Andacht zum Reisesegen
Transcrição
Andacht zum Reisesegen
Mögen sich die Wege vor deinen Füßen ebnen, mögest du den Wind im Rücken haben, und bis wir uns wieder sehn, und bis wir uns wieder sehn, möge Gott seine schützende Hand über dir halten. Möge warm die Sonne auch dein Gesicht bescheinen, Regen sanft auf deine Felder fallen, und bis wir uns wieder sehn, und bis wir uns wieder sehn, möge Gott seine schützende Hand über dir halten. Irischer Reisesegen Ein kleines Lied welches viele gern singen. Eigentlich ist es ein Reisesegen, gedacht für eine Abschiedssituation. Derjenigen, die geht, werden die Segenswünsche mit auf den Weg gegeben. Doch vielfach singen wir dieses Lied uns selbst, ganz gleich, ob wir auf Reisen gehen oder zu Hause bleiben. Der poetische, fast zärtliche Text drückt Dinge aus, die wir uns selbst wünschen. Doch was wünschen wir uns da eigentlich? Natürlich freuen wir uns über ebene Wege ohne zu große Steigungen, ohne Stolpersteine, ohne Unwägbarkeiten, wenn wir unterwegs sind. In der Realität unseres Lebens kennen wir auch die anderen Situationen: plötzlich endet ein Weg im Wirrwarr und wir wissen nicht weiter. Oder ein steiler Weg, der uns viel abverlangt, will und will nicht enden. Oder wir stehen auf einmal vor einer unüberwindbaren Felswand. Manchmal verirren wir uns auch in uns selbst, in unseren Beziehungen, in unseren geheimen Wünschen, in unseren Ängsten, in Schuld. Manchmal kämpfen wir endlos um eine Liebe, um Anerkennung, um ein bisschen Glück, um unser Recht und vieles mehr. Aber unser Mühen bleibt erfolglos, erschöpft und wund sinken wir zusammen und wissen nicht weiter. Und manchmal lässt uns ein Schicksalsschlag vor eine Wand rennen, die unüberwindbar scheint: dann stehen wir vor den Scherben unseres Lebens. Unsere Seele lauscht auf, wenn wir uns selbst dieses Lied vorsingen, weil wir einerseits schwierige Erfahrungen mit den Wegen in unserem Leben kennen und uns gleichzeitig so sehr wünschen, dass die Wege glatt verlaufen. Doch gerade dies drückt der Text nicht aus, sondern der Weg soll sich unmittelbar vor den Füßen ebnen. Da ist keine Rede von Überschaubarkeit und weiter Sicht. Der Weg ebnet sich vor den Füßen. Das geschieht also erst beim Gehen und nicht im Vornherein. „Mögest du den Wind im Rücken haben″ – Wer liebt ihn nicht beim Fahrradfahren. Herrlich! Alles wird leichter, beschwingter. Was gibt uns im Alltag Rückenwind? Können wir das überhaupt, uns treiben lassen? Dürfen wir es uns selbst leicht machen? Packen wir uns nicht eher eine Sorge und Verantwortung nach der anderen auf anstatt uns zu entlasten? Der Wind dreht auf jeden Fall wieder und bläst uns ins Gesicht. Und Tage, in denen es stürmisch zugeht, werden uns nicht erspart bleiben. Geben wir dem Rückenwind doch eine echte Chance uns voran zu bringen. Er ist ein Geschenk, eine Gnade. „Möge warm die Sonne auch dein Gesicht bescheinen″ – Worte, die unsere tiefste Traurigkeit berühren und unsere Sehnsucht nach Trost, Wärme und Geborgenheit. Wie viele Tränen haben wir nicht geweint in unserem Leben? War das wirklich gut so? Haben wir jemanden, in dessen Nähe unsere Traurigkeit gut aufgehoben ist, dessen Worte uns Trost geben? Vielleicht ist es gerade jetzt Zeit, sich solch einen Menschen zu suchen. „Regen sanft auf deine Felder fallen″ – kein Sturm, kein Hagel, keine Überschwemmung. Alles hat sein richtiges Maß, heißt das. Es gibt genug Wasser zum Wachsen und Reifen und die Erde hat Zeit, dieses aufzunehmen und Pflanzen, Tieren und Menschen zur Verfügung zu stellen. Balance und keine Extreme im Leben, das wäre schön, das wünschen wir uns. Wir singen uns dieses Lied gern selbst vor, weil wir die Unwägbarkeiten des Lebens schon oft spürten und weil unsere Seele diese Worte ihrer eigenen Hoffnung so gern hört. Gönnen wir ihr dies, wann immer sie es braucht. Und Gott möge seine schützende Hand über uns halten, auf unseren Um- und Irrwegen, im Sturm und in der Flaute, in der Kälte und in der Hitze, damit unser Leben immer wieder in die Balance kommen kann. Unter dieser Hand dürfen wir immer wieder die Erfahrung machen, dass sich die Wege ebnen können, wenn wir nur losgehen. Bettina Dörfel