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MUSIKWISSENSCHAFT IM DIALOG ___________________________________________________________________________ 10. . . / . 11. : . .: , 1992. 230 . / . . , 2001. 296 . »/ . . . . 12. 3. . . 79-86. « » « : - // . . . 1961. . . , . : , , . . . , . : , , . Aleksandr Zharkov. Syntactic aspects of research of a timbre. Article is devoted separate aspects of studying syntax, and to its difficult interaction with other syntactic elements. Key words: timbre, syntax, timbral syntax. Karsten Lehl, RSH Dusseldorf WENN FUNKTIONALE MUSIK SICH VERWEIGERT DIE KUNST DER NEGATIVEN ZUSTIMMUNG Die weit ins 19. Jahrhundert zuruckreichende Tradition des solistischen Ensemblegesangs in Deutschland, insbesondere in Form des Mannerquartetts, stand Mitte der 1920er Jahre kurz vor ihrem Ende: Das Repertoire war altmodisch bis reaktionar, und die bekanntesten Gruppen, die das Genre noch vertraten, wie etwa das Nebe-Quartett, das Leipziger Mendelssohn-Quartett oder die Stettiner Sanger, blickten zu diesem Zeitpunkt auf Karrieren zuruck, die zum Teil bereits vor der Jahrhundertwende begonnen hatten. Insgesamt wirkte das Genre muffig und verstaubt. Dies anderte sich, nachdem im Fruhjahr 1926 in Deutschland wie im ubrigen Europa erstmalig eine Schallplatte des amerikanischen Quartetts The Revelers erschien, die bewies, dass moderne Tanzmusikformen und Quartettgesang durchaus zu vereinbaren waren. In der Folge entstanden zahllose neue Formationen, und insbesondere der deutschsprachige Raum begeisterte sich fur das Genre. Vokalharmonische Unterhaltungsmusik der 1930er Jahre ist heutzutage untrennbar mit dem Namen Comedian Harmonists verknupft. So erfolgreich diese Gruppe zweifellos auch - PAGE 32 - THEORETISCHE PROBLEME DER MUSIKWISSENSCHAFT IM SPIEGEL DER KULTUROLOGIE ______________________________________________________________________________________________________ war, ist doch deren Alleinvertretungsanspruch fur eine ganze Musikrichtung durchaus nicht gerechtfertigt. Uber 60 Formationen sind im deutschsprachigen Raum in der Zeit zwischen 1928 und 1943 auf Schallplatten zu finden dies wohlgemerkt zu einer Zeit, als der Umsatz der Schallplattenindustrie nur einen Bruchteil seines Umsatzes der spateren Jahrzehnte ausweisen konnte: So wurden etwa 1935 in Deutschland insgesamt nur 5 Millionen Schallplatten umgesetzt1. Eine mindestens ebenso gro?e, vermutlich aber weitaus gro?ere Zahl von Gruppen wirkte bei Rundfunksendern und in Varietes und Kabaretts. Ich mochte hier den Werdegang und die musikalische Asthetik speziell einer dieser Gruppen herausgreifen, da diese mir aus mehreren Grunden bemerkenswert erscheint. Zunachst ei nmal ist festzustellen, dass die Humoresk Melodios eines der erfolgreichsten Ensembles ihrer Zeit waren. Zumindest zu Beginn ihrer Karriere waren sie in Film und Rundfunk sowie auf der Buhne gegenwartig, und sie waren die letzte Gruppe im sogenannten «Gro?deutschen Reich» uberhaupt, die noch im Fruhjahr 1943 fur Konzerte und Schallplattenaufnahmen beschaftigt wurde, obgleich sie bei offiziellen Stellen zu diesem Zeitpunkt langst in Ungnade gefallen waren. Dabei nahmen die einzelnen Mitglieder der Gruppe, die auch Jahrzehnte spater zum gro?en Teil noch fur langere offene und ausfuhrliche Gesprache zur Verfugung standen, auch in der Retrospektive weder fur sich in Anspruch, einen wesentlichen, kulturell bedeutenden Beitrag zur Musik geleistet zu haben, noch, durch bewusste kunstlerische Stellungnahme besondere Distanz zum nationalsozialistischen Regime ausgedruckt zu haben. Dies ist angesichts der wiederholten Zusammensto?e mit der rechten Politik, des von der Gruppe oft genug an den Tag gelegten provokanten Verhaltens und der bisweilen geradezu subversiven Asthetik ihrer Arrangements umso erstaunlicher. Es scheint mir zum Verstandnis der gruppeninternen Motivationslagen dienlich, eine kurze biographische Skizze zu liefern. Im Fruhjahr 1932 schlossen sich vier Abiturienten eines Berliner Gymnasiums zusammen, um beim Abschlussball ihres Jahrgangs einige Lieder der Comedian Harmonists nachzusingen. Dies waren Olaf Meitzner (19132004), Wolfgang Leuschner (*1912), Heinz Raetz (1913-1943?) und Werner Rossler (1913-1941). Einen Pianisten fanden sie in Werner Doege (1911-1995), der im Jahr zuvor dort seinen Abschluss gemacht hatte und nun an der Technischen Hochschule studierte. Der erste Auftritt der Harmony Boys, wie die Gruppe sich nannte, war nicht nur au?ergewohnlich erfolgreich, er war auch 1 siehe hierzu Martin Elste: Zwischen Privatheit und Politik. Die Schallplatten-Industrie im NSStaat. In: Hanns-Werner Heister und Hans-Gunter Klein (Hrsg.): Musik und Musikpolitik im faschistischen Deutschland. Frankfurt a.M.: Fischer 1984, S. 110. - PAGE 33 - MUSIKWISSENSCHAFT IM DIALOG ___________________________________________________________________________ zugleich der einzige in der originalen Besetzung. Die vom aufkommenden Nationalsozialismus begeisterten Eltern Heinz Raetz namlich waren mit den unterhaltungsmusikalischen Tendenzen ihres Sohnes durchaus nicht einverstanden, da ihnen dies mit der fur ihren Sohn avisierten Karriere im neuen Deutschland unvereinbar schien, und forderten sein sofortiges Ausscheiden. Wenige Jahre spater war Raetz dann zu einem Vertrauten des Reichsjugendfuhrers der SS Arthur Axmann aufgestiegen und wohl als Denunziant und Mithelfer an den Verhaftungen der sogenannten Hamburger «Swingjugend» ma?geblich beteiligt. Als Ersatz fur ihn wurde Erich Bergau (1912-1993) gewonnen, den Meitzner und Leuschner vom Freizeitsport in einem Ruderklub her kannten. Wahrend eines gemeinsamen Urlaubs an der Ostsee schlossen die Harmony Boys Bekanntschaft mit dem Berliner Orchesterleiter Marion Toews, und im September 1932 entstanden erste Schallplattenaufnahmen der Gruppe als Refrainsanger fur das Orchester. Trotzdem blieb das Ensemble fur die Beteiligten ein Hobby, und das Angebot der Deutschen Grammophon Gesellschaft fur einen Exklusivvertrag im Februar 1933 kam vollig uberraschend. Im Verlaufe des Jahres nahmen sie 20 Plattenseiten fur die Firma auf, von denen schlie?lich 16 veroffentlicht wurden. Schnell machte die Gruppe ein zweites Mal Bekanntschaft mit der Politik: Den Harmony Boys wurde nahegelegt, den Zeichen der Zeit folgend den englischen Gruppennamen durch einen deutschen zu ersetzen. Schlie?lich erschienen ab Juni 1933 neue Aufnahmen der Gruppe unter dem Namen Die Fidelios, doch war der Konflikt damit nicht beendet, nachdem (mit den Worten Olaf Meitzners) einige Funktionare «die hehrene Oper Ludwig van Beethovens nicht fur Unterhaltungszwecke missbraucht» sehen wollten. Der weiter schwelende Streit um den Namen wurde obsolet, als sich die Gruppe nach einigen Konzerten in Holland, die zum Teil nach erheblichen Storungen durch deutsch-judische Emigranten abgebrochen werden mussten, aufloste. Es war intern zum Streit uber die kunstlerische Ausrichtung des Ensembles gekommen, und so grundeten Doege und Leuschner eine neue Gruppe mit Namen «Die Melodisten», wahren die ubrigen drei «Fidelios» mit dem Bariton Herbert Imlau (1904-1983) und dem Pianisten und Komponisten Fried Walter (1907-1996) ab sofort unter dem Namen Humoresk Melodios fungierten in Anlehnung an populare Kompositionen diesmal nicht Beethovens, sondern Dvo aks und Rubinsteins! Als letzte Schallplatte der Fidelios (und zugleich deren meistverkaufte) erschien 1933 eine deutsche Version des amerikanischen Schlagers «Crazy People» unter dem Namen «So meschugge»; der heute 97-jahrige Tenor Wolfgang Leuschner erinnert sich noch immer mit Vergnugen daran, dass das offensichtlich jiddische - PAGE 34 - THEORETISCHE PROBLEME DER MUSIKWISSENSCHAFT IM SPIEGEL DER KULTUROLOGIE ______________________________________________________________________________________________________ Lehnwort im Titel nach den vorangegangenen Diskussionen um arisch-deutsche Namensgebung niemandem auffiel: «Das war unser Abschiedsgeschenk». Der neue Pianist der Humoresk Melodios, Fried Walter, hatte bei Arnold Schonberg Komposition studiert und bereits im Jahr 1931 bei den Comedian Harmonists als Korrepetitor ausgeholfen. Er war von den deutlichen musikasthetischen Vorstellungen, die die Humoresk Melodios zu diesem Zeitpunkt bereits hatten, nicht sonderlich angetan, wie ein Tagebucheintrag Walters zeigt, in dem er die ersten Proben beschreibt: «Sie wollten wie die Comedian Harmonists alles im Tempo durchsingen und nichts verzogern oder im Tempo nuancieren, auch sollte moglichst viel 4stimmig gesungen werden und die Melodie nicht in kleine Teile durch abwechselnde Solis [sic!] aufgeteilt werden. In der Folge mu?te ich viel Demutigungen ertragen [...]»1. Bereits die erste solistische Aufnahme des neuen Ensembles, «Wir ziehen durch die Heimat»2, macht die kunstlerische Ausrichtung der Gruppe deutlich. Es handelt sich hierbei um einen typischen Schlager im Sinne der NS-Kulturpolitik, der mit seinem Marschrhythmus und der Verherrlichung von Heimat auch in einem HJLiederbuch muhelos Platz gefunden hatte3. Wie subtil die Interpretation der Humoresk Melodios diesem Schlager eine kulturpolitisch erwunschte Lesart verweigert, zeigt vor allem die Betrachtung des Refrains in seinen verschieden arrangierten Wiederholungen. So stellt der erste Refrain die Melodie in homophonem Satz ohne auffallige musikalische Verzierungen oder Erganzungen vor. Auffallig ist hier bei genauem Hinhoren jedoch die fur die Humoresk Melodios typische Satztechnik, bei der im Gegensatz zum klassischen deutschen Mannerquartett die Melodie uberwiegend nicht in der Oberstimme liegt, sondern in einer der Mittelstimmen laut Olaf Meitzner geschah dies nach dem Vorbild der Mills Brothers, einer damals weltbekannten Gruppe, die als US-Amerikaner nicht nur in der Tradition von Barbershop und Jazz standen, sondern daruber hinaus auch noch von dunkler Hautfarbe waren, also dem arisch-deutschen Volksliedideal so entgegengesetzt wie moglich. Im weiteren Verlauf des Liedes wird der Schlager mit rein musikalischen Mitteln immer weiter bis ins Groteske hinein ubersteigert. So findet sich im Refrain der 1 Eintrag vom Januar 1934: «Die Fidelios». Samtliche Tagebucher Fried Walters befinden sich im Fried-Walter-Archiv, Remscheid. 2 Willy Engel-Berger: Wir ziehen durch die Heimat (Text: Willy Dehmel). Die Humoresk Melodios. Grammophon 10190 (mx. 2308? GN), aufgenommen Berlin, 21.2.1934. 3 Volker Kuhn zieht unter anderem dieses Lied als Beispiel fur einen neuen Schlagertypus wahrend der NS-Zeit heran. Siehe hierzu Volker Kuhn: «Man mu? das Leben nehmen, wie es eben ist ...». Anmerkungen zum Schlager und seiner Fahigkeit, mit der Zeit zu gehen. In: Hanns-Werner Heister und Hans-Gunter Klein (Hrsg.): Musik und Musikpolitik im faschistischen Deutschland. Frankfurt a.M.: Fischer 1984, S. 214. - PAGE 35 - MUSIKWISSENSCHAFT IM DIALOG ___________________________________________________________________________ zweiten Strophe zunachst als Begleitung der Melodie eine vokalparodistische Fanfare nebst Bass, spater die Steigerung des Ausdrucks bis an die Grenze des gebrullten Befehlstones, schlie?lich eine an Massenszenen der romantischen Oper gemahnende Vokalpolyphonie eine ernsthafte Umsetzung des Schlagers sahe sicherlich anders aus, auch wenn ein wesentlicher Teil der eingesetzten musikalischen Mittel durchaus der neuen, «braunen» Asthetik entsprach. Im Sommer 1934 schied Herbert Imlau aus der Gruppe aus; Olaf Meitzner merkte dazu an: «Er jammerte immer, dass er als studierter Bariton doch nicht solche Unterhaltungsmusik machen konne, da hab ich ihm gesagt: Wenn s dir nicht passt, dann geh doch! ». Olaf Meitzner ubernahm ab sofort den BaritonPart, dafur wurde Alfred Thomas (1905-1976) als erster Tenor engagiert. Dessen keineswegs verborgene Homosexualitat hatte seine Karriere zu diesem Zeitpunkt zum Erliegen gebracht, und es zeugt von nicht geringem Mut der ubrigen Sanger, sich mit Thomas am 1. Juli 1934, also einen Tag nach dem Rohm-Putsch, zum ersten Mal der Offentlichkeit zu prasentieren. In den folgenden Jahren wurden «Damenimitationen» von Meitzner und Thomas zum festen Bestandteil zahlreicher Nummern der Humoresk Melodios, die auch in den 1940er Jahren noch Anklang beim Publikum fanden. Ohnehin ging ein Auftritt der Humoresk Melodios weit uber die ublichen Darbietungen vergleichbarer Ensembles hinaus: Legten Gruppen wie die Comedian Harmonists wert auf eine seriose Ausstrahlung, um ihre Darbietung beim Hochkultur-orientierten Oberschichtenpublikum aufzuwerten (wobei gelegentliche humoristische Einlagen als Kontrast dienten), war dies den Humoresk Melodios vollkommen egal, was ihren Pianisten Fried Walter, der ausschlie?lich musikalisch dachte, bisweilen zur Verzweiflung trieb: «Auch musste so arrangiert werden, da? die Nummern buhnenwirksam waren und da wurde dann stundenlang diskutiert, geprobt und herum gealbert.»1 Zwischenzeitlich zog sich Fried Walter fur etwa drei Jahre aus dem Tourneeleben zuruck und schrieb nur noch Arrangements fur die Gruppe. Wie vergleichsweise hemmungslos die Darbietungen der Humoresk Melodios waren, dokumentieren die leider nur sehr wenigen erhaltenen Konzertfotos: Sie zeigen ein Ensemble, das offenbar mehr oder weniger permanent in Bewegung ist und die Darbietungen mit schauspielerischen Einlagen, pantomimischer Untermalung vokalparodistischer Effekte und fur die damalige Zeit geradezu extremen Choreografien unterlegt, die teilweise eher aktuellen «Boygroups» zu entsprechen scheinen als anderen Formationen der 1930er Jahre. Es scheint mir kein Zufall zu sein, dass nahezu zeitgleich mit dem letzten nachweisbaren 1 Tagebucheintrag Fried Walters, a.a.O. - PAGE 36 - THEORETISCHE PROBLEME DER MUSIKWISSENSCHAFT IM SPIEGEL DER KULTUROLOGIE ______________________________________________________________________________________________________ Auftritt der Gruppe ein Dekret des Gauleiters von Sachsen, Martin Mutschmann, erging, das auch die den Humoresk Melodios eigene Darbietungsform zum Gegenstand hatte: «Das Spielen aller amerikanisierenden Jazzweisen oder ahnlicher dem deutschen Kulturempfinden widerstrebenden Musik wie alle Entartung musikalischer Darbietungen durch korperverrenkende Untermalung, dekadenten Refraingesang und ahnliche Effekthascherei ist grundsatzlich verboten.»1 Nach dem Ende der Olympiade 1936 in Berlin sahen sich auch die Humoresk Melodios zunehmend Repressionen ausgesetzt obgleich sie bei Publikum und gro?en Teilen der Presse nach wie vor ausnehmend beliebt waren, waren offizielle Stellen offenbar allmahlich nicht mehr sicher, wie mit der Gruppe umzugehen sei und griffen zu einem in Deutschland bereits bewahrten Zensurmittel: War das Ensemble im April 1937 von Werner Kleine noch scherzhaft als eine «kriechstarke Ansammlung junger, durchaus blonder Manner»2 bezeichnet worden, wurde dies wenig spater fur Alfred Thomas und Olaf Meitzner zur Realitat, denn beide wurden kurzerhand zum Militardienst einberufen. Die Gruppe reagierte umgehend: Nachdem durch einen mehrmonatigen Gastspielvertrag bei der Revue «Sonnenschein fur alle» das Uberleben der Gruppe mit uberschaubarem Repertoire gesichert war, trat man zunachst als Trio auf und engagierte als Ersatz den Bariton Hans Nowak. Dieser jedoch war teilweise judischer Abstammung und konnte gema? der Erinnerung Olaf Meitzners nur durch eine Sondergenehmigung eines SA-Fuhrers uberhaupt auftreten. Die wohl kurioseste Besetzung eines solchen Ensembles uberhaupt stand schlie?lich im Januar 1939 auf der Buhne: Alfred Thomas war kurz zuvor zu dem Ensemble zuruckgekehrt, und Werner Rossler hatte sich, den Krieg vorausahnend, in der Hoffnung, spater einem Einsatz an vorderster Front zu entgehen, freiwillig zur SS gemeldet. So waren also auf der Buhne eintrachtig zu sehen: ein Schuler des verfemten Arnold Schonberg am Klavier, ein homosexueller erster Tenor, ein zweiter Tenor ohne nennenswerte musikalische Ausbildung, ein nach der damaligen Nomenklatur «halbjudischer» Bariton und ein SS-Mitglied als Bassist. Die Gemeinschaft, die sich hier auf der Buhne und am 9. Januar 1939 sogar im Fernsehen zeigte, entsprach mit Sicherheit nicht der 1 Martin Mutschmann: Verbot des Jazz und ahnlich entarteter Musik in Sachsen. Eine Anordnung. In: Musik im Kriege I/3-4 (Juni-Juli 1943). Berlin: Amt Musik beim Beauftragten des Fuhrers fur die Uberwachung der Gesamten Geistigen und Weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP, S. 75. 2 Markgraf: Kabarett im Koffer, II. Teil 2 (Ansage und Text: Dr. W. Kleine). Mitwirkende: Hilde Schellenberg, Peter Igelhoff, Anna Abenthung, Mimi Thoma, Humoresk Melodios. Polydor 15119 [mx. 480? GO 7 D], aufgenommen Berlin, April 1937. - PAGE 37 - MUSIKWISSENSCHAFT IM DIALOG ___________________________________________________________________________ von offizieller Seite beschworenen «Volksgemeinschaft». Dies bekam vor allem Rossler zu spuren, der kurz darauf kaserniert wurde und als einziges Mitglied der Humoresk Melodios den Krieg nicht uberlebte. Statt seiner kehrte Olaf Meitzner wieder zu der Gruppe zuruck. Erich Bergau kommentierte die Ereignisse spater mit den Worten: «Unser Kollege wurde zu den Fahnen geeilt.» Im Marz 1940 schlie?lich emigrierte Hans Nowak in die USA. Nahezu zeitgleich heiratete Alfred Thomas zum Schein eine alte Jugendfreundin, um einer drohenden Einweisung in ein Konzentrationslager zu entgehen. Um den Bestand der Gruppe zu sichern, die abermals auf ein Gesangstrio mit Klavierbegleitung geschrumpft war, meldete sich das Ensemble freiwillig zur Truppenbetreuung. Entsprechende Aktivitaten belegt ein Werbeblatt aus dem Jahr 19401. Dazu kamen in den folgenden Jahren auch K.d.F.-Veranstaltungen und Auftritte fur das Rote Kreuz. Im Nachhinein ist es kaum zu verstehen, wie die Gruppe im Gegensatz zu so vielen anderen, die sich wesentlich angepasster zeigten, so lange intakt bleiben konnte. Denn auch ihre letzten Aufnahmen beinhalten manchen versteckten Seitenhieb wie mag es wohl auf Fronturlauber oder Lazarettpatienten gewirkt haben, wenn die «Melodios» (den Zusatz «Humoresk» hatten sie inzwischen als zu anglophon aus ihrem Namen gestrichen) das Lied «Unter dem Sternenzelt»2 anstimmte, und Alfred Thomas schmachtend intonierte: «[...] denn meine Sehnsucht, Liebster, bist Du»?1 Obgleich mir die Biografie der Humoresk Melodios wichtig scheint, um ihr musikalisches Schaffen richtig einordnen zu konnen, geht es mir hier nicht um eine «Ehrenrettung», Neuentdeckung oder Glorifizierung. Der kreative Umgang des Ensembles mit seitens der offiziellen Kulturpolitik formulierten oder zumindest suggerierten Vorgaben ist jedoch geeignet, um ein grundlegendes Problem sogenannter «Funktionaler Musik» zur Diskussion zu stellen: Die Frage, zwischen welchen Extremen sich Musik bewegen muss, um uberhaupt funktional zu sein, wobei hier vorausgesetzt wird, dass Funktionalitat von Musik nicht als ein blo?es Schlagwort zur Abqualifizierung kunstlerisch scheinbar geringerwertiger Musik verstanden wird, sondern tatsachlich uber den rein musikalischen Gehalt eines Werks oder einer musikalischen Handlung hinausreichende Intentionalitat oder wie auch immer geartete kommunikative Eigenschaften besitzt (unabhangig davon, ob und in welchem Ma?e die beabsichtigte Funktionalitat tatsachlich eingelost wird). Ein weiteres Beispiel sei 1 Archiv Olaf Meitzner, Fotokopie im Besitz des Autors. Dieser Schlager, ursprunglich 1934 fur den Film «Ferien vom Ich» geschrieben, war gerade neu veroffentlicht worden in: Liederbuch fur Front und Heimat (= Deutsche Wacht in Ost und West, Heft 1). Leipzig: Wilhelm Gebauer, o.J. [1943], S. 4. 2 - PAGE 38 - THEORETISCHE PROBLEME DER MUSIKWISSENSCHAFT IM SPIEGEL DER KULTUROLOGIE ______________________________________________________________________________________________________ dazu herangezogen, ein volkstumlicher Schlager mit dem programmatischen Titel «Rumtata»2. Entsprechende Stucke entstanden ab 1933 in Massen, und eine solche «Neue Deutsche Tanzmusik» war zur Zuruckdrangung angloamerikanischer Einflusse im Bereich der Unterhaltungsmusik durchaus gewollt von Reichskulturkammer und Propagandaministerium. Doch war diese Politik erfolgreich? Herbert Gerick etwa klagt 1936: «Der Jazz ist nur scheinbar uberwunden. In Wahrheit herrscht er wie fruher an den deutschen wie auslandischen Unterhaltungsstatten. Er hat nur sein Gewand gewechselt. [...] Die bezeichnenden Rhythmen, die Synkope, die grotesken Instrumentalwirkungen, der blode Refraintext, die unzulanglichen Stimmen sind geblieben.»3 Und nun kommt eine «kriechstarke Ansammlung junger, durchaus blonder Manner» und beweist, dass eben auch ein solcher volkstumelnder Schlager ebenso blod ist wie ein Text von Fritz Rotter oder Willy Rosen, dazu durchaus versehen mit «grotesken Instrumentalwirkungen», die freilich, worauf der Text der zweiten Strophe hinweist, oft genug ihr Aquivalent in den instrumentalen Leistungen echter Volksmusiker finden. Das Ganze wird von Stimmen dargeboten, die offensichtlich keinem klassischen vokalen Ideal entsprechen, andererseits aber scheinbar muhelos in der Lage sind, komplexe Arrangements zu singen, die in Stimmumfang und Vielfalt der erforderlichen Klangfarben einen Gro?teil der klassisch ausgebildeten Sanger uberfordern durften «unzulanglich» sind die Sanger keineswegs. Selbst die nationalkonservative Presse lobt speziell dieses Arrangement, «bei dem die Sanger mit meisterlichem Geschick den Schlager bis in seine kleinsten Finessen ausschopfen.»4 Dieses Schlagerarrangement mag in irgendeiner Weise «funktionieren» in der offiziell intendierten Weise jedoch funktioniert es nicht, doch ohne dabei angreifbar zu sein. Alle volkstumlichen Klischees von Dorfmusik uber Franzl und Toni bis hin zum Jodler werden bedient, doch jedes der Elemente tragt in zugespitzter Aneinanderreihung zum Eindruck des Komischen bei. 1 Marc Roland: Unter dem Sternenzelt (Text: Peter Francke). Die Melodios; Gesangsterzett mit Orchesterbegleitung. Tempo 5150 (mx. 1908), aufgenommen Berlin, 5.5.1943. 2 Willy Geisler: Rumtata (Wenn der Franzl die Toni) (Text: Oskar Felix). Humoresk Melodios. Grammophon/Polydor 10364 (mx. 2673 bzw. 2673? GN), aufgenommen Berlin, 14.5.1935 3 zitiert von Martin Elste: Zwischen Privatheit und Politik. Die Schallplatten-Industrie im NSStaat. In: Hanns-Werner Heister und Hans-Gunter Klein (Hrsg.): Musik und Musikpolitik im faschistischen Deutschland. Frankfurt a.M.: Fischer 1984, S. 109 f. 4 Zeitungskritik aus Auerbach; ungekennzeichneter Ausriss aus dem Archiv Olaf Meitzner; Fotokopie im Besitz des Autors. - PAGE 39 - MUSIKWISSENSCHAFT IM DIALOG ___________________________________________________________________________ So befreit sich die Musik letzten Endes von Vorgaben, indem sie diese erfullt, und erreicht so weitestgehende Immunitat gegen staatliche Vereinnahmung, also wieder Autonomie. Andererseits sind es die sich jeglicher kulturpolitischer Einbindung verweigernden Teile des Repertoires, welche eben gerade durch das Beharren auf einer Autonomie jenseits staatlicher Einflussnahme ihre ursprungliche Funktionalitat, namlich die der Tanz- und Unterhaltungsmusik fur die jugendliche Subkultur, uberhaupt nur erfullen konnen. In diesem Sinne ist Funktionalitat ohne Autonomie uberhaupt nicht denkbar vielleicht stellt diese Verschrankung bis zu einem gewissen Grad eine absolute Verwendung der Begriffe an sich, es sein denn als theoretische Extreme zu Vergleichszwecken, in Frage. Denn wenn Musik durch die Summe von einzeln betrachtet adaquaten Interpretationsstrategien ihre vom Komponisten intendierte Wirkung einbu?t und statt dessen im Sinne des Interpreten funktioniert, tragt dann nicht je nach Schwerpunktsetzung jede Musik den Kern des Funktionalen in sich? Oder hat, da sich wohl jede Musik in verschiedene Richtungen auslegen lasst, alle Musik, auch wenn sie fur noch so konkrete Zwecke geschrieben wurde, ein gewisses autonomes Potential? Und was ist schlie?lich in Fallen, in denen sich eine dem ursprunglichen Sinn der Komposition entgegengesetzte Funktion zwar feststellen lasst, seitens der Interpreten aber eine derartige Absicht nicht bestatigt wird? Kann Musik in einem Sinne funktionieren, der weder vom Komponisten noch vom Interpreten bei der Auffuhrung beabsichtigt wurde? Ich halte die Gegenuberstellung von Autonomie und Funktionalitat insbesondere dann fur problematisch, wenn sie dafur missbraucht wird, vom Sprecher selbst als hoherwertig angesehene «klassische» Musik von niederer Unterhaltung abzugrenzen. Von einer grundsatzlichen Infragestellung einer solchen Wertung ganz zu schweigen, ist ein solches Argumentationsmodell trugschlussig: Dadurch, dass eine Gegenposition aufgebaut und als solche benannt wird, wird der ursprunglichen Position schlie?lich erst im Ruckbezug eine entsprechende Wertigkeit zuerkannt. Der Gruppe selbst, welche mich zu diesen Fragen anregte, waren solche Erwagungen freilich gleichgultig gewesen. Ihrem Selbstbild entsprach wohl am ehesten eine Kolner Zeitungskritik uber ihr Auftreten vom 18.5.1935: «Wie sie aussehen, so singen und spielen sie auch: unbehaftet von Problemen, ohne den Ehrgeiz, fur hervorragende Kunstler gehalten zu werden. Doch sie sind welche, auch wenn sie in einem anderen Stockwerk des gro?en Hauses der Gesangskunst wohnen als jene, die den eleganten Zeitschriften Interviews gewahren. Sie stellen sich in eine Reihe und singen sich eins. Und - PAGE 40 - THEORETISCHE PROBLEME DER MUSIKWISSENSCHAFT IM SPIEGEL DER KULTUROLOGIE ______________________________________________________________________________________________________ dann sind sie froh und machen ein bi?chen Unfug. Und dann freuen sie sich uber beides, den Gesang und den Unfug.»1 Und vielleicht liegt hierin die konsequenteste Form des Dissenz: In der Weigerung, ein Problem uberhaupt als solches anzuerkennen. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. Anonym (Hrsg.): Liederbuch fur Front und Heimat (= Deutsche Wacht in Ost und West, Heft 1). Leipzig: Wilhelm Gebauer, o.J. [1943]. Elste, Martin: Zwischen Privatheit und Politik. Die Schallplatten-Industrie im NS-Staat. In: Hanns-Werner Heister und Hans-Gunter Klein (Hrsg.): Musik und Musikpolitik im faschistischen Deutschland. Frankfurt a.M.: Fischer 1984, S. 107-114. Heister, Hanns-Werner und Hans-Gunter Klein (Hrsg.): Musik und Musikpolitik im faschistischen Deutschland. Frankfurt a.M.: Fischer 1984. Kuhn, Volker: «Man mu? das Leben nehmen, wie es eben ist ...». Anmerkungen zum Schlager und seiner Fahigkeit, mit der Zeit zu gehen. In: Hanns-Werner Heister und Hans-Gunter Klein (Hrsg.): Musik und Musikpolitik im faschistischen Deutschland. Frankfurt a.M.: Fischer 1984, S. 213-226. Musik im Kriege I/3-4 (Juni-Juli 1943). Berlin: Amt Musik beim Beauftragten des Fuhrers fur die Uberwachung der Gesamten Geistigen und Weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP. Mutschmann, Martin: Verbot des Jazz und ahnlich entarteter Musik in Sachsen. Eine Anordnung. In: Musik im Kriege I/3-4 (Juni-Juli 1943). Berlin: Amt Musik beim Beauftragten des Fuhrers fur die Uberwachung der Gesamten Geistigen und Weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP, S. 75. Prieberg, Fred K.: Musik im NS-Staat. Koln: Dittrich, 2000. . . , 30- «Humoresk Melodios» . , . , , , . , : . , , . - - , , , , . . 1 Zeitungskritik aus Koln; mit Ort und Datum gekennzeichneter Ausriss aus dem Archiv Olaf Meitzner; Fotokopie im Besitz des Autors. - PAGE 41 - MUSIKWISSENSCHAFT IM DIALOG ___________________________________________________________________________ , , . Karsten Lehl. Wenn funktionale Musik sich verweigert die Kunst der negativen Zustimmung. Unter den zahlreichen Vokalensembles, die im Deutschland der 1930er Jahre in der Unterhaltungsmusik wirkten, fallen die «Humoresk Melodios» durch eine hochst kreativ umgesetzte Nonkonformitat auf. Ihre Verweigerungshaltung dem nationalsozialistischen Regime gegenuber zeigt sich nicht immer in direkt konfrontativem Musikmaterial. Viele von ihnen auf Schallplatte, bei Konzerten und sogar im Fernsehen vorgestellte Titel zeichnen sich hingegen durch ein ubertriebenes Ma? an Anpassung aus. So ergibt sich ein faszinierendes musikalisches Spannungsfeld: Indem die Musik die kulturpolitischen Vorgaben aufs gewissenhafteste erfullt, werden vorgegebene Richtlinien der Lacherlichkeit preisgegeben; so erreicht diese Musik Immunitat gegen staatliche Vereinnahmung und damit wieder Autonomie. Andererseits sind es die sich jeglicher kulturpolitischer Einbindung verweigernden Teile des Repertoires, welche eben gerade durch das Beharren auf einer Autonomie jenseits staatlicher Einflussnahme ihre ursprungliche Funktionalitat, namlich die der Tanz- und Unterhaltungsmusik fur die jugendliche Subkultur, uberhaupt nur erfullen konnen. So unauflosbar verbunden sind hier die Ma?stabe der Autonomie und Funktionalitat, dass beide ohne den jeweils anderen ihre Gultigkeit verlieren und damit die Unterteilung selbst in Frage stellen. Iryna Tukova, Kyiv THE ART OF MUSIC OF THE SECOND HALF OF XX THE BEGINNING OF XXI CENTURY: THE PROBLEM OF LISTENERS PERCEPTION Specifics of academic musical practice that had been made up by the end of XX the beginning of XXI centuries envelops in one space huge layer of sounding: from early professional specimen till contemporary intellectual etudes of the highest quality. This situation can be explained by the fact that just the second half of XX century coincides with the period of both the brightest composers experiments in the field of the language and active intruding of early music into phonation area. As a result, for the listener of the beginning of XXI century it is necessary to have huge «lexical musical supply» to be able to perceive and understand in full scale the diversity of the music he can listen to. This problem is connected with the fact that till the beginning of XXI century European musical language had been developing in evolutionary way. Gradual changes were connected with historical replacement of world perception types and mentality, that were consolidated in the methods of pitch, time and structural organization of the composition. Musical practice of XX century has changed not only intonation order of music language but also the - PAGE 42 -