ALLES GEHT. ALLES KOMMT WIEDER.
Transcrição
ALLES GEHT. ALLES KOMMT WIEDER.
ALLES GEHT. ALLES KOMMT WIEDER. DAS ABC DES „RETURN OF DAS GOLDENE ZEITALTER“ Von Alexander Kerlin Baal Frühes Stück von → Bertolt Brecht, für das er teils aus eigenen Liedern, teils aus Gedichten von Francois Villon sampelte (->Sample). Zuletzt aufgeführt 2015 am Münchener Residenztheater, jedoch nach wenigen Vorstellungen verboten. Der Suhrkamp-Verlag begründet: “Innerhalb der Produktion werden umfängliche → Fremdtexte verwendet, die Werkeinheit wird aufgelöst. Dies verletzt das Urheberrecht (→ Zitatrecht) und ist durch Aufführungsvertrag nicht gedeckt.” (→ Beckett-Erben, → Goethe, → Original) Blanche du Bois Theaterfigur und tolle Rolle. Kommt gebürtig aus Tennessee Williams Südstaatendrama “Endstation Sehnsucht” (1947), verirrte sich jedoch schon häufiger in andere Stücke, z.B. in Woody Allens “→ Gott”. Wie alle Theaterfiguren muss sie ihr Trauma wieder und wieder durchschreiten. Soll heißen: Theaterbühnen ziehen sie an wie magischer Zauber (→ Wiederholungszwang). Brecht, Bertolt Deutscher Dichter im 20. Jahrhundert, dem → Fremdtexte nicht fremd, sondern Texte wie alle anderen auch waren. Zitat: “Ihr könnt meine Interpretationen ja zum Teil wegstreichen, neues einfügen, kurz: Die Stücke als Rohmaterial verwenden.” (→ Baal, → Beckett-Erben, → Zitat Ende, → Zitatrecht). Burka Einfarbig dunkles Objekt der Furcht, aus dem ein Blick dringt, den man nicht erwidern kann. Eine Burka eliminiert Gegenseitigkeit, Gleichheit und Individualität (→ Individuum). Dazu Philosoph Slavoj Zizek: “Genau das Verdecken des Gesichts vernichtet das Schutzschild, so dass die Andersheit, das Anders-Sein uns direkt anstarrt.” (→ Das macht das Leben eben bunt, → Exactitudes) Das macht das Leben eben bunt Pointe eines fröhlichen Kinderlieds, das sich um die Vermittlung von Toleranz an Grundschüler bemüht: “Ich bin anders als / Du bist anders als / Er ist anders als / sie (…) Na und?” (→ Burka, → Identität, → Individuum) Der Engel der Geschichte Eine der letzten Denkfiguren im Leben des Philosophen Walter Benjamin und ein Gegenbild zu Nietzsches Idee der → Ewigen Wiederkunft. Der EdG blickt zurück auf die Vergangenheit, wird jedoch der Zukunft zugetrieben von einem Sturm, “der aus dem Paradiese weht” und der ihn daran hindert, zu “verweilen”, um “die Toten zu wecken und das Zerschlagene zusammenzufügen”. “Das, was wir den → Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.” Erzland Bayreuth Umbenennung des Richard-Wagner-Festspielhügels durch den säbelrasselnden Erzkunstballettmädchensoldaten Jonathan Meese, nachdem ihm 2014 die Regielizenz für den Bayreuther → Parsifal entzogen wurde. “Die Führungsriege dort ist der letzte Dreck. Die müssen sich bei Richard Wagner entschuldigen.” (→ Bühnenweihfestspiel) Fortschritt Eine Art guter Geist, der über den Jahrtausenden menschlichen Werdens und Vergehens waltet und der noch auf jeden Rückschlag mit zwei Schritten nach vorn zu antworten wusste. Liefert der deflationären Gesellschaft wie dem verunsicherten → Individuum die passende Erzählung dazu, mutig weiterzuwerkeln, auch wenn’s mal schief gegangen ist. Wohin uns der F. jedoch führt, ins → Paradies oder in den Untergang, ist Gegenstand von Debatten, die auch schon mit dem Messer geführt wurden (→ Der Engel der Geschichte, → Ewige Wiederkunft, → Goldenes Zeitalter, → Von der Entstehung der Arten). Hundert Quintillionen Zahl mit 32 Nullen und Dauer (in Jahren) bis zum endgültigen Zerfall unseres Sonnensystems. Die Sonne – längst zum weißen Zwerg geschrumpft – wird aus der Milchstraße hinaus wandern oder in ein Schwarzes Loch stürzen. Unser Erdball wird zu dem Zeitpunkt schon längst von ihr verschluckt sein und mit ihm der gesamte → Goethe (→ Erlösung, → Hundert, → Tod). Jubelgesellschaft Wir. Die J. vereint habituelle Ungeduld und kurze Planungshorizonte zu ihrem obersten Lebensziel: dem möglichst ununterbrochenen Erleben von Spannung, Spektakel, Spiel und Spaß. Aufgestaute → Langeweile und Unlust entladen sich in orgiastischem Jubel, der jeden Kriegslärm übertönt (→ Witzischkeit kennt keine Grenzen, → Zott). Kausalität Mentaler Klebstoff, mit dem wir Erfahrenes zu sinnvollen Einheiten strukturieren: „Dieses folgte deshalb aus jenem“. Wo jedoch das ‚Deshalb’ fehlt und nur ‚Dieses’ und ‚Jenes’ ohne Haftung durch den Äther schweben, ist das Denken anders gefragt: Wir müssen uns erstmal um die Beschaffenheit des Klebstoffs kümmern. Langeweile Ist sie, wie Blaire Pascal glaubte, “unerträglich für den Menschen”, weil er “ohne Geschäfte, ohne Zerstreuung” nur sein “Nichts fühlen” würde und ihn deshalb “Schwärze” und “Verzweiflung” überkommt? Oder erfährt man auf dem “Gipfel der L. den → Sinn des Nichts” (Emil Cioran, Philosoph)? Oder, auch nicht unwahrscheinlich: Ist die L. ein Symptom des Mittelmäßigen, wie → Schopenhauer annahm, weil sich der große Geist nie langweilt, da er doch immer sich selbst zum Amüsement dabei hat? (→ Jubelgesellschaft) Macbeth Blutrünstiger Anti-Held von Shakespeare, dem ähnlich wie Büchners → Danton kurz vor seinem Tod die zähe Konsistenz der → Zeit selbst übel aufstößt: “Morgen und morgen und morgen. Das kriecht / mit diesem kleinen Schritt von Tag zu Tag / zur letzten Silbe.” (→ Irgendwann, → Langeweile, → Schopenhauer) Rückkehr Im Gegensatz zur Fortsetzung (engl. “sequel) bezeichnet die R. keinen Appendix an einem “ersten Körper” (→ Original), sondern den ersten Körper selbst, der zu einem veränderten Zeitpunkt wieder am alten Platz auftaucht (mehr oder weniger geläutert). (→ Wiederholung) Schopenhauer Lied der deutschen Punkrock-Band “Die Ärzte” auf ihrem Album “Bestie in Menschengestalt” (1993) und Familienname des ersten Irrationalisten der deutschen Philosophiegeschichte (1788-1860), der allem narzisstischen Wünschen zum Trotz den → Tod als Ende ohne neuen Anfang für das → Individuum dachte, und “dabei nichts Bleibendes als allein die Materie und die Wiederkehr derselben organischen Formen, die nun einmal da sind” (→ Erlösung). Tausend Plateaus 700-Seiten-Schinken der Philosophen und Psychiater Gilles Deleuze und Felix Guattari (1980). Grundannahme: Die Gesellschaft muss sich von der binären Logik verabschieden und stattdessen an die Vielheit gewöhnen. Davon ist auch die Kunst nicht ausgenommen. In ihr gibt es “nichts zu verstehen, aber viel, womit man etwas anfangen kann.” Das bleibt die richtige Ansage (Stand: Februar 2015). Texte im Traum Sind einer berühmten Annahme Sigmund Freuds zufolge nie originär, sondern immer nur Zitate. Nur? (→ Brecht, → Goethe) Über die Entstehung der Arten Wichtigste Gegenerzählung zur → Genesis im 19. Jahrhundert von Charles Darwin (1809-1882). In der Natur wirke ein über → Wiederholung und Variation agierendes Gesetz von “Versuch und Irrtum”, das auf einer Bahn des → Fortschritts “immer höhere und vollkommenere Wesen” erzeuge (→ Menschenaffen, → Paradies, → Schöpfung). Wenn Gott die Wiederholung nicht gewollt hätte Titel einer Backstage-Dokumentation von Mario Simon über das → Goldene Zeitalter, in Anlehnung an ein Zitat von Sören Kierkegaard (→ Die Wiederholung): http://vimeo.com/117836518 World Trade Center Ehemaliger Bürogebäudekomplex (→ Arbeit) in New York City, dessen nicht rückgängig zu machender (→ Der Engel der Geschichte) Einsturz 2001 den Anfang vom Ende des → Endes der Geschichte markierte. (→ Fortschritt) Zitat Ende Markiert in einer Rede oder einem Text (“) das Ende eines geborgten Gedankens und den Anfang eines eigenen (→ Brecht, → Détournement). Ein herzliches Dankeschön für die tatkräftige Unterstützung beim Verfassen geht an Hannah Sophie Martell und Matthias Seier. AUF DEN FOTOS ZU SEHEN, WENN AUCH NICHT IMMER ZU ERKENNEN: S. 1 (von links nach rechts): Caroline Hanke, Uwe Schmieder, Eva Verena Müller, Björn Gabriel, Merle Wasmuth | S. 2: Caroline Hanke, Björn Gabriel | S. 3: Eva Verena Müller, Caroline Hanke, Uwe Schmieder | S. 4: Eva Verena Müller, Uwe Schmieder, Carlos Lobo, Caroline Hanke, Merle Wasmuth | S. 5: Carlos Lobo. ©2015 Alexander Kerlin | Fotos: Birgit Hubfeld theaterdo.de | facebook.com/schauspieldortmund | twitter.com/SchauspielDo | blog.schauspieldortmund.de