollene 15-jährige Juri Rjabkin. «Ich sterbe und möchte doch so gerne leben» hatte er in sein Tagebuch gekritzelt – ein russisches Pendant zu Anne Frank. Der schlimmste von vielen furchtbaren Fehlern Stalins war es, die Zivilbevölkerung nicht rechtzeitig evakuiert zu haben. Zwar verliessen 600 000 Men- Geschichte 1912 sank die Titanic und eine Schweizer Expedition erreichte die Arktis Von Aufbruch und Untergang Stefan Ineichen: Endstation Eismeer. Schweiz – Titanic – Amerika. Limmat, Zürich 2011. 168 Seiten, Fr. 44.–. ROBERT CAPA / INTERNATIONAL CENTER OF PHOTOGRAPHY / MAGNUM Von Ina Boesch schen bis Ende August die Stadt (ebenso viele hatte London in wenigen Tagen evakuiert). Doch 2,5 Millionen Menschen blieben im eingeschlossenen Leningrad zurück, darunter 400 000 Kinder. Ihr Schicksal sollte furchtbar sein: Strom und Wasser versiegten, die beständig beschossene Stadt erstarrte im Eis, wochenlang lagen die Leichen auf offener Strasse. Rund 700 000 Menschen sind, so die gängigen Schätzungen, während der Blokada qualvoll an Hunger und Kälte gestorben. Gekochte Leichen Korruption, Gewalt und Kriminalität, Birkenspäne und Tischlerleim – sie sind traurige Begleiter jeder Hungersnot. Was Leningrad auszeichnet, sind zwei Merkmale des Sowjetregimes von besonderer Brutalität: zum einen ein Rationierungssystem, das Nahrung schon seit dem Bürgerkrieg kaltblütig als politisches Instrument benutzte, nämlich um Nutzlose zu beseitigen, Nützliche am Leben zu erhalten und den Parteiapparat zu belohnen. Das Resultat war eine klares demografisches Muster des Sterbens: Zuerst starben Grossväter und Kleinkinder, dann Grossmütter und Väter, zuletzt die Mütter und die Halb- wüchsigen, während Parteikader in durchaus wohlgenährtem Zustand evakuiert wurden. Die zweite schreiende Ungerechtigkeit war der zwar im Krieg zunächst gemilderte, aber immer präsente Terror: 9500 Menschen wurden allein im ersten Winter vom Geheimdienst verhaftet – alle sind sie im Gefängnis verhungert. «Wir wurden zweifach belagert: von innen und von aussen», sagt Dmitri Lichatschow. «Blokada» enthält viele und furchtbare Zahlen. Doch Anna Reid versteht es auch immer wieder, sie zu unvergesslichen Geschichten zu flechten: In 1000 Kisten verpackt wurde die Kunst der Ermitage nach Swerdlowsk abtransportiert. 85 Tiere des Leningrader Zoos blieben dank höchst erfindungsreicher Nahrungsbeschaffung am Leben, darunter ein berühmtes Nilpferdweibchen. 2015 Menschen wurden wegen «Leichenfresserei» verhaftet, die meisten von ihnen Frauen, die mit gekochten Leichenteilen ihre Familie zu retten versuchten. «Der wirkliche Krieg wird nie in die Bücher gelangen», meinte der amerikanische Dichter Walt Whitman. In Anna Reids Buch hat er es jedoch ziemlich weit gebracht. ● Am 15. April 1912, am selben Tag, an dem die für unsinkbar gehaltene Titanic unterging, notierte der Schweizer Arktisforscher Alfred de Quervain in seinem Tagebuch: «Hurra! Grönlands Küstenberge erscheinen!» Diese beiden Fakten – das Ende der Titanic sowie der Beginn der Grönlandexpedition – verknüpft der Zürcher Autor Stefan Ineichen in seinem Sachbuch über die Titanic und ihren Bezug zur Schweiz geschickt miteinander. Auch wenn die beiden Geschehnisse, oberflächlich gesehen, nichts miteinander zu tun hatten, so entspringen sie doch einem ähnlichen Geist: dem Glauben an Fortschritt und dem Drang zur Eroberung der Natur. Diesem Zeitgeist spürt Ineichen nach, indem er die (durch Günter Bäbler beispielhaft aufgearbeiteten) Geschichten der Schweizer Passagiere und Angestellten auf der Titanic mit Ereignissen verbindet, die – wie die Grönlandexpedition – in der Schweiz zeitgleich geschahen: etwa mit dem Staatsbesuch von Kaiser Wilhelm II., mit den Streiks von Malern und Schlossern oder mit den Touristenströmen in die Eisgrotte des Eigers und auf die Eisberge der Alpen. So versucht er, die Stimmung einzufangen, die vor dem Ersten Weltkrieg in der Schweiz und vor allem in Zürich geherrscht hat. Dabei lenkt er den Blick auf Geschehnisse, die an Aktualität nichts eingebüsst haben: die Wohnungsnot, die Diskussion über den hohen Anteil an Ausländern, die drahtlose Kommunikation oder die Globalisierung. Die Idee ist reizvoll, das Resultat etwas enttäuschend. Indem der Ökologe und Schriftsteller sehr zurückhaltend und rein sachlich Fakten aneinanderreiht, entsteht das ziemlich farblose Bild einer Zeit, die eigentlich so viel Stoff für grandiose Geschichten böte. Farbtupfer sind vor allem die Illustrationen, zeitgenössische Postkarten aus der reichen Sammlung des Autors. Verdienstvollerweise lenkt Ineichen jedoch mit Zitaten die Aufmerksamkeit auf einen Roman, den wieder zu lesen sich lohnt. Im Zürichroman «Alles in Allem» beschreibt der in Vergessenheit geratene Kurt Guggenheim die Atmosphäre vor dem Ersten Weltkrieg derart plastisch, dass man den dicken Wälzer nicht mehr aus der Hand legen möchte. ● 29. Mai 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 17 Sachbuch Kommunikation Douglas Coupland erzählt die Geschichte des genialen Denkers Marshall McLuhan (1911–1980) und der Missverständnisse um seine Person Hochbegabter mit autistischen Zügen Douglas Coupland: Marshall McLuhan. Eine Biografie. Tropen, Stuttgart 2011. 222 Seiten, Fr. 28.90. Von Kirsten Voigt «Ich bin nicht unbedingt mit allem einverstanden, was ich sage.» Solche Scherze liebte Marshall McLuhan. Einige seiner Fans wären wohl mit ihm auch nicht einverstanden gewesen, hätten sie verstanden, was er tatsächlich meinte. Mancher Erfolg beruht auf einem Missverständnis. Douglas Couplands Biografie des Kommunikationsforschers Marshall McLuhan scheint von diesem Phänomen zu handeln. Der Urheber der Formulierungen «Das Medium ist die Botschaft» und die Welt sei dank der medialen Vernetzung ein «globales Dorf», war ein konservativer, passioniert katholischer Gelehrter, ein erstaunlich prophetischer Kritiker und gerade eben nicht ein Apologet dieser Errungenschaften. Medium wichtiger als Inhalt AP Medientheorie war bei McLuhan Medienkritik, Innovationsskepsis. Coupland spricht gar von dessen Hass auf die Technik. Er hält den Pop-Star der Medienforschung für einen genial ideenreichen Künstler, einen Inspirator. Spätestens seit der Existenz des Internets habe sich dessen Annahme bewahrheitet, dass das Medium selbst und dessen Nutzung auf unser Bewusstsein und Dasein mächtiger wirken als all seine Inhalte. Douglas Coupland, 1961 in Rheinmüns- 18 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. Mai 2011 ter-Söllingen, einem kanadischen NatoStützpunkt in Süddeutschland, geboren und in Vancouver aufgewachsen, beschreibt McLuhans Leben und Denken mit derart spritziger, zuweilen forscher Heiterkeit, dass sich diese Karriere wie eine bewegende Tragikomödie ausnimmt. Coupland, der als Romancier mit «Generation X» berühmt wurde und viel Zeitdiagnostisches nachlegte, unternimmt es dabei überdies, auf diverse Art sein eigenes Metier mit zu reflektieren. Zum Beispiel, wenn er über die ambivalenten Empfindungen eines Biografen meditiert, der einerseits grausam sei wie das Leben selbst, andererseits aber in der Lage, «das scheinbar Verlorene oder nicht hoch genug Bewertete aus dem Leben eines Menschen wieder hervorzuholen». Das glückt Coupland frappant, nicht zuletzt, weil sein «pathographischer» Ansatz stark darauf setzt, einige von McLuhans denkerischen Leistungen und Eskapaden auf hirnphysiologische Faktoren zurückzuführen – im Produktiven wie im Prekären. Tatsächlich hält Coupland den vor einhundert Jahren, am 21. Juli 1911, geborenen Landsmann für einen zur Mustererkennung Hochbegabten mit annähernd autistischen Zügen. Seine Überempfindlichkeiten gegenüber Berührungen und Geräuschen scheinen Indizien dafür. Ausserdem wurde bei McLuhan eine höchst seltene Gefässanomalie diagnostiziert, die darin bestand, dass seine linke Gehirnhälfte über zwei Arterien mit Blut versorgt wurde. In seiner Familie ereigneten sich überdurchschnittlich viele Schlaganfäl- le. Und schliesslich hatten die mitunter kruden Wortwitze, Thesen und Schlüsse, die der Professor vor staunenden Studenten Anfang der sechziger Jahre zum Besten gab, seine Zerstreutheit, seine gelegentlichen Erstarrungen mitten im Gespräch einen weiteren besorgniserregenden Grund: ein gutartiger, zitronengrosser Tumor war in McLuhans Gehirn gewachsen. Er wurde 1967 erfolgreich entfernt. Zwölf Jahre später nahm dem Eloquenten jedoch ein heftiger Schlaganfall die Sprache und 1980 das Leben. Brillanter Analytiker Marshall McLuhan in seinem Büro (1968). Der Medienforscher wird von seinem Biografen Douglas Coupland als Skeptiker des Fortschritts beschrieben. Seine Mutter, eine Sprecherzieherin, hatte seine Begeisterung für Artikulation, Wortspiele, das Auswendiglernen geprägt. McLuhan studierte Literaturwissenschaft, unter anderem in Cambridge, wo er – durch den «New Criticism» geprägt – die Autorintention als nachrangig zu begreifen und struktureller nach den Wirkweisen von Literatur auf den Leser zu forschen begann. Er liebte Joyce, Eliot, Keats, Poe und zitierte am häufigsten den Philosophen Alfred North Whitehead. Seine Promotion widmete McLuhan jedoch Thomas Nashe, einem kaum bekannten englischen Satiriker des 16. Jahrhunderts. Mit «Die mechanische Braut» betrat McLuhan 1951 eine andere Bühne. Er analysierte brillant die Produkte der Massenkultur. An der Universität von Toronto gelang es ihm – der nächtelang mit Glenn Gould telefonierte –, sich mit einem interdisziplinären Team der neuen Kommunikationstechniken anzunehmen. In «Die Gutenberg-Galaxis» (1962) und «Understanding Media» (1964) zeigt sich, wie sich sein Interesse von den Inhalten weg auf die Grammatik der Medien verschob. Er wurde zu einem der gefragtesten und höchstbezahlten Referenten jener Jahre, der die Gesellschaft in der Gefahr schweben sah, durch das Fernsehen in das Entwicklungsstadium einer auf nur mehr oraler Kommunikation beruhenden Stammeskultur zurückzufallen. Allmählich blieben die Studenten aus, forderten Verlage von ihm Vorschüsse für lange nicht realisierte Buchprojekte zurück und wurden die Einladungen zu Vorträgen rarer. McLuhan widmete sich am Ende seines Lebens Theorien der Zukunft eines «körperlosen» Menschen und dem Nachdenken über die unterschiedlichen Funktionen der beiden Hirnhälften. Coupland ist ein begeisterter Biograf. Sein Text liest sich nicht nur hochgradig instruktiv und anregend. Er trifft wohl auch kongenial McLuhans Sinn für Experiment, Spekulation und unkonventionelle Denkstrategien. ● Spielzeug Wie die Plüschtiere der durch Kinderlähmung behinderten Margarete Steiff zu einem Welterfolg wurden Es begann mit einem Elefäntle trierten Katalogen, stets unter Hinweis auf das hochwertige Material, nie aber mit pädagogischem Unterton. Die Neffen schaffen bald Kontakte nach Florenz, Amsterdam, London und New York. 1906 beschäftigt die «Erste Filzspielwaren-Fabrik Deutschlands» 400 feste Mitarbeiterinnen, etwa 1800 Heimarbeiterinnen stehen für die Stosszeiten bereit. Zum Inbegriff der Steiff-Tiere wird der Teddybär aus Mohairfell mit run- Gabriele Katz: Margarete Steiff. Die Biografie. Osburg, Berlin 2011. 336 Seiten, Fr. 37.90. Von Irmgard Matthes Nein, eine Emanze war sie nicht, auch wenn sie die oberste Forderung der deutschen Frauenbewegung – ökonomische Unabhängigkeit – erfüllte. Aber was war sie dann? Margarete Steiff, die Schöpferin der berühmten Plüschtiere mit dem Knopf im Ohr, wird 1847 in Giengen bei Ulm als zweites von vier Kindern in eine Baumeisterfamilie geboren. Mit 15 Monaten erkrankt das Mädchen an Kinderlähmung und bleibt zeitlebens an den Rollstuhl gebunden. Die Füsse gehorchen ihr nicht mehr, doch die Kleine ist eigenwillig und erfinderisch, holt sich in ihrem Wägelchen Anerkennung unter den Kindern, indem sie Geschichten erzählt und Spiele organisiert. Nach dem Schulabschluss bleibt ihr als einzige Fortbildungsmöglichkeit das Nähen. Mit der Linken arbeitend und die Nähmaschine kurzerhand umdrehend, überwindet sie die Schwäche der rechten Hand. Mit 29 Jahren eröffnet sie ein Konfektionsgeschäft für Kleider und Gebrauchsartikel aus Filz; Material und kaufmännisches Wissen liefert ein Verwandter. 1879 stellt Margarete ihr erstes Stofftier, das berühmte Elefäntle, her. Es findet derartig Anklang, dass sie die Produktion vorsichtig ausbaut, sind Stofftiere doch neben dem gängigen Holz- und Blechspielzeug eine absolute Neuheit. 1890 gehören zum Zoo aus Plüsch, Filz oder Fell bereits rund 8000 Elefanten, Affen, Kamele, Hasen und andere Tiere; 1892 kommen Puppen hinzu. Margarete zieht Verwandte zur Mithilfe heran: zum Nähen die Frauen, für Stoffeinkauf, Organisation und Design drei Neffen, deren Ausbildung sie gezielt unterstützt hat. Geworben wird mit illus- Der Teddybär aus Mohairfell gilt als Inbegriff der SteiffTiere. Schon 1907 wird fast eine Million davon produziert. dem Gesicht, stumpfer Schnauze und gestickter Nase, der mit seinem ursprünglichen Namen «Teddy’s Bär» auf Theodore Roosevelt, den amerikanischen Präsidenten und passionierten Bärenjäger, anspielt. 1907 werden vom beliebten Kuscheltier und Maskottchen 974 000 Stück produziert. Damit ist ein Höhepunkt erreicht, der in Giengen an drei ultramodernen Produktionshallen aus Glas und Stahl abzulesen ist, kaufmännisch an der Umwandlung der Firma zur GmbH mit den Neffen als Teilhabern. Dieser Erfolg verdankt sich kluger Kompetenzverteilung und Planung wie dem hohen Massstab, den die Chefin punkto Zuverlässigkeit, Fleiss und Sorgfalt bei den Mitarbeitenden anlegt. Dabei zeigt sie bei aller Strenge mütterliche Fürsorge, feiert gerne mit ihren Leuten die Jahresfeste und liebt es wie als Kind, im Wagen auszufahren. Bei ihrem Tod im Jahre 1909 spricht der Pfarrer von einem Wunder, weil sie «tausend andere versorgt» hat, obwohl ihr als «Krüppel» eine «fast vergessene Existenz im Winkel» vorgezeichnet schien. Die Historikerin Gabriele Katz dokumentiert dieses Lebenswerk mit umfangreichem Material aus dem Firmenarchiv und schafft interessante Bezüge zur Wirtschaftsund Sozialgeschichte. Wo es dagegen um die Persönlichkeit Margarete Steiffs geht, die in ihrem Tagebuch kaum je tiefergehende Motive ihres Handelns beleuchtet hat, verfällt die Autorin mit Mutmassungen und ausschweifenden Seitenblicken, u. a. auf die Frauenbewegung, in übertriebenen Deutungseifer. Die von Jugend an stark durch den Pietismus geprägte, überaus pragmatische Geschäftsfrau an den Forderungen ihrer intellektuellen Zeitgenossinnen zu messen, ihr gar ein emanzipierteres Bewusstsein zu wünschen, ist eine Schablone, die nicht passt. ● neuerscheinungen bei hier + jetzt Die Schweizer Biergeschichte Bier und wir Geschichte der Brauereien und des Bierkonsums in der Schweiz Matthias Wiesmann 266 S., über 200 Abb., gebunden Fr.58.–, € 39.80 Schweizer Industriegeschichte wie ein Krimi Fremdsprachig im eigenen Land Die industrielle Schweiz – vom 18. ins 21. Jahrhundert Aufgebaut und ausverkauft <wm>10CAsNsjY0MDAx1TU0tjA1MwAAhGPKAg8AAAA=</wm> <wm>10CFWKMQ6EMAwEX-RoN46dmJSndIgC0adB1Py_Oo7uipFGo1nXbgkvn7EdY-8Eigm1mT89LOXqnZFTNe8wRAa5sFDVW9jfL2C4QufvEZggJos8XnRWb-k-ry-90CngcgAAAA==</wm> Hans-Peter Bärtschi 308 S., über 300 Abb., gebunden Fr.78.–, € 52.80 hier + jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte GmbH Postfach, ch-5405 Baden, Tel. +41 56 470 03 00, Fax +41 56 470 03 04 Bestellungen per E-Mail: [email protected] Sprachwelten Lebensgeschichten aus Graubünden Renata Coray, Barbara Strebel, Fotografien von Yvonne Böhler 296 S., 53 Abb., gebunden Fr.42.–, € 29.80 Ein ungeschriebenes Kapitel zur Schweizer Kunst Kunst der Möbelmalerei Ein ungeschriebenes Kapitel zur Schweizer Kunstgeschichte Jost Kirchgraber 216 S., über 300 Abb., gebunden Fr.58.–, € 39.80 www.hierundjetzt.ch 29. Mai 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 19 Sachbuch Grönland Der mittelalterlichen Kolonisation der Nordinsel und Amerikas war kein Erfolg beschieden Kirsten A. Seaver: Mit Kurs auf Thule. Die Entdeckungsreisen der Wikinger. Theiss, Stuttgart 2011. 284 S., Fr. 37.90. Von Geneviève Lüscher Viele Mythen ranken sich um die nordische Kolonie auf Grönland, von wo aus um das Jahr 1000 erstmals Nordamerika entdeckt worden ist. Begonnen hatte die Auswanderungsbewegung im 10. Jahrhundert in Island. Fünf Jahrhunderte überlebten die Siedler auf Grönland. Warum die Kolonie gegen Ende des 15. Jahrhunderts aufgegeben wurde, ist bis heute ungeklärt. Ebenso ungeklärt ist die Frage, warum in Nordamerika bis jetzt nur eine einzige Wohnstätte aus dieser Zeit entdeckt worden ist. Diesen Fragen geht die amerikanische Historikerin Kirsten A. Seaver nach und versucht, Antworten jenseits abenteuerlicher Spekulationen zu finden. In ihrem Buch nennt Seaver die Kolonisten Grönlands stets «Nordmänner» (Frauen sind mitgemeint), nie braucht sie dafür die Bezeichnung «Wikinger», was im Widerspruch steht zum Untertitel des Buches, der vermutlich vom Verlag stammt. «Die Wikinger waren sicher Nordmänner, doch nicht alle Menschen aus dem Norden waren Wikinger», erklärt sie. Nicht die als gewalttätige Piraten und Plünderer bekannten Wikinger besiedelten Grönland und erreichten Nordamerika. Die Menschen, die sich aus Westnorwegen, Island und Däne- mark nach Westen aufmachten, lebten ehrbar von Ackerbau, Fischfang, Jagd und Handel. Zweierlei Quellen stehen für die Koloniegeschichte zur Verfügung: Einerseits verschiedene Schriften – isländische Sagen, bischöfliche Rechenschaftsberichte an den Papst in Rom und diverse Kartenwerke – und anderseits die archäologischen Funde von Ausgrabungen, die noch heute im Gange sind. Die Schriftquellen, erklärt Seaver, haben den Nachteil, dass keine einzige aus Grönland selber ist, die Berichte also immer aus zweiter Hand stammen. Zudem kranken sie daran, dass über die geografische Lage nicht nur Grönlands, sondern auch der Kolonie selber, in der alten Heimat viel Konfusion herrschte. Nach der Besiedlung unter Führung des Isländers Eirik Thorvaldsson um 986 bis 990 stehen die Kolonisten in regem Schiffskontakt mit ihrer Heimat. Der Handel floriert, die Nordmänner liefern Walross-Elfenbein und Pelze nach Europa, Bischöfe werden eingesetzt, Kirchen gebaut. Schon bald segeln die Nordmänner weiter nach Westen, und der Sohn von Eirik, Leif Eiriksson, erreicht Nordamerika. Die einzige Siedlung, L’Anse aux Meadows auf Neufundland, das die Kolonisten Vinland nennen, wird gegründet. Laut Seaver hatte die Fahrt nach Westen nie das Ziel einer weiteren Landnahme, sondern war ein Handelsunternehmen. Die Kolonisten suchten nach Holz, dem einzigen Rohstoff, den sie brauchten und der in Grön- ILLUSTRATION: OLAF RAHARDT / ULLSTEIN Rätsel um Vinland bleibt ungelöst Nordmänner landen im 10. Jahrhundert an der Küste Grönlands. Gemälde von Olaf Rahardt, 2010. land nicht zur Verfügung stand. In Neufundland bleiben die Nordmänner nur kurz, denn Holz können sie sich auch an der näheren Küste Labradors holen. Seaver beschreibt anschaulich das schwierige Leben in der grönländischen Kolonie, soweit es sich aus den Schriftquellen und den archäologischen Bodenfunden erschliessen lässt. Die Kontakte der Kolonisten zu Skandinavien nahmen mit der Zeit ab, bis Grönland eines Tages nicht mehr angefahren wurde. Die Kolonisten blieben aber in Erinnerung. Spätere Erkundungsfahrten fanden jedoch, wenn sie Grönland überhaupt erreichten, nur verlassene Siedlungen vor. Was genau geschehen ist, weiss niemand. Als Hypothesen zirkulieren: tödliche Seuchen, Hunger, innerkoloniale Fehden, Überfälle durch die Inuit? Seaver vermutet etwas nüchtern, dass die Siedler eines Tages einfach beschlossen hatten, in ihre Heimat zurückzukehren. Aber auch sie kann ihre These nicht beweisen. So bleibt der Untergang der Kolonie auch nach Lektüre dieses Buches, was er bis anhin war: ein Rätsel. ● Zürich Das hundert Jahre alte Café Odeon als Bühne für die Prominenz Erinnerungen an ein Kultlokal Curt Riess, Esther Scheidegger: Café Odeon. Europa-Verlag, Zürich 2010. 350 Seiten, Fr. 34.–. Von Urs Bitterli Am 1. Juli 2011 wird das Café Odeon am Bellevue hundert Jahre alt. Das Etablissement hat sich, ein Opfer der Drogenszene der siebziger Jahre, leider nicht in seiner ursprünglichen Form erhalten; aber es bleibt ein «lieu de mémoire» in Zürichs Kulturgeschichte. Aus Anlass des kommenden Jubiläums hat Esther Scheidegger das Buch neu herausgegeben, das Curt Riess im Jahre 1973 dem Odeon gewidmet hatte. Die Herausgeberin weist in ihrer Einleitung auf die Bedeutung des Cafés hin und schildert im Nachwort seine Ge20 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. Mai 2011 schichte nach der vorübergehenden Schliessung im Jahre 1972. Nur kurz kommt sie auf die Persönlichkeit des Autors zu sprechen. Der Journalist und Schriftsteller Curt Riess emigrierte 1933 aus HitlerDeutschland zuerst nach Paris, dann nach New York und liess sich nach Kriegsende bei Zürich nieder. Heute nahezu vergessen, war er einer der produktivsten Autoren seiner Zeit. Er schrieb über Goebbels und das Schauspielhaus, über Ascona und Gottlieb Duttweiler, über Furtwängler und Sankt Moritz – kurz: über alles, was auf breites Publikumsinteresse zu stossen versprach. Riess besass die Neigung und das Geschick, Fakten attraktiv zu präsentieren, Ereignisse wirkungsvoll zu inszenieren und Geschichten zur reizvollen Anekdote umzuformen. Die Geschichte des Odeon schildert Riess als eine «histoire romancée»: Er lässt die prominenten Gäste des Cafés wie auf einer Bühne auftreten und legt ihnen Gespräche in den Mund, die sie so vielleicht nie geführt haben, wohl aber hätten führen können. Wir begegnen Schriftstellern wie Stefan Zweig und Bert Brecht, Professoren wie Emil Staiger und Jean Rudolf von Salis, Schauspielern wie Alexander Moissi und Emil Hegetschweiler. Das alles ist unterhaltsam zu lesen, aber nicht unbedingt historisch verlässlich. In einer Zeit, da Jubiläen zu den wichtigsten Anlässen gehören, bei denen sich Geschichte vermitteln lässt, ist die Neuauflage dieses flüssig geschriebenen Buches zu begrüssen. ● Urs Bitterli ist emeritierter Professor für neuere Geschichte an der Uni Zürich. Völkerrecht Ein Buch wird zum Vermächtnis des NZZ-Korrespondenten Viktor Kocher Franz Kafka und die Terrorlisten Victor Kocher: Terrorlisten. Die schwarzen Löcher des Völkerrechts. Promedia, Wien 2011. 221 Seiten, Fr. 25.90. Von Reinhard Meier Was sind Terrorlisten? Victor Kocher, der in diesem Frühjahr völlig unerwartet und viel zu früh verstorbene NahostKorrespondent der NZZ, hat sich mit diesem Thema mit der für ihn charakteristischen Hartnäckigkeit auseinandergesetzt. Die Terrorlisten, von denen in seinem Buch die Rede ist, sind eine – in den Augen des Autors giftige – Frucht der grossen Terroranschläge islamistischer Fanatiker, vor allem natürlich der welterschütternden Attacke von 9/11 in New York und Washington. Es geht um die vom Uno-Sicherheitsrat erstellte Liste von Personen und Organisatoren, die verdächtigt werden – und sich teilweise auch stolz dazu bekennen –, die Ziele der al-Kaida oder der Taliban aktiv zu unterstützen. Wer auf dieser Liste steht, dem sollen sämtliche Guthaben, Konten und Kreditkarten eingefroren und alle Finanzbeziehungen untersagt werden. Und alle Länder sollen die betreffenden Personen am Überschreiten von Landesgrenzen hindern. Diese Liste, die im Internet zugänglich ist, umfasste Ende 2010 485 Einträge, davon sind 393 Personen und 92 Gruppierungen. Grundsätzlich leuchtet das Prinzip ein, dass international agierende Terrornetzwerke durch international koordinierte Präventivstrategien wie die Unterbindung von Finanzflüssen, bekämpft werden sollen. Victor Kocher stellt denn auch klar, dass er nicht gegen die Terrorbekämpfung plädiert. Er vertritt aber die Ansicht, dass diesem «Krieg gegen den Terror» ein zu hoher und aufwendiger Stellenwert beigemessen wird – namentlich im Vergleich zu anderen politischen und sozialen Anstrengungen. Kocher geht es darum, nachzuweisen, dass mit den Terrorlisten des Uno-Sicherheitsrates ein unsichtbares und unkontrolliertes Sanktionssystem geschaffen wurde, von dessen «Würgeschlingen» auch Unschuldige erfasst werden, die keine Chance hätten, sich wieder davon zu befreien. Damit würden rechtsstaatliche Grundrechte verletzt. Um diese These zu untermauern, hat der Autor aufwendige Gespräche mit Betroffenen, mit Spezialisten des Sanktionsregimes und deren Kritikern sowie mit der von der Uno für diesen Komplex eingesetzten Ombudsfrau geführt. Die Lektüre gibt tiefe Einblicke in ein labyrinthisches, gegenüber rechtsstaatlichen Einwänden aber keineswegs immunes Regime. Im letzten Kapitel versucht Kocher, die komplexe Materie mit einem Vergleich zur Situation von Josef K. in Kafkas «Prozess» auf den Punkt zu bringen. Doch dieser Vergleich hinkt: Viele der auf der Uno-Terrorliste geführten Namen sind – anders als Josef K. – absolut nicht unschuldig, sie brüsten sich ja mit ihren blutigen Taten. Und anders als Josef K., der keine Chance hat, dem Todesurteil zu entkommen, sind dank entschiedener Interventionen einige Dutzend Verdächtigte wieder von der Terrorliste gestrichen worden. Auch das erfährt man in Victor Kochers Buch. ● Offizielle Sondermünze 2011 Bilderbuchgeschichte Ein kleiner Junge. Eine grosse Glocke. Eine Engadiner Tradition. Dafür steht der Ur-Schellen-Ursli von Alois Carigiet, der die neue Goldmünze ziert. Erhältlich bei Banken, Münzenhandel und www.swissmint.ch. <wm>10CAsNsjY0MDAx1TU0NjY1MgcAIrTDLw8AAAA=</wm> <wm>10CFXKqw6AMAxG4Sfq8ndd15VKMkcQBD9D0Ly_4uIQx5x8yxKa8DX3de9bMFCUWESzhbqmbDXEPdWmAeWWwTzB0dhNfpzAXgUyXkJ4dhtwglHmIaWk6zhvEX_uNHEAAAA=</wm> Schweizerische Eidgenossenschaft Confédération suisse Confederazione Svizzera Confederaziun svizra Swissmint Limitierte Auflage. Jetzt bestellen: www.swissmint.ch Ich bestelle gegen Vorausrechnung, zzgl. Versandkosten Anzahl Qualität Preis/Stück Schellen-Ursli 50-Franken-Goldmünze Gold 0,900; 11,29 g; Ø 25 mm Polierte Platte im Etui CHF 580.– MWSt-frei Name: Vorname: Strasse: PLZ/Ort: Datum: Unterschrift: Coupon einsenden an Eidgenössische Münzstätte Swissmint, Bernastrasse 28, 3003 Bern. BücheramSonntag 29. Mai 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 21 Sachbuch Wirtschaft Zwischen 2005 und 2007 greifen österreichische Finanzinvestoren nach Schweizer Industrieperlen Alice Chalupny: Victory und Vekselberg. Der Poker um die Schweizer Industrie. Rüffer & Rub, Zürich 2011. 264 Seiten, Fr. 38.-. Von Daniel Puntas Bernet Dieser Plot ist für einen Wirtschaftskrimi wie geschaffen: Auf der Angreiferseite drei aggressive österreichische Finanzinvestoren, auf der Opferseite ein Dutzend behäbige Schweizer Industriekapitäne der alten Schule. Dazwischen ein etwas naiver russischer Oligarch sowie Bankmanager, die als Gehilfen der Österreicher um die Beute, von der auch für sie etwas abfallen wird, kreisen. Weiter stehen auf der Bühne: Journalisten als instrumentalisierte Sprachrohre und lahme Aufsichtsbehörden. Wer noch einmal Revue passieren lässt, wie Mirko Kovats, Ronny Pecik und Georg Stumpf ihre Attacken auf einige Perlen der Schweizer Industrie orchestrierten, kommt nicht umhin, sich erneut die Augen zu reiben. In der kurzen Zeit zwischen April 2005 und August 2007 gerieten die Unternehmen OC Oerlikon (vormals Unaxis), Saurer, Ascom und Sulzer nacheinander in das Auge des Hurrikans, der diese gehörig durchschütteln und zum Teil nachhaltig verändern sollte. Am Ende der Übernahmeschlacht ist Saurer nun Teil der OC Oerlikon, der Russe Viktor Vekselberg Grossaktionär von Sulzer, und die österreichischen Finanzjongleure sind über alle Berge. Der Zürcher Kantonalbank wird «der grösste Reputationsschaden in ihrer 140-jährigen Geschichte beschert». Die Frechheit, mit welcher die charmant auftretenden Herren aus dem Nachbarland vorgingen, ist hinlänglich bekannt. Doch das Buch «Victory und Vekselberg. Der Poker um die Schweizer Industrie» der Wirtschaftsjournalistin Alice Chalupny beschäftigt sich nicht nur mit den drei Finanzjongleure aus Wien. Im Licht der sorgfältig zusammengetragenen Fakten und chronologisch abgefassten Darstellung wird allzu deutlich, dass die Schweizer Verwaltungsräte besagter Unternehmen nicht eben glücklich agierten, ja sich von den hochfliegenden Plänen der Emporkömmlinge teils sogar blenden liessen. Und von der Gier: In einem Gespräch zwischen Ascom-Verwaltungsratspräsident Juhani Anttila und dem CEO Rudolf Hadorn zeigt sich, dass Hadorn vor dem Hintergrund der Übernahmepläne der Österreicher seine geleistete Arbeit in Gefahr sieht: Da reichen auch zwei angebotene Jahressaläre von je einer Million Franken als goldener Fallschirm nicht zur Beruhigung aus. Chalupny hat laut Klappentext mit 50 zentralen Akteuren gesprochen und öffentlich zugängliche sowie vertrauliche Akten gesichtet. Es ist zu begrüssen, dass sie nicht der Versuchung nachgab, dramaturgisch noch eins draufzugeben: Der Inhalt enthält genügend Brisantes. Dass ihr Stil dabei öfters in flache Wirtschaftsrhetorik abfällt, hängt wohl damit zusammen, dass auf den Teppichetagen <wm>10CAsNsjY0MDAx1TU0NjIyMAQAdQJlSQ8AAAA=</wm> <wm>10CFWKIQ6AMBAEX9Tm9speKSdJXYMg-BqC5v-KgkNsspmZ1pxRvq11O-ruEJkYkFQFzsKo2RxFY6a5EDY4FkDJOU_89UFQLEnqbxNkYOvjIA3RyRLv83oAmBr2FnIAAAA=</wm> 22 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. Mai 2011 URS FLÜELER / KEYSTONE Wie das Gerangel um Macht und Geld abläuft Ronny Pecik (links) und Mirko Kovats von der Wiener Investmentfirma Victory posieren für den Fotografen an der Unaxis-GV in Luzern, 28. Juni 2005. börsenkotierter Unternehmen und in den Handelsräumen der involvierten Banken so geredet wird: Da legen sich Investoren «mit Industriellen zusammen ins Bett», es werden «Übernahmen gestemmt», das Schweizer Wirtschaftsestablishment wird «in Angst und Schrecken versetzt» oder es wird ganz einfach attackiert, gekämpft und niedergerungen, was das Zeug hält. «Das wäre tödlich für Sie», sagt der Chef der Neuen Zürcher Bank Martin Eberhard an einer Stelle zu Sulzer-CEO und Verwaltungsratspräsident Ulf Berg. Auch wenn einige der Einschätzung spekulativ bleiben und viele Zitate im Buch von einer nicht namentlich genannten Quelle stammen, so liefert Chalupny einen lehrreichen und unterhaltsamen Einblick in das Gerangel um Macht und Geld auf den Chefetagen. ● Börse Zwanzig Jahre Anlagekommentare aus der Feder von Privatbankier Konrad Hummler Pointierte Meinungen jenseits der politischen Korrektheit Konrad Hummler: Versuch, Irrtum, Deutung. Anlagekommentare 1990 bis 2010. Ausgewählt, bearbeitet und eingeleitet von Hans-Christoph Kesselring. Orell Füssli, Zürich 2011. 372 Seiten, Fr. 69.–. Seit zwanzig Jahren publiziert Konrad Hummler, geschäftsführender Teilhaber bei der Privatbank Wegelin & Co., alle sechs bis acht Wochen einen mehrseitigen Anlagekommentar, der heute in über 100 000 Exemplaren erscheint und damit fast die Auflage der NZZ erreicht. Seit kurzem ist Hummler auch Verwaltungsratspräsident der NZZ-Gruppe. Hummlers Anlagekommentare geniessen bei einer treuen Leserschaft Kultstatus. Und für diese Leser entspricht eine gebundene Sammlung seiner pointierten Analysen und Meinungen einem echten Bedürfnis. Hummler schreibt im Geleitwort, dass er sich lange gegen die Herausgabe eines Sammelbandes gewehrt habe, da die Kommentare jeweils «für die momentane Befindlichkeit des Lesers verfasst» worden seien. Dies ist eine grobe Untertreibung. Hummler liebt die scharfe und unabhängige Analyse und eine klare Sprache jenseits der politischen Korrektheit. Aus der Laune des Tages Für ihn ist der geistige Prozess des Versuchens und Irrens als Mittel zum Ordnen und Verstehen der Welt ein Privileg, das die «Seele läutert und den Geist klärt». Das Resultat seiner Reflektionen ist die Deutung, der Versuch, im Tagesgeschehen gültige Muster und deren gegenseitige Beziehungen aufzuspüren. Das Besondere an diesem Band ist, dass der Autor die letzten zwanzig Jahre nicht im Rückblick als allwissender Weiser deutet und wertet, sondern diese Periode dramatischer Entwicklungen und Zäsuren aus der jeweiligen Sicht und Laune des Tages darstellt. «Versuch, Irrtum, Deutung» ist keine Geschichtsschreibung, sondern eine Sammlung der Protokolle eines kritischen Zeitgenossen. Seine Ausführungen sind Ausdruck einer Ordnung der Gedanken für eine gewisse Zeit. «Konsistenz mit Verfalldatum» nennt Hummler das Resultat seines gnadenlosen Antriebsgeistes. Der älteste Kommentar stammt aus dem Jahr 1990 und widmet sich der weltpolitischen Instabilität im Gefolge der Auflösung des Ostblocks. Besorgt äussert sich Hummler darin zur gesellschaftlichen Stabilität, die als «kaum überschätzbares Aktivum […] in letzter Zeit stark in Frage gestellt» werde, wodurch «einer der wesentlichsten Wohl- DDP IMAGES Von Hans Geiger Hummler versucht, im Tagesgeschehen die Welt zu verstehen: Handelsbörse Chicago am 13. Mai 2010. standsfaktoren gefährdet» sei. Einen der jüngsten Kommentare aus dem Jahr 2009 stellte Hummler unter den Titel «Abschied von Amerika». Er erregte Aufsehen weit über die Landesgrenzen hinaus. Ausgehend vom Abkommen zwischen der Schweiz und den USA über die Auslieferung von Kundendaten der UBS seziert Hummler die steuerlichen Auseinandersetzungen und Konfliktherde zwischen den USA und anderen Ländern mit scharfem Skalpell. Er erachtet die Annahme der Amerikaner, die USA blieben als Zielland für Investoren problemlos und unangefochten attraktiv, als kreuzfalsch. Und er schliesst, dass man gut beraten sei, den Abschied von Amerika zu vollziehen: Das ist etwa so radikal wie es der Rat an den Volkswagenkonzern wäre, sich vom Benzinmotor zu verabschieden. Heute akzeptiert die Bank Wegelin keine amerikanischen Kunden und Wertpapiere mehr. So führt die intellektuelle Analyse nicht nur zum Anlagekommentar für die Leser, sondern zum Anlagegrundsatz für die Bank. Aus den rund 140 Kommentaren der letzten zwanzig Jahre hat Hans-Christoph Kesselring mit grosser Subtilität eine Auswahl von 50 getroffen, diese um die Bezüge zur jeweiligen Wirtschaftslage gekürzt und teilweise durch Kommentare und Quellenhinweise in Fussnoten ergänzt. Kesselring hat die Beiträge in fünf grosse Themengruppen geordnet und diese kurz kommentiert. Der erste Teil ist den grossen Trends gewidmet, er beginnt mit der Auseinandersetzung mit den Instabilitäten der frühen 90er Jahre und schliesst mit einem Beitrag aus dem Jahr 2008, in dem sich Hummler mit der Frage auseinandersetzt, ob es in Zukunft denn noch Banken brauche. Der zweite Teil fasst Kommentare zu den Finanzmärkten und -produkten zusammen. Der Beitrag aus dem Jahr 1992 enthält zum Anlass des Todes von Friedrich August von Hayek ein liberales Plädoyer für die freie Marktwirtschaft. Spätere Kommentare analysieren mit Bildern aus der Wurstfabrikation (Gammelfleisch) und Entsorgung (Sondermülldeponie Kölliken) Fehlentwicklungen bei Finanzinnovationen. Kompass für liberale Leser Im dritten und umfangreichsten Teil legt Hummler Zeugnis ab von seiner ordnungspolitischen liberalen Sicht von Staat und Markt. Teil vier fasst Beiträge zur Wertschöpfung und zur Führung von Unternehmen zusammen. Der Schlussteil unter dem Titel «Rendite und Risiko sind nicht alles» widmet sich der Bewahrung und Vermehrung sowie der Bedrohung des Vermögens und der Privatsphäre der Bürger. Das Buch wird allen Freunden einer scharfsinnigen und -züngigen Auseinandersetzung mit der Gesellschaft, Wirtschaft und Finanzwelt herzlich zur Lektüre und zum gelegentlichen Nachschlagen empfohlen. Dem liberalen Leser beschert der Band grosse Freude. Für Etatisten und Anhänger von «human design» bietet er Anlass, Positionen zu überdenken. ● Hans Geiger ist emeritierter Professor für Finance am Institut für schweizerisches Bankwesen an der Universität Zürich. 29. Mai 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 23 Sachbuch Philosophie Der französische Mathematiker und Romancier Alain Badiou schreibt in seinem Bestseller eine Eloge auf den Eros Liebe vertraut dem Unterschied Alain Badiou: Lob der Liebe. Passagen, Wien 2011. 87 Seiten, Fr. 17.50. Von David Signer AURORA PHOTOS / MASTERFILE Die Philosophie, die Liebe zur Weisheit, beginnt mit der Liebe. «Wer nicht mit der Liebe anfängt», sagte Platon, «wird niemals wissen, was Philosophie ist.» Und im Gegensatz zu dem, was man heute «platonische Liebe» nennt, denkt Platon dabei den Eros mit. In späteren Jahrhunderten – bis heute – fasst man Erotik und Denken gerne als Gegensatzpaar auf. Nicht so bei Platon: Der Eros ist ihm ein Helfer beim Erkennen. In unserer Zeit gibt es kaum noch Philosophen, die sich mit der Liebe befassen. Man hat das Thema einerseits den Populärpsychologen und der Unterhaltungsindustrie überlassen, andererseits den christlich angehauchten Ethikern, die aus der (entsexualisierten) Liebe eine moralische Pflicht gemacht haben. Wie bedauerlich das ist, fällt einem spätestens bei der Lektüre von Alain Badious «Lob der Liebe» auf. Badiou, Philosoph, Mathematiker und Romancier, geboren in Marokko, ist heute Professor an der Ecole normale supérieure in Paris. Zu seinen Werken gehören «Das Sein und das Ereignis», «Das Jahrhundert» und «Wofür steht der Name Sarkozy?». «Eloge de l’Amour», wie das ak- 24 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. Mai 2011 scheinlichkeit, ein doppeltes Risiko: Sie beginnt mit dem Unvorhersehbaren, und ausgerechnet darauf versuchen wir dann, ein wetterfestes Gebäude zu erstellen. Badiou macht sich denn auch lustig über die Dating-Websites, die «berechenbare Liebe mit Erfolgsgarantie» versprechen. Liebe mit Vollkaskoversicherung ist nicht zu haben; ohne Risiko gibt es keine Intensität, höchstens unverbindliche, behagliche und konsumistische Freizügigkeit, ohne die «tiefe Erfahrung der Andersheit», die für Badiou erst die rückhaltlose Liebe auszeichnet. Ebenso viel Mut erfordert die Umwandlung des «coup de foudre» in einen Prozess, in eine gemeinsame Neuerfindung des Lebens, in ein «hartnäckiges Abenteuer». Badiou geht dabei auf die verbreitete Ansicht ein, die Liebe sei eigentlich nur ein Deckmäntelchen für das sexuelle Begehren. Im Gegenteil, sagt er. Entgegen der Rede von der körperlichen Verschmelzung habe in der Sexualität jeder grossteils mit sich selbst zu tun. Das sexuelle Geniessen sei immer – wenn auch durch Vermittlung des anderen Körpers – das eigene. Erst in der Liebe «geht das Subjekt über sich, über seinen Narzissmus hinaus». tuelle Werk im Original heisst, wurde in Frankreich zum Bestseller. Zu Recht. Denn es ist schlichtweg wunderbar, wie es Badiou schafft, so präzis und poetisch zugleich über ein Thema zu schreiben, das so schwer zu fassen ist und unablässig breitgewalzt und verkitscht wird. Wenn zwei eine Welt bauen Das Buch ist, natürlich, ein Dialog. Zwischen Alain Badiou und Nicolas Truong. Denn der springende Punkt bei der Liebe ist für Badiou die «Zwei»: Zwei getrennte, unterschiedliche Menschen mit ihrer je eigenen Wirklichkeit und Wahrheit kommen zusammen und konstruieren sich eine neue Welt, ausgehend vom Unterschied und nicht von der Identität. Die Liebe, das sind nicht nur zwei Individuen, sondern auch zwei Etappen: Zuerst das Ereignis der Begegnung zwischen zweien, die sich gar nicht kennen. Und dann der Versuch, diese Singularität, diesen Überraschungstreffer zu fixieren, ihm Ewigkeit zu verleihen. Oft steht zwischen diesen beiden Polen, als «völlig mysteriöser Übergang vom Zufall zum Schicksal», eine Liebeserklärung: Das Versprechen, aus dem unerwarteten Anfang «eine Dauer, eine Hartnäckigkeit, eine Verpflichtung, eine Treue zu machen». Mit anderen Worten: Die Liebe ist eine doppelte Unwahr- Vom «coup de foudre» zur Neuerfindung des Lebens: verliebtes Paar im Sächsischen Garten in Warschau. Subversiv und gesetzlos Badiou ist auch ein politischer Philosoph, und das Ende des Buches nimmt eine unerwartete gesellschaftskritische Wendung. Er spricht im Zusammenhang mit Sarkozy von einer «reaktionären Identitätslogik». Wann immer sie vorherrsche, sei die Liebe gefährdet, indem man ihre Faszination für den Unterschied, ihre geschlechtliche, soziale und nationale Grenzen überschreitende Kraft in Frage stelle. Man werde, so Badiou, «Propaganda für eine ‹Liebe› machen, die ganz sicher und in vollkommener Übereinstimmung mit den Sicherheitsvorkehrungen ist. Eine der Aufgaben der Gegenwart ist also die Verteidigung der Liebe, insofern sie subversiv und dem Gesetz fremd ist.» Badiou, der in früheren Jahren Schauspieler war, erwähnt in diesem Zusammenhang Romeo und Julia. Im Kampf der zufälligen Liebe gegen das notwendige Gesetz macht er den klassischen Theaterkonflikt aus. «In der Liebe vertraut man dem Unterschied, anstatt ihn zu verdächtigen.» Womit er zur zentralen These – zum Kern – seines Essays vorstösst: «Dem Identitätskult der Wiederholung muss man die Liebe zu dem entgegenstellen, was unterschiedlich und einzigartig ist, was nichts wiederholt, was erratisch und fremd ist.» Das könnte auch – nicht als Wiederholung, aber als Nachhall – des schönen und geheimnisvollen Satzes gelesen werden, den er vor dreissig Jahren in «Théorie du sujet» formulierte: «Liebt, was ihr kein zweites Mal sehen werdet!» ● Bier Prost auf den freien Markt Biografie Über das Leben von Mystikerinnen im Mittelalter Verzückt oder verrückt? Annerose Sieck: Mystikerinnen. Biografien visionärer Frauen. Jan Thorbecke, Sigmaringen 2011. 208 Seiten, Fr. 34.90. Sie wurden verehrt, belächelt, wegen Ketzerei zum Tode verurteilt – und faszinieren heute mehr denn je: Die Mystikerinnen aus dem Mittelalter. Einige, wie etwa Hildegard von Bingen, geniessen nahezu Kultstatus. Diese Frauen hatten Visionen, gerieten in göttliche Ekstase und fühlen sich Christus, dem «himmlischen Bräutigam», nahe. Mittelalterliche Mystik war eine persönliche, liebende Begegnung mit Gott – und hatte wenig mit der heutigen – oft oberflächlichen – Form von Spiritualität zu tun. Für viele Frauen im Mittelalter war der mystische Lebensstil, das Leben hinter Klostermauern, auch eine Flucht vor der Realität und mitunter der einzige Weg, einer Zwangsehe zu entgehen. Oft brachten die Mystikerinnen ihre Visionen zu Papier. Um diese Schriften lesen und verstehen zu können, muss man eine «mittelalterliche Brille» aufsetzen und sich den historischen Kontext vor Augen halten – ansonsten muten die Texte eher wie Hirngespinste mehr oder weniger verrückter Frauen an. Wenn etwa eine Mechthild von Magdeburg schreibt: «O Herr, minne mich gewaltig, oft und lang (…). Je gewaltiger Du mich minnest, umso schöner werde ich», so wirkt das nach heutigem Verständnis absurd. Doch gerade diese Minne-Mystik war damals hoch im Kurs. Die Autorin Annerose Sieck stellt in ihrem neusten Buch die herausragendsten Frauenfiguren vor und gibt einen anschaulichen Überblick über die zahlreichen Facetten mittelalterlicher Frauenmystik. Dass sämtliche Texte ins Neudeutsche übersetzt sind, macht das Buch zwar verständlicher und für ein breites Publikum zugänglich, bringt uns aber um den Lesegenuss des Originalwortlautes. Dass die Mystik derzeit auf grosses Interesse stösst, führt Annerose Sieck auf den grassierenden Materialismus zurück. Sie schreibt von einer neuen Sehnsucht, die sich mit der Hoffnung verbinde, Leben sei mehr, als sich mit Geld bezahlen liesse. Ob dem so sei, muss individuell beurteilt werden. Sicher ist: Die Lebensgeschichten und Visionen der Mystikerinnen verdienen es, gelesen zu werden. Umso besser, wenn bei der Lektüre ein spiritueller Mehrwert herausschaut. ● FOTOARCHIV WOLF / STAATSARCHIV BASEL Von Christina Hubbeling Das waren noch glückbringende Zeiten, als die Hausfrauen die Kaminfeger mit einem schäumenden Bier empfangen haben (das Bild entstand um 1932). In jenen Zeiten belastete der Fiskus den Gerstensaft erstmals mit einem Malzzoll-Zuschlag. 1935 formten die Brauereien das Bierkartell, mit dem die Branche Liefergebiete und Kunden unter den Marktteilnehmern aufteilte, also nichts von direktem Konkurrenzkampf. Die Konvention konnte sich bis Anfang der neunziger Jahre halten. Da die Produzenten – wenig überraschend – nicht allzu wettbewerbstauglich waren, landeten sie bald unter den Fittichen grosser ausländischer Bierkonzerne wie Carlsberg und Heineken. In deren Schatten haben sich jedoch über 300 Klein- und Kleinstbrauereien mit Spezialitäten etabliert. Das lesenswerte Buch beschreibt die abwechslungsreiche Geschichte des Biers in der Schweiz. Peter Keller Matthias Wiesmann: Bier und Wir. Geschichte der Brauereien und des Bierkonsums in der Schweiz. Hier + Jetzt, Baden 2011. 268 Seiten, zahlreiche Abbildungen, Fr. 58.–. 29. Mai 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25 Sachbuch Deutschland Die frühere FDP-Politikerin Hildegard Hamm-Brücher zieht ihre Lebensbilanz «Mädle, Sie müsset in die Politik» Hildegard Hamm-Brücher: Und dennoch... Nachdenken über Zeitgeschichte – Erinnern für die Zukunft. Siedler, München 2011. 176 Seiten, Fr. 29.90. Von Urs Rauber Zu ihrem 90. Geburtstag am 11. Mai hat sie noch einmal Bilanz gezogen. Hildegard Hamm-Brücher gehört zu den noch lebenden aktiven Gestaltern der Bundesrepublik Deutschland. Die promovierte Chemikerin wurde 1948 – mit 27 Jahren – in München zur Stadträtin und zwei Jahre später zur bayerischen Landtagsabgeordneten gewählt. Ihr Förderer, der spätere Bundespräsident Theodor Heuss, den sie als Journalistin kurz nach dem Krieg kennengelernt hatte, riet ihr: «Mädle, Sie müsset in die Politik.» So kam die begabte Hildegard Brücher über den Heuss-Freund Thomas Dehler, den Gründer der bayerischen Freien Demokraten (FDP), zu ihrem En- gagement in München. Dort traf sie ihren späteren Mann, den CSU-Stadtrat Erwin Hamm, mit dem sie zwei Kinder hatte. Die Geschichte der Bundesrepublik hat sie von der Schaffung des Grundgesetzes (1949) bis zur Wiedervereinigung (1989) mitgestaltet, hat Glanz und Elend des politischen Liberalismus ebenso miterlebt wie den dornenvollen Weg einer Frau, die sich in der männlichen Welt der Berufspolitik behaupten musste. «Eine brave Mitläuferin war ich nie», hält sie in ihrem locker geschriebenen Lebensbericht fest. Schon die äusseren Daten sind beeindruckend: 38 Jahre Volksvertreterin, nach dem Stadt- und Landratsmandat elf Jahre als Mitglied des Deutschen Bundestages sowie elf Jahre als Regierungsmitglied, zuletzt als Staatsministerin im Auswärtigen Amt (1976-1982) unter Hans-Dietrich Genscher. Ungeteilte Bewunderung brachte sie vor allem Kanzler Helmut Schmidt entgegen. Als die sozialliberale Koalition von SPD und FDP am 1. Oktober 1982 über ein konstruktives Misstrauensvotum zu Fall kam, gehörte Hamm-Brücher zu jenen FDPDissidenten, die sich dem Koalitionswechsel zur CDU widersetzten. Hamm-Brüchers Partei war die linksliberale FDP eines Ralf Dahrendorf und Gerhart Baum. Für Franz-Josef Strauss war sie eine «Kampfhenne», für andere wegen ihrer fortschrittlichen Auffassungen die «bestgehasste» Abgeordnete, wie sie freimütig einräumt. Dank ihres kantigen Profils wurde sie jeweils «Häufelkönigin» der FDP, die Kandidatin mit den meisten Zweitstimmen aus anderen Parteien. 1994 engagierte sie sich ein letztes Mal, als sie mit über 70 erfolglos zur Bundespräsidenten-Wahl gegen Roman Herzog (CDU) und Johannes Rau (SPD) antrat. Mit dem Spasswahlkampf der FDP unter Vizechef Jürgen Möllemann tat sie sich schwer, weshalb sie im September 2002 den Austritt gab. «Als Parteisoldatin», schreibt sie, «war ich ziemlich unbrauchbar.» ● Das amerikanische Buch Der Weg in den Bruderkrieg vor 150 Jahren Am 12. April 1861 eröffneten Kanoniere der konföderierten Armee das Feuer auf das von föderalen Truppen besetzte Fort Sumter im Hafen der SüdstaatenMetropole Charleston. Damit begann das bis heute mit Abstand blutigste Ringen der amerikanischen Geschichte. Bei einer damaligen Gesamtbevölkerung von 32 Millionen Menschen hat der Bürgerkrieg 620 000 Soldaten das Leben gekostet – mehr als sämtliche Konflikte der USA seither zusammengenommen. Der 150. Jahrestag der Kanonade hat die von Experten auf weit über 50 000 geschätzte Zahl von Büchern zum Bürgerkrieg noch einmal um eine nicht überschaubare Flut von Titeln vermehrt. Darunter sticht für viele Fachleute und Rezensenten ein Werk über den Weg in den Konflikt hervor, der vom Umschlag und der mitunter an Mark Twain erinnernden Sprache her etwas altbacken anmutet: 1861 – The Civil War Awakening (Knopf, 481 Seiten) des jungen Historikers Adam Goodheart. Am Rand eingefärbt, soll der Einband von «1861» vergilbt wirken. Aber das Buch überzeugt durch einen frischen Ansatz. Goodheart beschreibt den Weg in den Bruderkrieg nicht aus der Sicht der hohen Politik, sondern begibt sich in den damaligen Alltag. Auf ausgiebiges Studium und Zitate aus Tagebüchern, Briefen, Memoiren und Presseartikeln gestützt, führt der Historiker an einzelne Schauplätze. Dort begegnet der Leser Akteuren wie dem von deutschen Immigranten in Missouri gegründeten «Schwarzen Jägerkorps», die heute bestenfalls in Fussnoten auftauchen, 1860-61 jedoch 26 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. Mai 2011 Verständnis Lincolns. «Honest Abe» galt nach seiner Wahl 1860 weithin als leicht manipulierbarer Hinterwäldler, entpuppte sich jedoch rasch als entscheidungsstarke Persönlichkeit mit einem feinen Gespür für den Zeitgeist. Dieser war dank der Industrialisierung im Norden von einer Rastlosigkeit gezeichnet, die junge Männer wie Ellsworth nach grossen, sinnstiftenden Aufgaben hungern liess. Guerillatruppen in Missouri während des amerikanischen Bürgerkriegs 18611865. Autor Adam Goodheart (unten). für kurze Momente im Zentrum des Geschehens standen. Etliche dieser obskuren Figuren stehen auf überraschende Weise in direkter Verbindung zu Präsident Abraham Lincoln. So erwähnt Goodheart, dass der Kommandeur von Fort Sumter Jahrzehnte zuvor den jungen Lincoln als Milizionär für einen Feldzug gegen Indianer angeworben hatte. Der reife Lincoln empfindet dagegen tiefe Sympathie für den Anwaltsgehilfen Elmer Ellsworth, der 1859 in Chicago ein «Zouaven-Korps» gründete und sich dadurch zur Identifikationsfigur der urbanen Jugend des Nordens entwickelte. Er starb im Mai 1861 bei einem Vorstoss nach Virginia. «Rache für Ellsworth!» wurde zum Sammelruf für Hundertausende von Freiwilligen. Mit derartigen Einblicken leistet «1861» nicht nur einen spannenden Beitrag zur amerikanischen Sozialgeschichte, sondern auch zum Als solche bot sich der Krieg gegen die Sklavenstaaten an. Dabei macht der Autor deutlich, dass auch im Norden Vorbehalte gegen Schwarze gang und gäbe waren. Für Goodheart liegt auf der Hand, dass die Konföderierten den Krieg durch Provokationen, im Kern aber durch ihr unnachgiebiges Bestehen auf der Ausweitung der Sklaverei ausgelöst haben: Südstaaten-Politiker zielten nicht nur auf die Einführung der «merkwürdigen Institution» in den neuen Gliedstaaten im Westen ab, sie wollten zudem frühere Kompromisse mit den Nordstaaten etwa über geflohene Sklaven rückgängig machen. So zog der Norden eher der Ehre als der Schwarzen halber in den Krieg. Mit dieser differenzierten Argumentation hat «1861» die hiesige Kritik überzeugt. Allerdings moniert etwa die «New York Times» zu Recht, dass Goodheart die Stimmung in den Südstaaten nur en passant und in einem schroffen, urteilenden Tonfall diskutiert. Damit zeigt der Historiker jedoch, wie nahe der blutige Konflikt ihrer Vorväter den heutigen Amerikanern immer noch ist. ● Von Andreas Mink Agenda Letzte Ruhe Geschichten von unbekannten Toten Agenda Juni 2011 Basel Montag, 6. Juni, 19 Uhr Sjón: Das Gleissen der Nacht. Lesung, Fr. 17.–. Literaturhaus, Barfüssergasse 3, Tel. o61 261 29 50. Mittwoch, 8. Juni, 19 Uhr Michail Schischkin: Venushaar. Lesung, Fr. 17.–. Literaturhaus (s. oben). Mittwoch, 15. Juni, 19.30 Uhr Thalia-Buchhändlerinnen stellen Bücher vor: Empfehlungen für die Sommerferien und andere Mussestunden. Thalia, Freie Strasse 32, Tel. 061 264 26 55. Bern Matthias Zschokke: Lieber Niels. Lesung, Fr. 15.–, inkl. Apéro. Anmeldung: buchhandlung@ haupt.ch. Haupt Buchhandlung, Falkenplatz 14. KEYSTONE Mittwoch, 8. Juni, 19 Uhr Sonntag, 19. Juni, 11 bis 12.30 Uhr Kulturen und Religionen mit dem Tod. Er fotografiert schlichte einzelne Grabsteine, aber auch Nekropolen und farbenfrohen Kitsch. Unser Bild zeigt drei Gräber in Costa Rica, die keine Namenszüge tragen und an Bauten aus Spielzeugsteinen erinnern. Ergänzt werden Rolf Pflugshaupts stimmungsvolle Fotografien durch lyrische Texte von Raphael Urweider und Andreas Urweider. Manfred Papst Rolf Pflugshaupt: Verlorene Wünsche. Benteli, Bern 2011. 144 Seiten, Fr. 58.–. Sachbuch 1 Diogenes. 208 Seiten, Fr. 27.40. 2 Heyne. 448 Seiten, Fr. 25.40. 3 Fischer. 352 Seiten, Fr. 21.60. 4 Hanser. 320 Seiten, Fr. 24.90. 5 Hanser. 192 Seiten, Fr. 23.70. 6 Wunderlich. 448 Seiten, Fr. 29.60. 7 Diogenes. 208 Seiten, Fr. 26.40. 8 Rowohlt. 304 Seiten, Fr. 27.70. 9 Diogenes. 352 Seiten, Fr. 35.10. 10 Fischer. 192 Seiten, Fr. 25.90. 1 Langenscheidt. 128 Seiten, Fr. 16.90. 2 Giger. 300 Seiten, Fr. 43.90. 3 NZZ Libro. 144 S., Fr. 39.–. 4 Faro. 224 Seiten, Fr. 29.90. 5 Schwarzkopf & Schwarzkopf. 272 S., Fr. 30.50. 6 Orell Füssli. 192 Seiten, Fr. 34.90. 7 Dromer/Knaur. 304 Seiten, Fr. 25.90. 8 Orell Füssli. 176 Seiten, Fr. 34.90. 9 Riva. 200 Seiten, Fr. 15.90. 10 Integral. 272 Seiten, Fr. 29.90. Carlos Ruiz Zafón: Marina. Alex Capus: Léon und Louise. Arno Geiger: Der alte König in seinem Exil. Simon Beckett: Verwesung. Martin Suter: Allmen und die Libellen. Siri Hustvedt: Der Sommer ohne Männer. Martin Walker: Schwarze Diamanten. Peter Stamm: Seerücken. Freitag, 3., bis Sonntag, 5. Juni 33. Solothurner Literaturtage. Detailliertes Programm unter www.literatur.ch. Zürich Dragan Aleksić: Vorvorgestern. Geschichten, die vom Glück handeln. Lesung, Fr. 18.–, inkl. Apéro. Literaturhaus, Limmatquai 62, Tel. 044 254 50 00. Belletristik Nicholas Sparks: Wie ein Licht in der Nacht. Solothurn Donnerstag, 9. Juni, 20 Uhr Bestseller Mai 2011 Paulo Coelho: Schutzengel. Bern – Literatur unter den Lauben. Literarischer Stadtrundgang, Fr. 30.–. Anmeldung unter www.literaturspur.ch. Nina Puri: Langenscheidt Katze – Deutsch. Brigitte Balzarini-Voss: Mein Leben mit Steve. Benjamin Steffen, Christof Gertsch: Fabian Cancellaras Welt. Nik Hartmann: Über Stock und Stein 3. Carlo Perdersoli: Bud Spencer. Martin Betschart: Ich weiss, wie du tickst. Rhonda Byrne: The Power. Philipp Löpfe, Werner Vontobel: Aufruhr im Paradies. Barney Stinson: Der Bro Code. Walter Kohl: Leben oder gelebt werden. Erhebung Media Control im Auftrag des SBVV; 17. 5.2011. Preise laut Angaben von www.buch.ch. Mittwoch , 15. Juni, 19 Uhr Susanna Schwager liest aus ihren Werken. Verleihung des Schillerpreises, Laudatio Urs Widmer. Reservation über das Literaturhaus (s. oben). ALICE VOLLENWEIDER Seit Jahrzehnten besucht der 1934 geborene Berner Fotograf Rolf Pflugshaupt Friedhöfe: in der Schweiz und Deutschland, in Frankreich und Italien, Ungarn und Rumänien, aber auch in fernen Ländern wie den USA, Costa Rica und Madagaskar. Dabei geht es ihm nicht um die Grabstätten berühmter Persönlichkeiten. Sie spart er in seinem Buch «Verlorene Wünsche» bewusst aus. Ihn interessieren vielmehr die Geschichten, welche Gräber von unbekannten Toten erzählen, um den Umgang verschiedener Donnerstag, 16. Juni, 20 Uhr Angelika Overath: Alle Farben des Schnees. Lesung, Fr. 18.–, inkl. Apéro. Literaturhaus (s. oben). Sonntag, 19. Juni, 17 Uhr Michael Köhlmeier, Monika Helfer: Rosie und der Urgrossvater. Lesung, Fr. 15.–. Theater Stadelhofen, Stadelhoferstrasse 12, [email protected]. Mittwoch, 22. Juni, 20 Uhr Nina Maria Marewski: Die Moldau im Schrank. Buchpremiere, Lesung, Fr. 25.–. Kaufleuten, Festsaal, Pelikanplatz 1, Tel. 044 225 33 77. Bücher am Sonntag Nr. 6 erscheint am 26. 6. 2011 Weitere Exemplare der Literaturbeilage «Bücher am Sonntag» können bestellt werden per Fax 044 258 13 60 oder E-Mail [email protected]. Oder sind – solange Vorrat – beim Kundendienst der NZZ, Falkenstrasse 11, 8001 Zürich, erhältlich. 29. Mai 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27 Geschichte und Wirtschaft Urs Bitterli, Irene Riesen (Hrsg.) Jean Rudolf von Salis Ausgewählte Briefe 1930 –1993 392 Seiten / gebunden Daniel Trachsler Bundesrat Max Petitpierre Schweizerische Aussenpolitik im Kalten Krieg 1945–1961 416 Seiten / gebunden War er der weitsichtige Architekt des erfolgreichen Sonderfalls Schweiz, oder ist er vielmehr der Verursacher der gegenwärtigen aussenpolitischen Blockade der Schweiz? Die erste quellengestützte Biografie des Magistraten klärt auf. «Das flüssig geschriebene Buch ist Pflichtlektüre.» Aargauer Zeitung Von Salis’ umfangreiche Korrespondenz zwischen 1930 und 1993 wird hier erstmals vorgestellt und kommentiert. Zu seinen Adressaten gehörten u. a. Max Petitpierre, Gottlieb Duttweiler, Friedrich Dürrenmatt und Max Frisch. Fr. 54.– / € 45.– Fr. 54.– / € 45.– <wm>10CAsNsjY0MDAx1TU0tjQwNwUAxAPM1Q8AAAA=</wm> <wm>10CFXKsQrDMAyE4SeSOJ2s2KrH4i1kCN29lM59_ylOtw7HD8e37z0Uvz3H8RpnN6CEmCdq9MhQrjZSUWpHWBJmDzR6WdD_vMByc_i8jWDdOdGEFNYZlfp9fy5jHVvFcgAAAA==</wm> Urs Schoettli R. James Breiding, Gerhard Schwarz Wirtschaftswunder Schweiz Ursprung und Zukunft eines Erfolgsmodells 432 Seiten / gebunden Geld, Gold und Geist Vermögen und Reichtum in Asien 192 Seiten / Klappenbroschur Die Asiaten haben ein eigenes Verständnis von Vermögen und Reichtum, das bis heute seine Geltung bewahrt hat. Schoettli leistet in seinem neuen Buch wertvolle Vermittlungsarbeit. «Es liefert Einsichten, denen sich niemand verschliessen mag, wenn er in Asien unterwegs ist.» NZZ Wie schaffte es die an Ressourcen arme Schweiz in so vielen Wirtschaftssektoren zu einem so wichtigen globalen Player zu werden? «Das Werk erzählt die spannenden Geschichten von Unternehmern und ihrer teilweise enormen Risikobereitschaft.» Basler Zeitung Fr. 36.– / € 30.– Fr. 58.– / € 45.– www.nzz-libro.ch