Journalistisches Feld und Talkshows Zur Kritik Pierre Bourdieus am
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Journalistisches Feld und Talkshows Zur Kritik Pierre Bourdieus am
Journalistisches Feld und Talkshows Zur Kritik Pierre Bourdieus am Medium Der folgende Text ist eine Seminararbeit, die ich Sommersemester 2000 in einem Seminar am Fachbereich Volkskunde der Universität Freiburg vorgelegt hatte. Inhalt: 1. Einleitung .......................................... 3 2. Das journalistische Feld ............................... 5 3. Exkurs: Sozialer Raum und Feld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 3.1 Theorie des sozialen Raums contra Substantialismus 3.2 Spezialistische Felder . . . . 13 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 4. Die Relationen zwischen journalistischem Feld und anderen Feldern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 5. Journalistisches Feld und Talk-Shows . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 6. Literatur 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 1. Einleitung »Fernsehkunde ist immer König. W o e sich auch hinzappt im bunten Gemisch der Programme er ist ein gern gesehener G ast. D ie Fernsehverantwortlichen sehen ihm seine W ünsche von den Augen und Einschaltquoten ab, kommen nur genug G leichgesinnte an einem Programmplatz zusammen. Qualität des Programms? Egal! Jede gute Quote einer noch so miserablen Sendung sprich für eine Fortsetzungsstaffel. Und jede schlechte Q uote eines anspruchsvollen Programms verlangt nach Absenkung des N iveaus oder nach dem Sende-Aus. D er Kunde will es so und nicht besser. D as ist die leise Verachtung des Fernsehkonsumenten durch die Programmmacher. [...] Und dem ZD F wird nachgesagt, seine Politsendungen ›Frontal‹ und ›Kennzeichen D ‹ ›auf Boulevard‹ trimmen zu wollen – ein T rend hin zum gut verdaulichen und leicht abzuführenden Infotainment, darauf zielend, den Publikumsgeschmack besser zu treffen und den Zuschauer bei Appetit, bei guter Laube und natürlich bei der Stange zu halten.« (Jochen Schmid, »D ie Q uote als Fetisch. Das unterschätzte Fernsehvolk: Die öffentlich-rechtlichen Sender machen Programm unter ihrem N iveau – und dem ihrer Zuschauer«, in: Zeitung zum Sonntag, Nr. 37 – 10. September 2000, S. 1) In sehr grundsätzlicher Art und Weise hat sich 1996 der französische Soziologe Pierre Bourdieu in dem Privatsender Paris Première in zwei Vorträgen1 mit der Arbeit, den Wirkungen und Auswirkungen des Fernsehens auseinander gesetzt. Um es vorwegzunehmen: Bourdieu sieht aufgrund verschiedener Mechanismen, die er in den Vorträgen beschreibt, im Fernsehen eine große Gefahr für das politische und demokratische Leben.2 Er beschäftigt sich in beiden Vorträgen, deren schriftliche Fassung auf eine Reihe vom Collège de France produzierter Kurse zurückgeht, sowohl mit der Rundfunklandschaft in Frankreich, als auch darüber hinaus mit dem, was er das »journalistische Feld« nennt und nicht nur das Fernsehen, sondern eben auch die Printmedien betrifft. Beide Vorträge mit den Titeln »Das Fernsehstudio und seine Kulissen« und »Die unsichtbare Struktur und ihre Auswirkungen« richten sich direkt an die Fernsehverantwortlichen, insbesondere aber an die Journalisten und Journalistinnen selbst. Bourdieu betont ausdrücklich und mehrfach, dass es ihm nicht um die Kritik an einzelnen Personen, also vor allem Fernsehleuten, gehe,3 sondern um die Aufdeckung unsichtbarer Strukturen im journalistischem Feld, die er für gefährlich hält. Seine diesbezügliche Kritik, die in den französischen Medien zu einer breiten und kontroversen Debatte führte4, ist daher sehr pointiert und verzichtet auf konkrete Beispiele aus dem Fernsehen selbst, um die Argumentationslinie durchzuhalten.5 Bourdieu hat seine Kritik im übrigen auch in einem 1 P. Bourdieu, Über das Fernsehen, Frankfurt am Main 1998 (Titel der Originalausgabe: »Sur la télévision« in der von Bourdieu herausgegebenen Reihe »Liber – Raison d'agir« 1996). 2 Bourdieu (wie Anm 1), S. 9. 3 Bourdieu (wie Anm. 1), S. 13, 17, 20 f., 120 f. 4 Bourdieu (wie Anm. 1), S. 129. 5 Bourdieu (wie Anm. 1), S. 11. 3 Einleitung Aufsatz unter dem Titel »Im Banne des Journalismus« systematisch dargelegt, der ebenfalls in »Über das Fernsehen« abgedruckt wurde.6 Da Bourdieus Kritik und Darstellung in engem, in den beiden Vorträgen aber nicht explizit dargelegten Zusammenhang mit seiner Theorie des sozialen Raums und der spezialisierten Felder steht, werde ich (s. S. 13 ff.) diese Theorie – die sich besonders gegen jede Form des Substantialismus oder Essentialismus wendet – in einem Exkurs beschreiben7, nachdem ich die Kritik Bourdieus am Fernsehen (s. S. 5 ff.) – das heißt seine Darstellung des journalistischen Feldes – dargestellt habe. Im nächsten Kapitel werde ich die Frage der Manipulation spezialisierter Felder durch das journalistische Feld (s. S. 18 ff.) – und umgekehrt – behandeln. Das abschließende Kapitel befasst sich – kurz – mit der Frage, inwieweit Bourdieus Kritik auch auf Talkshows angewendet werden kann (s. S. 21 ff.). 6 Vgl. Bourdieu (wie Anm. 1), S. 103-121. 7 Vgl. hierzu v.a. P. Bourdieu, Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, Frankfurt am Main 1998 (Titel der Originalausgabe: »Raison pratiques. Sur la théorie de l'action«, Paris 1994); P. Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt am Main 1987 (Titel der Originalausgabe: »La distinction. Critique sociale du jugement«, Paris 1979). 4 2. Das journalistische Feld Ich will vorausschicken, dass ich in Bourdieus Kritik des journalistischen Feldes auch Ansätze einer Kritik zumindest der Talkshows sehe, die von Inszenierung und Dramatisierung leben und nicht von der inhaltlichen Kommunikation, wie wir sie gewohnt sind. Dazu aber später. Bourdieu betont in seinem ersten Vortrag, dass er die ungewöhnliche Möglichkeit hatte, über die Produktionsmittel im Fernsehen dadurch umfänglich zu verfügen, als er sagen konnte, was er wollte und solange er wollte.8 Gerade deswegen sei es bemerkenswert, dass sich die meisten Forscher, Wissenschaftler etc. nicht die Frage der Zugangsbeschränkungen zum Fernsehen stellen würden: limitierte Zeit, Themen vorgeschrieben, nicht jedem wird der Zugang zum Fernsehen erlaubt.9 Bourdieu lehnt es trotzdem nicht ab, im Fernsehen aufzutreten, wenn gewisse Vorfragen geklärt sind: »Geht das, was ich zu sagen habe, jeden an? Bin ich bereit, meine Rede formal so zu gestalten, dass sie alle verstehen? Verdient sie, von allen verstanden zu werden? Mehr noch: Soll sie überhaupt von allen verstanden werden? Eine Aufgabe gerade der Forscher und Wissenschaftler [...] besteht darin, die Erträge ihrer Forschung allen zugänglich zu machen«, und nicht, um möglichst oft im Fernsehen zu erscheinen, eigene Schriften überhaupt nur zu verfassen, um wieder im Fernsehen wahrgenommen zu werden.10 Um Bourdieu zu verstehen, will ich im folgenden thesenartig seine Kritik vorstellen. Die einzelnen Thesen zusammengenommen beschreiben das, was Bourdieu das »journalistische Feld« nennt.11 Unter einem Feld versteht er einen strukturierten gesellschaftlichen Raum, »ein Kräftefeld – es gibt Herrscher und Beherrschte, es gibt konstante, ständige Ungleichheitsbeziehungen in diesem Raum –, und es ist auch eine Arena, in der um Veränderung oder Erhaltung dieses Kräfteverhältnisses gekämpft wird. In diesem Universum bringt jeder die (relative) Kraft, über die er verfügt und die seine 8 Bourdieu (wie Anm. 1), S. 15. 9 Vgl. Bourdieu (wie Anm. 1), S. 16. Wobei andererseits es eben diese Zugangsmodalitäten sind, die einem im wissenschaftlichen Feld hochrangigen Wissenschaftler wie Bourdieu überhaupt das Privileg verschaffen, in einer derart offenen und uneingeschränkten Weise in diesem Medium zu reden. Ein Beweis für Bourdieus eigene Einschätzung des Mediums! 10 Bourdieu (wie Anm. 1), S. 16, 18. 11 Zur Theorie des sozialen Raums und des Feldes vgl. das nächste Kapitel sowie Bourdieu, Praktische Vernunft ... (wie Anm. 7), insbesondere S. 48-52. Zur Verdeutlichung dieser Theorie vgl. die Beispiele dort zur Entstehung und Struktur des bürokratischen Feldes (S. 96-136) oder auch zum Feld der kulturellen Produktion (S. 56-90). 5 Das journalistische Feld Position im Feld und folglich seine Strategien bestimmt, in die Konkurrenz mit den anderen ein. Die wirtschaftliche Konkurrenz der Sender oder Zeitungen um Leser oder Zuschauer oder [...] um Marktanteile spielt sich konkret in Form einer Konkurrenz zwischen den Journalisten ab, und diese Konkurrenz hat ihre eigenen spezifischen Ziele: den scoop12, die Exklusivmeldung, das berufliche Ansehen, und sie wird nicht als rein wirtschaftlicher Kampf um finanzielle Gewinne erfahren und verarbeitet, obwohl sie den Zwängen unterliegt, die mit der Position eines Informationsmediums innerhalb ökonomischer und symbolischer Kräfteverhältnisse verbunden sind«.13 Die Rahmenbedingungen, unter denen Fernsehen heutzutage strukturiert ist, lassen sich, so Bourdieu, wie folgt beschreiben: Erstens herrscht im Fernsehen eine unsichtbare Zensur. Im Gegensatz zur für jeden offensichtlichen, politischen Zensur, die z.B. in Diktaturen durch das Verbot von Parteien, d.h. Meinungen, politischen Zielsetzungen usw., charakterisiert ist und sich auch ideologisch mehr oder weniger klar und deutlich artikuliert14, fällt offenbar niemandem auf, dass im Fernsehen nicht nur die Redezeit beschränkt, sondern auch die Voraussetzungen des Auftritts von Personen und die Themen vorgegeben sind. Dieser unsichtbaren Zensur sind auch die Journalisten selbst unterworfen; denn durch die Unsicherheit ihrer Arbeitsplätze ist der Hang zu politischem Konformismus nicht gerade gering.15 Bourdieu nennt diese Zensur unsichtbar, weil sie offenbar alle für selbstverständlich halten und kein offener Zwang ausgeübt wird, im Fernsehen aufzutreten oder 12 Knüller. 13 Bourdieu (wie Anm. 1), S. 57 f. (Hervorhebung im Original). 14 In seiner Auseinandersetzung mit der Genese des bürokratischen Feldes macht Bourdieu allerdings deutlich, dass auch in rechtsstaatlich und demokratisch strukturierten Gesellschaften der Moderne eine ganz andere, unsichtbare, unbewusste, aber (eben nicht im Sinne von Freuds Begriff des Unbewussten) aufdeckbare »Zensur« wirkt, die dadurch zustande kommt, dass sämtliche Vorannahmen und Vorkonstruktionen, die den Staat zum Staat machten, es uns schwer machen, den Staat, d.h. seine Entstehung und Wirkungsweise zu analysieren. Bourdieu selbst zeigt am Beispiel der Rechtschreibreform, dass die Gegner dieser Reform in Verteidigung des bisherigen Systems der Rechtschreibung in Denkkategorien verhaftet bleiben, die der Staat selbst erst geschaffen hat. »Die Konstruktion des Staates geht einher mit der Konstruktion eines gemeinsamen historischen, all seinen ›Subjekten‹ immanenten Transzendentalen. Durch den Rahmen, den er den Praktiken setzt, sorgt der Staat für die Einführung und Verinnerlichung der gemeinsamen Wahrnehmungsformen und -kategorien sowie Denkformen und -kategorien, der sozialen Rahmen von Wahrnehmung, Vernunft oder Gedächtnis, der mentalen Strukturen, der staatlichen Formen der Klassifikation. Damit schafft er die Voraussetzungen für eine Art unmittelbarer Abstimmung der Habitus, welche selber die Grundlage einer Art Konsensus über jenes Ensemble der von allen geteilten Selbstverständlichkeiten bildet, das den common sense ausmacht.« Bourdieu, Praktische Vernunft ... (wie Anm. 7), S. 117 (Hervorhebung im Original). Es handelt sich also hier nicht um eine von oben verordnete »Zensur«, sondern um eine verinnerlichte, zur Selbstverständlichkeit gewordene Selbst-Zensur, die besonders deutlich macht, dass moderne Gesellschaften in extremen Maße auf sozialdisziplinierenden, d.h. auch Selbstdisziplinierung einschließenden, Mechanismen beruhen. Dies gilt, wie Bourdieu deutlich macht, für alle sozialen Felder, seien es kulturelle, wissenschaftliche oder sonstige, weil der Mechanismus der Genese, d.h. der Geschichte der Voraussetzungen und Bedingungen der Entstehung weitgehend autonomer Felder, im Prozess der relativen Verselbständigung der Felder verloren geht. Die unsichtbare (aber doch sichtbar zu machende) Zensur des journalistischen Feldes gilt also, folgt man Bourdieu, für alle Felder des sozialen Raumes. 15 6 Vgl. Bourdieu (wie Anm. 1), S. 19. Das journalistische Feld nicht, etwas zu sagen oder zu schweigen. Es handle sich vielmehr um Mechanismen, die zur Aufrechterhaltung einer symbolischen Ordnung16 beitragen, also um symbolische Gewalt, »die sich der stillschweigenden Komplizität derer bedient, die sie erleiden, und oft auch derjenigen, die sie ausüben, und zwar in dem Maße, in dem beide Seiten sich dessen nicht bewusst sind, dass sie sie ausüben oder erleiden«.17 Dies betrifft aber nicht nur die Zugangsvoraussetzungen für außerhalb des Fernsehens stehende Personen, sondern auch die Frage, welche thematischen Schwerpunkte ein Sender unter der Diktatur der Einschaltquote an den Beginn etwa von Nachrichtensendungen stellt. Bourdieu geht noch einen Schritt weiter und bezeichnet den Zwang zum scoop als Grundlage der Spaltung oder Vertiefung der Spaltung zwischen denjenigen, die die anspruchsvolle politische Tagespresse lesen können und daher ihre Aufgabe als Staatsbürger – wozu die Möglichkeit des Zugangs zu den relevanten politischen Meldungen gehört18 – wahrnehmen können, und denjenigen, die möglicherweise keine Tageszeitung lesen und nur Fernsehen besitzen und daher Sendungen ausgesetzt sind, die die sog. »vermischten Meldungen« über Blut und Sex, Tragödien und Verbrechen in den Mittelpunkt stellen.19 16 In anderem Zusammenhang erläutert Bourdieu an einem Beispiel, was er unter symbolischem Kapital versteht: »Die Ehre der Mittelmeergesellschaften ist eine typische Form von symbolischem Kapital, das nur vermittelt über die Reputation existiert, das heißt über die Vorstellung, die sich die anderen insoweit von ihr machen, als sie einen Komplex von Überzeugungen teilen, die geeignet sind, sie bestimmte Eigenschaften und Verhaltensweisen als ehrend oder entehrend wahrnehmen und einschätzen zu lassen.« Bourdieu, Praktische Vernunft ... (wie Anm. 7), S. 108. Mithilfe symbolischen Kapitals lassen sich Machtstrukturen aufrechterhalten, aber nur sofern die Wahrnehmungs- und Gliederungsprinzipien, die solchem symbolischem Kapital anhaften, verinnerlicht werden. Ist diese Verinnerlichung tradiert, d.h. wird von ihren Entstehungsbedingungen abstrahiert, was wiederum nur möglich ist, wenn sie sich relativ verselbständigt haben, erscheinen symbolisches Kapital und die damit verbundenen (konstruierten) Strukturen als selbstverständlich – im Gegensatz zu einem Außenstehenden, d.h. jemandem, der andere Wahrnehmungsstrukturen internalisiert hat, und der darum mit dem System der Ehre nichts anfangen kann. 17 Bourdieu (wie Anm. 1), S. 21 f. 18 Neben der Möglichkeit des Zugangs zu den relevanten Meldungen spielt aber auch die Möglichkeit des Zugangs vermittels Medien eine Rolle, in denen über relevante Meldungen in noch ganz anderer, d.h. ausführlicherer Weise, berichtet wird und in denen von ansonsten nicht oder nur am Rande vermerkten Informationen die Rede ist, die für die Beurteilung politischen oder sonstigen Geschehens Bedeutung haben (könnten). Der Zugang zum World Wide Web und die entsprechend professionelle Bedienung – d.h. wo ich was in welcher Form finde – könnte in diesem Zusammenhang enorme Bedeutung haben. 19 Vgl. Bourdieu (wie Anm. 1), S. 23. 7 Das journalistische Feld Zweitens besteht diese Zensur20 aber nicht nur darin, Unwichtiges und Belangloses in den Vordergrund zu stellen, sondern auch im Verstecken durch Zeigen. Die Journalisten interessierten sich etwa nur dann für die Situation in den Pariser Vorstädten, wenn es dort einmal wieder zu einem »Aufruhr« gekommen sei. Schon in der Kennzeichnung solcher Vorgänge als Aufruhr werde deutlich, dass Journalisten sich nur für das Ungewöhnliche interessierten, das Außerordentliche, das wiederum nur außerordentlich sei im Verhältnis zu dem, was in bezug auf die Nachrichten in den anderen Medien ungewöhnlich sei. Man berichtet z.B. nicht nur über die erfolgreiche Befreiung von Schulkindern aus der Hand eines Geiselnehmers. Das reicht nicht. Ein Sender muss tags darauf die Vorbereitung der Polizeiaktion zeigen, bei der der Geiselnehmer angeschossen wurde, ein anderer die unmaßgebliche Meinung der Nachbarn über den Geiselnehmer in aller Breite wiedergeben usw. In den Pariser Vorstädten – um auf Bourdieus Beispiel zurückzukommen – interessiert also nur der als »Aufruhr« titulierte Protest von Jugendlichen oder auch kriminelle Handlungen größeren Ausmaßes, nicht aber die tagtägliche Tristesse ihres Lebens. Dieses Gewöhnliche, Alltägliche, Banale ist nichts für das Fernsehen.21 Fernsehen heißt Dramatisierung; Dramatisierung heißt zum einen Umsetzen eines Ereignisses in Bilder und Text und zum anderen Übertreibung des Stellenwerts der Nachricht, des Ereignisses. 20 Um noch einmal darauf hinzuweisen: Der hier verwendete Begriff von Zensur unterscheidet sich von dem üblichen Verständnis von Zensur dadurch, dass gewohnterweise, eingeübter Weise Macht, Zensur oder Herrschaft mit der Vorstellung von einem Zentrum verbunden werden, von dem aus sie ausgeübt werden. Oder wie Foucault schreibt: Die »Macht ist nicht so sehr etwas, was jemand besitzt, sondern vielmehr etwas, was sich entfaltet; nicht so sehr das erworbene oder bewahrte ›Privileg‹ der herrschenden Klasse, sondern vielmehr die Gesamtwirkung ihrer strategischen Positionen – eine Wirkung, welche durch die Position der Beherrschten offenbart und gelegentlich erneuert wird. Andererseits richtet sich diese Macht nicht einfach als Verpflichtung oder Verbot an diejenigen, welche ›sie nicht haben‹; sie sind ja von der Macht eingesetzt, die Macht verläuft über sie und durch sie hindurch; sie stützt sich auf sie, ebenso wie diese sich in ihrem Kampf gegen sie darauf stützen, dass sie von der Macht durchdrungen sind«. M Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main 1994, S. 38. Ähnlich Bourdieu: »Die Herrschaft ist nicht die direkte und einfache Wirkung des Handelns einer über die Zwangsgewalt verfügenden Gruppe von Akteuren (der ›herrschenden Klasse‹), sondern die indirekte Wirkung eines komplexen Bündels von Handlungen, zu denen es im Netz der einander überkreuzenden Zwänge kommt, denen jeder dergestalt von der Struktur des Felds, mittels dessen die Herrschaft ausgeübt wird, beherrschten Herrschenden von seiten jeweils aller anderen unterliegt.« Bourdieu, Praktische Vernunft ... (wie Anm. 7), S. 52. Zensur kann daher durchaus als Merkmal einer Struktur begriffen werden, eines Feldes oder auch des sozialen Raums insgesamt, das allseits als akzeptiert angesehen wird oder – weil es unsichtbar wirkt – sich entfaltet, ohne dass seine Wirkungen und die damit verbundenen Folgen abgeschätzt werden können. Die Prioritätensetzung z.B. bei den Fernsehnachrichten kann Zensur darstellen, ohne dass sich jemand dessen und der Konsequenzen bewusst ist. So kann es geschehen, dass die Meinung entsteht, Katastrophen aller Art würden die Welt beherrschen, ohne dass diese Meinung dazu verleiten würde, hinter die »Katastrophen« zu schauen und die Mechanismen etwa von »Naturkatastrophen« (Hungersnöten, Überschwemmungen usw.) aufzudecken, die ganz wesentlich mit den (auferlegten) Lebensbedingungen derjenigen zu tun haben, die sie treffen. 21 8 Vgl. Bourdieu (wie Anm. 1), S. 25 ff. Das journalistische Feld Und die Dramatisierung ist umso stärker, je schärfer der Zwang zum Exklusiven, Sensationellen usw. wird. Durch die Jagd nach dem Knüller entsteht unmittelbar die Gefahr des effet du réel: Da das Fernsehen zeigen, visualisieren kann, erzeugt es eine Realität, die für real gehalten werden kann und wird. Es erzeugt Meinungen, ja es konstruiert eine Wirklichkeit, die sogar sozial mobilisieren oder demobilisieren kann.22 Journalisten haben – wie alle anderen auch – bestimmte Wahrnehmungsgewohnheiten. Doch da sie Journalisten sind, haben sie Zugang zu einem Medium, durch das diese spezielle Art der Wahrnehmung unter dem Zwang zum scoop und unter dem Druck der Einschaltquote Wirklichkeit auch für andere in einer speziellen Weise konstruiert. Hierin sieht Bourdieu die Hauptgefahr, die vom Fernsehen ausgeht. Er geht so weit zu behaupten: Wer heute etwas erreichen wolle, müsse sich, statt auf der Straße zu demonstrieren, einen Werbeberater engagieren, der schlichtweg die Aufgabe habe, das angestrebte Ziel im Fernsehen mediengerecht darzustellen.23 Ein drittes Moment, das das journalistische Feld beherrscht, ist die zirkuläre Zirkulation der Nachrichten. Damit meint Bourdieu, dass die wenigsten Nachrichten z.B. wirklich originär sind. Sie stammen meist von anderen Journalisten, Presseagenturen, aus der Hauptquelle der Information der Journalisten, der täglichen Presseschau usw.: »Wenn man sich die naiv scheinende Frage stellt, wie die Leute sich eigentlich informieren, deren Aufgabe darin besteht, uns zu informieren, zeigt sich, dass sie, grob gesagt, von anderen Informanten informiert werden. [...] Das Entscheidende [..] an der Information, jene Information über die Information nämlich, die zu entscheiden ermöglicht, was wichtig, was übermittelnswert ist, kommt zum größten Teil von anderen Informatoren. Und das führt zu einer Art Nivellierung, einer Homogenisierung der Wichtigkeitshierarchien«.24 Auch bezüglich der zirkulären Zirkulation von Information spricht Bourdieu von einer Art Zensur.25 Viertens zeitigt der Zwang, in der Konkurrenz der Sender möglichst immer vorne zu stehen, einen engen, und zwar negativen Zusammenhang zwischen Denken und Geschwindigkeit. Wer über etwas (nach)denken will, benötigt Zeit, manchmal sehr viel Zeit; im Fernsehen ist dafür keine Zeit. Die Dringlichkeit des Arbeitsablaufs im 22 Vgl. Bourdieu (wie Anm. 1), S. 28. 23 Vgl. Bourdieu (wie Anm. 1), S. 29. 24 Bourdieu (wie Anm. 1), S. 34 f. (Hervorhebung im Original). 25 Vgl. Bourdieu (wie Anm. 1), S. 33 f. 9 Das journalistische Feld journalistischen Feld zwingt geradezu dazu, nicht längere Zeit über etwas nachzudenken; denn man benötigt den Knüller, und zwar rasch. Dies gilt, so Bourdieu, aber nicht nur für die Journalisten selbst, sondern auch für die Experten. Das Fernsehen erteilt nur denjenigen von ihnen immer wieder das Wort, die man als reaktionsschnelle fastthinker bezeichnen könnte. Und dieses fast-thinking wiederum ist nur möglich, wenn man Gemeinplätze von sich gibt, bei denen die Kommunikation ohne weitere Umstände gelingt. »Die ›Gemeinplätze‹, die im alltäglichen Gespräch eine enorme Rolle spielen, haben den Vorteil, dass jedermann sie aufnimmt und augenblicklich versteht: Aufgrund ihrer Banalität sind sie dem Sender wie dem Empfänger gemeinsam. Im Gegensatz dazu ist Denken von vornherein subversiv: Es muss damit beginnen, die ›Gemeinplätze‹ zu demontieren, und damit fortfahren, dass es demonstriert, Beweise führt«.26 Wissenschaftlich Arbeitende wissen, dass wissenschaftliches Arbeiten lange Beweisketten mit sich bringt. Wie lange benötigt man dafür, Argumente in einer wissenschaftlichen Arbeit zu entfalten, möglichst viele Aspekte des Themas, der These zu berücksichtigen, Einwände zu formulieren oder zu verwerfen etc. Im Fernsehen – damit haben sich Sender wie Empfänger, Journalisten wie Zuschauer offenbar abgefunden – ist diese »Entfaltung des denkenden Denkens« außer Kraft gesetzt.27 Ein fünftes Moment erschließt sich nach allem, was Bourdieu bisher entwickelt hat, fast logisch: das sind zum einen die echt falschen Debatten zwischen Leuten, die sich genau kennen, im Fernsehen aber vortäuschen, Streitgespräche zu führen. Es handelt sich hier um eine Art geschlossene Gesellschaft, die sich ständig in ihren Ansichten selbst bestätigt.28 Daneben gibt es die falsch echten Debatten, die wirklich gegensätzlichen Standpunkten scheinbar Raum lassen. Bei genauem Hinsehen erschließt sich aber, dass dies schon durch die Diskussionsführung des Moderators nicht gegeben ist, der die Redezeit vorgibt, der sich gegenüber Gästen positiv oder negativ verhalten kann, der 26 Bourdieu (wie Anm. 1), S. 39 f. 27 Vgl. Bourdieu (wie Anm. 1), S. 40. 28 Um nur ein Beispiel zu nennen: Das »Literarische Quartett« mit Literaturbeflissenen, die sich und ihre Positionen, Haltungen, Meinungen, Kriterien tatsächlich seit Jahren kennen. Allerdings ist der Bruch einer Beteiligten mit der Sendung insofern interessant, als Frau Löffler das »krokodilhafte« Verhalten des Herrn Reich-Ranicki zwar auch seit Jahren bekannt war, allerdings nicht in der Form beleidigender Äußerungen, die zwar den Rahmen des Erlaubten sprengten, woraus Frau Löffler jedenfalls ihre Konsequenzen zog, doch zugleich sich an der Struktur der Sendung nichts, aber auch gar nichts änderte. Sanktionen in irgendeiner Form waren nicht angesagt. Es ist überhaupt erstaunlich, wie fest manche Sendungen ungewohntes Verhalten einzelner Beteiligter ungeschadet überdauern: So verließ letztes Jahr Peter Sloterdijk die Baden-Badener Runde von Frau Höhler, weil er das Herbeten neoliberaler Ideologeme eines beteiligten Gastes unter dem sonst üblichen Niveau der Gesprächsrunde empfand und sich auf dieses Niveau nicht herablassen wollte. Die Sendung lief ohne ihn, aber auch ohne jegliche verbale Reaktion der anderen Beteiligten munter weiter. 10 Das journalistische Feld durch Mimik, Gestik, Fragen, auf die jemand überhaupt nicht vorbereitet ist, usw. den Verlauf einer solchen Fernsehsendung weitgehend bestimmen kann. Das geschieht – ohne dass es irgendwo sichtbar würde – schon durch die Art und Weise, wie im Hintergrund festgelegt wird, wer zu einem bestimmten Thema eingeladen wird und wer nicht, welche Meinungen damit vertreten sind und welche nicht usw.29 Bourdieu hat schon sehr früh auf die unsichtbare Zensur, die in sozialen Feldern ausgeübt wird, hingewiesen. In einem Redebeitrag auf einem literaturwissenschaftlichen Kolloquium im Mai 1974 wies er u.a. auf folgende Zusammenhänge zwischen Feldstruktur und Zensur hin: »Jeder Ausdruck stellt einen Kompromiss zwischen einem Ausdrucksinteresse und einer Zensur dar, die in der Struktur des Feldes besteht, in dem dieser Ausdruck angeboten wird, und dieser Kompromiss ist das Produkt einer Euphemisierungsarbeit, die bis zum Schweigen gehen kann, dem Grenzfall des zensierten Diskurses.«30 Unter Euphemisierung versteht Bourdieu, dass die Abarbeitung realer Bezüge in einem bestimmten Feld durch die Struktur dieses Feldes vorgegeben ist. Wenn ich im soziologischen Diskurs über Familie und Individuen in der Familie handle, so haben beide – Familie und Individuum – einen realen Bezug, d.h. ich kann über sie auch in einem ganz normalen, alltäglichen Sinne diskutieren (über meine Familie, seine Kinder, ihren Mann usw.). Durch die Einbettung dieser realen Phänomene in das soziologische Feld bekommen sie aber eine Art Zensur, und zwar dadurch, dass Familie und Individuum in einer vom Feld vorgegebenen, vor-strukturierten Weise behandelt werden, etwa durch soziologische Begriffe wie Individualisierung, Kernfamilie, Wandel familiärer Strukturen, Untergang der Familie ja oder nein, usw. Dieser Prozess der Euphemisierung (»Verhüllung«, d.h. Einhüllung des Diskurses in die Struktur des jeweiligen Feldes) besteht in einer Art Kompromissbildung: Das, was ich sagen wollte oder sollte, und das, was ich bei gegebener Feldstruktur gesagt habe. Ich gebe also dem, was ich sagen will, eine bestimmte, durch das Feld vorgegebene Form. So wird ein – verständiger – Psychologe auf einem Psychologenkongress das Thema »Depression« entsprechend der Strukturiertheit des psychologischen Feldes anders behandeln, »euphemisieren«, als wenn er sich z.B. zum selben Thema in einer von möglicherweise Millionen gesehenen Fernsehdiskussion äußert: 29 Vgl. Bourdieu (wie Anm. 1), S. 41-49. 30 P. Bourdieu, Die Zensur (1974), in: P. Bourdieu, Soziologische Fragen, Frankfurt am Main 1993, S. 131-135, hier S. 131 (Hervorhebung im Original). 11 Das journalistische Feld »Ich will damit sagen, dass die allerspezifischsten Merkmale des Diskurses, seine Merkmale als Form, und nicht nur sein Inhalt, auf die sozialen Bedingungen seiner Produktion zurückzuführen sind, das heißt auf die Bedingungen, die für das gelten, was zu sagen ist, und auf die Bedingungen, die für das Rezeptionsfeld gelten, in dem dieses Zu-Sagende gehört werden wird.«31 Summa summarum stellt sich Fernsehen für Bourdieu als ein Feld dar, in dem Autonomie und Freiheit durch »bis zum Absurden reichende Konkurrenz« zwischen Journalisten, »aber zugleich auch heimliches Einverständnis und objektive Komplizenschaft«32 immer weiter zurückgedrängt worden seien. Der unter dem Druck von Einschaltquote und Jagd nach dem Sensationellen entstehende Zwang, immer mehr Zuschauer, d.h. ein immer breiteres Publikum erreichen zu müssen, führt zur Banalisierung und Homogenisierung des Inhalts, was wiederum – angesichts des Verbreitungsgrades des Fernsehens – auf andere gesellschaftliche Felder enorme Auswirkungen haben kann. Diese Zensur kann nur wirken, indem man die Produkte des Mediums als quasi autonome Objekte behandelt und ihnen dadurch alles gibt, was sie wollen. Nur so kann der Eindruck entstehen, Fernsehen, das was gezeigt und gesagt wird, sei real und nicht nur virtuelle Realität oder im Sinne des Feldes verarbeitete Realität. Diese Wirkung des Fernsehens, und des journalistischen Feldes insgesamt, ist nur dann als bedingt sichtbar zu machen, wenn man die Entstehungsbedingungen des Feldes offenlegt und damit auch Zensur als das erkennt, was sie ist: eine »Verhüllung« des Ausdrucks, des Auszudrückenden durch die Strukturdeterminiertheit des Feldes. 31 Bourdieu (wie Anm. 30), S. 131. 32 Vgl. Bourdieu (wie Anm. 1), S. 50. 12 3. Exkurs: Sozialer Raum und Feld 3.1 Theorie des sozialen Raums contra Substantialismus Ein zentraler Ausgangspunkt der Soziologie Pierre Bourdieus ist der Bruch mit der, wie er es nennt, substantialistischen Denkweise33, die davon ausgeht, dass Verhaltensweisen, Vorlieben, Handlungen bestimmter Individuen oder Gruppen zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer bestimmten Gesellschaft fixe, d.h. ein für allemal gültige, weil auf biologische, »rassische« oder kulturelle Wesensmerkmale zurückgehende Eigenschaften darstellen. Zu solchen substantialistischen Denkmodellen gehört beispielsweise, dass einer in Nationalstaaten organisierten Gesellschaft – und zwar sowohl im Vergleich mit anderen solchen Gesellschaften, als auch in bezug auf verschiedene Zeitabschnitte derselben Gesellschaft – eine kollektive Identität an-konstruiert wird, deren Merkmale – »vererbt« über »Blut« oder »Kultur« – zwar einen Formwandel durchmachen könnten, in ihrem »Wesen« aber immer gleich blieben. »Gerade das merkwürdige Gebaren neu gebildeter Nationalstaaten, ›historische Wurzeln‹ bis in graue Vorzeiten auszugraben und vorzeigen zu müssen, hat etwas eigentümlich Zwanghaftes, als müsse sich eine zum Bewusstsein ihrer selbst als Nation gekommene staatsbürgerliche Gemeinschaft für die offenbare und beunruhigende Kontingenz entschädigen, dass sie in einem begrenzten Gebiet in einer begrenzten Zeit unter begrenzten Umständen und als nur eine unter vielen dergleichen entstanden ist. So muss alles ›wirklich‹ identitär Wertvolle (die eigene Sprache und Kunst, die eigenen Gesetze und Götter, das eigene Stammgebiet etc.) möglichst immer schon da gewesen sein.«34 Doch die substantialistische Denkweise bezieht sich nicht nur auf Kollektive wie Nationalstaaten, sondern kann ebenso auf andere »Wir«-Gruppen oder Individuen bezogen sein. Demgegenüber geht es Bourdieu um den Zusammenhang zwischen sozialer Position als relationalem Begriff, den Dispositionen, also dem, was er Habitus nennt, und den Positionen, die jemand einnimmt. Dabei sei wichtig, »dass ein Vergleich nur zwischen Systemen möglich ist und dass bei der Suche nach direkten Äquivalenten zwischen isoliert gesehenen Merkmalen, ob sie nun auf den ersten Blick unterschiedlich, aber ›funktional‹ oder sachlich äquivalent [...] oder nominell identisch [...] sind, immer die Gefahr besteht, dass strukturell unterschiedliche Merkmale unzulässigerweise gleichgesetzt oder strukturell gleiche Merkmale fälschlich unterschieden werden«.35 33 Vgl. u.a. Bourdieu, Praktische Vernunft ... (wie Anm. 7), S. 15 ff. 34 M. Kettner, Nachträglichkeit. Freuds brisante Erinnerungstheorie, in: J. Rüsen, J. Straub (Hrsg.), Die dunkle Spur der Vergangenheit. Psychoanalytische Zugänge zum Geschichtsbewusstsein. Erinnerung, Geschichte, Identität 2, Frankfurt am Main 1998, S. 33-69, hier S. 66 (Hervorhebung im Original). 35 Bourdieu, Praktische Vernunft ... (wie Anm. 7), S. 17 f. (Hervorhebung im Original). 13 Exkurs: Sozialer Raum und Feld Bei dem, was häufig als »natürliches«, substantielles, unveränderliches oder nur in der Form wandelbares Merkmal einer Person oder Gruppe aufgefasst wird, handle es sich real nur um eine Differenz, ein Unterscheidungsmerkmal, also ein relationales Merkmal, »das nur in der und durch die Relation zu anderen Merkmalen existiert«.36 Sozialer Raum ist also durch die Relation von Positionen, die jeweils klar und deutlich bestimmbar sind und nebeneinander bestehen, charakterisiert, wobei die Position eines Merkmals (oder auch eines Individuums oder einer Gruppe mit Merkmalen) sich jeweils durch ihr Verhältnis zu allen anderen ergibt und diese Relationen im sozialen Raum durch zwei Unterscheidungsprinzipien bestimmt werden: nämlich das ökonomische und das kulturelle Kapital .37 Der Habitus, »Geschmack« als generatives und vereinheitlichendes Prinzip »rückübersetzt« die Merkmale einer Position in einen einheitlichen Lebensstil, d.h. das Ensemble der Güter, Personen und Praktiken, die ein Individuum für sich ausgewählt hat: was es isst, wie es sich kleidet, welchen Sport es treibt, mit wem es verkehrt, welche politischen Meinungen es hat usw. Dieser Auswahl entsprechen analoge Wahrnehmungs-, Gliederungs-, Klassifizierungsprinzipien, mit denen die unterschiedlichen Praktiken usw. symbolisiert werden und sich von anderen Wahrnehmungsprinzipien etc. und anderen Habitus unterscheiden. Jede Änderung in diesem relationalen sozialen Raum an einem bestimmten Punkt hat Einfluss auf alle anderen. Das bedeutet, die Theorie des sozialen Raums hat eine relationale, aber zugleich eine historische, generative Komponente. In diesem Sinn ist es möglich, theoretische Klassen höchstmöglicher Homogenität zu konstruieren, die mit dem Klassenbegriff38 des Marxismus oder substantialistischen Kategorien nichts zu tun haben: »Es existieren keine sozialen Klassen (auch wenn die an der Theorie von Marx orientierte politische Arbeit in bestimmten Fällen dazu beigetragen haben mag, ihnen eine Existenz zumindest in Gestalt von Mobilisierungsinstanzen und Mandatsträgern zu geben). Was existiert, ist ein sozialer Raum, ein Raum von Unterschieden, in den die Klassen gewissermaßen virtuell existieren, unterschwellig, nicht als gegebene, sondern als herzustellende.«39 36 Bourdieu, Praktische Vernunft ... (wie Anm. 7), S. 18. 37 Vgl. hierzu etwa das Diagramm in Bourdieu, Die feinen Unterschiede ... (wie Anm. 7), S. 212-213 bzw. in vereinfachter Form in Bourdieu, Praktische Vernunft (wie Anm. 7), S. 19. 38 »Eine soziale Klasse ist definiert weder durch ein Merkmal (nicht einmal das am stärksten determinierende wie Umfang und Struktur des Kapitals), noch durch die Summe von Merkmalen (Geschlecht, Alter, soziale und ethnische Herkunft [...], Einkommen, Ausbildungsniveau, etc.) , noch auch durch eine Kette von Merkmalen, welche von einem Hauptmerkmal (der Stellung innerhalb der Produktionsverhältnisse) kausal abgeleitet sind. Eine soziale Klasse ist vielmehr definiert durch die Struktur der Beziehungen zwischen allen relevanten Merkmalen, die jeder derselben wie den Wirkungen, welche sie auf die Praxisformen ausübt, ihren spezifischen Wert verleiht.« Bourdieu, Die feinen Unterschiede ... (wie Anm. 7), S. 182 (Hervorhebungen im Original). 39 Bourdieu, Praktische Vernunft ... (wie Anm. 7), S. 26 (Hervorhebung im Original). 14 Exkurs: Sozialer Raum und Feld Das bedeutet aber nicht, dass derartige theoretische Klassen nur im Kopf existieren, denn ihre Konstruktion resultiert aus der Beschreibung von Habitus, sozialer Position und Position, die jemand bezüglich einer bestimmten Praxis einnimmt: Ich stehe in der Welt, im sozialen Raum als ein Punkt, ein Standpunkt, mit einer Sichtweise, einer Perspektive, relational zu allen anderen »Ichs«: »Die von außen und direkt sichtbaren Lebewesen, ob Individuen oder Gruppen, leben und überleben nur im und durch den Unterschied, das heißt nur insofern, als sie relative Positionen in einem Raum von Relationen einnehmen, die, obgleich unsichtbar und empirisch stets schwer nachzuweisen, die realste Realität [...] und das reale Prinzip des Verhaltens der Individuen und Gruppen darstellen.«40 Für die Sozialwissenschaft geht es daher nicht so sehr um die Konstruktion von Klassen, sondern um die »Nach-Erzeugung« des sozialen Raums, d.h. die Aufdeckung und (Re-)Konstruktion der Differenzierungsprinzipien, der Unterscheidungsmerkmale, der unterschiedlichen und unterscheidenden Wahrnehmungs-, Verhaltens-, Klassifikationsprinzipien, die den sozialen Raum »gestalten«.41 3.2 Spezialistische Felder Für Bourdieu ist der soziale Raum zugleich ein (Kraft-)Feld, analog zu physikalischen Feldern, das für alle Akteure zwingend und der Raum ist, in dem Kämpfe zwischen ihnen stattfinden. Im Unterschied zu traditionellen Gesellschaften, die durch Gemeinschaften, d.h. gemeinsame Bedeutungen, Praktiken, Verpflichtungen, charakterisiert sind, differenziert sich in der Moderne eine Anzahl von spezialistischen Feldern »summarisch« zum sozialen Feld, das jedoch nicht die Form einer Gemeinschaft hat. »Das soziale Feld ist, obwohl von Klassengrenzen durchzogen, atomisiert, und die einzige Form von Gemeinschaft, die sich dort findet, sind imaginierte Gemeinschaften. ›Reale‹ moderne Gemeinschaften, die zugleich reflexiv sind, finden sich in den spezialistischen Feldern. Im soziologischen Feld etwa treffen wir auf alle unsere Charakteristika der Gemeinschaft: die gemeinsamen Bedeutungen und Praktiken, die affektive Besetzung von Zeug und Produkt, die internalisierte Erzeugung von Standards, von Telos, von Zwecken, die Verpflichtungen, die Lenkung durch Sitten und den charakteristischen Habitus des Felds.«42 40 Bourdieu, Praktische Vernunft ... (wie Anm. 7), S. 48 (Hervorhebung im Original). Oder: »Eine jede soziale Lage ist mithin bestimmt durch die Gesamtheit dessen, was sie nicht ist, insbesondere jedoch durch das ihr Gegensätzliche: soziale Identität gewinnt Kontur und bestätigt sich in der Differenz.« Bourdieu, Die feinen Unterschiede ...(wie Anm. 7), S. 279. 41 Vgl. insgesamt dazu Bourdieu, Die feinen Unterschiede ... (wie Anm. 7), S. 174 ff und S. 277 ff. 42 S. Lash, Reflexivität und ihre Doppelungen: Struktur, Ästhetik und Gemeinschaft, in: U. Beck, A. Giddens, S. Lash, Reflexive Modernisierung, Frankfurt am Main 1996, S. 195-286, hier S. 274. Der Begriff »Zeug« geht auf Heidegger zurück und meint, dass erst, wenn menschliche Routinehandlungen gegenüber Werkzeug, wozu auch Sprache und Informationsmittel gehören, zusammenbricht, aus menschlichen Wesen Subjekte und aus Zeug Objekte werden, so dass Expertensysteme und legitimierende Diskurse notwendig werden, um den Dingen wieder eine 15 Exkurs: Sozialer Raum und Feld Diese einzelnen Felder (journalistisches Feld, wissenschaftliche, kulturelle Felder, das politische Feld, das rechtliche, das religiöse Feld usw.) können aber nicht nur aus sich allein heraus verstanden werden. Zum einen müssen die Entstehungsbedingungen, die Genese der jeweiligen Wahrnehmungsprinzipien eines Feldes, der Habitus usw. sichtbar gemacht werden. Doch Veränderungen in diesen Feldern sind andererseits in besonderem Maße abhängig vom Feld der Macht, nicht zu verwechseln mit dem politischen Feld, sondern Raum der Machtverhältnisse der verschiedenen Kapitalsorten, durch deren Besitz bzw. Verteilung Akteure des Felds der Macht in der Lage sind, andere Felder zu beherrschen, also vor allem durch ökonomisches und kulturelles Kapital bzw. deren »Wechselkurs«. So kann ein naturwissenschaftliches Feld, das durch bestimmte Merkmale des Habitus, der Wahrnehmungsgewohnheiten, der Strukturierung insgesamt entstanden ist, durch Veränderungen im Feld der Macht z.B. in der Weise beeinflusst werden, dass zunehmend die Tätigkeit dieses Feldes auf die wirtschaftlichen Interessen des ökonomischen Feldes abgestimmt wird. Durch den Einfluss von Umweltschutzbewegungen kann es hier wiederum zu Veränderungen dergestalt kommen, dass neben die profitorientierte Forschung eine Forschung tritt, die sich den Schutz der natürlichen Ressourcen zur Aufgabe macht, so dass innerhalb des Feldes Kämpfe zwischen beiden Positionen entstehen – fast tagtäglich inzwischen und schon einige Zeit zu beobachten, wenn es um technologische Großprojekte, die Genforschung, die Kernenergie, den Straßenbau usw. geht. Mit Bourdieu könnte man hier zwischen Erhaltungsstrategien derer, die die Struktur des Feldes – so wie es ist – aufrechterhalten wollen (»Orthodoxie«), und Umsturzstrategien, die eine Veränderung des Feldes erstreben (»Häresie«), unterscheiden. Entscheidend ist aber, dass beide Seiten keiner Zerstörung des Feldes das Wort reden, sondern ihren Kampf um das Feld auf Grundlage bestimmter gemeinsamer Grundinteressen führen, die das Feld selbst betreffen.43 Ein Naturwissenschaftler, der die Risiken und Nebenfolgen technologischer Großprojekte in die Forschung miteinbeziehen will, stellt nicht die Grundlagen der Chemie, Biologie usw. in Frage. Dann hätte er auch keine Chance. Oder: Bedeutung zu geben. Vgl. ebd. S. 247 ff., S. 259 f. 43 »Die Neulinge müssen einen Eintrittspreis zahlen, bestehend aus der Anerkennung des Werts des Spiels (bei Selektion und Kooptation wird immer sehr viel Gewicht gelegt auf die Indizien des Einverständnisses mit dem Spiel, der Investition in das bzw. der Besetzung des Spiels), sowie aus der (praktischen) Kenntnis der Prinzipien, nach denen das Spiel funktioniert. Sie haben Umsturzstrategien auf ihre Fahnen geschrieben, doch sind diesen, bei Strafe des Ausschlusses, bestimmte Grenzen gesetzt. Und tatsächlich werden durch die ständigen Teilrevolutionen, die im Feld stattfinden, die Grundlagen des Spiels selbst, seine Grundaxiomatik, der Grundstock letzter Überzeugungen, auf denen das ganze Spiel beruht, nicht in Frage gestellt.« P. Bourdieu, Über einige Eigenschaften von Feldern (1976), in: P. Bourdieu, Soziologische Fragen, Frankfurt am Main 1993, S. 107-114, hier S. 109 f. 16 Exkurs: Sozialer Raum und Feld »Philosoph sein heißt beherrschen, was man von der Geschichte der Philosophie beherrschen muss, um sich in einem philosophischen Feld als Philosoph gerieren zu können.«44 So ist denn auch das journalistische Feld durch besondere, es von jedem anderen Feld unterscheidende Strukturmerkmale charakterisiert, die rekonstruiert und aufgedeckt werden müssen. Was im journalistischen Feld passiert, ist zudem durch die Einflüsse des Feldes der Macht, d.h. durch die jeweilige konkrete Verteilung von ökonomischem und kulturellem Kapital im sozialen Raum und deren Veränderung, bestimmt. Wie diese Veränderungen auch auf andere Felder wirken, darauf will ich im nächsten Kapitel eingehen. 44 Bourdieu (wie Anm. 43), S. 111. 17 4. Die Relationen zwischen journalistischem Feld und anderen Feldern Aus Bourdieus Theorie des sozialen Raumes, die ohne substantialistische Begriffe, ohne Essentialismus, ohne die Rückführung des Habitus, der sozialen Position usw. auf irgendeine Form von »Wesen« auskommt, resultiert kein platter Relativismus, der behaupten würde, Sozialwissenschaften hätten lediglich die Aufgabe, nach Unterschieden zu suchen: »In Wirklichkeit ist der zentrale Gedanke, dass in einem Raum existieren, ein Punkt, ein Individuum in einem Raum sein, heißt, sich unterscheiden, unterschiedlich sein [...].« Ein solcher Unterschied, ein derartiges Unterscheidungsmerkmal – welche Hautfarbe jemand hat, was er trinkt, isst, welches Musikinstrument er spielt usw. – »wird nur dann zum sichtbaren, wahrnehmbaren, nicht indifferenten, sozial relevanten Unterschied, wenn es von jemandem wahrgenommen wird, der in der Lage ist, einen Unterschied zu machen – weil er selber in den betreffenden Raum gehört und daher nicht indifferent ist und weil er über die Wahrnehmungskategorien verfügt, die Klassifizierungsschemata, den Geschmack, die es ihm erlauben, Unterschiede zu machen, Unterscheidungsvermögen an den Tag zu legen, zu unterscheiden [...].«45 Das gilt auch und im besonderen für die spezialisierten Felder, und man kann mit Bourdieu davon ausgehen, dass zumindest alle Felder der Kulturproduktion, aber auch teilweise das politische Feld, dem Druck des journalistischen Feldes ausgesetzt sind. In dieser Hinsicht spielt eine Rolle, dass ein Feld, z.B. ein wissenschaftliches, soziologisches oder historisches, durch die spezifischen Wahrnehmungskategorien, gemeinsamen Bedeutungen und anderen strukturellen Merkmale gekennzeichnet ist, wie sie sich im Laufe der Zeit, der Herausbildung des jeweiligen Feldes, ergeben haben. Damit erhält ein Feld eine Qualität an Homogenität, einen Grundbestand an Verpflichtungen, Übereinkommen und Regeln, die es von anderen Feldern, etwa dem religiösen, dem politischen, dem juristischen usw. deutlich unterscheidet. Doch dieser Grundbestand an Homogenität wird zunehmend gefährdet durch diejenigen, die Bourdieu Medienintellektuelle46 nennt, das heißt Leute, die sich über die Presse und vor allem das Fernsehen Zugang zu einer breiten Öffentlichkeit verschaffen, um dort ihre 45 Bourdieu, Praktische Vernunft ... (wie Anm. 7), S. 22 (Hervorhebungen im Original). 46 »Diese ›Medienintellektuellen‹ [...] sind in der Lage, zweierlei Effekte hervorzurufen: zum einen die Einführung neuer Formen kultureller Produktion irgendwo auf halbem Wege zwischen den esoterisch-universitären und den exoterisch-journalistischen Erzeugnissen; zum zweiten die Durchsetzung anderer Bewertungsprinzipien kultureller Produkte dadurch, dass sie [...] den Sanktionen des Marktes namentlich durch ihre kritischen Urteile einen Schein intellektueller Autorität verleihen und somit die spontane Neigung bestimmter Verbraucherkategorien zur Allodoxia verstärken, was den Einfluss der Einschaltquoten und Bestsellerlisten auf die Rezeption kultureller Produkte und, indirekt und auf Dauer gesehen, auch auf deren Produktion zu verstärken tendiert und die Entscheidungen [...] auf weniger anspruchsvolle, besser verkäufliche Produkte lenkt.« Bourdieu (wie Anm. 1), S. 114 f. (Hervorhebung im Original). 18 Die Relationen zwischen journalistischem Feld und anderen Feldern »Marktnische« zu finden, Hörer und Leser, die zum Verkaufserfolg ihrer Bücher beitragen usw. Hier treffen sich die Interessen von Leuten, die nicht den Weg in ihrem wissenschaftlichen Feld gehen, sondern abseits der dort geltenden strukturellen Bedingungen sich des Mediums Fernsehen bedienen, und die Interessen der Journalisten, den strukturell bedingten Antiintellektualismus des journalistischen Feldes zu überwinden zu versuchen, in bedrohlicher Weise.47 Das kann soweit gehen – und geht auch soweit –, dass externe Bewertungsmaßstäbe, nämlich die der Medienwelt, die Evaluierungskriterien des jeweiligen wissenschaftlichen Feldes konterkarieren, ja substituieren, und damit die Homogenität des Feldes gefährden. Bourdieu geht es in diesem Punkt nicht um die elitäre Aufrechterhaltung einer sich selbst genügsamen Wissenschaft, sondern um die Sicherung der Normen, Regeln und strukturellen Verfahrensweisen, die allein die Autonomie eines wissenschaftlichen Feldes erhalten können. Diese Autonomie wissenschaftlicher Felder wird durch die Art und Weise der Rekrutierung von »Medienintellektuellen« erheblich beeinträchtigt: »Je autonomer ein Kulturproduzent ist, je mehr spezifisches Kapital er besitzt und je ausschließlicher er den eingeschränkten Markt beliefert, auf dem man nur seine eigenen Konkurrenten zu Kunden hat, umso mehr tendiert er zum Widerstand. Je mehr er mit seinen Produkten hingegen den Markt des breiten Publikums bedient [...], um so mehr tendiert er dazu, mit externen Mächten wie Staat, Kirche, Partei, und heutzutage mit Journalismus und Fernsehen zu kollaborieren, sich ihren Anfragen oder ihren Aufträgen zu unterwerfen.«48 Die letzteren haben – aus egoistischen Motiven heraus – ein gesteigertes Interesse an Heteronomie, das heißt daran, sich die Bestätigung, die sie in ihrem Feld nicht bekommen haben, im Medium zu verschaffen, mit der Folge, dass die Gesetze des Kommerzes in das jeweilige wissenschaftliche Feld eindringen, die die Qualität sowohl wissenschaftlicher Arbeit, des Produkts des Feldes, als auch die ansonsten bestehenden fundierten strukturellen Bedingungen (Methoden, Regeln, Evaluierungskriterien etc.) tangieren. Indem die Einschaltquote – dieses Pseudo-Indiz für Demokratie – langsam, aber sicher in das wissenschaftliche Feld oder andere autonome Felder eindringt, entsteht der falsche Eindruck, man könne diese Felder dem allgemeinen Stimmrecht tatsächlich unterwerfen, ohne sie ebenso langsam oder vielleicht doch allzu rasch zu zerstören. Will man tatsächlich zur Bewertung etwa von Kunstwerken die plebiszitäre Abstimmung via Television einführen? Sollen Meinungsumfragen über die Qualität wissenschaftlicher 47 Vgl. Bourdieu (wie Anm. 1), S. 76 ff. 48 Bourdieu (wie Anm. 1), S. 89. 19 Publikationen und ihrer Autoren entscheiden? Bourdieu sieht nur zwei, sich ergänzende Möglichkeiten, dem Verfall von Autonomie entgegenzuwirken: »Es gilt, sowohl für die jedem Avantgardismus (zwangsläufig) immanente Hermetik einzutreten, als auch für die Notwendigkeit, das Hermetische aufzubrechen und dafür zu kämpfen, dass die entscheidenden Mittel zur Verfügung stehen. Anders gesagt, man muss dafür kämpfen, dass die zur Förderung des Universellen notwendigen Produktionsbedingungen bereitgestellt werden, und gleichzeitig an der Verallgemeinerung der Zugangsbedingungen zum Universellen arbeiten, damit immer mehr Menschen die Voraussetzungen erfüllen, sich das Universelle anzueignen.«49 Man muss – und das gilt nicht für die wissenschaftlichen Felder, sondern etwa auch für das juristische, das Feld der Kunst und andere – also sowohl auf dem »elitären Elfenbeinturm« insistieren, der allein in kontinuierlicher kritischer Auseinandersetzung innerhalb eines Feldes dessen Homogenität – nicht um seiner selbst, sondern um der Aufrechterhaltung einer qualitativ hochwertigen »Produktion« willen – garantiert, als auch aus dem Feld heraustreten, um dessen Produkte einer möglichst großen Zahl von Menschen zugänglich zu machen. Oder wie Bourdieu sagt: »[...] die Grenzen des Feldes deutlich markieren und sie gegenüber dem drohenden Eindringen journalistischer Denk- und Verhaltensweisen wiederherstellen und befestigen«.50 Daneben gelte es aber, den Elfenbeinturm zu verlassen, »um draußen die Werte zur Geltung zu bringen, die innerhalb seiner gewonnen wurden, und sich in den spezialisierten Feldern und außerhalb ihrer, bis hin zum journalistischen Feld, aller verfügbaren Mittel in der Absicht zu bedienen, den von der Autonomie möglich gemachten Ergebnissen und Entdeckungen andernorts Geltung zu verschaffen«.51 Die Effekte der Banalisierung, der Nivellierung, der Verflachung wirken also – initiiert durch die besondere Struktur des journalistischen Feldes – aus zwei Richtungen: Zum einen durch fast-thinking und die Jagd nach dem scoop unter dem Diktat der Einschaltquote aus dem journalistischen Feld heraus, zum anderen aus anderen spezialisierten Feldern durch diejenigen, die Bourdieu als Medienintellektuelle bezeichnet. Im Grunde steht so manche Talkshow am Ende beider dieser Leitern. Wenn fast-thinking und nivellierte Medienintellektuelle zusammentreffen, heißt das dann oft: Talk-Show. 49 Bourdieu (wie Anm. 1), S. 94. 50 Bourdieu (wie Anm. 1), S. 116. 51 Bourdieu (wie Anm. 1), S. 116. 21 Journalistisches Feld und Talk-Shows 5. Journalistisches Feld und Talk-Shows Es steht daher außer Zweifel, dass Bourdieus Thesen auch in bezug auf Talk-Shows Gültigkeit beanspruchen können. Ich kann und will an dieser Stelle nicht beurteilen, welche Gründe zu einer massiven Zunahme der daily talks geführt haben. Doch hält man sich Bourdieus Charakteristika des journalistischen Feldes nochmals vor Augen – 1. die unsichtbare Zensur: d.h. das Diktat der Zugangsbedingungen, 2. das Verstecken durch Zeigen, d.h. die Konstruktion einer eigenen Realität, die sich nicht mit der Wirklichkeit der Wirklichkeit deckt, 3. die zirkuläre Zirkulation von Information, d.h. die Banalisierung und Homogenisierung des Feldes, 4. das fast-thinking, d.h. Verflachung und im Grunde Entwissenschaftlichung der televisionären Kommunikation, 5. die echt falschen und die falsch echten Debatten, d.h. die inszenierte PseudoDiskussion zwischen Leuten, die sich kennen, und die Lenkung dieser Debatten. – so kann man getrost behaupten, dass erst diese in fünf Thesen zusammengefassten Elemente des journalistischen Feldes – so sehr sie auch manchmal als überspitzt und polemisch erscheinen mögen – so etwas hervorbringen konnten wie »gezinkte« TalkShows, aber auch solche, in denen Leute sitzen, die sich lange kennen und genau wissen, was der andere denkt. Allein der Zwang zum scoop, zur Sensation, zum Knüller, fördert im Grunde die Tendenz, auf keinen Fall zu langweilen, also Kurzweiliges, Unterhaltsames und daher eben auch – nach allem bisher gesagten – Banales und Anspruchloses in den Mittelpunkt des Fernsehens zu stellen, also »den Kommentator und den recherchierenden Reporter durch den Spaßmacher zu ersetzen«.52 Gehen wir die Elemente durch: 1. Die Zugangsbeschränkungen sind in Talk-Shows eindeutig gegeben, und zwar in einem krassen Sinn: sowohl Thema, als auch Redezeit, auch Überrumpelungseffekte und – noch mehr – die inszenierte oder tatsächliche Gegnerschaft oder Sympathie des Publikums respektive des »Spaßmachers« sind Realität. 52 Bourdieu (wie Anm. 1), S. 131. 22 Journalistisches Feld und Talk-Shows 2. Die Konstruktion eines effet du réel, einer dramatisierten und theatralisierten, jedenfalls inszenierten Wirklichkeit, die die Wirklichkeit der Wirklichkeit vortäuscht, ist gegeben. Alltägliches, Banales, Gewöhnliches oder konstruiert Alltägliches wird als Ungewöhnliches, Singuläres thematisiert und an ein Publikum herausgegeben, dass es als Ungewöhnlich-Gewöhnliches verstehen soll. 3. Woher nehmen die Spaßmacher der Nation ihre Themen? Im Zuge der Herrschaft der Einschaltquote schaut jeder Sender auf den anderen, und wenn der eine das Thema »Ich will nicht deine Liebe, ich will nur deinen Sex« erfolgreich dramatisiert hat, zieht der andere nach »Ich krieg' jede, die ich haben will«. Die schon fast inzestuöse Zirkulation der Themen der Talk-Shows erinnert an die Geschichte einer Zeitung, der Bild-Zeitung, die das Gerücht, die Intrige, die Verleumdung, die üble Nachrede und die Themen unterhalb der Gürtellinie zum expliziten Kennzeichen ihrer Tradition gemacht hat. 4. Man kann kaum davon ausgehen, dass die Themen der Talk-Shows – so sehr sie auch ab und an mit der Wirklichkeit der Wirklichkeit zu tun haben mögen – nicht in einer verflachten, banalisierten, unwissenschaftlichen Art und Weise, bis hin zur inszenierten Beleidigung dargeboten werden. Was ein Herr Knoop, Chefhistoriker des ZDF, millionenfach in die Haushalte als geschichtliche Wahrheit verkauft, wird über Talk-Shows millionenfach als Verhaltensweisen, Denkmuster usw. an den Mann und an die Frau gebracht. 5. Und schließlich dürften Talk-Shows sicherlich auch als echt falsche Debatten tituliert werden. Wenn es wirklich darum ginge, gesellschaftlich relevante Probleme, Vorurteile, usw. in Talk-Shows zu debattieren, wären weder fast-thinking, noch Bloßstellung im Sinne von Voyeurismus und Exhibitionismus gefragt. Dass diese Art von Verflachung, Banalisierung, Entwissenschaftlichung und Konformismus seine Auswirkungen auch auf andere kulturelle Felder hat, ergibt sich fast wie von selbst. Die Bücher eines Jürgen Fliege, einer Hera Lind, aber auch eines Guido Knoop vermehren nicht nur den Gewinn der entsprechenden Autoren und Verlage, sondern verbreiten auch die darin vermittelten, oftmals »unstrittigen«, weil wirklichen Konflikten oder umstrittenen Themen aus dem Weg gehenden, Meinungen. Je höher die Verkaufsauflagen wiederum, desto eher die Chance, für die parallel laufenden Fernsehshows höhere Einschaltquoten zu erreichen. Auch hier Zirkulation der Banalität. Inwieweit man diese Entwicklung einzelnen Personen zurechnen oder, wie Bourdieu mehrfach betont, vor allem einer Struktur und ihrer Entwicklung zuschreiben muss – dem 23 Journalistisches Feld und Talk-Shows journalistischen Feld unter dem Einfluss der Herrschaft der Einschaltquote und der Jagd nach dem scoop – sei dahingestellt. Auf jeden Fall hat das Fernsehen selbst vor etlichen Jahren vor dieser Entwicklung gewarnt. Der Spielfilm hieß »Millionenspiel«, ich glaube von Dieter Erler als Regisseur in Szene gesetzt. In diesem Spiel wurde auf einen Menschen von anderen tödliche Jagd gemacht, und diese Jagd lief im Rahmen einer Unterhaltungsshow ab – moderiert von Dieter Thomas Heck. 24 6. Literatur Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt am Main 1987 (Originalausgabe: La distinction. Critique sociale du jugement, Paris 1979) Pierre Bourdieu, Die Zensur (1974), in: Pierre Bourdieu, Soziologische Fragen, Frankfurt am Main 1993, S. 131-135 Pierre Bourdieu, Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, Frankfurt am Main 1998 (Originalausgabe: Raisons pratique. Sur la théorie de l'action, Paris 1994) Pierre Bourdieu, Soziologische Fragen, Frankfurt am Main 1993 (Originalausgabe: Questions de sociologie, Paris 1980 Pierre Bourdieu, Über das Fernsehen, Frankfurt am Main 1998 (Originalausgabe: Sur la télévision, Paris 1996) Pierre Bourdieu, Über einige Eigenschaften von Feldern (1976), in: Pierre Bourdieu, Soziologische Fragen, Frankfurt am Main 1993, S. 107-114 Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main 1994 (Originalausgabe: Surveiller et punir. La naissance de la prison, Paris 1975) Matthias Kettner, Nachträglichkeit. Freuds brisante Erinnerungstheorie, in: Jörn Rüsen, Jürgen Straub (Hrsg.), Die dunkle Spur der Vergangenheit. Psychoanalytische Zugänge zum Geschichtsbewusstsein. Erinnerung, Geschichte, Identität 2, Frankfurt am Main 1998, S. 33-69 Scott Lash, Reflexivität und ihre Doppelungen: Struktur, Ästhetik und Gemeinschaft, in: Ulrich Beck, Anthony Giddens, Scott Lash, Reflexive Modernisierung. Eine Kontroverse, Frankfurt am Main 1996, S. 195-286 © Ulrich Behrens, Bugginger Straße 37, 79114 Freiburg 24