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175 Jahre AZ-Medien, am 10. November 2011 Ein Zwischenruf Von Klaus Merz Geschätzte Frau Bundesrätin Werter Herr Landammann Sehr geehrte Damen und Herren Liebe Familie Wanner Erinnern Sie sich noch an die neunundneunzigjährige Hildegarde, die mit ihrem Fallschirmabsprung vor einiger Zeit für Schlagzeilen gesorgt hat – oder an das britische Rentnerpaar, das in den letzten drei Jahren mehr gereist ist als in allen Jahrzehnten zuvor: Südafrika, Indien, Australien, Amerika. Sie gehen zudem öfter ins Kino als während ihrer ganzen Jugendzeit, besuchen Galerien, Ausstellungen, die Oper. Und Angie lerne Stepptanz dazu, gaben sie für die Medien zu Protokoll. Werte Geburtstagsgäste, wieso nur wollen mir diese agilen älteren Herrschaften als Vorbilder für unsere altehrwürdige AZ-Jubilarin einfach nicht so recht imponieren? – Wahrscheinlich sträube ich mich dagegen, weil ich noch heute das Bild eines alten Indianerhäuptlings in mir trage, der vor seinem Zelt hockt und die Pfeife raucht. – Wenn ihn jemand um Rat fragt, erteilt er Auskunft, nach bestem Wissen und Gewissen. Oder er gibt Rauchzeichen, wenn’s eilt. – Dazwischen, stelle ich mir vor, denkt er über das Leben nach, das vergangene und das kommende. Er redet mit seiner Squaw, und ab und zu steht er auf, formt mit der Hand ein Dach über den Augen und schaut – nein, nicht fern – er schaut in die Ferne, lässt seinen Blick wandern bis zum Horizont, lässt ihn zurück gleiten, dann hockt er wieder ab und sinnt weiter. Zugegeben, ein wenig erinnert mich dieser phantasierte Indianer auch an meinen eigenen Grossvater, der weder Indien, Amerika noch Aïda je gesehen und nie in einem Fallschirm gehangen hat. Der gelernte Dreher und Rucksackbauer sass abends aber häufig auf seiner grünen Bank vor dem Haus, er las seine Zeitung – und wog die Welt. Oder er schaute lediglich am Miststock vorbei Richtung Trostburg. Und dieser Blick muss oft auch ein trostloser gewesen sein, wie das im Leben von Menschen, die nicht ständig auf Achse, im Netz oder sonst wie aufgeputscht sind, halt so üblich ist. Aber Grossvater wusste dennoch immer etwas zu erzählen, denn die Welt samt ihren Menschen interessierte und bewegte ihn. – Auf seinem Plumpsklo hingen handlich zurechtgeschnitten die Zeitungsseiten der vergangenen Tage. – Und ging jemand am Haus vorbei, grüsste er laut und vernehmlich, wechselte mit den Vorübergehenden ein Wort, hörte zu, während auf der Rückenlehne seiner Feierabendbank die abgerauchten Toscanelli-Stummel trockneten, die er später in der Pfeife noch zu Ende paffte. Grossvater starb erstaunlicherweise nicht an Lungenkrebs. Und er trug auch nie eine Uhr auf sich, wusste aber immer, wann es Zeit war für ihn: Als er die Verwandtschaft zu seinem neunundsiebzigsten Geburtstag ins kleine Säli der Herberge einlud, versuchten wir ihm einzureden, noch ein Jahr zuzuwarten, um dann den Achtzigsten gehörig zu feiern. Er winkte ab. Und er winkte auch ab, als ein Enkel, der nicht auf seiner Abendbank, jedoch auf anderen Banken schon ein wenig zu Geld gekommen war, das Geburtstagsessen für ihn und uns berappen wollte: Nüüt isch, sagte er und starb im Lauf des folgenden Jahres, kurz vor seinem Achtzigsten. Liebe Festgemeinde, liebe AZ-Crew, was haben nur zwei alte Knacker wie mein Grossvater und dieser zugelaufene Indianer an unserem heutigen Fest verloren, werden Sie sich allmählich fragen. Ich will es so zu erklären versuchen: Ich habe sie in meinen „Zwischenruf“ eingebaut, weil mir ihre Unaufgeregtheit, ihre Würde und Bedächtigkeit Eindruck machen und weil ich unserer 175 Jahre jungen Zeitung ein gesundes Stück dieser Alters-Reife und dieses aufmüpfigen Gleichmutes auf ihren weiteren Redaktions- und Unternehmensweg anwünschen möchte. – Denn, wir wissen es, es gibt in unseren digitalen Zeiten nichts Unnötigeres als ein Blatt, das lediglich den schrillsten Aktualitäten hinterher hechelt oder uns bloss noch die gängigsten Events als Kultur verkaufen will, das können wir nämlich tagtäglich bald in jeder Unterführung gratis bekommen. – Und natürlich brauchen wir auch keine Zeitung, die in politisch leicht nervösen Zeiten bereits auf ihrer Frontseite schon vor Ivan S., dem omnipotenten Vergewaltiger und politischen Widergänger unserer Nation, devot in die Knie geht, indem sie ihn nämlich ausgerechnet da sein teures Inserat schalten lässt, wo die treue und erwartungsfrohe Leserschaft für ihr Geld und ihren Geist eigentlich einen differenzierten Leitartikel erwarten dürfte. Kurzum, meine Damen und Herren, ich wünsche unseren jubilierenden AZ-Medien – mit ihren engagierten Redaktionen – also weiterhin eine gehörige Portion Besonnenheit, Achtsamkeit und redaktionelle Unbestechlichkeit; Tiefe in der Recherche, gepaart mit einer klaren, ja, menschenfreundlichen Haltung und einer massvollen Gewichtung der täglichen Ereignisse – über den Tag hinaus. – Und dazu, natürlich, auch weiterhin die unabdingbare und ebenso geistesgegenwärtige Leserschaft, die ihre unabhängige Zeitung zu schätzen und zu tragen weiss, weil sie ihr Leib- und Denkblatt nicht unverhofft zum Spielball von ein paar machtversessenen Milliardären oder oberflächlichen Boulevardisten verkommen lassen will. – Eine Zeitung also für nachdenkliche Indianerinnen und haushaltende Väter, gewiefte Fabrikdirektorinnen und verantwortungsvolle Banker, für aufmerksame Arbeiterinnen, Politiker und Beamte, kurzum für anspruchsvolle und unverbesserliche Demokratinnen und Demokraten, wie wir es sind, werte Damen und Herren, denn andere brauchen und lesen keine Qualitäts-Zeitungen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.