Epidemiologie von Suizidalität im Alter. Zeitschrift für Gerontologie
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Epidemiologie von Suizidalität im Alter. Zeitschrift für Gerontologie
Z Gerontol Geriat 41:3–13 (2008) DOI 10.1007/s00391-008-0517-z A. Schmidtke R. Sell C. Löhr Epidemiology of suicide in older persons " Zusammenfassung Mit zunehmendem Alter erhöht sich in Deutschland die Suizidgefährdung. Die Suizidraten folgen dem „ungarischen“ Muster. Insbesondere der Anteil älterer Frauen an allen Suiziden hat sich in den letzten Jahren überproportional Eingegangen: 30. Oktober 2007 Akzeptiert: 10. Dezember 2007 Die Arbeit ist zum Teil im Rahmen der WHO/EURO Multicenter Study on Suicidal Behaviour entstanden. Armin Schmidtke ()) · Roxane Sell Cordula Löhr Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Würzburg Füchsleinstraße 15 97080 Würzburg, Germany BEITRAG ZUM THEMENSCHWERPUNKT Epidemiologie von Suizidalität im Alter erhöht. Jeder zweite Suizid einer Frau ist zur Zeit der einer Frau über 60 Jahre. Hauptsuizidmethode ist das Erhängen. Suizidversuche sind im Alter seltener, die Raten steigen aber bei den sehr alten Menschen wieder an. Suizidversuche im Alter werden mit einer höheren Letalintensität durchgeführt und zeigen selten eine appellative Komponente. Suizidversuchsmethoden sind häufig Vergiftungen mit Psychopharmaka. Insgesamt werden die Suizid- und Suizidversuchsraten im Alter aber wahrscheinlich aufgrund eines hohen Anteils indirekter Methoden (passiver Unterlassungshandlungen) stark unterschätzt. Ursache von Suiziden und Suizidversuchen im Alter sind häufig psychische Erkrankungen (vor allem Depressionen), Motive häufig Partnerverlust, Verlust des sozialen Netzwerkes, Angst vor den Folgen physischer Erkrankungen und Verlust von Handlungsfreiheitsgraden. So ändert sich bei älteren Personen häufig die soziale Situation vor dem Suizidversuch. " Schlüsselwörter Suizid – Suizidversuch – Trends – Suizidmethoden – Risikofaktoren “Hungarian” pattern. Especially the percentage of older females among all suicides has increased unproportionally in recent years in relation to their percentage in the population. Every second suicide of a female is today a suicide of a female older than 60 years. The main suicide method among older persons is hanging. Suicide attempts are rare among older persons; however, the rates are increasing among the oldest age groups. The suicide attempts of older persons are committed with a higher lethality and show rarely appellative components. Suicide attempt methods are often poisoning with pharmaceuticals. In total the suicide and suicide attempt rates among elderly are underestimated due to indirect methods (passive reactions, e.g. noneating). Reasons for suicides and suicide attempts among older persons are often psychic illnesses (mostly depression), motives often include loss of partners, loss of the social network, fear of the consequences of somatic illnesses and loss of freedom of action. Thus, often the social situation of older persons with suicide attempts changed before suicide was attempted. " Abstract The suicide risk in Germany increases with age. The suicide rates follow the so called " Key words suicide – suicide attempt – trends – suicide methods – risk factors Z Gerontol Geriat 1 2008 4 A. Schmidtke et al. Begriffsbestimmung und Klassifikation In der Epidemiologie werden als suizidale Verhaltensweisen im engeren Sinne meist Suizide und Suizidversuche bezeichnet. Häufig werden aber auch „Suizidgedanken“, „Suizidankündigungen“ und „Suiziddrohungen“ dazu gezählt. Suizidalität wird definiert als Summe aller Denk- und Verhaltensweisen von Menschen oder Gruppen von Menschen, die in Gedanken, durch aktives Handeln, passives Unterlassen oder durch Handeln lassen den eigenen Tod anstreben bzw. als mögliches Ergebnis in Kauf nehmen ([29], S. 251). Die WHO hat bisher noch keine einheitliche Definition von „Suizidalität“ publiziert. Unter Suizid wird eine von einer Person selbst durchgeführte Handlung verstanden, nach der der Tod eintritt. Nach neueren Definitionen wird darunter aber nur dann eine Handlung mit Todesfolge gezählt, wenn diese Handlung in bewusstem Denken und Handeln und der bewussten Intention zu sterben und dem Verständnis von Tod durchgeführt wurde. Unter Suizidversuch (im englischen Sprachraum oft auch noch „Parasuizid“) wird ein Verhalten subsummiert, das suizidale Intention zeigt. Die Handlung wird im Glauben durchgeführt, dass sie zum Tod führt. Die WHO-Arbeitsdefinition [19] versteht unter Suizidversuch eine Handlung mit nichttödlichem Ausgang, bei der ein Individuum absichtlich ein nicht-habituelles Verhalten beginnt, das ohne Intervention von dritter Seite eine Selbstschädigung bewirken würde, oder absichtlich eine Substanz in einer Dosis einnimmt, die über die verschriebene oder im Allgemeinen als therapeutisch angesehene Dosis hinausgeht, und die zum Ziel hat, durch die aktuellen oder erwarteten Konsequenzen Veränderungen zu bewirken. Diese Definition bezieht auch Handlungen mit ein, die unterbrochen wurden, bevor tatsächlich eine Schädigung eintrat. Berücksichtigt wird ferner die Intention der Handlung. Handlungen, bei denen die Person die Bedeutung des Verhaltens oder die Konsequenzen nicht versteht, werden dagegen nicht als Suizidversuch klassifiziert. Wolfersdorf & Schmidtke [29] differenzieren noch zwischen dem vorbereiteten Suizidversuch (begonnen und abgebrochen, durch Fremdeinfluss oder eigene Entscheidung) und durchgeführtem Suizidversuch. Englische und amerikanische Autoren unterscheiden hier noch weiter zwischen „ernsthaften“ und „nicht-ernsthaften“ Suizidversuchen, wobei sich diese Unterscheidung auf die Sterbeintention bezieht. Suizidgesten sind Handlungen, die keine ernsthafte Lebensgefahr nach sich ziehen, Suiziddrohungen: alle verbalen Äußerungen oder Handlungen, die selbstdestruktives Verhalten ankündigen, und Suizidideen Z Gerontol Geriat 1 2008 (-absichten): Gedanken an suizidale Handlungen. Von einigen Autoren (z. B. [5]) wird hier noch eine weitere Unterteilung und Differenzierung für die Kategorie der Suiziddrohung und Suizidideen vorgeschlagen. Im Hinblick auf den Einschluss der Intention in die Definition suizidalen Verhaltens wird empfohlen, jeweils noch zwischen Suizid- und Suizidversuchsideen bzw. -drohungen zu unterscheiden. Im Alter kommt häufig auch indirektes suizidales Verhalten vor: Hierunter versteht man „Hoch Risiko Verhalten“ und passive Unterlassungshandlungen (z. B. Verweigern der Nahrungsaufnahme und Medikamenteneinnahme sowie Nicht-Befolgen ärztlicher Maßnahmen). Bei diesen Handlungen muss der Sterbewunsch erkennbar sein. Solche indirekten Suizidhandlungen sollen in stationären Altenhilfeeinrichtungen relativ häufig vorkommen [6]. Psychogener Tod beschreibt ein Konzept, bei dem angenommen wird, dass die Person eigentlich noch leben will, aufgrund der von ihr aber nicht mehr zu meisternden schwierigen Lebenslage glaubt, nicht mehr leben zu können und sich aufgibt. Es ist kein direkter Sterbewunsch und vor allem keine aktive Handlung vorhanden. Ein solches Verhalten soll z. B. bei älteren Menschen nach dem Tod von Partnern auftreten. Mit solchen Erklärungsmodellen versucht man auch die zeitliche Korrelation zum Todeszeitpunkt des Partners(in) zu erklären. Chronische Suizidalität: Hierbei sind zwei Untergruppen zu unterscheiden: Zum einen Personen mit chronisch vorhandenen Suizid- bzw. Parasuizidgedanken im Sinne des chronisch andauernden Aspektes; zum anderen Menschen mit rezidivierenden suizidalen bzw. parasuizidalen Handlungen im Sinne des chronisch repetierenden Aspektes. Vor diesem Hintergrund lässt sich chronische Suizidalität definieren als kontinuierlich vorhandene (Para-)Suizidgedanken mit oder ohne (para-)suizidale Handlungen im Sinne häufiger (rezidivierender) Parasuizide. Doppelsuizid(e) sind gemeinsame Suizide, die manchmal bei alten Ehepaaren zu finden sind. Andere Formen selbstschädigenden Verhaltens, wie habituelle Selbstverletzungen, und „Suicide by police“ (Provokation sich töten zu lassen) kommen bei älteren Menschen kaum vor. Epidemiologie n Dunkelzifferproblematik Da insbesondere indirekte suizidale Handlungen im Alter schwer von Unfällen abzugrenzen und daher schwierig zu klassifizieren sind, ist die Dunkelziffer Epidemiologie von Suizidalität 5 von Suiziden im Alter wohl deutlich höher als die in jüngeren Altersgruppen. Die Dunkelzifferproblematik wirkt sich vorwiegend als Unterschätzung aus. Die Angaben zu Unterschätzungen von Suiziden reichen in der internationalen Literatur von 1,8 bis zu 400% (zusf. [22]). Die Fehlklassifikationen sind von verschiedenen Faktoren wie Suizid(versuchs)methode, Geschlecht, Alter, Schicht und Wohnort abhängig [20]. Bei alten Menschen könnten vor allem Suizide mittels „weicher“ Methoden (ICD-10: X60–X69) weniger gut erkannt und eher als „unklare“ Todesursachen registriert werden (z. B. unter den Kategorien ICD-10: R96–R99; z. B. R96 „Sonstiger plötzlicher Tod unbekannter Ursache“, R99 „Sonstige ungenau oder nicht näher bezeichnete Todesursache“). Man könnte daher annehmen, dass sich vor allem in den Todesursachenkategorien „unklare Todesursachen“ bei alten Menschen Suizide verbergen [22]. Eine neuere Analyse der Totenscheine auf Gemeindeebene zeigte eine durchschnittliche Unterschätzung der offiziellen Suizidstatistik für alle Altersgruppen von 11% [26]. n Daten Suizid " Häufigkeiten In der Bundesrepublik werden Daten zu Suiziden zentral über die einzelnen statistischen Landesämter vom Statistischen Bundesamt gesammelt und jährlich in 5er Altersgruppen publiziert. Für die Klassifikation der Suizidmethoden wird jeweils die gültige ICD-Klassifikation herangezogen. Ab 1998 gilt für die Einteilung die neue X-Klassifikation, die die Einteilung E der ICD-9 ersetzt. Die Gesamtzahl der Suizidtoten in der Bundesrepublik betrug 2006 9765 Personen, 7225 Männer (davon Nichtdeutsche: 3,8%) und 2540 Frauen (Nichtdeutsche: 4,1%). Die Suizidziffern (Zahl pro 100 000 Einwohner) betragen daher für Männer 17,9 und für Frauen 6,1. Insgesamt stellten im Jahr 2006 Suizide bei Männern 1,78% und bei Frauen 0,57% aller Todesursachen. Der Anteil von Suiziden an den Todesursachen nimmt mit dem Alter ab (2006; 60-Jährige und älter, Männer: 0,88%, Frauen: 0,30%, Abb. 1). Für die Altersverteilung der Suizidziffern findet sich immer noch das so genannte „ungarische Muster“, d. h. die Suizidgefährdung nimmt mit dem Alter sowohl für Männer als auch für Frauen deutlich zu (alle Rangkorrelationskoeffizienten p < 0,001; Abb. 2). Das mittlere Alter der Suizidenten in Deutschland beträgt 2006 für alle Männer 54,7 Jahre, für alle Frauen 59,0 Jahre. Suizidenten nicht-deutscher Staatsangehörigkeit sind signifikant jünger als deutsche Suizidenten: das mittlere Alter der männlichen Nichtdeutschen Suizidenten beträgt 2006 44,3 Jahre, für Frauen 43,3 Jahre (Deutsche: Männer 55,1 Jahre, Frauen 59,7 Jahre). n Alterseinteilungen Die Unterteilungen der Altersbänder älterer Altersgruppen variieren in verschiedenen Untersuchungen stark. Je nach Zusammenfassung der Gruppen zeigen sowohl Suizidziffern, Trends und auch die Angaben zu soziökonomischen Variablen andere Ergebnisse. Neben der üblichen Einteilung bei älteren Menschen (55–64, 65–74, 75+ Jahre) unterteilt die WHO die „älteren Altersgruppen“ so z. B. in „Älterer Mensch“ (60–74 Jahre), „Alter Mensch“ (75–89 Jahre), „Sehr alter Mensch“ (90–99 Jahre) und „Langlebige“ (über 100 Jahre). Manchmal finden sich auch Begriffe wie „junge Alte“ und „alte Alte“ (über 80 Jahre). Abb. 1 Anteil von Suiziden an allen Todesursachen in Deutschland 2006. Datenquelle: Statistisches Bundesamt, Berechnung WHO-Gruppe Würzburg 16 Männer % Anteil Suizide an allen Todesursachen 14 Frauen 12 10 8 6 4 2 90+ 85–89 80–84 75–79 70–74 65–69 60–64 55–59 50–54 45–49 40–44 35–39 30–34 25–29 20–24 15–19 10–14 5–9 0 Alter in Jahren Z Gerontol Geriat 1 2008 6 A. Schmidtke et al. Abb. 2 Altersverteilung der Suizidziffern in Deutschland 2006. Datenquelle: Statistisches Bundesamt, Berechnungen WHO-Gruppe Würzburg 35 Männer Frauen Suizide/100.000 30 25 20 15 10 5 90+ 85–89 80–84 75–79 70–74 65–69 60–64 55–59 50–54 45–49 40–44 35–39 30–34 25–29 20–24 15–19 5–9 10–14 0 Abb. 3 Veränderung der Anteile älterer Menschen (60 Jahre und älter) an der Gesamtbevölkerung und an den Suiziden. Datenquelle: Statistisches Bundesamt, Berechnungen WHO-Gruppe Würzburg Prozent an allen Suiziden bzw. Bevölkerung Alter in Jahren 60 Frauen: % an Bev. Frauen: % an Sui. Männer: % an Bev. Männer: % an Sui. 50 40 30 20 10 0 1952− 1956 1957− 1961 1962− 1966 Aufgrund der Alterskovariation der Suizidgefährdung und der Veränderung der Alterspyramide hat sich der Anteil alter Menschen an den Suiziden insgesamt in den letzten Jahren überproportional erhöht und zwar bei Frauen deutlicher als bei den Männern. So beträgt der Anteil der Männer über 60 an der Gesamtbevölkerung 22,1%, an den Suiziden aber 40,2%, der Anteil der Frauen an der Gesamtbevölkerung 27,8%, an den Suiziden sogar 49,3. Jeder zweite Suizid einer Frau wird daher heute von einer Frau über 60 Jahre begangen. Die über 70-jährigen Frauen stellen 32,0% der Suizide, die Männer der entsprechenden Altersgruppe 23,6%. Durch die weitere Veränderung der Alterspyramide und des dadurch zu erwartenden weiteren Ansteigens des Anteils älterer Altersgruppen werden daher auch die Absolutzahlen von Suiziden älterer Menschen (über 60 Jahre) aufgrund des „ungarischen Musters“ mit hoher Wahrscheinlichkeit zunehmen, auch wenn sich innerhalb der einzelnen Altersgruppen das Suizidrisiko nicht wesentlich ändert (vgl. [22]). Dies gleicht Trends in anderen Ländern. Z Gerontol Geriat 1 2008 1967− 1971 1972− 1976 1977− 1981 1982− 1986 1987− 1991 1992− 1996 1997− 2001 2002− 2006 Im europäischen Vergleich liegen die Raten für ältere Menschen in Deutschland unterhalb des Mittelwertes (Abb. 4). Methoden Bei den Suizidmethoden unterscheidet man üblicherweise zwischen „harten“ und „weichen“ Suizidmethoden. Zu den „harten“ Suizidmethoden werden „Erhängen, Erdrosseln und Ersticken“, „Feuerwaffen und Explosivstoffe“, „Sturz aus der Höhe“, „Ertrinken“, „Verbrennen“, „Schneiden“ und „sich vor ein bewegtes Objekt legen“, zu den „weichen“„Vergiftungen mit festen oder flüssigen Stoffen, „Vergiftungen mit im Haushalt verwendeten Gasen, sonstigen Gasen und Dämpfen“, gezählt. Als Suizidmethoden werden in den älteren Altersgruppen ab 60 Jahren überwiegend „harte“ Suizidmethoden angewandt, wobei sie bei den Männern prozentual häufiger vorkommen (vgl. Abb. 5). „Erhängen, Erdrosseln und Ersticken“: Männer 55%, Frauen 40%, „Feuerwaffen und Explosivstoffe“: Män- Epidemiologie von Suizidalität Ungarn (2002) Slovenien (2002) Österreich (2002) Bulgarien (2002) Belgien (1997) Frankreich (2000) Litauen (2002) Estland (2002) Tschechien (2002) Lettland (2002) Portugal (2002) Finnland (2002) Deutschland (2006) Dänemark (1999) Slovakei (2000) Schw eden (2001) Spanien (2001) Rumänien (2002) Italien (2001) Polen (2002) Niederlande (2003) Irland (2001) England (2001) Griechenland (2001) Frauen Männer 100 50 0 50 60 Männer 50 Frauen 40 30 20 10 j. Ob en nv or Sc be hn w. eid en tri Er ie Le ge St ur zi nd ue nk fe Tie aff rw ge Ve rg ift un ng hä Er e n 0 en Abb. 5 Suizidmethoden älterer Menschen (60 Jahre und älter) in Deutschland 2006. Datenquelle: Statistisches Bundesamt, Berechnungen WHO-Gruppe Würzburg % an allen Suizidmethoden 150 Fe Abb. 4 Suizidraten alter Menschen (75 Jahre und älter) im europäischen Vergleich (EU-Länder). Datenquellen: Statistisches Bundesamt, WHO-Datenbank. Berechnungen WHO-Gruppe Würzburg 7 ner 15%, Frauen 1%, Sturz aus der Höhe“: Männer 8%, Frauen 14%, „harte Gifte“ Männer 2%, Frauen 2% und „weiche“ Gifte Männer 6%, Frauen 22% (Abb. 5). Im Vergleich zum Beginn der 80er Jahre (1980–1984) haben sich einige Suizidmethoden bei alten Menschen (60 Jahre und älter) verändert. So überwiegt 2006 wie früher sowohl bei den Männern (55%) als auch bei den Frauen (39%) die Methode „Erhängen“. Die Suizidmethode „Vergiftung“ war früher häufiger feststellbar (2006: Männer 8% (früher 17%), Frauen 24% (früher 34%). 2006 ist im Vergleich zu früher bei Männern häufiger die Methode „Feuerwaffen und Explosivstoffe“ (15%, früher 5%) und bei Frauen deutlich häufiger die Methode „Sturz in die Tiefe“ festzustellen (14%; früher 8%). Verlauf der Suizidziffern über die Zeit Über die Zeit ist für die offiziellen Suizidziffern im Durchschnitt ein Rückgang festzustellen, obwohl eine längere Lebenserwartung zu berücksichtigen ist (vgl. Abb. 6). Dies gilt sowohl für das Gesamtgebiet der Bundesrepublik wie für die Gebiete der alten und neuen Bundesländer getrennt. Die Höhe der Veränderungen ist abhängig von den ausgewählten Vergleichszeiträumen. Sie sind jedoch statistisch sowohl für die Gesamtsuizidziffern, wie für die meisten der einzelnen Altersgruppen signifikant, unabhängig welche Methodik angewandt wird. Im Vergleich zum Ende der 70er Jahre (Durchschnitt 1977–1981; Periode der höchsten Suizidraten in Deutschland) sind für Deutschland die „rohen“ Suizidziffern in den letzten fünf Jahren (2002–2006) Z Gerontol Geriat 1 2008 8 A. Schmidtke et al. Abb. 6 a, b a Verlauf der Suizidziffern für Männer in einzelnen Altersgruppen (1952–2006). Datenquelle: Statistisches Bundesamt. Berechnungen WHO-Gruppe Würzburg. b Verlauf der Suizidziffern für Frauen in einzelnen Altersgruppen (1952–2006). Datenquelle: Statistisches Bundesamt. Berechnungen WHO-Gruppe Würzburg 140 60−70 Jahre 70−80 Jahre 80+ Suizide/100.000 120 100 80 60 40 20 0 19 52 19 55 19 58 19 61 19 64 19 67 19 70 19 73 19 76 19 79 19 82 19 85 19 88 19 91 19 94 19 97 20 00 20 03 20 06 a Suizide/100.000 45 60−70 Jahre 70−80 Jahre 80+ 40 35 30 25 20 15 10 5 19 52 19 55 19 58 19 61 19 64 19 67 19 70 19 73 19 76 19 79 19 82 19 85 19 88 19 91 19 94 19 97 20 00 20 03 20 06 0 b um insgesamt 47,1% zurückgegangen (Männer 41%, Frauen 60%). Dieser Rückgang gilt auch für die meisten Altersgruppen (Abb. 6 a und 6 b). Langfristiger zeigen lediglich die Raten der Männer über 90 Jahren und der Frauen der Altersgruppe 85–90 noch einen steigenden Trend, allerdings nehmen auch hier in den letzten Jahren die Raten ab. Suizidversuche Zur Abschätzung der Häufigkeit von Suizidversuchen liegen keine offiziellen statistischen Angaben vor (vgl. [20]). Zwar wurden früher in einigen Bundesländern Daten von den Landeskriminalämtern gesammelt, aufgrund der Dunkelziffern ist die Reliabilität dieser Daten aber niedrig. Man musste sich daher auf Ergebnisse von Inanspruchnahmepopulationen stützen. Von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wurde daher 1985 im Rahmen des Gesundheitsprogramms „Health for All by the Year 2000“ ein Projekt zur Erfassung möglichst wirklichkeitsgetreuer Suizidversuchsraten in Europa initiiert. Die WHO-Stichprobe für Deutschland wurde bisher in Würzburg (Stadt und Land) erfasst. Für einige Jahre liegen auch Daten aus Nürnberg, die im Rahmen der Studie zum „Nürnberger Bündnis“ [1, 8] erhoben wurden, vor. Da diese Daten aber zur Überprüfung der Effektivität Z Gerontol Geriat 1 2008 von Präventionsprogrammen erhoben wurden, geben sie kein Bild des „natürlichen“ Verlaufs wieder. Die EU fördert jetzt ein Projekt (MONSUE), bei dem mehrere deutsche Erfassungsgebiete (Würzburg, Leipzig, Nürnberg und Hamburg) vorgesehen sind. Von Hamburg und Leipzig liegen jedoch bisher noch keine Daten vor. In diesen Studie wird die WHO Arbeitsdefinition von Suizidversuch verwendet. Die Altersverteilung der Personen mit Suizidversuchen ist der der Suizide entgegengesetzt. Ältere Altersgruppen weisen deutlich niedrigere Suizidversuchsraten auf (s. Abb. 7). Bei den Suizidversuchsmethoden überwiegen im Alter „weiche“ Methoden (Vergiftungen) mit 59% bei den Männern und 78% bei den Frauen. An zweiter Stelle steht die Methode „schneidende/stechende Gegenstände“ (Männer 23%; Frauen 14%). Von der Bundesapothekenkammer wurden für den Zeitraum 2000–2005 die am häufigsten in Nürnberg und Würzburg als Suizidversuchsmittel benutzen Medikamente aus den Daten der WHO-Studien berechnet [17]. Unter den drei am häufigsten gebrauchten Substanzen sind Benzodiazepine, Nichtsteroidale Antiphlogistika (NSAIDs) und Antidepressiva zu finden. Eine altersbezogene Aufteilung liegt noch nicht vor. Wird vom Erstbehandler die Intention des Suizidversuchs beurteilt, so kovariiert sie signifikant mit Epidemiologie von Suizidalität 350 Männer 300 Suizidversuche/100.000 Abb. 7 Suizidversuchsziffern der einzelnen Altersgruppen in der Bundesrepublik Deutschland. Aus Reliabilitätsgründen sind die Jahre 2001–2005 zusammengefasst. Datenquelle: WHO Multicentre Study on Suicidal Behaviour, Berechnungen WHO-Gruppe Würzburg 9 Frauen 250 200 150 100 50 80−84 75−79 70−74 65−69 60−64 55−59 50−54 45−49 40−44 35−39 30−35 25−29 20−24 15−19 0 Alter in Jahren Abb. 8 Alter und beurteilte Intention des Suizidversuchs. Aus Reliabilitätsgründen sind die Jahre 2002–2005 zusammengefasst. Datenquelle: WHO Multicentre Study on Suicidal Behaviour. Berechnungen WHO-Gruppe Würzburg 90 80 Männer 15−25 Männer 70+ Frauen 15−25 Frauen 70+ 70 60 50 40 30 20 10 0 Pause dem Alter. Während in den jüngeren Altersgruppen bei beiden Geschlechtern mehr Suizidversuche als „parasuizidale Pause“ oder „Geste“ (nach der Klassifikation von Feuerlein), d. h. als Suizidversuche, die nicht unbedingt den Wunsch zu sterben beinhalten, beurteilt werden, werden bei den älteren Personen mehr suizidale Handlungen als Suizidversuch „im engeren Sinne“, d. h. „ernsthafte“ Suizidversuche beurteilt. Männer unternehmen dabei mehr Suizidversuche „im engeren Sinn“ als Frauen. Die Ergebnisse zeigen aber, dass die medizinische „Ernsthaftigkeit“ bzw. Gefährlichkeit der Methode nicht immer mit der „Ernsthaftigkeit“ des Suizidversuchs übereinstimmt. Zu beachten ist bei retrospektiv erfassten Angaben zur Häufigkeit von Suizidversuchen auch, dass je älter eine Person wird, umso weniger häufig eine frühere selbstschädigende Handlung als „Suizidversuch“ angegeben wird, da diese Handlungen umattribuiert werden (d. h. nicht mehr als ernsthafter Suizidversuch beurteilt werden). Bei Personen mit „ernsthaften“ Suizidversuchen ist im Vergleich zu Kontrollgruppen innerhalb von 5 Geste SV i. e. S. Jahren nach dem Suizidversuch eine erhöhte Mortalität hauptsächlich durch Suizid festzustellen. Suizidideen, -gedanken Die Erfassung von Suizidideen ist ähnlich schwierig und noch inkonsistenter als die von Suizidversuchen. In der Regel wird zunächst nicht unterschieden, ob es sich um Suizid- oder Suizidversuchsideen handelt, eine sinnvolle Unterscheidung, die von van Egmont & Diekstra [5] vorgeschlagen wurde. Die Art der Gedanken wird häufig auch ungenügend operationalisiert (z. B. „vage“, „ernsthaft“, mit „Vorbereitungsund Durchführungsgedanken“ etc.). Ferner wird häufig die Prävalenzart (Lebenszeit- , Zeitraum oder Punktprävalenz) nicht unterschieden. Es liegen daher wenig Daten aus seriösen Populationsuntersuchungen vor. Meist werden auch hier Daten aus Inanspruchnahmepopulationen herangezogen. Bei älteren Personen werden zwar höhere Raten von Lebensüberdrussgedanken berichtet. Barnow & Linden [2] geben so für über 70-Jährige bei 15% Lebensüberdrussgedanken und in 5% „Gedanken Z Gerontol Geriat 1 2008 10 A. Schmidtke et al. sterben zu wollen“ an, aber nur bei 1% Suizidideen oder -Gesten. Ganz alte Altersgruppen hatten mehr Suizidgedanken (90 +: 1,7%). Ausländische Studien berichten deutlich höhere Raten von Suizidideen bei älteren Menschen ([25] 2002 bei über 65-Jährigen: 9,5%) [30]. Für Personen in Heimpflege geben ausländische Studien für 10,6% „passive“ und für 1,2% „aktive“ Suizidideen an [15]. Risikogruppen Als Risikogruppe für Suizid und suizidale Handlungen wird eine Gruppe bezeichnet, deren Suizid- oder Suizidversuchsziffer deutlich höher ist als die der Allgemeinbevölkerung bzw. einer entsprechenden Altersund Geschlechtsvergleichsgruppe. Meist vergleicht man die standardisierten Sterbeziffern (SMR). Risikofaktoren werden definiert als „pathogene Bedingungen, die in Bevölkerungsstudien bei der Untersuchung der Entstehungsbedingungen bestimmter Krankheiten statistisch gesichert wurden“. Diese Definition dient zur Unterscheidung von nicht abgesicherten Risiken und Begleit- bzw. Folgeerscheinungen von Krankheiten. Zwar handelt es sich bei Suizid nicht um eine Krankheit, in Anlehnung an andere Modelle spricht man aber auch hier von Risikofaktoren. Alle internationalen und nationalen Untersuchungen stimmen dahingehend überein, dass eine psychische Erkrankung das Risiko suizidaler Handlungen deutlich erhöht. Vor allem Patienten mit Suiziden oder tödlichen Suizidversuchsrezidiven befinden oder befanden sich meist in psychiatrischer Behandlung. In der weitaus überwiegenden Anzahl der Untersuchungen werden daher auch hohe Prozentsätze von psychiatrischen Erkrankungen (meist affektiven Psychosen, Depressionen) bei Suizidenten berichtet: 40–89% der Suizide sollen im Kontext affektiver Erkrankungen vollzogen werden [8]. Dies gilt insbesondere für ältere Personen. Nach den bisher vorliegenden epidemiologischen Befunden werden als Gruppen mit einem besonders erhöhten Risiko für Suizide meist in der folgenden Reihenfolge angeführt: • Depressive. Fast alle Untersuchungen stimmen dahingehend überein, dass die Subgruppe der affektiven Psychosen insgesamt das höchste Suizidrisiko aufweist. Die Angaben zur Häufigkeit affektiver Psychosen bei Suizidenten sind bei älteren Menschen am höchsten (75–90%). Ob auch im Alter das Überwiegen Frauen : Männer stimmt, ist dabei nach neuen Überlegungen zur Symptomatik männlicher Depression allerdings fraglich. Nach einer Durchsicht von Untersuchungen an Depressiven ist zu vermuten, dass bis zum Tod aller Patienten einer Stichprobe Depressiver die Z Gerontol Geriat 1 2008 • • • • • Suizidrate etwa zwischen 2,2–6% liegen würde. Werden die Stichproben nach der Schwere der Depression unterschieden, so liegen die Raten bei klinisch behandelten Depressionen zwischen 4–15% wobei die Raten der stationär (auch wegen Suizidalität) behandelten Patienten an der oberen Grenze (8,6–15%) liegen. Ältere Suizidenten wurden häufiger stationär wegen Depression behandelt, und es gibt häufig eine Kovariation mit körperlichen Erkrankungen [12]. 25–50% behandelter depressiver Patienten haben in ihrer Krankheitsgeschichte einen Suizidversuch unternommen. Möglicherweise suizidieren sich Männer früher (zusf. [4, 23]). Depressive haben auch mehr Suizidgedanken: Unipolar Depressive bis 4,5%, Bipolar Depressive bis 5,2%. Zu Beginn der stationären Behandlung sollen dabei keine wesentlichen Unterschiede hinsichtlich Frequenz und Art der Suizidgedanken zu finden sein. Bei den bipolaren Störungen nehmen manche Autoren die höchste Gefährdung in der depressiven Phase an, andere Autoren halten dagegen die Phase, in der sich manische und depressive Symptome abwechseln, für am gefährlichsten bzw. für genauso risikoreich. Alkoholiker. Der Durchschnitt der Angaben zu Prozentsätzen von Alkoholikern, die sich suizidieren, beträgt etwa 14% (Bandbreite der Personen mit Abhängigkeitsdiagnose unter Suizidenten 15–56%. Das Risiko, eine Suizidhandlung zu begehen, scheint im mittleren Lebensalter höher zu sein als bei den jüngeren Altersgruppen. Suchterkrankungen bei älteren Menschen werden aber seltener erkannt. Medikamenten- und Drogenabhängige. Die Suizidgefährdung Rauschmittelabhängiger wird insgesamt 5- bis 50-mal höher als die der Durchschnittsbevölkerung geschätzt. Bei älteren Menschen ist hierzu wenig bekannt. Alte und Vereinsamte. Wie das ungarische Muster der Altersverteilung der Suizidraten schon zeigt, nimmt das Suizidrisiko mit dem Alter vor allem für Männer deutlich zu. Insbesondere für vereinsamte alte Personen ist das Suizidrisiko sehr hoch (teilweise reichen die Angaben bis zu einem 500fach erhöhten Risiko [7, 18]. Vor allem, wenn alte, einsame Menschen Angst vor der Zukunft haben, steigt das Suizidrisiko [11]. Im Alter gibt es auch einen hohen Zusammenhang zwischen traumatischen Lebensereignissen (meist Verlustereignissen) und Depression [9, 13]. Personen mit Suizidankündigungen. Personen, die schon einen Suizidversuch unternommen haben; die meisten Studien mit längeren Katamneseperioden (zwischen 8 und 20 Jahren) geben Prozentsätze zwischen 7 und 22 an. Epidemiologie von Suizidalität 11 • Als besondere Risikogruppe werden auch Patien- • • • ten mit Schizophrenieerkrankungen angesehen. Die Häufigkeit der Diagnose „Schizophrenie“ liegt bei durch Suizid Verstorbenen zwischen 2–19%. Der Anteil dieser Diagnosengruppe an Suiziden innerhalb psychiatrischer Anstalten ist relativ hoch. Auch für diese Diagnosegruppe werden bei Längsschnittuntersuchungen deutlich erhöhte Suizidraten ermittelt (bis zu 13%). Insgesamt ist der Suizid beim vorzeitigen Tod von Schizophrenen die häufigste Todesursache. Die Diagnose ist aber bei älteren Suizidenten und Personen mit Suizidversuch seltener zu finden als bei jungen Personen. Persönlichkeitsstörungen. Nach der überwiegenden Zahl der Untersuchungen bei älteren Suiziden ist diese Diagnose seltener als bei jüngeren zu finden auch weniger im Zusammenhang mit Depressionen. In der WHO-Multicenter-Studie wurden bei Personen über 60 Jahren mit Suizidversuchen im Vergleich zu jüngeren Patienten signifikant weniger Persönlichkeitsstörungen diagnostiziert (Männer 4% vs. 17%, Frauen 9% vs. 29% [18, 19]. Körperlich Kranke. Vor allem bei älteren Menschen wird immer wieder der Zusammenhang zwischen körperlicher Erkrankung und suizidalem Verhalten betont [12, 14]. Vor allem chronisch Kranke mit geringer oder fehlender Heilungsaussicht oder mit einem hohen Risiko eines letalen Ausgangs können zu den Risikogruppen gezählt werden. So soll etwa das Suizidrisiko von Dialysepatienten nach verschiedenen Untersuchungen und je nach Einbezug verschiedener „Suizidarten“ (etwa durch Nichtbefolgen ärztlicher Anweisungen) 100- bis zu 400-mal größer als das der Normalbevölkerung sein. Bei HIV-Infektionen und AIDS-Erkrankungen soll das Suizidrisiko etwa 7-mal über dem der Gesamtbevölkerung liegen. Auch Krebskranke weisen ein erhöhtes Suizidrisiko auf [14]. Suizidfälle nach Krebsaufklärung sind aber sehr viel seltener als vermutet. Nach der überwiegenden Anzahl der Untersuchungen ist auch das Suizidrisiko von Körperbehinderten deutlich erhöht. Von Querschnittsgelähmten geben etwa 40% an, oft an Suizid zu denken, insbesondere die ersten 6 Monate nach einem Unfall weisen eine hohe Gefährdung auf. Bei Demenz scheinen Angehörige das Suizidrisiko häufig aufgrund von Äußerungen der Betroffenen höher zu schätzen als es in der Realität ist. Es wird auch von Angehörigen mehr entsprechende Symptomatik berichtet als von den Betroffenen selbst. In vielen Studien zur Mortalität bei Demenz findet sich kein erhöhtes Risiko gegenüber der Allgemeinbevölkerung (z. B. bei 91- bis 104Jährigen). In einer Metanalyse wurde sogar ein ge- • • ringeres Suizidrisiko festgestellt [24]. Bei psychologischen Autopsien wurden auch kaum dementielle Erkrankungen bei Suizidenten diagnostiziert [24]. Allerdings ist die Erfassung von Suizidgedanken und intentionalen Handlungen schwierig, vor allem wenn Alkohol beteiligt ist [16]. Die Schwankungsbreite der Angaben zu Todeswünschen und Lebensüberdrussgedanken bei Patienten mit dementiellen Erkrankungen ist daher auch sehr groß (1–42%). Besondere Risikofaktoren scheinen frühes Stadium, höherer Sozialstatus und geringe subjektive Behandlungserfolge im Frühstadium zu sein. Auch Personen in Haft, insbesondere in den ersten Tagen der Haft (Untersuchungshaft), können als besonders suizidgefährdet angesehen werden. Suizid ist die häufigste Todesursache in Gefängnissen. Allerdings betrifft dies weniger ältere Personen. Vor allem Suizidenten unter 35 Jahren waren im Vergleich zu Kontrollpersonen in den letzten Monaten vor ihrem Tod signifikant häufiger inhaftiert, angeklagt oder verurteilt worden. Umstritten ist bisher noch, ob Homosexuelle eine spezifische Risikogruppe darstellen. Während einerseits relativ hohe Prozentsätze von Homosexuellen und bisexuellen Männern und lesbischen Frauen mit Suizidversuchen wie Suiziden (insbesondere bei Jugendlichen) gefunden werden (4- bis 7fach erhöht), zeigen andere Studien keine wesentliche Erhöhung der Suizidgefährdung. Spezifische Untersuchungen zu diesen Variablen im Alter liegen bisher noch nicht vor. Werden die Risikogruppen nach Zeit der Erkrankung und Krankheitsparametern differenziert, scheinen bei klinisch behandelten Patienten besonders gefährdet die ersten Monate nach der Entlassung aus einer psychiatrischen Klinik zu sein. Bei alten Menschen sind auch noch bestimmte Zeit- und Ortsvariablen zu beachten. Ältere Personen wählen häufig spezifische Tage für ihre Suizide und Suizidversuche („Gedenktagssuizide“) und häufig Orte, an denen sie schöne Stunden verbracht haben [28]. In der Zeit um das Ausscheiden aus dem Berufsleben scheinen auch finanzielle Faktoren bei Suizidideen und -handlungen älterer Menschen eine größere Rolle zu spielen. Ökologische Verteilung Die Ergebnisse der epidemiologischen Untersuchungen, die sich mit der räumlichen Verteilung von Suiziden und generellen Korrelationen mit sozialen Variablen beschäftigen, lassen sich dahingehend zu- Z Gerontol Geriat 1 2008 12 A. Schmidtke et al. sammenfassen, dass Korrelationen der Suizidhäufigkeit gefunden wurden mit Gebieten, die sich durch eine erhöhte Rate von Ein-Personen-Haushalten, der Rate von Personen pro Wohngebäude, der Rate der Geschiedenen, der Rate der strukturell unvollständigen Familien, der Rate der weiblichen Ein-PersonenHaushalte und der Rate alleinstehender Frauen, die noch andere miternähren müssen, auszeichnen (z. B. [18]). Diese spezifischen Variablen könnte man vordergründig als Indikatoren sozialer Desintegration ansehen. Die Untersuchungen zu Schichtverteilungen sind zwar insgesamt noch relativ widersprüchlich, nach der Mehrzahl der Untersuchungen wäre aber anzunehmen, dass Suizide in den oberen wie in den niedrigsten sozialen Schichten überrepräsentiert sind. Diese epidemiologischen Befunde bestätigen sich auch auf europäischer Ebene [18, 19]. Die Ergebnisse auf Makroebene zeigen auch hier übereinstimmend, dass Personen mit Suizidversuchen zu den unterprivilegierten Gruppen gehören. Diskussion Wenn auch der prozentuale Anteil an den Gesamttodesursachen zurückgeht, sind in Deutschland Suizide im Alter wesentlich häufiger als in den jungen Altersgruppen. Die Suizidziffern folgen nach wie vor dem so genannten „ungarischen“ Muster, d. h. für die alten Altersgruppen ist ein wesentlich höheres Suizidrisiko als für die jüngeren festzustellen. Durch die Veränderung der Alterspyramide und das dadurch zu erwartende weitere Ansteigen des Anteils älterer Altersgruppen werden die Absolutzahlen von Suiziden Älterer Menschen mit hoher Wahrscheinlichkeit zunehmen, auch wenn sich innerhalb der einzelnen Altersgruppen das Suizidrisiko nicht ändert. Es sollten daher entsprechende Suizidpräventionsmaßnahmen für diese Altersgruppe gefördert werden. Im Vergleich zum Beginn der 70er Jahre sind die offiziellen Suizidziffern für die Gesamtbevölkerung und die meisten Altersgruppen in den letzten Jahren deutlich zurückgegangen, obwohl eine längere Lebenserwartung zu berücksichtigen ist. Dies wurde mittlerweile auch für kürzere Zeiträume bestätigt. Versucht man die Veränderungen der Suizidhäufigkeiten über die Zeit zu interpretieren, ist vor allem bei älteren Menschen eine Trendberechnung nur sinnvoll, wenn die Fehlervarianz als stabil angenommen oder kontrolliert werden kann. Frühere Studien für Deutschland ließen die Hypothese eines Austauschs der Todesursachenklassifikation zu, denn in vielen älteren Altersgruppen stieg die Zahl der un- Z Gerontol Geriat 1 2008 klaren Todesursachen an (z. B. [22]). Überprüft man einen solchen Austausch der Todesursachenkategorien für die letzten Jahre, wäre für Deutschland eine mehr oder weniger große Konstanz der Fehlervarianz zu unterstellen. Lediglich für die Altersgruppe der Männer zwischen 60 und 70 Jahren ist noch eine signifikante Korrelation zwischen dem Rückgang der „weichen“ Suizidmethoden und dem Ansteigen „unklarer“ Todesursachen festzustellen. Die Hypothese des Ausgleichs der „Todesursachenklassifikation“ wurde mittlerweile für den Zeitraumraum 1991–2002 auch von einer anderen Arbeitsgruppe überprüft und ausgeschlossen. Die Abnahmen der Suizidziffern scheinen daher real zu sein. Die Altersverteilung der Personen mit Suizidversuchen ist der der Suizide entgegengesetzt. Ältere Menschen weisen geringere Suizidversuchsraten auf, diese scheinen aber im höchsten Alter wieder anzusteigen (vgl. z. B. [23]). Vergleicht man die Daten mit anderen europäischen Centers, so liegt das deutsche Erfassungsgebiet im unteren Drittel [19]. Die Suizidversuchsraten zeigen aufgrund der geringen Absolutzahlen in den kleinen Erfassungsgebieten vermehrt Schwankungen, es zeigten sich jedoch generell ansteigende Trends. Von den allgemeinen sozialen Faktoren sind soziale Instabilität und Armut nach den vorliegenden Befunden immer noch bedeutende Risikofaktoren für suizidales Verhalten im Alter (vgl. z. B. [18, 21]). Personen, die einen Suizidversuch unternommen haben, leben im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung häufiger in der Stadt als auf dem Land. Die Suizidversuchsraten von geschiedenen und ledigen Personen sind deutlich höher als die von verheirateten, gefährdet sind eher Personen mit niedriger Schulund Berufsausbildung [19]. Häufig wurde auch kurz vor dem Suizidversuch von familiären Verhältnissen in eine institutionelle Umgebung gewechselt [19, 21]. Von den individuellen Faktoren ist wohl der bedeutendste Risikofaktor für die Durchführung suizidaler Handlungen eine psychische Erkrankung, am häufigsten sind Depressionen zu finden [4]. Frühere suizidale Handlungen sind ebenfalls ein wesentlicher Risikofaktor für weitere Suizidversuche und Suizid. Ein nicht unerheblicher Prozentsatz von Personen unternimmt mehr als einen Suizidversuch, bei etwa der Hälfte der Personen liegt die Zeit zwischen zwei Suizidversuchen unter zwölf Monaten. Ältere Menschen, insbesondere Männer, sind aber für Präventionsmaßnahmen schlechter erreichbar [1, 8]. " Interessenkonflikt Es besteht kein Interessenkonflikt. Der korrespondierende Autor versichert, dass keine Verbindungen mit einer Firma, deren Produkt in dem Artikel genannt ist, oder einer Firma, die ein Konkurrenzprodukt vertreibt, bestehen. Die Präsentation des Themas ist unabhängig und die Darstellung der Inhalte produktneutral. Epidemiologie von Suizidalität 13 Literatur 1. Althaus D, Niklewski G, Schmidtke A, Hegerl U (2007) Veränderung der Häufigkeit suizidaler Handlungen nach zwei Jahren „Bündnis gegen Depression“. Nervenarzt 78:3, S 272–282 2. Barnow S, Linden M (2000) Epidemiology and psychiatric morbidity of suicidal ideation among the elderly. Crisis 21:4, pp 171–180 3. De Leo D, Cerin E, Spathonis K, Burgis S (2005) Lifetime risk of suicide ideation and attempts in an Australian community: prevalence, suicidal process, and help-seeking behaviour. J Affect Disord 86:215–234 4. Dennis MS, Wakefield P, Molloy C, Andrews H, Friedman T (2007) A study of self-harm in older people: mental disorder, social factors and motives. Aging Ment Health 11:520– 525 5. Egmond van M, Diekstra RFW (1990) The predictability of suicidal behavior: the results of a meta-analysis of published studies. Crisis 11:57– 84 6. 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