Solidarisches Aufbegehren im Internet

Transcrição

Solidarisches Aufbegehren im Internet
Deutscher Bundestag, German Bundestag, Parlement Allemand
Seite 1 von 2
Karl-Otto Sattler
Solidarisches Aufbegehren im Internet
Riskanter Protest: Krisengeplagte Arbeitnehmer nutzen das Web als Forum
Immer häufiger suchen frustrierte Arbeitnehmer auf Internetportalen den Kontakt zu anderen Betroffenen. In oft
umgangssprachlichem Deutsch lassen sich die Angestellten von Discountern, der IT-Branche oder dem Pharmasektor
über ihre Arbeitgeber aus. Dort schreiben sie sich ihren "Frust" von der Seele. Doch den einen oder anderen
Arbeitnehmer hat diese Form der halböffentlichen Kommunikation schon seinen Job gekostet. Denn auch Arbeitgeber
schauen gerne mal auf den Seiten nach, was so über sie verbreitet wird. Die Gewerkschaften sehen in den Foren
hingegen eine neue Chance für ihre Arbeit. Sie hoffen, so leichter Kontakt zu den Angestellten finden zu können.
Einfach nicht fassen kann es "Obelix": In einer Lidl-Dependance, in die er zeitweise versetzt worden war, kommen die
Kollegen um 6.30 Uhr und werden erst ab 7.30 Uhr bezahlt: "Und die lassen sich das gefallen! Ist echt zu hoch für mich",
wundert sich der Absender in seiner Botschaft. Nach einer Schilderung des enormen Arbeitsstresses bei der
Discounterkette kommt "Super-Arbeiter" zu diesem Schluss: "Na ja egal denke ich weiter du bist doch auch nur ein
kleines licht." Prompt schickt "Idefix" eine Antwort: "Genau so ist es. Machst es richtig: ruhig sein und sich seine
Gedanken machen." Über seine Erfahrungen mit der Hierarchie bei Lidl schreibt "Kamilo": "Die, die oben sind, die sind
meist mehr oder weniger ok, aber die, die erst mal hoch wollen - vorsicht vor denen." An den "lieben Fred" wendet sich
"Trinni": Er sei wohl "in dem alten vergammelten Laden" der Filialleiter, und als solcher "bist Du hoffentlich Deiner
Verantwortung als Vorgesetzter nachgekommen". Auch "Bürodrache" steuert was bei: "Lehrjahre sind keine Herrenjahre,
aber es muss auch nicht sein, dass Azubis ausgenutzt werden!" Eine "Nicole" wundert sich: "Leute, ich versteh das alles
nicht" - da hacke man auf einen Unternehmen rum "und merkt nicht, dass anderswo die ,Kacke' am Dampfen ist ... Wer
setzt sich für die Penny-Leute ein?".
Zu lesen sind solche oft umgangssprachlich formulierten Gedanken im ver.di-Weblog zu Lidl (www.verdi-blog.de/lidl).
Bernd Steinmann: "Dieses elektronische Diskussionsforum wurde bereits rund 100.000 Mal angeklickt." Der OnlineRedakteur bei der ver.di-Bundeszentrale in Berlin: "Das Internet entwickelt sich für die Gewerkschaften zu einer neuen
Präsentations- und Aktionsform."
Dem "Lidl-Projekt" kommt dabei eine Vorreiterrolle zu. Das Schwarzbuch, die Zeitung "Schwarz-Markt", Info-Stände,
Demonstrationen, Unterschriftensammlungen, Diskussionstreffs, der Gang vor Arbeitsgerichte: Natürlich setzt ver.di beim
Engagement gegen Arbeitshetze, Ausbeutung, Pausenklau und unbezahlte Mehrarbeit wie für die Gründung von
Betriebsräten, die bei Lidl sehr rar sind, auf das Repertoire klassischer Kampfformen. Indes spielt bei der Mobilisierung
der Beschäftigten auch das Web eine wachsende Rolle. Steinmann: "Über das Internet kann man mit einfachen Mitteln
eine sehr weitreichende Vernetzung bewirken", das sei wie eine "Graswurzeldemokratie".
Markus Franz, Sprecher beim DGB-Bundesvorstand, sieht in Internetforen eine "Chance für die Gewerkschaften": Auf
diese Weise könne man vielfach überhaupt einmal Kontakte zu Arbeitnehmern knüpf-en. Die Gewerkschaften müssten
sich, so Franz, über dieses neue Aktionsfeld "mehr Gedanken machen". Häufig, resümiert Bernd Steinmann die
Erfahrungen bei der Lidl-Plattform, reagierten Beschäftigte dort zunächst einmal Frust und Ärger über betriebliche
Erlebnisse ab: "So fängt das oft an, und dann erwacht vielleicht das Interesse, sich zu engagieren."
Der ver.di-Weblog zu Lidl, für Steinmann eine Art "permanentes Schwarzbuch", ist nicht der einzige und nicht der erste
Ausdruck eines neuen Trends: Arbeitnehmer, die in ihrer Firma mit Problemen zu kämpfen haben, die von Entlassung
bedroht oder die erwerbslos geworden sind, nutzen das Internet als Forum praktizierter Solidarität und verbünden sich
elektronisch - mal mit, mal ohne, zuweilen auch gegen die Gewerkschaften.
Den Startschuss gab 2002 die NCI (Network Cooperation Initiative): Ins Leben riefen dieses Portal, mit über 400.000
Zugriffen inzwischen die größte Web-Plattform kritischer Mitarbeiter eines Unternehmens, Siemens-Beschäftigte, die in
der Netzwerksparte des Münchner IT-Konzerns von Stellenstreichungen betroffen waren - den "Personalabbau-Alltag"
bezeichnet diese Homepage als ihr Kernthema. Lange Zeit gestalteten die NCI-Mitstreiter ihren Auftritt auf dem Server der
Münchner IG Metall, neuerdings präsentiert man sich andernorts im Netz (www.nci-net.de). "Das richtet sich nicht gegen
die Gewerkschaft, aber wir fühlten uns in einem zu engen organisatorischen Korsett, das beeinträchtigte unsere
Flexibilität", erklärt Mitgründerin Inken Wanzek. "Unser Netzwerk half Kollegen, nicht zu resignieren, sondern vor Gericht
vielfach ihre Weiterbeschäftigung bei Siemens durchzusetzen."
Natürlich wird die Entwicklung bei dem Unternehmen weiterhin kritisch verfolgt. Mittlerweile ist NCI aber überdies zu einer
Plattform mit allgemeinpolitischem Anspruch mutiert. Im NCI-Forum finden sich zudem viele Tipps über das Arbeitsrecht,
über Gerichtsverfahren, für das Verhalten bei Kündigungen, für Personalgespräche, über die Arbeit von Betriebsräten,
über Beschäftigungsgesellschaften oder über Hartz IV.
Die Betreiber der Websites dieser Art pflegen inzwischen einen kontinuierlichen Informationsaustausch, wie Wanzek
erzählt. Über die Erfahrungen bei NCI berichtete die Münchnerin etwa in Wuppertal den Kollegen, die ein Webnetz für
Mitarbeiter der Pharma-Branche eingerichtet haben (www.phmine.de). Auf dieser Seite philosophiert zum Beispiel "wally"
kritisch über die "Ethik des shareholder values". Die phmine-Aktivisten kämpfen nicht nur virtuell im Off, sondern feiern
http://www.bundestag.de/cgibin/druck.pl?N=parlament
14.12.2005
Deutscher Bundestag, German Bundestag, Parlement Allemand
Seite 2 von 2
auch ganz real Poolpartys.
IT-Fachkräfte kreierten angesichts der Krisen in diesem Wirtschaftszweig das www.netzwerkit.de. Im Forum schreibt
"Pogo": "Ein Anfang war das NCI, ihr seid die Fortsetzung." Unter diesem Internetdach vernetzen sich mittlerweile eine
ganze Reihe von Initiativen bei verschiedenen Firmen. Da schickt "valter" Bilder von Protest-Graffiti bei AEG in Nürnberg,
wo ein Arbeitsplatzabbau droht. Beschäftigte von MAN Salzgitter debattieren über "Erpressungsversuche" des Vorstands.
Die Kollegen vom Paketzusteller UPS in Stuttgart erläutern die Konflikte zwischen Management und Betriebsrat. Zur
bevorstehenden Neuwahl des dortigen Betriebsrats meint ein "anonymer Benutzer" des Forums sarkastisch: "Wetten, der
nächste Betriebsrat in Stuttgart wird vom UPS-Management gestellt!" Prompt kontert "anonymous user": "Kerle, für wie
bled hältscht oigentlich de Schwoaba ..."
Bei Agfa-Photo haben Angestellte lange, letztlich jedoch vergeblich gegen die Abwicklung des Unternehmens gekämpft
(www.mitarbeiternetzwerkbeiagfaphoto.de). Ein "betroffener" berichtet aus Leverkusen, dass auf manche Maschinen
bereits der Kuckuck geklebt werde.
Bei der Gründung der Initiative www.frischerwind-online.de, die 2003 den Preis "Silberne Spinne" für den besten
Internetauftritt von Arbeitnehmervertretungen erhielt, spielte auch Protest gegen verkrustete Strukturen bei der Berliner
Bankgesellschaft eine Rolle. "Eure Seite ist einfach Klasse!", lobt im Gästebuch ein Gerhard. Hans-Peter assistiert: "Ich
find die Idee toll - weiter so!" Dieses elektronisch "schwarze Brett" hat längst einen weitreichenden Anspruch mit Infos
über Arbeitsrecht, Gerichtsurteile, Hartz IV, die VW-Affäre oder die Sozial- und Wirtschaftspolitik.
Meist äußern sich in den Foren die Teilnehmer mit Vornamen oder unter Pseudonym. Diese Vorsicht hat gute Gründe:
Aufmüpfiges kann gravierende Konsequenzen nach sich ziehen. So wurde Heiko Barten, führender Kopf bei
www.frischerwind-online.de, von der Berliner Bankgesellschaft gekündigt: Er soll, so der Vorwurf, im Internet die
Unternehmensspitze verunglimpft haben. Zunächst gewann Barten vor Justitias Schranken, verlor dann aber in zweiter
Instanz. Für den 24. November war in dritter Instanz vor dem Bundesarbeitsgericht eine mündliche Verhandlung
anberaumt. Wegen einer NCI-Mail, von Siemens als "Schmähung" eingestuft, erhielt Inken Wanzek bei der Münchner
Firma die Kündigung: Nach einem Prozess vor dem Arbeitsgericht, der einen riesigen Medienwirbel verursachte und der
Betroffenen viel Solidarität einbrachte, einigten sich beide Seiten auf einen Vergleich. Wanzek arbeitet jetzt selbständig.
Auf der ver.di-Website zu Lidl erscheinen die Stellungnahmen zunächst unbearbeitet und unkontrolliert. "Erst danach
gehen wir drüber", so Redakteur Steinmann, "um zu sehen, ob etwas aus dem Ruder läuft." Dann werden etwa Beiträge
eines Verfassers gelöscht, der unter verschiedenen Pseudonymen mehrfach das Gleiche variiert. Oder es gilt, juristische
Konflikte wegen eventueller Beleidigungen zu vermeiden. Bei www.frischerwind-online.de ist "für den Inhalt der Beiträge
ausschließlich der Autor verantwortlich".
Manchmal entwickeln auf diesen Webforen, die oft Links zu weiteren Seiten enthalten, die Diskutanten eine tiefsinnige
politpoetische Ader. Auf www.frischerwind-online.de veröffentlicht "mudancas" diese Botschaft: "Milch und Honig für die
Paläste, Suppe und Hartz in den Hütten. Was nun, kleiner Mann?" Gute Frage.
Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2005.
http://www.bundestag.de/cgibin/druck.pl?N=parlament
14.12.2005