ELIZABETH BECKA | Mit dem letzten Atemzug
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ELIZABETH BECKA | Mit dem letzten Atemzug
ELIZABETH BECKA | Mit dem letzten Atemzug Das Buch An einem kalten Novemberabend wird Evelyn James von der forensischen Spurensicherung an den Tatort eines brutalen Verbrechens gerufen. Aus dem Fluss wird die Leiche einer jungen Frau geborgen. Ihre Füße stecken in einem Eimer mit Zement, der Körper ist mit Ketten gefesselt. Die Obduktion ergibt, dass die Frau lebend ins Wasser geworfen wurde und bis zum letzten Atemzug gekämpft haben muss. Der Fall erhält politische Brisanz, als ein zweites Opfer, diesmal am Flussufer, gefunden wird: die Tochter des Bürgermeisters von Cleveland. Ebenfalls gefesselt und mit einzementierten Füßen. Die Untersuchung der Leiche ergibt allerdings, dass Destiny nicht ertrunken ist, sondern erwürgt wurde. Konnte sie sich von ihren Fesseln befreien und ist dann erst später umgebracht worden? Vom Bürgermeister unter Druck gesetzt, ermitteln die Detectives Riley und Milaski in alle Richtungen, während Evelyn unerlaubterweise einer ganz anderen Spur folgt. Plötzlich ahnt sie, was die jungen Frauen bis zu ihrem Tode durchmachen mussten … Pressestimmen »Ex-Spurenprofi Elizabeth Becka beweist durch ihr spannendes Romandebüt, dass sie erfolgreich zur Thriller-Expertin umgeschult hat.« Woman Die Autorin Elizabeth Becka ist selbst Spurensicherungsexpertin und als Mitglied der American Academy of Forensic Sciences auch als forensische Gutachterin vor Gericht tätig. Sie arbeitete fünf Jahre im Cuyahoga County Coroner’s Office in Cleveland, zuständig für Stoff-, Haar- und DNA-Analysen und ist heute für die Tatort-Sicherung im Cape Coral Police Department, Florida, verantwortlich. ELIZABETH BECKA Mit dem letzten Atemzug Roman Aus dem Amerikanischen von Ingeborg Ebel Die Originalausgabe erschien 2005 unter dem Titel Trace Evidence bei Hyperion, New York SGS-COC-1940 Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-0100 Das für dieses Buch verwendete FSC-zertifizierte Papier München Super liefert Mochenwangen Papier. Taschenbucherstausgabe 06/2006 Copyright © 2005 by Elizabeth Becka Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2005 und Copyright © 2006 dieser Ausgabe by Diana Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Umschlagmotiv | Getty Images/Christopher Stevenson Umschlaggestaltung | Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, München – Zürich, Teresa Mutzenbach Herstellung | Helga Schörnig Satz | C. Schaber Datentechnik, Wels Druck und Bindung | GGP Media GmbH, Pößneck Printed in Germany 2006 ISBN-10: 3-453-35133-9 ISBN-13: 978-3-453-35133-2 www.diana-verlag.de 1 Evelyn James parkte den verbeulten Dienst-Kombi hinter den anderen Fahrzeugen am Straßenrand, nahm ihren Arbeitskoffer vom Beifahrersitz, trat beim Aussteigen in eine Matschpfütze und knallte die Tür mit der Aufschrift Medical Examiner’s Office zu. Langsam schwebten Schneeflocken vom Himmel, und die Stimmung des Tages verdüsterte sich von Stunde zu Stunde. Auf der Brücke standen wirr durcheinander Bauschilder und Sägeböcke. Arbeiter in grell orangefarbenen Overalls beobachteten die Polizeiaktion, während einen Block weiter im Einkaufszentrum ein Presslufthammer dröhnte. Dieser zwischen kahlen Bäumen kaum sichtbare Neubaukomplex war Teil eines hoffnungslosen Versuchs, die Stadt zu sanieren. Über nackten Ästen ragte die Downtown-Skyline der Großstadt bis in graue, tief hängende Wolken. Zwei Streifenwagen des Cleveland Police Department und zwei ramponierte Zivilfahrzeuge, die trotzdem jeder sofort als Polizeiautos erkannte, standen auf dem Gras. Bis auf die beiden jungen Polizisten, die den Verkehr regelten, hatten sich die uniformierten Beamten längst in die Wärme ihrer Streifenwagen geflüchtet und überließen die Ermittlungsarbeiten jenen, die dafür bezahlt wurden. Alle sahen zum Flussufer hin, wo eine ausgestreckte Gestalt lag, so weiß wie eine gemeißelte Marmorstatue. Die Cleveland Metroparks sind über achtzigtausend Hektar groß und umfassen ein Gelände von vierzehn Parks, in 5 denen sich jährlich über zweiundvierzig Millionen Menschen erholen und vergnügen. Aber heute waren die Bäume fast entlaubt, und Evelyn war nicht zum Vergnügen hier. Sie nahm die Schutzkappe vom Objektiv ihrer Kamera und fotografierte den Tatort – die Brücke, den Fluss Cuyahoga, den Leichnam, die hinter dem Wald aufragende Skyline –, während ihre Socken klatschnass wurden. Ein weiterer Tag in dem glamourösen Leben einer Spurensicherungsexpertin ... Im Sucher tauchte die Gestalt Bruce Rileys auf. Er sah vier Männern in Neoprenanzügen zu, die gerade ihre Ausrüstung zusammenpackten. Vorsichtig schlitterte sie über das rutschige Gras des abfallenden Ufers zu ihm hin. »Hallo, Detective.« Riley grunzte nur zur Begrüßung. Noch immer war er der einzige ihr bekannte Mann, der es schaffte, bügelfreie Hosen zu zerknittern. »Zwei Bautaucher und die beiden Polizeitaucher haben sie hochgeholt. Das war nicht einfach. Du musst dir das mal ansehen – es ist wirklich einmalig. Ich bin jetzt zehn Jahre bei der Mordkommission und sehe so was zum ersten Mal. Im Vergleich dazu war sogar der Mord im letzten Jahr, bei dem der Täter mit Nägeln gefüllte Munition verwendet hatte, richtig normal. Aber hey – was ist mit dir, Mädchen? Hast du etwa zu Thanksgiving etwas Besonderes vor?« Evelyn schüttelte den Kopf und lächelte kläglich. »Ich kann mich nicht entscheiden. Soll ich für Angel abends kochen oder ihr großmütig erlauben, den Tag mit ihrem Vater zu verbringen? Vielleicht lasse ich aber diesen dämlichen Truthahn sausen und gehe mit meiner Tochter zum Essen, auch wenn man kein Restaurant unterstützen sollte, das seine Angestellten zu Thanksgiving arbeiten lässt.« »Sehr richtig.« 6 »Sag mal, Riley, du hast doch zwei Exfrauen und vier Kinder. Was machst du denn so an Feiertagen?« Bruce Riley zündete sich eine Zigarette an, was Evelyn angesichts seiner Blässe bedenklich erschien. »Ich gehe ins Flannagan’s in Ohio City, gebe eine Runde aus, schiebe die Kassette mit den US-Baseball-Meisterschaftsspielen in den Videorecorder und sehe mir die Spiele an.« »Sehr traditionell.« »Hey, dort gibt’s Chicken Wings. Die schmecken wie Truthahn.« Evelyn seufzte, bewegte ihre eiskalten Zehen und spürte jeden Tag ihrer achtunddreißig Jahre. »Ich habe nur meine Mutter und eine Tochter, die mir ständig die Schuld daran gibt, dass ihr Vater mich verlassen hat.« »Warum ...?«, fragte Riley stirnrunzelnd. »Weil ich sie nie über die wahren Gründe aufgeklärt habe. Es kann also sein, dass meine Mutter und ich dich im Flannagan’s treffen«, sagte Evelyn und grinste ihn an, was er mit einem schiefen Lächeln quittierte. Die Detectives der Mordkommission waren ältere Männer, weiße und schwarze, verheiratet oder geschieden, die einen manchmal höllischen Job für ein immer lausigeres Gehalt machten, weil es jemand tun musste und weil sie zufällig diese Männer waren. »Nein, im Ernst. Angel ist Vegetarierin geworden, aber ihr Vater hat davon noch keine Ahnung. Er liebt Steaks.« Doch zweifelsohne würde Angels Stiefmama-in-Perfektion viel Verständnis für den Teenager haben. Riley deutete mit dem Kopf in Richtung Leiche. Neben der Toten hatte der Fluss ein kleines Tal durch das mit Bäumen bestandene Gelände gegraben. Der regenreiche Früh7 ling und die Schneeschmelze hatten es vertieft. Dieser Uferstreifen war ruhig und wirkte abgelegen, obwohl in dem nahen Viertel mit seinen verfallenen Holzhäusern und den heruntergekommenen Straßen viele Menschen wohnten. »Wahrscheinlich hat das kalte Wasser den Verwesungsprozess verlangsamt«, sagte Riley. »Unsere Taucher beneide ich wirklich nicht. Hast du je in einem Neoprenanzug gepinkelt?« »Ich habe gehört, es soll warm halten«, sagte Evelyn geistesabwesend und trat näher. Die Leiche lag unbedeckt im Schlamm des mit spärlich wachsendem Unkraut bedeckten Bodens. Das Fehlen eines Lakens bedeutete, dass der Notarzt nicht gerufen worden war. Kein Wunder. Denn die Frau war tot, sehr tot. Eine Weiße. Wie Gift hatten sich die dunklen Marmorstreifen der Verwesung unter ihrer Haut ausgebreitet. In kürzester Zeit würde ihr Körper schwarz sein. Dunkelbraunes Haar klebte an ihrem Gesicht und an ihrem Hals. Alle Gliedmaßen und Körperteile waren noch vorhanden: zwei Arme, zwei Beine, Nase, Augenbrauen. Keine Anzeichen von Gewalt, bis auf Hautabschürfungen und Druckstellen, die durch ihre Bergung aus dem Fluss schlimmer geworden waren. Sie trug ein langärmliges rosafarbenes T-Shirt und Jeans-Shorts. Ihre Füße steckten in einem mit Zement gefüllten Zwanzig-Liter-Eimer mit einem Drahtbügel. »Chlor-Tabs für sauberes Wasser, 2,5 cm«, so die Aufschrift. Ein hoch gewachsener Mann, etwa in Evelyns Alter, stand neben der Leiche. Er hatte dichtes schwarzes Haar und sah aus wie ein Cop – trotz Zivilkleidung. Riley wedelte mit seiner Zigarette und stellte die beiden einander vor. 8 »Evelyn James, unsere Spurensicherungsexpertin von der Gerichtsmedizin. Evie, das ist David Milaski. Er wird so lange mit mir arbeiten, bis er mich umgebracht hat. Denn er ist dafür bekannt, dass er seine Partner nicht schont.« Evelyn lächelte, weil sie die Bemerkung für einen Witz hielt. Milaski offensichtlich nicht. »David ist übrigens neu bei der Mordkommission. Heute ist sein erster Tag bei uns.« »Ein verdammt harter Anfang«, sagte Evelyn und sah ihn mitfühlend an. Milaski zuckte nur mit den Schultern. Riley klopfte seinem neuen Partner auf den Rücken und brachte ihn leicht ins Schwanken. »Es könnte schlimmer sein, Milaski«, sagte er. »An Evelyns erstem Arbeitstag explodierte der Kessel bei Hanna’s im Playhouse Square Center. Das ganze Restaurant ist in die Luft geflogen.« »Sag’s nicht«, stöhnte Evelyn. »Drei Schauspielerinnen haben dabei nicht nur ihre kleinen Rollen verloren. Na ja ...«, wechselte er das Thema. »Jedenfalls haben die Bautaucher am Fundament des mittleren Brückenträgers oder wie das Ding heißt ...« »Pylon«, warf Milaski ein. »Na gut. Ein Taucher ist direkt in sie hineingeschwommen, weil sie aufrecht dastand. Vor Angst hätte er sich fast in die Hosen geschissen.« Evelyn ging neben dem toten Mädchen in die Hocke. In ihre Nase drang der schwache, aber penetrante Geruch von verwestem Fleisch. Die Tote muss zu Lebzeiten hübsch gewesen sein, dachte Evelyn. Hohe Wangenknochen betonten weit auseinander stehende Augen, die jetzt verschleiert und glanzlos waren. Ihre schlanke Gestalt wirkte straff. Sie war etwa so groß und schwer wie ihre Tochter Angel und hatte die gleichen zierlichen Handgelenke. Dünne Ketten 9 fesselten diese Gelenke und schlängelten sich um die Taille und den Hals, ehe sie im Zement verschwanden. Evelyn fluchte, was nicht ihre Art war, und sagte dann: »Jemand wollte bombensicher sein, dass dieses Mädchen nicht gefunden wird.« »Ja«, sagte Milaski leise und beugte sich neben ihr über die Leiche. Unter seinem offenen Mantel trug er ein noch neues, recht steifes Jackett. »Aber warum?« »Sag mir lieber«, warf Riley ein, »warum dieses Mädchen Mitte November Shorts anhat? Das ist doch höchst interessant.« Die tote junge Frau war etwa eins sechzig groß und Anfang zwanzig, schätzte Evelyn, war sich aber nicht sicher. Je älter sie selbst wurde, umso jünger sahen für sie andere Menschen aus. Doch gleich welchen Alters – sie schienen alle viel zu jung zum Sterben zu sein. Von der Straße hörte man Gelächter. Die Journalisten drängelten sich bereits hinter der Polizeiabsperrung. Milaski warf einen Blick in diese Richtung und fragte den älteren Detective: »Können diese Leute die Tote von dort aus fotografieren? Ich will nicht, dass die Eltern dieses Mädchens ihre Tochter in den 18-Uhr-Nachrichten präsentiert bekommen.« »Nein, das Ufer fällt zu steil ab. Solange die Reporter hinter der Absperrung bleiben, ist alles okay.« Evelyn zog Handschuhe an und griff nach der gefesselten und steifen Hand der Toten. Das kalte Wasser hatte den Verwesungsprozess tatsächlich erheblich verlangsamt. Wie Firnis bedeckte Eis ihre ansonsten pflaumenweiche Haut. Milaski unterbrach ihre Gedanken: »Wollen Sie nicht auf den Pathologen warten?« »Sie sehen wohl zu viele Krimis?«, spottete Evelyn, merkte aber, dass ihn der Scherz zu verwirren schien, und fügte, 10 etwas nachsichtiger, hinzu: »Die Pathologen kommen nie, oder fast nie, an den Tatort. Sie bleiben in der Gerichtsmedizin und führen dort die Autopsien durch. Ich bin zwar keine Ärztin, aber hier am Tatort bin ich die Gerichtsmedizinerin.« Milaski nickte nur und wandte sich wieder dem Opfer zu. Ein Stück Klebeband hing noch an einer Wange der Toten. Die Strömung hatte es wohl von ihrem Mund gelöst. Evelyn bemerkte eine leichte Druckstelle, die von der Nasenmitte zum linken Jochbein verlief. Ihre Fingernägel waren kurz geschnitten, drei davon abgesplittert. Von den Ketten hatte sie an beiden Handgelenken und am Hals violette Striemen. Die Halsstriemen wären jedoch tiefer gewesen, hätte der Mörder sie stranguliert. Evelyn untersuchte flüchtig den Kopf der jungen Frau, fand aber unter dem Haar weder klaffende Wunden noch andere Verletzungen. Ein Pathologe würde die Todesursache feststellen müssen, da es aber keine Anzeichen für äußere tödliche Verletzungen gab, ging Evelyn davon aus, dass das Mädchen lebend ins Wasser geworfen worden und ertrunken war. Wer konnte so etwas tun? Wer konnte einen Menschen auf diese unbeschreiblich grausame Weise töten? Ihm die Qualen des langsamen Ertrinkens zumuten? Dem Gefühl der Ohnmacht und des im eisigen Wasser allmählich erstarrenden eigenen Fleisches aussetzen? Evelyn hatte Opfer von Messerstechereien, Schlägereien, Schießereien untersucht, ein Baby mit tödlichen Verbrennungen und eine Fünfzehnjährige, die von ihrem Freund vom Balkon eines Hauses im vierten Stock gestoßen worden war. Doch dieses Verbrechen war zu entsetzlich, zu ungeheuerlich, sie wäre am liebsten davongelaufen. 11 Evelyn richtete sich auf und rutschte auf dem glitschigen Lehm aus. Milaski griff schnell nach ihrem Arm und stützte sie. »Sind Sie okay?« »Ja!«, fuhr sie den Detective an, viel zu grob, wie sie selbst spürte, aber sie war plötzlich nur noch wütend. »Haben Sie sich schon eine Meinung gebildet?« Er ließ ihren Ellbogen los, als sie wieder festen Boden unter den Füßen hatte. Evelyn holte tief Luft und antwortete in einem freundlicheren Ton: »Sie könnte ertrunken sein. Sie könnte aber auch schon tot gewesen sein, ehe sie ins Wasser geworfen wurde. Gestorben an einer Überdosis Drogen oder was auch immer, und jemand wollte nur ihre Leiche loswerden. Sie kommt vielleicht aus einem wärmeren Staat und ist hier nur entsorgt worden. Das würde die Shorts erklären. Dann muss der Transport der Leiche aber sehr schnell vonstatten gegangen sein, sonst wäre die Tote stärker verwest. Die äußere Zellschicht der Haut fängt erst an, sich abzulösen. Also hat sie höchstens ein paar Tage im kalten Wasser gelegen. Bei höheren Temperaturen hätte sich die Epidermis bereits innerhalb weniger Stunden abgelöst.« »Was meinen Sie, wie lange ist das Mädchen schon tot?« »Im Allgemeinen gilt die Regel, dass eine Leiche, die zwei Wochen im Wasser liegt, dieselben Zersetzungserscheinungen aufweist wie eine Leiche, die eine Woche lang der Luft ausgesetzt war. Doch das müssen Sie den Gerichtsmediziner fragen. Und da das kalte Wasser den ganzen Prozess verlangsamt hat, wird es sogar einem Experten schwer fallen, den genauen Todeszeitpunkt zu bestimmen.« Ihr Blick schweifte über den Fluss. Das Plätschern des Wassers klang wie ein Flüstern, als verspotte er sie wegen des Geheimnisses, das er vor ihr verbarg. 12 »Was ist mit dem Eimer?«, fragte Riley. »Darin waren Chlor-Tabs.« »Vielleicht hat der Täter einen Pool«, mischte sich Milaski ein. »Können wir die Herkunft der Ketten zurückverfolgen?« Evelyn schaute ihn an, ohne ihn wirklich zu sehen. Sie dachte an die Familie der jungen Frau, an diese Menschen, die Antworten auf ihre Fragen verlangen würden. »Wir können alle Baumärkte und Do-it-yourself-Läden in der Gegend abklappern, klar. Sollten wir dieselbe Marke finden, können wir die Ketten, die Zusammensetzung des Materials und die Fabrikationsmerkmale vergleichen. Aber bringt uns das weiter?« »Und was ist mit dem Zement?« »Soviel ich weiß, ist Zement gleich Zement«, sagte Evelyn resigniert. »Aber bestimmt gibt es irgendwo im Land einen Experten, der gern einen Blick darauf werfen würde und für seine Expertise mehr Honorar pro Stunde verlangt, als ich in einer Woche verdiene. Zement wird in großen Mengen hergestellt, also würde Ihnen eine Analyse nichts nützen, es sei denn, Sie haben einen Verdächtigen – einen Verdächtigen mit einem Vorrat an Zement zum Vergleich.« »Geben Sie mir Zeit«, sagte Milaski, »und ich finde den Mörder.« Evelyn sah ihn erstaunt an. Sie war sich nicht sicher, ob sie seinen Optimismus begrüßen oder dumm finden sollte. »Ich will ganz ehrlich sein, Miss James«, fuhr Milaski fort und beugte sich vor. »Ich lebe bereits mein fünftes Katzenleben. Und als streunender Kater kann ich es mir nicht leisten, meinen ersten großen Fall zu vermasseln. Also werde ich mir diesen Kerl schnappen.« Sollte Milaski geglaubt haben, Evelyn würde sich für ihn erwärmen, weil er sich ihr gegenüber verletzlich zeigte, hatte er sich verrechnet. 13 »Diese junge Frau ist kein großer Fall«, entgegnete Evelyn. »Sie war ein Mensch, der eine Familie, einen Job und eine Vergangenheit hatte und der seiner Zukunft beraubt wurde. Und es heißt Missis«, fügte sie betont hinzu und stellte mit leichter Genugtuung fest, dass seine Ohren rot wurden – sicher nicht von der Kälte. »Mrs. James. Und wie wär’s, wenn Sie Ihre Männer von der Brücke abziehen würden, damit ich noch ein paar Aufnahmen vom Tatort machen kann, bevor ich Frostbeulen an den Füßen kriege, Detective?« »Scheiße«, sagte Riley plötzlich. »Was macht der denn hier?« 14 2 Er wird nicht mit mir reden, dachte Evelyn. Er hat seit siebzehn Jahren nicht mehr mit mir geredet. Daryl Pierson, der Bürgermeister von Cleveland, näherte sich der Uferböschung mit kleinem Gefolge und dem Staatsanwalt des County im Schlepptau. Das Gesicht des afroamerikanischen Bürgermeisters strahlte Besorgnis aus. Vor dem durchhängenden gelben Polizeiband blieb er stehen und rief Evelyn in einem Ton zu, als hätten sie sich mittags zum letzten Mal gesehen: »Sag mir, wo ich mich hinstellen soll, Evie. Damit ich am Tatort kein Unheil anrichte.« Evelyn hatte gehofft, dass dieses Wiedersehen an einem strahlenden Tag stattfände und sie ihn in einem tief ausgeschnittenen Cocktailkleid und mit perfektem Make-up begrüßen würde. Stattdessen stand sie in ihrem alten blauen Parka und mit nassen rötlichen Locken da und brachte kein Wort über ihre von der Kälte rissigen Lippen. So viel zu Fantasievorstellungen, dachte sie. Ich kann den Mann nicht einfach ignorieren. Schließlich haben wir uns einmal geliebt, auch wenn wir damals fast noch Teenager waren. Evelyn setzte ihre eiskalten Füße in Bewegung. Riley ging neben ihr her, Milaski folgte den beiden. Oben, auf der Uferböschung, trafen die drei auf den Bürgermeister und den Staatsanwalt, Harold Rupert. Als Mann mittlerer Größe und mittlerer Statur schaffte es Pierson 15 trotzdem irgendwie, alle Anwesenden zu überragen. Mit gestrafften Schultern stand er da in einem perfekt sitzenden, aber altmodisch geschnittenen Mantel und musterte mit starrem Blick die drei Ankommenden. Seine Augen waren müde, und Evelyn sah darin gelbe Sprenkel, kleine fragile Pünktchen, jene Tupfer der Verwundbarkeit. Es waren Katzenaugen, wachsam, aber auch ein bisschen kalt. »Wie ist es dir so ergangen?«, fragte er ernst, als hinge sehr viel von ihrer Antwort ab. »Gut. Prima.« Evelyn räusperte sich. Ihre Nase lief von der Kälte, und sie kramte ein Papiertaschentuch aus ihrem Parka. »Ich habe gehört, dass du dich hast scheiden lassen. Das tut mir Leid.« »Ach, das ist Schnee von gestern. Wirklich, ich fühle mich großartig.« In diesem Moment unterbrach Riley die Unterhaltung der beiden, entweder, weil er seine Kollegin aus einer eindeutig peinlichen Situation retten wollte oder weil er einfach die Geduld verlor. »Hat man Sie über die Umstände hier aufgeklärt?«, fragte er Pierson. Der Bürgermeister nickte. »Leider deuten Zementschuhe auf eine beliebte Entsorgung von Leichen bei der Mafia hin, nicht wahr?« »Natürlich ermitteln wir auch in diese Richtung«, sagte Riley schnell. »Gibt es in Cleveland überhaupt noch eine Mafia?«, fragte Evelyn und putzte sich mit dem zerknitterten Taschentuch die Nase. »Ohne jeden Zweifel«, mischte sich Staatsanwalt Harold Rupert ein und unterstützte damit eilfertig Piersons Hypothese. »Die Mafia-Familien halten sich hier allerdings zu16 rück, weil sie nur auf diese Weise überleben können. Sagt Ihnen der Name Danny Green etwas? Oder Libertore? Sie sollten vorsichtig sein, wenn Sie denen auf die Füße treten.« »Seit wann trete ich jemandem auf die Füße?«, protestierte Evelyn. »Und von wem sprechen Sie eigentlich?« »Na ja«, meinte der Staatsanwalt ausweichend, senkte die Stimme und beugte sich über das Polizeiband, als wollte er sich darauf stützen. »Ich habe da konkret zwei Männer im Auge, beide Mitglieder rivalisierender Familien. Zum einen Armand Garcia. Er kontrolliert den Westteil der Stadt. Jedes Mal, wenn wir etwas gegen ihn in der Hand haben, leidet der Zeuge plötzlich an Gedächtnisschwund. Oder Beweismittel verschwinden auf mysteriöse Weise. Und der Osten wird von Mario Ashworth beherrscht.« Der Bürgermeister nickte und sah Evelyn noch immer an. Milaski schwieg. Evelyn kannte diesen letztgenannten Namen – jeder in Cleveland kannte ihn. Ashworth Property Management, The Ashworth Fund, Ashworth Construction – zu den aktuellen Projekten gehörten der Neubau der Brook Park High School, die Neugestaltung des Aquariums und der SouthFork Mall Annex. Eine Menge Geld und großes Renommee steckten dahinter. Kein Wunder, dass sich der Staatsanwalt und der Bürgermeister aus ihren warmen Büros hierher begeben hatten. »Er gehört zur Mafia?« Harold Rupert lachte leise über Evelyns Naivität. »Er selbst ist der Big M. Warum, glauben Sie, bekommt er die fettesten Aufträge? Ihm gehört ein Stück von jedem Kuchen im Norden Ohios«, sagte er und wandte sich dem ranghöheren Detective zu. »Hören Sie, Riley – dieser Fall muss gelöst werden, und zwar schnell. Sollten die Herren 17 von der organisierten Kriminalität vorhaben, die Stadt zurückzuerobern, haben sie sich geirrt. Wir müssen eine geeinte Front bilden und zurückschlagen – hart«, verkündete er mit dem perfekten Maß an Rechtschaffenheit. Evelyn wusste, dass er schon im Geist sein Foto auf der Titelseite der Cleveland Today mit der Unterschrift »Der gnadenlose Mafia-Jäger« sah. »Kritisieren Sie ihn nicht zu laut. Es könnte sein, dass er auch das neue Gebäude der Gerichtsmedizin baut«, antwortete der Bürgermeister und grinste Evelyn dabei an. »Wir werden das organisierte Verbrechen also von einem Haus aus bekämpfen, das eine Firma gebaut hat, deren Inhaber zur Mafia gehört?«, fragte Evelyn. »Dieser Gedanke hat doch einen gewissen Reiz. Er ist geradezu pikant, oder nicht?« »Auf diesen Reiz pfeife ich, aber ich würde sogar in ein vom Teufel gebautes Gebäude ziehen, wenn wir nicht mehr in dieser Bruchbude arbeiten müssten, in der unsere Behörde zurzeit untergebracht ist.« »Der Stadtrat wird natürlich auch die Bewerbung der Firma Jurgens Limited unterstützen«, sagte Harold Rupert und wahrte damit vorsichtig seine politische Korrektheit. Jurgens war zufällig das größte von einer Minorität geführte Bauunternehmen. »Deren Kosten sind außer Kontrolle geraten«, sagte Daryl Pierson. »Reuters Limited hat zwar das beste Angebot gemacht, aber die Firma hat den schlechtesten Ruf in der Branche. Und North Coast macht sich selbst etwas vor, wenn die Geschäftsleitung glaubt, sie könne ein Projekt dieser Größenordnung allein realisieren. Bleibt also nur Ashworth. Ob Mafioso oder nicht – Ashworths Gebäude sind energiesparend und haben noch nie Mängel aufgewiesen.« 18 Riley zündete sich eine Zigarette an. Evelyn fiel auf, dass jedes Mal, wenn der Name Ashworth fiel, seine Halsmuskeln wie Stränge hervortraten. »Das kann doch nicht Ihr Ernst sein«, sagte er empört. »Diese Tatsache begeistert mich ebenso wenig wie Sie, Detective«, entgegnete Pierson. »Aber ich entscheide nicht allein über die Auftragsvergabe, und außerdem ist jetzt wohl kaum der richtige Zeitpunkt, um über derartige Dinge zu diskutieren. Ich sehe doch, wie beschäftigt Sie alle sind, und es wird noch mehr Wirbel geben, wenn sich die Presse auf diese Geschichte stürzt.« »Die ist schon da«, sagte Riley und nickte in Richtung Straßenkreuzung. »Ich weiß«, antwortete Bürgermeister Pierson. Harold Rupert eilte – einer gierigen Ameise gleich, die zum Zucker will – zu den wartenden Kameras und Mikrofonen. Pierson sah ihm nach und fragte Evelyn dann: »Wie geht’s Angel?« »Großartig«, sagte sie und spürte, dass Milaski unruhig wurde. Wahrscheinlich, weil er sich langweilte oder weil er die Lage sondiert hatte und ein Minenfeld witterte. Deshalb fügte sie hinzu: »Eure Tochter Destiny muss doch auch schon fast erwachsen sein.« »Ja. Sie ist jetzt siebzehn und benimmt sich, als wäre sie dreißig. Meistens treibt sie sich in der Tower City Mall herum. Ich darf nur noch ihre horrenden Handy-Rechnungen bezahlen. Und von ihrer Mutter will sie auch keinen Gutenachtkuss mehr. Gestern hat sie sich einen Finger gebrochen und musste zum ersten Mal in die Notaufnahme. Da hat sie uns gebraucht, und wir durften sie endlich mal wieder verwöhnen.« Er schüttelte den Kopf. »Sag mal, kommt ihr – du und Riley – heute Abend zu der Wohltätigkeitsveranstaltung? Entschuldigen Sie, wie war doch gleich ...« 19 »Milaski. David Milaski. Detective bei der Mordkommission.« Milaski sah den Bürgermeister teilnahmslos an. Er war ungeduldig, wollte zum Tatort zurück. Evelyn erging es inzwischen ebenso, wenn auch aus anderen Gründen. »Ich brauche die Unterstützung aller Behörden, damit ich die Bundespolizei dazu bewegen kann, etwas für unsere Organisation zu spenden. Wie wär’s, Evelyn? Es gibt jede Menge Champagner und das beste Essen in der Stadt.« »Du weißt, wie gern ich dich und Danielle wiedersehen würde.« War es ihr tatsächlich gelungen, ihre Worte nicht ironisch klingen zu lassen? »Aber ich habe hier sicher noch eine Weile zu tun.« Evelyn verstummte. Es schneite noch immer. Nur das Klicken der Kameras und die monotone Stimme des Staatsanwalts waren jetzt noch zu hören. In dem kleinen Tal herrschte eine Stille, als hätte der Schnee den Ort in einen Kokon gehüllt, abgeschirmt vom Lärm der Großstadt. »Bestimmt wird sich der Gerichtsmediziner mit dir in Verbindung setzen, sobald die Leiche identifiziert wurde.« »Danke.« Daryl Pierson blieb hinter dem Absperrband stehen, während Evelyn zurück zur Leiche ging, Zuflucht bei einem toten Mädchen suchte. Na, das war doch gar nicht so schlecht, dachte sie. Schließlich sind wir auf dem College nur zwei Jahre miteinander gegangen. Zieh endlich einen Schlussstrich unter die Geschichte! Als sie zurückschaute, war Daryl verschwunden. Fast erleichtert zog sie ein neues Paar Handschuhe über, berührte den eiskalten Unterarm der jungen Frau und drehte die Handfläche nach oben. Keine Einstiche, die auf Drogen schließen ließen. Unter ihrem T-Shirt trug sie einen Büstenhalter. Winzige Diamanten funkelten an ihren 20 Ohren. Um den Hals trug sie ein dünnes Goldkettchen und an der rechten Hand einen sternförmigen Saphir. Keinen Ehering. David Milaski hockte sich so dicht neben sie, dass sich ihre Knie berührten. »Darf ich Sie etwas fragen?« Evelyn starrte den Detective an und dachte: Wage es ja nicht, dich über Daryl Pierson zu äußern! »Sie haben vorhin gesagt, die Tote habe eine Familie und einen Job gehabt. Woher wissen Sie das?« Evelyn verdrängte Daryl aus ihren Gedanken. »Okay, es ist eher eine Vermutung. Ihrem Aussehen nach war die junge Frau weder obdachlos oder unterernährt noch ist sie mit Nadelstichen übersät. Ihr Haar und ihre Fingernägel sind gepflegt und ihre Kleidung ist weder fleckig noch voller Löcher. Sie war also auch nicht arm, das beweist schon der Schmuck, den sie trägt. Somit hatte sie entweder einen anständigen Job oder eine Familie, die für sie gesorgt hat und sie jetzt vermissen wird. Die meisten jungen, gesunden Menschen haben beides. Deshalb dürfte es nicht zu lange dauern, ihre Identität festzustellen.« »Genügt das denn? Nur jung und gesund zu sein, um identifiziert zu werden? Und was passiert, wenn man alt ist und zu viel trinkt?« Evelyn warf Milaski einen halb spöttischen, halb mitfühlenden Blick zu. »Dann könnte es durchaus sein, dass eine solche Person nicht vermisst wird.« »Das passt auf mich wie die Faust aufs Auge«, sagte er mit leiser Stimme. Ein paar Stunden später goss Evelyn im flauschigen Pyjama und in dicken Wollsocken die Pflanzen in ihrem Wohnzimmer und dachte an Daryl Pierson. 21 Einerseits hatte sie das Gefühl, mit knapper Not einem Desaster entkommen zu sein, andererseits glaubte sie manchmal, eine Zukunft verpasst zu haben, die ihr vielleicht bessere Möglichkeiten geboten hätte. Evelyn und Daryl hatten sich in ihrem zweiten Studienjahr an der Cleveland State University kennen gelernt. Sie hatte ihm Kaffee über sein Notizbuch geschüttet. Er mochte sie, weil sie nie vorgab zu verstehen, wie es ist, schwarz zu sein. Und sie mochte ihn, weil er mit ihr redete, ohne ständig auf ihren Busen zu starren. Ihre Affäre war innig und gefühlvoll – der Bruch aber schnell und unerwartet gewesen. Ihrer beider Herkunft hätte gegensätzlicher nicht sein können. Daryl kam nicht aus dem üblichen kleinkriminellen Ghetto, sondern richtig aus der Gosse, einer Umgebung, in der die Gesetze des Dschungels herrschten und von der er ihr nur bruchstückhaft erzählte. In den Jahren nach ihrer Trennung hatte sie sich insgeheim immer über seinen Erfolg gefreut. Er hatte erreicht, wofür er seit seiner Jugend fast fanatisch gearbeitet hatte. Er hatte es sich redlich verdient, zu den hohen Tieren zu gehören. Alles war bestens gelaufen, oder nicht? Und hätte sie nicht Rick geheiratet, wäre nicht die einzigartige Angel entstanden. In diesem Augenblick kam ihre Tochter wie auf ein Stichwort hin ins Haus gestürmt. Evelyn fragte sich oft, in welcher abstrusen Fantasiewelt sie gelebt hatte, als sie ihr Kind Angel genannt hatte. Der Name hatte nie zu ihr gepasst. Statt sich zu einem sanftmütigen, vergeistigten blonden Engel zu entwickeln, war aus Angel ein Geschöpf mit Ricks rabenschwarzem Haar und seinem Hang, Unheil anzurichten, geworden. Angel murmelte einen Gruß, schob die Post auf dem Küchentisch beiseite, setzte sich und kramte in ihrer 22 UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE Elizabeth Becka Mit dem letzten Atemzug Roman Taschenbuch, 368 Seiten, 12,0 x 18,7 cm ISBN: 978-3-453-35133-2 Diana Erscheinungstermin: Mai 2006 Evelyn James von der forensischen Spurensicherung in Cleveland wird an den Tatort eines brutalen Verbrechens gerufen. Aus dem Fluss wird die Leiche einer jungen Frau geborgen. Ihre Füße stecken in einem schweren Zementeimer, der Körper ist mit Ketten gefesselt. Die Obduktion ergibt, dass die Frau lebend ins Wasser geworfen wurde und bis zum letzten Atemzug gekämpft haben muss. Vom Bürgermeister unter Druck gesetzt, ermitteln die Detectives Riley und Milaski in alle Richtungen, während Evelyn unerlaubterweise einer ganz anderen Spur folgt. Einer Spur, durch die sie in die Fänge des Mörders gerät …