Die somatische Entwicklung vom Kind zum
Transcrição
Die somatische Entwicklung vom Kind zum
Die somatische Entwicklung vom Kind zum Erwachsenen Prof. Dr. med. P.E. Mullis, Abteilungsleiter Endokrinologie und Diabetologie, , Inselspital Bern 1 Pubertät und Adoleszenz (zusammengefasst: Prof. Primus-E. Mullis, Abteilungsleiter, pädiatrische Endokrinologie / Diabetologie & Metabolik, Universitätsklinik für Kinderheilkunde, Inselspital, Bern) EINLEITUNG Pubertät und Adoleszenz (Jugendalter) stellen einen Zeitraum der bio-psycho-sozialer Umstellung dar. Es ist jene Zeit: "in der die Kinder wachsen und die Erwachsenen schwierig werden". Durch die berechtigte und lang ersehnte Erweiterung der Kinderheilkunde zur Kinder- und Jugendheilkunde besteht gerade in diesem Bereich erhöhter Fortbildungsbedarf. Ärzte und auch die Angehörigen des Krankenpflegepersonals werden immer öfter mit Fragen der Pubertät und Adoleszenz konfrontiert. Sei es, dass chronisch kranke Kinder in das Jugendalter hineinwachsen und von uns begleitet werden; sei es aber auch, dass Jugendliche, die in den vergangenen Jahrzehnten unbetreut waren, sich an uns wenden, da sie hoffen, von uns kompetente Hilfe zu erhalten, da wir Kinder- und JugendärzteInnen in den verschiedenen Aspekten der "Entwicklungsmedizin" (wie man die Pädiatrie auch nennen könnte) bewandert sind; sei es aber auch, dass sich hilflos gewordene Eltern an uns um Rat und Hilfe wenden. So erscheint es nötig, einige Aspekte dieser "Sturm- und Drang- Zeit" zu beleuchten. Wir haben den Vorsatz, durch diese Arbeit die Kompetenz etwas zu heben, vor allem aber die Scheu abzubauen, die da und dort noch vor dem Kontakt mit Jugendlichen besteht. Deren Wünsche, die bisweilen den Rahmen einer traditionellen Kinderabteilung zu sprengen drohen, deren Triebe und oft sehr heftigen Gefühle, die von manchen Erwachsenen schon vergessen wurden, geben Anlass zu Missverständnissen, Ärger, Wut und Ohnmachtsgefühlen, die sich dann - je nach Charakter der Betreuungsperson - auch als Zorn und Abweisung äussern können. Die Jugendlichen jedoch suchen jene Personen, die sie schon als erwachsenene und gleichberechtigte Partner behandeln und zugleich doch noch die nötige Hilfe und den Schutz anbieten, die der Jugendliche braucht und auf die er auch ein Recht hat. DEFINITION Adoleszenz hat die Wurzel im lateinische Verb adolescere – heranwachsen; dies zum Gegensatz der pubertas (Geschlachtsreife), pubescere (mannbar werden, Bartwuchs bekommen). Psycho-sozial stellt sie der Zeitabschnitt dar, in dem der junge Mensch biologisch zwar erwachsen ist, sozial und emotional aber noch nicht die notwendige Reife erlangt hat. So ist die Definition auch grundsätzlich Kultur abhängig: - USA: Pubertätsbeginn (ca. 12 – 14 Jahre) bis 24 Jahre Europa: Grundsätzlich nach Pubertät (16 Jahre) – 24 Jahre WHO: Periode 10 – 20 Jahre Unsererseits möchte ich die Adoleszenz wie in der Tabelle dargestellt definieren, und die Pubertät in die Stadien der sexuellen Reifung einteilen. 2 Die Tabelle zeigt die derzeit herrschende Definition der Adoleszenz nach dem Alter: Adoleszenz frühe mittlere späte Lebensjahr 10./11. – 14. Jahr 14. – 16./17. Jahr 16./17. – 21. Jahr Bei Gesunden ist das Timing von der Pubertätsentwicklung abhängig. Dies wiederum wird wesentlich durch die hormonellen Änderungen (ausgehend vom hypothalamischen Impulsgenerator) bestimmt; Faktoren, die in Abhängigkeit von genetischen, geographischen und Ernährungsfaktoren stehen. KÖRPERLICHE ENTWICKLUNG Wachstum Im Rahmen der Pubertät bringt ein deutlicher Wachstumsschub während einer Periode von 2 – 4 Jahren zirka 15% der Endgrösse. Aber wichtig ist auch darauf hinzuweisen, dass die eigentliche Pubertätsentwicklung der Feind des Wachstums darstellt. Als Faustregel gilt, dass die absolute Längenzunahme während des Pubertätsspurtes ca. 25 cm darstellt. Bei kleinerer etwas weniger, bei grossen Kindern etwas mehr. Während dieser Zeit nimmt auch die Knochendichte deutlich zu. Die „peak bone mass“ ist aber erst gegen Ende der Adoleszenz erreicht. Mädchen: Der Pubertätsspurt tritt bei Mädchen vor der Menarche, die in der Regel zwischen 9 – 15 Jahre (Mittel in der CH bei 13 Jahren) auftritt, ein. Nach der Menarche wachsen die Mädchen grundsätzlich noch 7 cm, davon die ersten 2/3 im ersten Jahr nach der Menarche! 2 Jahre nach Menarche ist das Wachstum grundsätzlich abgeschlossen! Knaben: Bei Knaben liegt die maximale Wachstumssteigerung zwei Jahre später bei 14 Jahren. Bei Knaben verdoppelt sich die Muskelmasse zwischen 10 und 17 Jahren; die Knochenmasse verdoppelt sich zwischen 12 und 16 Jahren. Sexuelle Reifung Die normale Pubertät dauert zirka 4,5 Jahre (3 - 6 Jahre). Die einzelnen Pubertätsstadien sind individuell sehr unterschiedlich, daher stellen die hier aufgelisteten Angaben nur Mittelwerte dar! Mädchen: Die Pubertät beginnt „klinisch“ bei Mädchen etwa um 1 – 2 Jahre früher als beim Knaben. Zuerst kommt es zum Wachstum der Gebärmutter; zirka 2 Jahre danach entwickelt sich die Brust (8-13 Jahr) und leicht früher die Schambehaarung (8-14 Jahr); die erste Regelblutung (Menarche) tritt mit 10 bis 16 Jahren (zirka 2 - 2,5 Jahre nach Beginn der Brustentwicklung; Mittel: 13. Jahre) ein. Die Ovulation ist anfangs unregelmässig, regelmässig wird sie nach 624 Monaten. Knaben: Der Eintritt in die Pubertät ist beim Knaben mit der Zunahme der Hodengrösse definiert (> 3 4ml; Prader Orchidometer!). So beginnt die Ausbildung der sekundären Geschlechtsmerkmale mit der Zunahme der Hodengrösse von präpuberal (1- 3ml) auf eine Erwachsenengrösse von ca. 20 ml. Wichtig ist darauf hinzu weisen, dass die Hodengrösse nichts mit „Potenz“ zu tun hat, sondern lediglich die Masse der Samenkänale darstellt. Schambehaarung (10 - 15 Jahre), Peniswachstum (zirka rund um 14 Jahre; von 5 auf 12 cm). Schliesslich folgen Libido (sexuelles Verlangen), Stimmbruch und die Bildung reifer Samenzellen, dies erst bei Zunahme der Testosteron-Spiegel (Hoden > 8 – 10 ml). Dies geht auch mit dem Peak des Wachstumsspurtes einher. Brustentwicklung (B2) Zunahme der Hodengrösse (4 ml) Schambehaarung (Pubarche; P2) Wachstumspeak Menarche Pubarche beendet Brust voll ausgebildet Mittleres Alter bei Beginn* (Abweichungen sind individuell; Verlauf ist wichtig!) Knaben Mädchen 11 Jahre 12 Jahre 12.5 Jahre 10.5 Jahre 14 Jahre 12 Jahre 13 Jahre 15.5 Jahre 14 Jahre 14.5 Jhare * Berner Datenbuch Pädiatrie, 7. Vollständig überarbeitete Auflage; Referenzwerte.Huber Verlag, 2007 Dysmenorrhoe und Prämenstruelles Syndrom Schmerzhafte Regelblutungen werden als Dysmenorrhoe bezeichnet, wobei Übelkeit, Erbrechen und Durchfall als Begleiterscheinungen vorkommen können. Bei der primären Dysmenorrhoe bestehen keine zusätzlichen Erkrankungen im Genitalbereich. Bei der sekundären Dysmenorrhoe sind die Schmerzen durch Genitalerkrankungen wie Abfluss ndungen oder Endometriose bedingt. Dysmenorrhoische Beschwerden werden von zirka 60-70% der weiblichen Jugendlichen berichtet und führen bei zirka 15% zum Fernbleiben vom Unterricht. Wegen der Scheu, über solche Beschwerden zu sprechen, wird die Möglichkeit einer wirksamen Behandlung oft nicht gesucht oder nicht angeboten. Die Beschwerden werden durch Prostaglandin induzierte Uteruskontraktionen hervorgerufen und kommen bei anovulatorischen Zyklen praktisch nicht vor. Deshalb werden die Beschwerden durch orale Kontrazeptiva, welche den Eisprung verhindern, gelindert. Sehr wirksam sind Medikamente, welche gegen ProstaglandinProduktion wirken, wie z.B. die nicht-steroidalen Entzündunghemmer (NSAID), Naproxen, Ibuprofen, Mefenaminsäure u.ä. Auch die Zufuhr von Omega-3-Fettsäuren in der Nahrung (Fischöl) soll hilfreich sein. Bei Unwirksamkeit der medikamentösen Therapie sollte eine Suche nach Genitalerkrankungen erfolgen, welche manchmal bis zur Laparoskopie gehen muss, weil oft nur damit die häufigste Ursache - nämlich eine Endometriose - nachgewiesen werden kann. Als prämenstruelles Syndrom werden die während der lutealen Phase des Zyklus vorkommenden, unangenehmen Beschwerden bezeichnet, welche die Betroffene und deren Umgebung erheblich belasten können: 4 Verhaltensänderungen: • • • • • • • Ängstlichkeit schwankende Gemütslage Depression Reizbarkeit Erregbarkeit gestörte soziale Interaktion Feindseligkeit Körperliche Veränderungen • • • • Aufgedunsenheit Spannungsgefühl in den Brüsten Ermüdbarkeit Appetitschwankungen Für die Diagnose sind die zyklischen Schwankungen hilfreich. Das prämenstruelle Syndrom kommt bei zirka 40% der weiblichen Jugendlichen vor, unterscheidet sich nicht von den Beschwerden der erwachsenen Frauen, und korreliert oft mit dysmenorrhoischen Beschwerden. Bei leichteren Beschwerden kann eine Behandlung mit Vitamin B6 (150 mg/Tag) versucht werden. Bei „schwerwiegenden“ Beschwerden sind (wie bei der Dysmenorrhoe) nichtsteroidale Entzündungshemmer und orale Kontrazeptiva hilfreich. SEXUALITÄT UND SEXUALBEZIEHUNGEN Die mit der sexuellen Reifung einhergehenden ersten sexuellen Phantasien und Erfahrungen werden unterschiedlich erlebt und ausgelebt: Bei beiden Geschlechtern ist eine homoerotische Durchgangsphase häufig und nicht als abnorm zu beurteilen. Da sie kulturell noch immer abgelehnt wird, ist sie oft mit Schuldgefühlen besetzt. Enge Freundschaften unter Gleichgeschlechtlichen ersetzen oft die Beziehungen zum anderen Geschlecht, die noch Angst machen und zwar angestrebt, aber auch gefürchtet werden. Die Masturbation, das heißt die Autosexualität (bisweilen fälschlich als Onanie bezeichnet deshalb "fälschlich", weil Onan in der Bibel den coitus interruptus pflegt, weil er von seiner Schwägerin, die er aus religiösen Gründen nach dem Tod seines Bruders in einer Leviratsehe heiraten muss, kein Kind möchte) ist die erste Übung in Stimulation und Orgasmus. Diese Übung ist wichtig, kommt bei fast allen Kindern vor, und ist ein nützliches und selbstverständliches Ausleben der Natur. Die veraltete Theorie, dass Masturbation schädlich sei ist abzulehnen. Masturbation kommt bei Knaben häufiger vor als bei Mädchen (nur zirka in 33%). Exhibition der Masturbation und Masturbation in der Gruppe ist nicht selten. Wechselseitige Masturbation kommt vor und ist kein Hinweis auf eine homosexuelle Entwicklung. Erotische Phantasien und Voyeurismus sind bei allen Jugendlichen üblich. Die Phantasien betreffen oft das andere Geschlecht, Verstecken ist an sich das normale Verhalten, Schuldgefühle auf Grund der Angst, etwas falsches getan zu haben, sind häufig und unnötig. Jedoch ist die Scham gegenüber Erwachsenen sehr stark entwickelt. Pflegepersonen können dabei - oft unbeabsichtigt - leicht "Übergriffe" machen, indem sie zum Beispiel Mädchen auffordern sich in einem Krankenzimmer zu waschen oder auszuziehen. Kinderkliniken sind 5 leider auch heute noch oft schlecht eingerichtet, um auf diese normalen Schambedürfnisse einzugehen. Auch innerfamiliär ist Scham häufig und daher sind Jugendliche - auch in der Sprechstunde - zu fragen, ob die Eltern bei der Untersuchung anwesend sein sollen. Die Annahme, dass Mütter immer dabei sein dürfen, ist zu hinterfragen. Selbst in berauschtem Zustand (Alkohol und/oder Drogen) sollte auf Scham Rücksicht genommen werden. Übergriffe seitens des betreuenden Personals werden selten auch phantasiert und stellen dann unangenehme "Kriminalfälle" dar, die soweit als möglich vermieden werden sollten (zum Beispiel Betreuung durch Angehörige des gleichen Geschlechts, oder zu Zweien). Was ist normal? Man könnte sagen: "Alles, was zwischen Erwachsenen (hier Menschen ähnlicher / gleicher Reife) mit Zustimmung getan wird?" Geschlechtliche Kontakte beruhen bei Mädchen eher auf Liebe, während Knaben vor allem ausprobieren wollen. Ob das so stimmt, ist unsicher. Vieles ist auch ein kulturelles "Vorurteil“. Der Gedanke, dass Knaben lieben, weil sie Geschlechtsverkehr haben und Mädchen Geschlechtsverkehr haben, weil sie lieben, ist vielleicht eine Annahme, aber möglicherweise nicht mal eine gute! Eine vernünftige und tolerante Besprechung der Sexualität mit Jugendlichen ist zwar von Elternseite wünschenswert, wird aber von den Jugendlichen oft abgelehnt und ist daher schwierig. Auch dies ist normal. Sie aufzuzwingen ist nicht nützlich und sollte nicht forciert werden. In der Schweiz wurde im Jahre 1992 folgende Daten erhoben: Erfahrungen mit Geschlechtsverkehr haben 30% der 16-jährigen, 50% der 17-jährigen und 70% der 19jährigen Mädchen. Typisch ist heute am ehesten die sequentielle Monogamie. Jede Liebe ist "ewig", dauert aber oft nur kurz. Sexuelle Probleme sind bei Knaben am ehesten vorzeitige Ejakulation oder anlassgebundene Impotenz ("fear of failure" beziehungsweise moralische Bedenken, Entdeckungsangst unter den üblichen, ungünstigen Umständen). Bei Mädchen wird die Fähigkeit zum Orgasmus oft erst langsam entwickelt; der erste Geschlechtsverkehr ist oft unangenehm oder nichtssagend. Dies sollte nicht so sein! Homosexualität: 11-37% bis 6-13% je nach Studie und Offenheit der Information; dies erweckt bei vielen Jugendlichen und deren Eltern unangenehme Gefühle - wird daher verheimlicht und/oder schafft Beziehungsprobleme in der Familie. Abzugrenzen sind Perversionen aller Arten, wie zum Beispiel sadistisches Verhalten, die eine (psychologische oder psychiatrische) Intervention erfordern. Kontrazeptiva und Schwangerschaft bei Jugendlichen: Beratung wird meist zu spät in Anspruch genommen; 20% der Schwangerschaften entstehen im ersten Monat, 50% in den ersten 6 Monaten sexueller Aktivität. Nicht jede unerwartete bzw. unerwünschte Schwangerschaft ist gänzlich unbeabsichtigt, sondern manchmal ein Fluchtversuch von Zuhause. Bei Eintritt einer Schwangerschaft wird oft eine Vogel- Strauss-Politik geübt, das heisst die Jugendlichen erstarren in Hilflosigkeit und wissen sich keinen Rat und warten daher oft zu lange, um dann noch adäquate Hilfe zu 6 bekommen. Die "Pille danach" ist eine gute, rasche und unproblematische Hilfe, die zur Verhinderung von Jugendlichenschwangerschaften mit dem erhöhten Risiko von Frühgeburtlichkeit, sozialer Not und sogar Misshandlungen verwendet werden sollte. Geschlechtskrankheiten (im Englischen: sexual transmitted diseases = STD), hängen von Risikofaktoren wie Zahl der Sexualpartner, Gelegenheitssex und Gebrauch von Kondomen ab. Die häufigsten Krankheitserreger sind Chlamydien, Herpes- und Papillomviren. PSYCHODYNAMIK "Die Kinder werden älter und die Eltern werden schwieriger." Es ist die Zeit der Auseinandersetzung mit den körperlichen Veränderungen, der Einordnung in die Gesellschaft der Erwachsenen und des Eintritts ins Berufsleben. Alle diese Veränderungen müssen bewältigt werden, treffen auf ein unreifes Ich (Freud), das diese Veränderungen nur zum Teil verstandesmässig integrieren kann. Der Wunsch alles schon selber zu können bei gleichzeitiger Unfähigkeit dazu führt zu den sogenannten schweren Erfahrungen der Jugendzeit. Eine Erziehung sollte hier Rat anbieten, bei Verletzungen tröstend sein, jedoch nicht versuchen, alle Versagenserfahrung zu vermeiden. So würde nur ein unrealistisches Bild im Jugendlichen entstehen und er kann keine angemessene Realitätswahrnehmung entwickeln. Änderungen der Objektbeziehungen Um unabhängig und selbständig zu werden, muss sich der Jugendliche von den Eltern als seinen wichtigsten Liebesobjekten lösen. Das führt zum Beispiel zu demonstrativer Gleichgültigkeit, zur Herabsetzung der Eltern als unnütz, blöd und/oder unfähig. Demonstrative Aufsässigkeit und Rebellion gegen die bisherigen Normen kann vorkommen und ist als "gesund" einzuschätzen. Wenn die Jugend die Normen der "Alten" nicht in Frage stellt, dann kann sie nicht - wenigsten etwas - Neues schaffen. Willi Brandt (1913 – 1992; 1971 Friedensnobelpreis, 1969 – 1974 Bundeskanzler, SPD) formulierte das einmal so: "Wer in der Jugend nicht revolutionär, im Erwachsenenalter nicht evolutionär ist - der kann oder will nichts verbessern!". Immer wieder kommt es zu Rückfällen in Hilflosigkeit und Abhängigkeit von den Eltern und Erziehern, die mit Liebe und Toleranz zu ertragen sind. Häme ist unangebracht und verstört nur. Die Begleitung muss wie die eines Trampolins sein, wobei den Erwachsenen leider nur die Rolle des Sprungtuchs zukommt. In dieser Phase sollten die Eltern abwechselnd auf Autorität verzichten, unempfindlich gegen Attacken sein, aber wenn erforderlich wieder Mitgefühl und Unterstützung anbieten. Grundsätzlich gilt: Je enger das Verhältnis zwischen Kind und Eltern war, desto stürmischer der Trennungskampf. Eine aufmunternde Erkenntnis für „geforderte“ Eltern! Zeit der Gefühlslabilität und des Protestes Gefühlslabilität - hoch und tief: (ups and downs): Empfindlichkeit wird von übertriebener Selbstkritik abgelöst, eine Neigung zu depressiver Verstimmung kommt sehr oft vor [(J.W. v. Goethe: "Himmelhoch jauchzend - zu Tode betrübt / Glücklich allein die Seele, die liebt (Käthchen in Faust I.)] Die Kinder werden oft bockiger, rücksichtsloser, grausamer, zerstörerischer, schmutziger, unmoralischer, schon, um sich abzulösen, um zu zeigen, dass sie "anders" sind. Es kann helfen, darauf nicht einzugehen, manchmal nützen auch Auseinandersetzungen darüber. 7 Wenn man aber auf sie eingeht, muss man wissen, dass man dadurch manchmal das bekämpfte Verhalten bestärkt. Ausserdem verbraucht man seine Autorität oft bei Nebensächlichkeiten und hat bei dem oft vorkommenden Schulversagen, oder sogar bei ersten Erfahrungen mit legalen, oder illegalen Drogen dann keinen Respekt mehr von dem Jugendlichen zu erwarten. Aufgabe der Eltern ist es eine "Arbeitsbasis" zu erhalten und sich genau zu überlegen, welchen Kampf / Auseinandersetzung sie gewinnen müssen, bevor sie einen beginnen. Ebenso ist es Aufgabe der Jugendlichen sich soweit Konfliktbereiche zu suchen, dass ihre Entwicklung nicht "nach - innen" geht und so zur Krankheit führt und doch andererseits nicht so viel streiten, dass ein Zusammenkommen dann unmöglich wird. Riskiert aber muss die Beziehung werden, denn, wenn sie sich nicht riskieren kann (zum Beispiel weil die Eltern selbst in einer unsicheren Beziehung zueinander leben (Stichwort: Lebenslüge), dann kann auch keine neue, partnerschaftliche Basis der Kinder mit ihren Eltern gefunden werden. Änderung des Körperbildes Die gesteigerte Selbstwahrnehmung bei Änderung des Körperbildes beunruhigt und führt zu verstärktem Schamgefühl und Zunahme des Intimitätsbedürfnisses. Der Körper wird als peinlich empfunden, der Jugendliche fühlt sich unsicher, wie er auf die Umgebung wirkt, bringt sich Pearcing und Tattoo an, versteckt den Körper unter weiter Kleidung (ev. auch skurrile Haartracht, um damit fertig zu werden und/oder zu einer als "Heimat" empfundenen Gruppe zu gehören - Zauber der Montur in anderer Form). So kann die Anorexie auch ein Versuche darstellen das Körperbild zu verändern; in dieselbe Kategorie gehören Übergewicht und Selbstverstümmelung. Die Grundlagen können in einer Ambivalenz zwischen Ablehnung und Akzeptanz der eigenen Körperlichkeit, der Rollenverständnisse und Lebensführung der Eltern liegen und oft auch unbeholfene Versuche der Pflege der eigenen Person darstellen. Die Akzeptanz des eigenen Körpers erfolgt frühestens in der späten Adoleszenz, bei vielen Menschen (bei Frauen öfter als bei Männern) sind jedoch Körperwahrnehmungsprobleme ein lebenslange Begleiter. Änderung der sozialen Kontakte Die Ablösung von der Familie geht mit Stimmungsschwankungen einher und erfordert Ersatz durch Freundschaft mit (gleichgeschlechtlichen) Gleichaltrigen, dann kommt es zur Zuwendung zu einer Gruppe von Gleichaltrigen und Gleichgesinnten (peer - group, Cliquen), deren Führerschaft man als unumstrittene Autorität anerkennt und/oder Hinwendung zu Leitfiguren wie Filmschauspielern, Dichtern, Philosophen, Politiker, Gurus oder Idole der Popkultur. In der späten Adoleszenz verliert die Gruppe an Attraktivität und es kommt zur Aufnahme von Intimbeziehungen, die dann eine neue, wichtigere Stütze geben. Änderung der Ideale - Aufbau einer eigenen Identität Es kommt zur Zunahme der Urteilsfähigkeit bei gleichzeitigem Wachsen der Phantasiewelt (Tagträume). Berufsvorstellungen werden oft überaus idealistisch gesehen. Elterliche Scheinheiligkeit wird durchschaut und angeprangert. Durch Omnipotenzgefühl (Allmachtphantasien) und dem Wunsch nach Grenzerfahrungen ("Was kann ich alles") kommt es vermehrt zu Sport- und Freizeitunfällen. Die Entwicklung eigener moralischer Werte ist nun das Thema und äusserst bedeutsam. Der Jugendliche will - im besten Falle - alles besser machen. Seine Beziehung wird nicht durch Trennung, Untreue etc. ruiniert; sein Berufsleben wird keine Vetternwirtschaft kennen und so fort. Hier können Erwachsene den Jugendlichen auch als Lehrmeister ansehen und ihn nicht nur belächeln. In dieser Phase kann man als erwachsene Person viel, ja sehr viel lernen! Erst langsam entwickelt sich - auch in der Auseinandersetzung mit der Realität - ein zunehmender 8 Realismus, der zu realistischeren Berufsvorstellungen führt. Das führt dann - oft viel zu früh (manche Menschen werden schon als "Alte" geboren) zur Kompromissbereitschaft und der Bereitschaft, Grenzen zu akzeptieren. Biologische Reifung und soziale Integration: Längere Lernzeit bei gleichzeitiger Akzeleration (Beschleunigung) der körperlichen Reifung vergrössert die Diskrepanz zwischen physischer und sozialer Reife. Diese Grenzposition führt zu Rollen- und Statuskonflikten. Rolle = Summe der Verhaltenserwartungen, die die Gesellschaft an eine Person heranträgt (Pflichten). Rollenkonflikte entstehen, wenn vom Jugendlichen bereits ein erwachsenes Verhalten erwartet wird, zu dem er noch gar nicht fähig ist, oder wenn er noch als Kind behandelt wird, obwohl er sich schon halb oder ganz erwachsen fühlt. Als Status bezeichnet man die mit einer Position (als Sohn/Tochter, Schüler, Lehrling, Kamerad) verbundenen Erwartungen des Betreffenden in Bezug auf seine Selbständigkeit, sein Mitspracherecht, die gebührende Anerkennung, die Verantwortung und Entscheidungsfreiheit etc. Statuskonflikte entstehen, wenn der Jugendliche z.B. mehr Rechte verlangt, solche Ansprüche nicht ihren Möglichkeiten entsprechen und nicht mit den Erwartungen ihrer Umwelt übereinstimmen. DER KÖRPER ALS BÜHNE: STÖRUNGEN DER ADOLESZENZ "Der Körper wird zur Bühne, auf welcher Konflikte, Spannungen, ungeklärte Fragen etc. inszeniert werden." (Bürgin). Dazu gehören: - Psychosomatische Beschwerden: Häufig kommt es zur Somatisierung von bewußten oder unbewußten psychischen Problemen. Dies äussert sich vielfältig und auch mit mehrfachem Symptomenwechsel. Beispiele sind Spannungskopfschmerzen, Magenbeschwerden, undefinierbare Bauchschmerzen, Rückenschmerzen, diffuse Unterleibsschmerzen. Für unten aufgeführte „Störungen“ ist eine geeignete psychiatrische Fachkraft beizuziehen. • • • • • Depression in der Adoleszenz Reaktive depressive Verstimmung Jugendlichendepression Depression als Psychose: Depressive Äquivalente RISIKOVERHALTEN Als Ausdruck des typischen Omnipotenzgefühls dieser Altersgruppe oder zufolge von versteckter Aggression oder Depression wird irrationaler Mut zum Risiko praktiziert. Dies kann zu • Jugendaggressivität • Jugenddelinquenz und Jugendbanden • Suchtverhalten führen. 9 BERATUNG Rat für Probleme wird häufiger bei Freunden oder eher von (anonymen) Organisationen gesucht als bei Eltern oder Hausarzt. Dies gilt es zu respektieren! Wichtig ist eine gesunde Balance zwischen Führen und Widerstand bieten - was natürlich psychische Energie erfordert - sowie Loslassen (mit Gesprächs- und Kompromissbereitschaft). ZUSAMMENFASSEND: "Jugend ist kein Lebensabschnitt - sie ist eine Geisteshaltung, sie ist die Beschaffenheit der Willenskraft, eine Eigenschaft der Phantasie, die Kraft der Gefühle, der Sieg des Mutes über die Ängstlichkeit und der Abenteuerlust über die Bequemlichkeit. Niemand wird alt, nur weil er eine bestimmte Anzahl von Jahren gelebt hat. Die Menschen werden alt, wenn sie ihre Ideale aufgeben. Wenn wir unsere Begeisterunsgfähigkeit verlieren, bekommt unsere Seele Falten." Primus-E. Mullis November 2010 10