die entwicklung des kriminalromans

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die entwicklung des kriminalromans
DIE ENTWICKLUNG DES KRIMINALROMANS
am Beispiel österreichischer Autoren
Arbeit in Deutsch
Maturajahrgang 2013/14
vorgelegt von
Helene Haslinger 8D
Betreuer: Mag. Martin Windischhofer
eingereicht am 14.02.2014
Sir-Karl-Popper-Schule / GRG4
Wiedner Gürtel 68, 1040 Wien
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Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung ............................................................................................................. 4
2. Kriminal- und Detektivroman – eine Differenzierung ............................................ 5
3. Der klassische Detektivroman .............................................................................. 6
3.1.
Handlungsaufbau .................................................................................................... 7
3.2.
Figuren .................................................................................................................... 9
3.3.
Regeln....................................................................................................................12
4. Entwicklung des Detektivromans ....................................................................... 13
4.1.
Themen und Aufbau ...............................................................................................14
4.2.
Figuren und Gesellschaft........................................................................................15
5. Der Kriminalroman in Österreich ........................................................................ 16
6. Textanalysen ...................................................................................................... 17
6.1.
Wolf Haas ..............................................................................................................17
6.2.
Eva Rossmann .......................................................................................................20
6.3.
Stefan Slupetzky ....................................................................................................22
7. Fazit ................................................................................................................... 25
8. Bibliografie ......................................................................................................... 27
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Abstract
Auf die Idee zu meiner Arbeit über die Entwicklung des Kriminalromans bin ich durch
die Bücher von Wolf Haas und Stefan Slupetzky gekommen; zwei österreichische
Autoren, deren Erzählungen klassischen Werken wie den Agatha Christie-Romanen
nicht mehr wirklich ähneln.
Ziel der Arbeit ist, die Entwicklung von klassischem zu österreichischem Detektivroman - welcher sich aus dem klassischen entwickelt hat und daher den modernen Detektivroman repräsentiert - herauszuarbeiten. Der erste Teil der Arbeit dreht sich zunächst um eine Aufschlüsselung der wichtigsten Strukturelemente und Regeln der
althergebrachten Detektivgeschichte. Des Weiteren angeführt sind häufig auftretende
Veränderungen in der modernen Kriminalliteratur und deren Hintergründe. Im Anschluss werden die Geschichte und einige Eigenarten des (noch eher jungen) österreichischen Detektivromans besprochen. Abschließend folgen Textanalysen der Detektivreihen von drei österreichischen Autoren. Im Fazit befinden sich eine Reflexion
des erarbeiteten Materials und Antworten auf die Fragen: Wie unterscheiden bzw.
emanzipieren sich die modernen Kriminalromane von ihren traditionellen Vorgängern? Lassen sich in den analysierten Kriminalromanen typische Elemente der modernen / experimentellen Kriminalliteratur ausmachen? Und was ist an diesen Büchern typisch österreichisch?
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1. Einleitung
Meine vorwissenschaftliche Arbeit befasst sich mit einer Sonderform des Romans,
die von der Literaturwissenschaft für lange Zeit links liegen gelassen wurde - dem
Kriminalroman. Letzterer wird von festgelegten Strukturen und Elementen bestimmt
wie kaum ein anderes Literaturgenre. Sicher gab es seit der Etablierung der Kriminalliteratur durch Edgar Allen Poe und Sir Arthur Conan Doyle im Laufe des 19. Jahrhunderts hin und wieder Autoren, die mit ihren Werken von der literarischen Norm
abzuweichen versuchten - sie blieben aber Einzelfälle. Erst ab Mitte des 20. Jahrhunderts ging der Trend in Richtung Individualisierung des Kriminalromans, der seither etliche experimentelle Untergruppen hervorgebracht hat.
Mein Ziel ist es, zu zeigen, welche Veränderungen diese Entwicklung bewirkt hat und
wie sich Krimis der heutigen Zeit von der klassischen Struktur der Werke Agatha
Christies oder Conan Doyles emanzipieren. Als Beispiele ziehe ich einige moderne
Detektivgeschichten heran. Mich interessieren die Methoden der Autoren, aus der
Norm des traditionellen Krimis auszubrechen und ihren eigenen Stil zu erarbeiten.
Selbst Anfang der 1940er Jahre hatten Literaturexperten noch Hemmungen, Kriminalromane wissenschaftlich zu bearbeiten, was auf ihre Beliebtheit bei der breiten
Masse und den daraus resultierenden Status als Trivialliteratur zurückzuführen ist.
Jegliche Individualität und Vergleichbarkeit mit „ernsthafter Literatur“ wurde dem Krimi abgesprochen. Eine Ansicht, die erst mit der zunehmenden Experimentierfreudigkeit der Krimiszene im Laufe des 20. Jahrhunderts revidiert wurde. Seither sind vielzählige Abhandlungen, Fachbücher und Textsammlungen zum Thema Kriminalliteratur erschienen1 - jene wird nun nicht nur in der Literaturwissenschaft sondern auch in
zahlreichen anderen Disziplinen wahrgenommen:
[…] schließlich wird diese oft geringgeschätzte Gattung auch von eigenständigen
Disziplinen wie der Psychoanalyse, der philosophischen Spieltheorie oder gar - ebenso überraschend wie naheliegend – von der Rechtsgeschichte ernstgenommen.
(Vogt 1998: 10)
Umso interessanter ist es, die Entwicklungen zu untersuchen, welche diesen so lange vernachlässigten Literaturzweig reformiert und ihm neues Leben eingehaucht haben.
1
u.a. Der Kriminalroman von Jochen Vogt (1998) und Der Kriminalroman von Peter Nusser (1992)
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2. Kriminal- und Detektivroman – eine Differenzierung
Im Laufe meiner Literaturforschung ist zusehends klarer geworden, dass das Feld
der Kriminalliteratur ein weites und verzweigtes ist, mit unzähligen Untergruppen und
Sonderformen, für die kaum Regeln festzulegen sind. Infolgedessen habe ich beschlossen, meine Arbeit auf die Unterkategorie des Detektivromans zu beschränken,
denn, wie auch Helmut Heißenbüttel schreibt, ist der Kriminalroman, dem ein festes
Schema zugrunde liegt, „immer ein Detektivroman“ (Heißenbüttel 1966: 108). Der
Detektivroman unterliegt klareren Strukturen, denen auch die meisten der gegenwärtigen Autoren treu geblieben sind. Was aber sind die Eigenschaften, die einen Kriminalroman zum Detektivroman machen?
Zunächst behandelt ein Detektivroman immer das Thema Mord. Natürlich ist Mord
auch Motiv in vielen Kriminalromanen, was eher wie eine Gemeinsamkeit wirkt. Es ist
aber wichtig zu verstehen, was den Mord im Detektivroman so essenziell macht,
während er im Kriminalroman auch durch eine andere Straftat ausgetauscht werden
könnte. Im Kriminalroman dreht sich die Geschichte nicht zwangsweise um ein einziges Vorkommnis; sie hat mehr Freiraum sich zu entfalten als die Detektivgeschichte.
Weiters wird die Spannung durch rapide Ortswechsel und einen abwechslungsreichen Inhalt aufrechterhalten, während der Detektivroman den Leser mit raffinierter
Sprache und Kombinatorik zu fesseln versucht. Der Detektivroman braucht den Mord
als Rechtfertigung dafür, dass sich ohne nennenswerte Ortswechsel die Handlung
eines ganzen Buches um ein bestimmtes Vorkommnis dreht – bei einem Taschendiebstahl wäre das nicht glaubwürdig.
Die Leserperspektive ist im Detektivroman viel wesentlicher. Wenn sie nicht beachtet
wird, kann der Aufbau der Geschichte zusammenbrechen, weil beispielsweise ein
Hinweis zu früh oder zu spät verraten wurde. Kriminalromane sind weniger verschachtelt. Sie halten Fakten nicht zurück, sondern geben die Ereignisse meist genau in der Reihenfolge wieder, in der sie auch geschehen sind:
Der Kriminalroman erzählt die Geschichte eines Verbrechens, der Detektivroman die
Geschichte der Aufklärung eines Verbrechens. Man kann jeden Kriminalroman auf
den Kopf stellen und ihn als Detektivroman erzählen, und man kann umgekehrt jeden
Detektivroman auf die Füße stellen und damit den ihm zugrunde liegenden Kriminalroman herstellen. (Alewyn 1971: 2f)
Im Detektivroman stehen Stil und Erzähltechnik über dem Inhalt. Sie machen aus, ob
sich der Leser von der Geschichte fesseln lässt. Der Erzähler hat absolute Vollmacht
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darüber, was der Leser weiß oder nicht weiß. Er kann zur Ablenkung falsche Verdächtige und Indizien einführen und bestimmen, zu welchem Zeitpunkt die Identität
des Mörders gelüftet wird. Er entscheidet, in welcher Reihenfolge die Geschehnisse
auftreten. So können Überraschungseffekte erzielt werden, indem zum Beispiel
durch einen unerwarteten Angriff auf den Ermittler eine neue Figur eingeführt wird.
Die Autoren verwenden mit Vorliebe bestimmte Erzählmethoden, Verwirrungstaktiken
sowie Doppeldeutigkeiten (wie in Arthur Conan Doyles Erzählung Das gefleckte
Band, in der die zwei Bedeutungen des englischen Wortes band genützt werden) um
ihre Leser auf eine falsche Fährte zu locken.
All die oben genannten Charakteristika, die den Detektivroman im Gegensatz zu anderen Spielarten der Kriminalliteratur auszeichnen, machen ihn so geeignet, in meiner Arbeit analysiert zu werden. Daher schicke ich voraus, dass sich diese Arbeit
selbstredend mit der Kriminalliteratur beschäftigt, aber eben nur mit ihrer Untergattung des Detektivromans, die für eine literaturwissenschaftliche Untersuchung wie
die folgende die interessantesten Einblicke liefert.
Abschließend noch ein Zitat von Ernst Bloch, der auf den Punkt bringt, was den Detektivroman speziell macht und ihn von anderen Untergruppen des Genres unterscheidet:
Da ist zunächst die Spannung des Ratens; sie weist, also ohnehin detektivisch, zum
zweiten auf das Entlarvende, Aufdeckende hin, mit dem besonderen Akzent des Abseitigen, woraus oft das Wichtigste zu erfahren ist; und das Aufdeckende geht zum
dritten auf Vorgänge, die aus ihrem Unerzählten, Vor- Geschichtehaften erst herauszubringen sind. Dies dritte Kennzeichen ist das charakteristischste der Detektivgeschichte und macht sie, sogar weit vom Detektiv, unverwechselbar. (Bloch 1965: 4)
3. Der klassische Detektivroman
Wie eingangs schon erwähnt, wurden für den Detektivroman nicht lange nach seiner
Etablierung durch Edgar Allen Poes Detektivfigur Auguste Dupin strenge Richtlinien
festgelegt, die von vielen namhaften Kriminalautoren befolgt wurden2. Erwähnenswert ist, dass Poe auf viele dieser Regeln, die die Detektivgeschichte des 19. Jahrhunderts so stark geprägt haben, keinen Wert legte. Der für ihn wichtigste Aspekt der
Geschichte war die große Rolle, die der Intellekt des Detektivs bei der Aufklärung
des Falls spielt. Er sah die Erzählung als reines Puzzlespiel, eine Denkaufgabe für
2
Siehe Kapitel 2.2.
7
den Leser, und vermied die Beschäftigung mit sozialen oder psychologischen Problemen daher auch völlig (vgl. Nusser 1992: 87). Wenngleich Poe als Begründer des
traditionellen Detektivromans gilt, werden dessen Wurzeln gemeinhin nicht in Amerika, sondern in England gesehen, der Heimat von Agatha Christie, Sir Arthur Conan
Doyle und anderen namhaften Autoren, die im ‚Golden Age‘ des Detektivromans (ca.
1914-1939) die Kriminalszene beherrschten.
3.1.
Handlungsaufbau
Die Begebenheitsfolge des Detektivromans wird laut Peter Nusser durch drei Komponenten definiert (folgende Auflistung vgl. Nusser 1992: 26ff):
1) Das rätselhafte Verbrechen (der Mord)
Die Beschreibung des Mordes nimmt im Detektivroman generell keinen großen Teil ein und bestimmt doch wie kein anderes Ereignis den Fortgang der
Geschichte. Er ist Auslöser der weiteren Handlung, mit ihm „erstarrt zusammen mit dem jäh Verblichenen die ganze Romanwelt. Das Spannungsspiel
beginnt.“ (Suerbaum 1967: 91)
2) Die Fahndung nach dem Täter/den Tätern
Die Fahndungszeit nimmt den Großteil eines Detektivromans ein. Hier beginnt
die Rekonstruktion der Tat, Motive werden geklärt. Im klassischen Detektivroman ist dieser Teil hauptsächlich analytisch. Er enthält zwar aktionistische
Elemente, wie zum Beispiel die Durchführung der Verhöre, Beratungen zwischen den Ermittlern und - spärlich aber doch - Verfolgungsjagden, konzentriert sich jedoch hauptsächlich auf die Denkarbeit des Detektivs3. Er beobachtet das Verhalten der beteiligten Personen und grenzt den Kreis der
Hauptverdächtigen immer weiter ein. Mithilfe von falschen Fährten und gegensätzlichen Behauptungen beginnt der Autor an dieser Stelle, Spannung
aufzubauen.
3) Aufklärung und Überführung
Die Art der Aufklärung im Detektivroman kann variieren. Immer endet er jedoch mit
einer inszenierten Überführungsszene durch den Detektiv, die eine finale Verfolgungsjagd beinhalten kann, aber nicht muss (siehe Varianz). Oft bedient sich der
Detektiv der Hilfe von Unwissenden, die für ihn Aufträge erledigen, welche zur De3
Dies ist das entscheidende Charakteristikum des Detektivromans, das ihn in Edgar Allen Poes Zeit
so besonders machte.
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maskierung des Täters beitragen, ohne sich der Wichtigkeit ihrer Handlungen für den
Fall bewusst zu sein. Hier erreicht die Spannung ihren Höhepunkt, um nach Verkündung der Ermittlungsergebnisse jäh abzufallen. „Die Begebenheitsfolge, genauer:
größere Strecken der Begebenheitsfolge werden im Detektivroman in zeitlicher Umstellung erzählt“ (Nusser 1992: 34). Wie bei Nusser beschrieben, gibt es immer einen
rekonstruierenden und einen chronologischen Handlungsstrang, wobei der rekonstruierende Strang die Ermittlungsergebnisse und die Rekonstruktion des Tathergangs beinhaltet. Der chronologische Strang ist die Gegenwart, die Ereignisse, die
sich während der Ermittlungen abspielen.
Ein inhaltlicher Strukturierungsversuch wurde von Ulrich Schulz-Buschhaus durchgeführt, welcher dem Detektivroman drei tragende Elemente zuteilte:
1) Action: bezeichnet die eigentliche Handlung des Romans, namentlich Treffen und Verfolgungen. Jenen wird in der klassischen Detektiverzählung ein
geringer Stellenwert beigemessen.
2) Analysis: bezeichnet Denk- und geistige Ermittlungsprozesse, namentlich
Beobachtungen, Gespräche, Bildung von Hypothesen.
3) Mystery: bezeichnet Geheimnisse, Täuschungen und falsche Fährten.
Analysis und Mystery sind die Spannungspole, die in der Geschichte gegeneinander
arbeiten (vgl. Schulz-Buschhaus 1975: 3f). „Die Konkurrenz von planmäßiger Verdunkelung und planmäßiger Erhellung des Rätsels ist das eigentliche Konstruktionsprinzip des Detektivromans.“ (Nusser 1992: 33)
Alle Detektivromane sind Variationen […] in denen der gleiche Detektiv – im Bunde
oder im Streit mit dem gleichen Polizeikommissar – ähnlich gelagerte Fälle mithilfe
ähnlicher Methoden aufklärt. (Suerbaum 1967: 87)
Varianz wurde von traditionellen Detektivromanautoren durch unterschiedlich starke
Gewichtung der Fragen who? (wer ist der Täter?), how? (wie wurde der Mord vollzogen?) und why? (was ist das Mordmotiv?) erreicht (vgl. Nusser 1992: 27). Die Fahndungsmethoden des Detektivs (Befragung, Untersuchung des Ortes, Vergangenheitsrecherche) bestimmen ebenfalls die Ausprägung der Geschichte. Auch Art und
Ausgang der Überführungsszene sind von Bedeutung - so endet bei Arthur Conan
Doyles Sherlock Holmes die Geschichte meist mit einer ausgeklügelten Falle oder
einem Auflauern durch den Detektiv. Agatha Christies Hercule Poirot zieht es jedoch
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vor, so lange clues zu sammeln bis er sich der Identität des Täters / der Täter absolut
sicher ist, um diese dann der versammelten Runde der Verdächtigen zu verkünden4.
Eine Spielart des Detektivromans, die von kaum einem Autor ausgelassen wird und
deshalb in dieser Arbeit Erwähnung finden muss, ist die oben schon erwähnte falsche Fährte (red herring). Sie wird mit Vorliebe von Autoren eingesetzt, die zwar die
Regeln der Fairness5 nicht brechen, den Leser aber trotzdem an der Nase herumführen wollen:
Für den Erzähler bieten insbesondere die Verhöre die ideale Gelegenheit, falsche
Fährten […] zu […] legen. Denn widersprüchliche, doppeldeutige, ausweichende oder
lückenhafte Antworten eines Befragten können unterschiedliche Ursachen haben:
Von der uneingestandenen Schuld bis zur puren Verlegenheit oder Verwirrung in der
peinlichen Situation gibt es eine ganze Skala von Möglichkeiten. (Nusser 1992: 29)
Auch falsche Schlüsse der Ermittler können für bare Münze verkauft werden: Oft
konkurrieren beispielsweise Detektiv und Polizisten, die sich in weiterer Folge während der Besprechungen nicht alles erzählen. Weiters liegt oft der Gefährte des Detektivs6, welcher häufig Erzähler der Geschichte ist, mit seinen Vermutungen falsch er kann den Leser verwirren, indem er sie dennoch für selbstverständlich nimmt.
3.2.
Figuren
Folgendes Kapitel basiert auf Nusser 1992: 37ff sowie Rabl 2008: 17ff:
Die handelnden Figuren des Detektivromans sind aufgeteilt in die kleine Gruppe der
Ermittelnden und die größere Gruppe der Nicht-Ermittelnden, welche im Folgenden
genauer untersucht werden.
Die Gruppe der Ermittelnden
Mitglieder dieser Gruppe sind der Detektiv, eventuell sein begleitender Gehilfe und
die Kommissare der Polizei, welche entweder zum Detektiv in Konkurrenz stehen
oder (besonders im Fall eines staatlich angestellten Detektivs) mit ihm zusammenarbeiten.
Der Detektiv
H.O. Hügel nennt in seinem 1978 erschienen Buch vier häufig vorkommende Typen
des klassischen Detektivs: den Hobby-, Amateur-, Privat- und den staatlich angestell4
Mit Ausnahmen wie der Verfolgungsjagd in Schneewittchenparty
Siehe Kapitel 2.3.
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Siehe 2.2.: Figuren
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ten Detektiv. Der Amateur hat einen Beruf, der entfernt mit der Detektion zu tun hat
(beispielsweise Journalist), während der Hobbydetektiv durch Involvierung oder puren Zufall in den Fall hineingezogen wird und meist zu Entlastung von Freunden oder
sich selbst ermittelt. Alle vier Typen werden bei Nusser als exzentrische Einzelgänger beschrieben, die unabhängig und zölibatär leben und sich häufig über Normen
und Gesetze hinwegsetzen um den Fall zu lösen. Sie sind traditionell mit einem
Übermaß an Cleverness, Wissen und Unabhängigkeit ausgestattet und haben eine
Aura von Unsterblichkeit, die sie von den übrigen Buchfiguren sowie vom Leser abhebt. (vgl. Hügel 1978: 43ff)
Der Gefährte
Die sogenannte Watson-Figur, die durch den ständigen Begleiter von Sherlock Holmes bekannt wurde, ist oft Erzähler der Geschichte. Er erhöht durch Bewunderung
und unmittelbaren Vergleich die gottgleiche Position des Detektivs und erledigt hin
und wieder kleine Aufträge, die jenen von seinen Überlegungen abhalten würden. Er
ist das verbindende Element zwischen Detektiv und Leser, indem er ersterem im Gespräch den Fortschritt der Ermittlungen entlockt und ihn mithilfe plumper Fragen dazu
bringt, seine Gedankengänge zu offenbaren. Der Leser fühlt sich dem Detektiv
gleichgestellt, wenn er Rätsel früher löst als die Watson-Figur und sieht gleichzeitig,
dass er nie an ihn herankommen kann, sobald er auf eine falsche Schlussfolgerung
ebendieser hereinfällt.
Die Polizei
Die Beamten verfügen zwar über mehr Mittel und Kapital zur Lösung des Falles und
glauben nicht an die Methoden des Detektivs, sind aber meist einen Schritt hintennach. Auch ihr Misserfolg soll den Glanz des Detektivs verstärken, der sie manchmal
instrumentalisiert, um bestimmte Fakten zur Lösung des Falles zu klären und sie
nach Lösung des Rätsels sogar ab und zu den Ruhm einheimsen lässt. Dennoch ist
immer klar, dass er in seinem Können deutlich über ihnen steht.
Die Gruppe der Nicht- Ermittelnden
Jene Gruppe ist traditionell ein geschlossener Kreis und teilt sich auf in den Zirkel der
Verdächtigen, den Mörder und das Opfer.
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Die Verdächtigen
Die Gesellschaft, in der der Mord passiert ist, ist meist eine isolierte Gruppe, die sich
schon länger kennt; sei es über ein gemeinsames Hobby, den Beruf oder Verwandtschaftsverhältnisse. Die Charaktere der Beteiligten sind meist stark typisiert und eindimensional. Jeder wird durch ein bis zwei Attribute gekennzeichnet und vertritt eine
bestimmte Personengruppe. Die Charaktere werden reduziert auf das, was für die
Ermittlungen von Bedeutung ist. Oft sind sie Teil einer wohlhabenden oder aristokratischen Gesellschaftsschicht, was den Kontrast zwischen Schein und Wirklichkeit
noch erschreckender hervorhebt. Wie sich zum Ende der Geschichte herausstellt, ist
nichts so wie es scheint. Jeder hat das eine oder andere Geheimnis mit sich herumgetragen, das er schützen will. Dies erschwert dem Detektiv die Ermittlungsarbeit, da
er nicht sicher sein kann, ob die Verdächtigen lügen um zu verbergen, dass sie den
Mord begangen haben, oder um ihr persönliches Geheimnis im Dunkeln zu halten.
Das Opfer
Auf den/die Ermordeten wird im Detektivroman kaum eingegangen. Er hat bzw. sie
haben (wenn überhaupt) auch nur einen kurzen Auftritt. Das Opfer ist nur das Werkzeug, das die Handlung des Romans in Gang setzt, wenn auch ein unverzichtbares.
Da sein Charakter erst durch Aussagen der Verdächtigen rekonstruiert wird, steht
das Opfer häufig schlecht da, schließlich verbinden viele der Beteiligten es mit negativen Erinnerungen (siehe Der Mörder). Dies ist auch die Intention des Autors, da
Mitleid mit dem Toten die ursprüngliche Intention des Detektivromans – die Freude
am Lösen des Rätsels – verdrängt.
Der Mörder
Der Täter hat in der Detektivgeschichte den Ruf, die Figur zu sein, welche den geringsten Verdacht erregt, die Tat begangen zu haben. Da dieses Schema von regelmäßigen Krimilesern bald durchschaut wurde, stiegen manche Autoren auf das Konzept um, den Mörder zuerst durch falsche Fährten zu entlasten, die Aufmerksamkeit
des Lesers von ihm abzulenken. Bei der Auflösung wird er dann durch den Detektiv,
der seinen anfänglichen Irrtum zugibt, erst recht beschuldigt, die Tat begangen zu
haben. Meistens ist der Mörder ein Mann, da diesem Geschlecht in der Regel gewalttätiges Verhalten eher zugetraut wird als einer Frau.7
7
Frauen als Täterinnen finden sich häufiger in Romanen von weiblichen Autoren wie z.B. Agatha
Christie.
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Räume und Gegenstände
Räume bzw. Räumlichkeiten dienen im Detektivroman primär dazu, die Schar der
Verdächtigen von der Außenwelt zu isolieren, was die Ermittlungen für den Detektiv
und den Leser natürlich erheblich vereinfacht. Eine Extremversion dieses Szenarios
ist der von innen verschlossene Raum, welcher dem Rätsel noch einen besonderen
Spannungszuwachs verschafft. Durch genaue Schilderung der Räume und der sich
in ihnen befindlichen Gegenstände schafft der Autor eine Atmosphäre von Sicherheit,
Wohlstand, Geborgenheit und Familie, die, wenn die mörderische Wirklichkeit ans
Licht tritt, eine noch unheimlichere Stimmung verbreitet - nichts ist, wie es scheint.
Dieser Ansatz von Gesellschaftskritik wird in der althergebrachten Version jedoch
vom Detektiv gleich wieder zugedeckt, welcher die Ursprungssituation mit Auflösung
des Falles wiederherstellt.
Verhältnis Detektiv - Leser
Der Leser hat zum Detektiv ein besonderes Spannungsverhältnis, da dieser ihm einerseits hilft, den Fall aufzuklären, ihn aber andererseits auch von der eigenständigen Lösung des Rätsels abhält. Durch die oben erwähnte Watson-Figur, Zwiegespräche des Detektivs mit sich selbst und direkte Dialoge soll der Leser das Gefühl
haben, in die Ermittlungen eingebunden zu sein. Dennoch wird ihm, trotz ähnlicher
Vorstellungen von Moral und Gerechtigkeit, immer klar gemacht, dass der Detektiv
ihm überlegen ist. So wird er sich bei der Aufklärung des Falles durch den Detektiv
der eigenen Hilflosigkeit bewusst und staunt, was er übersehen hat.
3.3.
Regeln
Die wohl wichtigste Regel des idealtypischen Detektivromans, deren Einhaltung für
viele Autoren eine Frage der Ehre ist, ist die Fairness gegenüber dem Leser. Er darf
nicht mehr oder weniger wissen als der Detektiv (wenn auch verschachtelt formuliert)
und soll immer in der Lage sein können, den Fall ohne den Detektiv zu lösen. Weiters wurde in den Jahren des ‚Golden Age‘ vielfach die Ansicht vertreten, dass alles,
was in der Geschichte vorkomme, relevant sein und ein versteckter Hinweis sein
müsse. Wie Alewyn sagt: „Alles ist das Versteck einer Antwort“ (Alewyn 1971: 61).
Richard A. Knox, ein Mitglied des Detection Club, ein Verein von Kriminalautoren, die
sich regelmäßig zu Diskussionen über den Stand der Kriminalliteratur trafen, verfasste 1929 die Ten Commandments for Detective Novelists. Viele der Regeln und Struk-
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turvorgaben für den Detektivroman entstanden im Laufe der Treffen dieses Clubs.
Die Regeln lauten wie folgt:
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The criminal must be someone mentioned in the early part of the story, but
must not be anyone whose thoughts the reader has been allowed to follow.
All supernatural or preternatural agencies are ruled out as a matter of course.
Not more than one secret room or passage is allowable.
No hitherto undiscovered poisons may be used, nor any appliance which will
need a long scientific explanation at the end.
No Chinaman must figure in the story.
No accident must ever help the detective, nor must he ever have an unaccountable intuition which proves to be right.
The detective must not himself commit the crime.
The detective must not light on any clues which are not instantly produced for
the inspection of the reader.
The stupid friend of the detective, the Watson, must not conceal any thoughts
which pass through his mind; his intelligence must be slightly, but very slightly,
below that of the average reader.
Twin brothers, and doubles generally, must not appear unless we have been
duly prepared for them. (Anon 1 2005)
4. Entwicklung des Detektivromans
Nach dem Zweiten Weltkrieg brach in der Literaturwelt eine Experimentierwelle aus.
Die Menschen hatten die Zwänge und Konventionen der Kriegsjahre satt, und als
Ausdruck dessen wurden von Autoren neue Abwandlungen der bestehenden Literatur geschaffen – so auch beim Kriminalroman. Der von Suerbaum als „gefesselter
Detektivroman“ (Suerbaum 1967: 84) bezeichnete traditionelle Typ des Detektivromans wurde als statisch und verstaubt gesehen. Aus dieser Unzufriedenheit mit der
klassischen Form des Genres entstand der Anti-Detektivroman. Dieser zeichnet sich
unter anderem durch „das Verschachteln von Kontexten, die Übertragung von Inhalten und Bedeutungen auf andere Ebenen und die Neubewertung von Hierarchien“
(Rabl 2008: 52) aus, alles Veränderungen, die der Detektivgeschichte eine ganz
neue Perspektive verliehen. Claudia Rabls Beschreibung dreier Typen des experimentellen Anti-Kriminalromans zeigt anschaulich, wie sich die neuen Formen - mit
dem klassischen Detektivroman als Vorlage - immer mehr von jenem entfremden.
Sie nennt:
1) Den innovativen Anti-Kriminalroman
Hier werden die wesentlichen Regeln des Detektivromans eingehalten, jedoch wird der Detektiv als menschlich und fehlerhaft
beschrieben. Außerdem wird die Lösung des Falls als nicht zu-
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friedenstellend dargestellt, da absolute Gerechtigkeit nicht erreicht werden kann.
2) Den dekonstruktiven Anti-Kriminalroman
Die ursprünglichen Regeln werden untergraben und die stark
subjektive Geschichte wird immer mehr zur Selbstfindung des
überforderten Detektivs; der Fall rückt in den Hintergrund.
3) Den metafiktionalen Anti-Kriminalroman
Die Elemente des klassischen Detektivromans sind kaum vorhanden. Die Geschichte ist verzerrt und kaum mehr nachvollziehbar, vom Autor „getötet“ worden. Der Leser ist Detektiv und
muss die Erzählung (das Opfer) auflösen. (vgl. Rabl 2008: 55ff)
Laut Ulrich Broich ist die Entwicklung des Detektivromans „durch eine Dialektik von
‚Fesselung und Entfesselung‘ […] gekennzeichnet“ (Broich 1978: 106), also durch
Annäherung an und Entfremdung von den Regeln des klassischen Kriminalromans.
Da dies in Kapitel 2 bereits besprochen wurde, wird sich das folgende Kapitel mit den
Charakteristika beschäftigen, die den ‚modernen‘ Detektivroman vom traditionellen
trennen.
4.1.
Themen und Aufbau
Der vielleicht wichtigste Schritt in der Entwicklung des Detektivromans war der in
Richtung einer realitätsnäheren Romanwelt. Die klassische Detektivgeschichte ist ein
ausgeschmücktes Rätselspiel. Klare Grenzen zwischen Gut und Böse, einfache Persönlichkeiten und geschlossene Gesellschaften – sie ist auf die für sie wichtigsten
Elemente reduziert. Die Personen sollen nicht realistisch sein, sondern die Ideale der
ihnen zugeschriebenen Rollen verkörpern.8 Der moderne Detektivroman hingegen
versucht zu vermitteln, dass das Leben unsicher und oft nicht rational zu erklären ist.
Er akzeptiert, dass der Zufall bei Auflösung eines Rätsels eine gleich große, wenn
nicht größere Rolle spielt als der Intellekt. Er verzichtet auf irreführende Spuren und
großartige Pointen (vgl. Nusser 1992: 105). Ein Anliegen der ‚entfesselnden‘ Autorenbewegung war, dem Leser klar zu machen, wie unrealistisch die eindeutige Auflösung eines Verbrechens ist. Eine Ausrottung des Bösen ist sinnlos, da die Wurzel
des Problems viel tiefer liegt als in der Schlechtigkeit eines einzelnen Menschen. Wie
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Dieses vereinfachte Weltbild wird z.B. im philosophischen Kriminalroman (oft auch auf Metaebenen
innerhalb der Geschichte) scharf kritisiert.
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unter Der Täter noch besprochen werden wird, wird das Problem beim modernen
Detektivroman oft in der Gesellschaft gesucht. Daher wird auch mit der ‚Rückkehr in
geordnete Verhältnisse‘ aufgeräumt, da der Mord mit Beseitigung des Mörders nicht
vom Tisch ist – die Motive, nicht der Täter, liegen im Vordergrund. Ein weiterer Versuch, den Detektivroman wirklichkeitsnaher anzulegen und vielleicht auch im Niveau
zu heben, war die Einbindung sozialer und psychologischer Themen in die Geschichte. Aus diesem heraus entstanden auf spezielle Gesellschaftsprobleme zugeschnittene Untergruppen, wie zum Beispiel der ‚Lesbenkrimi‘ (vgl. Siergiejuk 2005: 25)
4.2.
Figuren und Gesellschaft
Um die Detektivgeschichten realistischer zu gestalten, verlegen manche Autoren die
Erzählperspektive auf eine Person, die direkt in die Handlung involviert ist. So werden die behandelten Probleme greifbarer als über einen neutralen Betrachter (Detektiv, Watson-Figur). Ein Beispiel dafür ist John Binghams Buch Warum haben Sie gelogen, Sir?, welches aus der Perspektive des zu Unrecht beschuldigten Hauptverdächtigen erzählt wird, der sich im Laufe seiner Flucht immer unausweichlicher in
komplizierten Ereignissen verstrickt (vgl. Broich 1978: 101).
Der Detektiv
Ein Aspekt, der aus dem klassischen Detektivroman übernommen wurde, ist die Figur des Detektivs – wenn auch maßgeblich verändert. Zum einen wird der moderne
Detektiv nicht mehr als Übermensch dargestellt, sondern zeigt häufig menschliche
Schwächen. Er lebt ein gewöhnliches Leben mit allen menschlichen Freuden und
Leiden und widmet sich nicht immer ausschließlich dem Fall. Er verfügt über einen
gesunden Hausverstand und praktischen Sinn, doch werden in seiner Darstellung
menschliche Qualitäten wie Einfühlungsvermögen und soziale Interaktion höher gestellt als übermäßiger Scharfsinn. Eines der wichtigsten Merkmale des modernen
Detektivromans ist jedoch, dass der Ermittler, meist ein Hobby- oder Amateurdetektiv, von seiner Aufgabe überfordert ist, und mit der echten Welt nicht zurechtkommt,
die eben nicht so leicht aufgeklärt werden kann wie ein einfacher Detektivroman. Er
verstrickt sich emotional in den Fall und hinterfragt die Rechtfertigung seines Tuns.
Der Täter
Wie der moderne Detektivroman sich vermehrt mit sozialen Hintergründen der Tat
beschäftigt, legt er auch ein größeres Augenmerk auf die Psyche des Mörders. Jener
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wird oft als ‚kleiner Mann‘ aus einer unteren Sozialschicht dargestellt, den der Kapitalismus in das Verbrechen treibt - ein Opfer der Gesellschaft. Eine andere Variante ist
der reiche und einflussreiche Magnat, der jemanden beseitigen lässt (oder gar selbst
beseitigt), jedoch durch seine Stellung in der Gesellschaft für den Detektiv unberührbar ist - wenn er nicht überhaupt Polizei und Rechtssprechung befehligt. Die Täterfiguren repräsentieren Korruption und Ungerechtigkeit in der Gesellschaft – meistens
sind es die Verbrecher, die am längeren Hebel sitzen.
5. Der Kriminalroman in Österreich
Trotz der stetig zunehmenden Vielfalt moderner Kriminalautoren aus aller Welt werden sich meine Arbeit und die mit ihr verbundene Textanalyse auf Texte von Österreichern fokussieren. Dies hat neben meinem Interesse an Werken, die aus dem
Land hervorgehen, in dem ich seit meiner Geburt lebe, auch den Grund, dass sich
moderne österreichische Kriminalliteratur aufgrund ihrer Vorgeschichte ideal zur Analyse eignet.
Der Kriminalroman hat in Österreich eine sehr interessante, aber weithin unbekannte
Tradition, die, selbst wenn man Matthias Abele, der schon 1651 sein Buch Seltzame
Gerichts-Händel verfasste, nicht als echten Kriminalautoren anerkennt, um ein gutes
Stück weiter zurückreicht, als die des weltberühmten britischen Kriminalromans. So „
[…] ging es in Österreich schon vor Sherlock Holmes los. Bereits ab 1852 publizierte
der Wiener Heinrich Ritter von Levitschnigg mehrere Krimis, z.B. Der Diebsfänger
(1860)“ (Donnenberg 2005: 1). In der NS-Zeit, als zahlreiche literarische Werke durch
die Bücherverbrennungen vernichtet wurden, fiel auch der österreichische Kriminalroman größtenteils der Zensur zum Opfer. Der Erfolgszug der Gattung wurde ausgedämpft, daher kann sich heute kaum noch jemand an diese Vorreiter des Kriminalromans erinnern. (vgl. Eibenberger 2007: 20). Des Weiteren schreibt Karin Eibenberger:
Der Krimi in Österreich begann sich im Laufe der Nachkriegszeit wirklich zu entwickeln und zu Beginn neigten manche Autoren wie der sich zur NS-Partei bekennende
Schriftsteller Edmund Finke oder auch Louis Weinert-Wilton und Glenn Gordon […]
zu sehr starken Anglisierungen ihrer Kriminalromane – die Orte des Geschehens waren meist London oder New York. (Eibenberger 2007: 20f)
Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erfreuten sich Detektivgeschichten
mit österreichischem Hintergrund und Lokalkolorit wieder wachsender Popularität,
17
weshalb diese sich gut eignen, neuere Entwicklungen in der Krimiszene aufzuzeigen.
Viele Eigenheiten der Österreicher – so zum Beispiel der Hang zum „Granteln“ und
zur Gemütlichkeit - finden sich in österreichischen Kriminalromanen wieder, mal
charmant, mal abstoßend dargestellt9.
6. Textanalysen
Erwähnenswert ist, dass hier Kenntnis der einzelnen Handlungen schon vorausgesetzt wird, da sich die Analysen nur auf einzelne inhaltliche und strukturelle Fragen
konzentrieren.
6.1.
Wolf Haas
Der ehemalige Werbetexter Haas wurde mit seiner Krimireihe um den Detektiv Simon Brenner in der Literaturwelt berühmt. Nach der Herausgabe seines sechsten
Brenner-Romans verkündete er, ab dato keine Kriminalromane mehr schreiben zu
wollen, veröffentlichte sechs Jahre später aber doch noch einen siebten Teil.
Aufbau
In den Fall involviert wird Simon Brenner meist durch seinen aktuellen Beruf. Anfangs
durch seine Polizeitätigkeit (Auferstehung der Toten), dann während seiner Zeit als
Privatdetektiv (Der Knochenmann, Silentium!, Wie die Tiere) oder durch die Aufforderung von Mitarbeitern, die von seinen detektivischen Tätigkeiten wissen (Komm, süßer Tod). Die Geschichte beginnt entweder durch Brenners Ankunft am Ermittlungsort oder die Beschreibung des ersten Mordes / Attentats. Im Anschluss stolpert der
Detektiv mehr oder weniger erfolgreich durch die Ermittlungen. Auf viele der Spuren,
die er verfolgt, kommt er durch Zufall. Er muss seine Fälle häufig in einem spannungsgeladenen Umfeld lösen, während er selbst verdächtigt oder von einflussreichen Gegenspielern aufgehalten wird. Der Aha-Moment kommt für Brenner meistens
zu spät; daher kommt keiner der Romane, mit Ausnahme des ersten, ohne die brutale Schlussszene aus, in der er sich in einer körperlichen Auseinandersetzung gegen
den Mörder behaupten muss und haarscharf dem Tod entgeht.
9
So zum Beispiel in Stefan Slupetzkys Lemming - Serie, von welcher später noch die Rede sein wird
18
Sprache und Stil
Der ungewöhnliche Schreibstil sticht in Wolf Haas‘ Büchern mehr hervor als die
Handlung - eine moderne Wendung im Kriminalroman. Er ist durch unvollständige
Sätze (meist durch fehlende Verben), Cliffhanger (vgl. Haas 1997: 105) und auch
österreichische Eigenheiten10 wie Verwendung des Perfekt statt Präteritum und Setzung von Artikeln vor Personennamen („der Brenner“) gekennzeichnet. Es gibt mehrere verschachtelte Handlungsstränge und durch die für den Fall oft unnötigen Elemente - 1 auch ein Kennzeichen des modernen Kriminalromans - kommt die Spannung zu kurz.
Der Erzähler
Durch die Brenner-Serie führt ein auktorialer Ich-Erzähler, welcher die Geschichte
wie in einem lockeren Gespräch wiedergibt, mit eingeworfenen Anekdoten und regelmäßigen Abschweifungen. Er gibt seine eigenen Meinungen und Weltanschauungen zum Geschehen preis. Meistens nimmt er die Vorkommnisse der Bücher nicht
ernst und gibt sogar zur Tötungsart amüsierte Kommentare ab. Dieser Erzählstil lässt
die Handlung locker dahinfließen, wirkt durch die Verbindung von Hoch- und Umgangssprache aber teils gekünstelt.
Milieus
Die Morde, die Brenner aufklären muss, geschehen meist in bestimmten Berufsgruppen oder Betrieben. Haas lässt aber den isolierten Bereich weg, der den klassischen
Autoren das Krimischreiben erleichterte. Die Romane, welche in Wien spielen, sind
viel lokalspezifischer. Die Stadt ist durch bezeichnende Beschreibungen in die Bücher eingebunden und, im Gegensatz zu Schauplätzen am Land, nicht austauschbar.
Der Detektiv
Simon Brenner ist ehemaliger Polizist und in den Büchern abwechselnd Hobby- und
Privatdetektiv, da er immer wieder zum Ermittlerberuf zurückkehrt. Er lebt in keiner
Beziehung, hat aber durchaus Kontakt mit Frauen und sexuelle Gedanken. Er ist
zwar sensibel, aber auch stur und unwillig, sich unterzuordnen. Er kann sich nicht
besonders gut ausdrücken und gerät dadurch häufig in unangenehme Situationen. Er
hat feste Meinungen von bestimmten Personengruppen und eine distanzierte und
misstrauische Einstellung den Menschen gegenüber. Durch seine grantige aber um10
Was heißen soll: sie werden von vielen österreichischen Autoren angewandt, sind aber natürlich
nicht Autoren dieser Nationalität vorbehalten.
19
gängliche Art und sein weder aufgeputztes noch heruntergekommenes Aussehen
wird er von Zeugen schneller ins Vertrauen gezogen. Er besitzt eine poetische Ader
und sieht häufig die Ästhetik in traurigen oder makabren Szenen, zum Beispiel als er
eine Frau als schöner empfindet, weil sie um den Tod ihres Liebhabers und die Verhaftung ihres Vaters trauert (vgl. Haas 1998: 74).
Der Gefährte
Simon Brenner hat keine klassische Watson-Figur an seiner Seite, doch er verbündet
sich oft mit in den Fall involvierten Personen, die für ihn Dinge herausfinden. In
Komm, süßer Tod will sein Kollege Berti unbedingt ein Detektivbüro mit ihm gründen,
Brenner lässt ihn aber abblitzen. Als Gefährte könnte noch der Erzähler genannt
werden, der sich im vorletzten Buch als Mitbewohner Brenners herausstellt und diesen vor einem Schuss rettet.
Die Polizei
Da der Detektiv selbst einmal bei der Polizei gearbeitet hat, ist er nicht offenkundig
gegen sie eingestellt und holt sich auch ab und zu Hilfe von ehemaligen Kollegen
(vgl. Haas 1998: 55f), jedoch steht er auch in Konkurrenz zu ihnen.
Opfer
Der Mord, der Brenner zur Ermittlung bringt, ist nie der wichtigste Mord in der Geschichte, meistens ist er einer von vielen, die zusammen das Gesamtbild des Verbrechens ergeben. Die Opfer werden nicht um ihrer selbst willen getötet, sondern,
weil sie den Machenschaften des Täters im Weg stehen oder zu viel wissen.
Täter
Haas übernimmt in seinen Romanen das Konzept der least likely person als Mörder.
Oft ist es gerade die Person, von der Brenners anfänglicher Auftrag kommt, der ihn
schließlich zum eigentlich Verbrechen führt. Häufig stirbt der Mörder am Ende des
Romans, als abschließende Gerechtigkeit.
Beziehungen
Der Kontakt zwischen den Menschen in Brenners Umfeld läuft eher korrekt ab, da
viele von ihnen sich gegenseitig nicht über den Weg trauen. Sobald sie sich jedoch
besser kennen, verfallen sie in einen derberen Umgangston.
Die Verdächtigen kennen sich oft gut und decken sich gegenseitig.
20
Gesellschaftskritik
Durch den häufigen Berufswechsel des Ermittlers nehmen Wolf Haas‘ Kriminalromane bestimmte Berufsmilieus unter die Lupe und zeigen die menschlichen Abgründe
der jeweiligen Gesellschaftsschicht oder Gegend. Das negative Bild, das Simon
Brenner von der Menschheit hat, wird meistens unterstützt. Eine Botschaft, die die
Brenner-Reihe wiederholt vermittelt, ist, dass Gesetze und Institutionen nicht verlässlich oder zielführend sind. „Übliche“ Themen der Gesellschaftskritik11 werden daher
eher neutral und resigniert betrachtet. Den Figuren ist völlig klar, dass es einen nicht
weiterbringt, sich an bestehende Regeln zu halten und sie entwickeln eine Art Eigenmoral, nach der sie handeln und die auch oft Motiv des Täters ist. In diesem
Punkt unterscheiden sich Wolf Haas‘ Bücher deutlich von jenen der klassischen Kriminalliteratur.
6.2.
Eva Rossmann
Ursprünglich arbeitete Eva Rossmann wie ihre Romanheldin Mira Valensky als Journalistin (unter anderem beim ORF). Seit 1994 ist sie Autorin und Publizistin und arbeitet nebenberuflich als Köchin in einem Restaurant im Weinviertel.
Aufbau
Im Gegensatz zu einigen ihrer österreichischen Kollegen, unter anderem Wolf Haas,
vertritt Rossmann einen sehr geradlinigen Erzählstil, der ohne Abschweifungen durch
Mira Valenskys Ermittlungen führt. Sie stößt immer durch ihre journalistische Tätigkeit auf den Fall und verfolgt ihn dann aus Interesse und im Zuge ihrer Reportagen
weiter. In der Schlussszene stellt sie den oder die Täter meist persönlich, zusammen
mit ihrer Begleiterin Vesna.
Sprache und Stil
Das Geschehen erzählt Rossmann in einfachen, kurzen Sätzen, ohne grammatikalische Extravaganzen wie bei Haas. Ein weiterer Gegensatz zu letzterem ist, dass Mira Valensky viel teilnahmsvoller und weniger flapsig berichtet. Sie spricht außerdem
ein journalistisches Hochdeutsch, was zur Ernsthaftigkeit des Textes beiträgt. Für die
Ermittlung unwichtige Personen werden weggelassen, jedoch folgt durch die genaue
11
Mobbing, Gewalt in der Familie, Missbrauch, Rassismus
21
Beschreibung von Details12 wieder eine Entfremdung vom idealtypischen Detektivroman, der die Erzählung auf ihre wesentlichen Elemente reduziert sehen will.
Perspektive
Rossmann tauscht den in der Kriminalliteratur üblichen auktorialen Erzähler durch
eine Ich-Perspektive der Ermittlerin aus. Diese kommentiert ununterbrochen ihre
Eindrücke und Gedanken, die keinen Moment stillzustehen scheinen. Sie versucht
immer, an alles zu denken und stolpert dabei oft über ihre eigenen Ideen, was aus
der Leserperspektive verwirrend wirkt. Durch die unmittelbare Mitteilung wird sie jedoch greifbarer und kann durch sarkastische Bemerkungen auch ihren Humor gut
zum Ausdruck bringen (vgl. Rossmann 2008: 224)
Milieus
Ihre Reportagen führen Valensky meist in bestimmte Gesellschaftsgruppen ein, seien
es das Feld der Schlagersänger oder das russische Volk. Die Milieus werden überzeichnet dargestellt, vielleicht, um den Leser auf eigene Vorurteile zu stoßen. Die
Journalistin widmet sich ihrem jeweiligen „Forschungsgebiet“ intensiv, und entdeckt
so beispielsweise, dass hinter dem volksnahen Getue der Schlagerstars Drogenmissbrauch und Starallüren stecken (vgl. Rossmann 2000: 178).
Die Detektivin
Mira Valensky hat über ihren Beruf oft mit brisanten Themen zu tun und stolpert
durch ihre berufsbedingte Neugier über fast jede ihrer größeren Reportagen in einen
Fall hinein. Sie ist weder den Umgang mit der Unterwelt gewöhnt noch besonders
hart im Nehmen, ist aber klug und hat gute Kontakte. Im Unterschied zu anderen Detektivfiguren genießt sie das Leben in vollen Zügen. Ein gutes Beispiel dafür ist das
Essen. Während viele ihrer „Kollegen“ es als reine Energieaufnahme oder als Ablenkung betrachten, ist Mira eine leidenschaftliche Köchin, die gute Gerichte genießt
und regelmäßig Rezepte mit ihren Lesern teilt. Außerdem hat sie ein reges Liebesleben und ist in den späteren Romanen sogar verheiratet13. Sie wird zwar oft von Vorurteilen geleitet, ist aber offener als z.B. Simon Brenner und hat eine positivere Einstellung.
12
Besonders im Zusammenhang mit Essen und Rezepten
Was sehr modern ist, da die meisten „alten“ Detektive enthaltsam leben und Sexualität als Ablenkung von ihrer Ermittlungstätigkeit sehen.
13
22
6.3.
Stefan Slupetzky
Der Autor arbeitete lange als Musiker und Zeichenlehrer, begann schließlich aber
Kinder- und Jugendbücher und im Anschluss Kriminalromane zu schreiben.
Aufbau
Zu Beginn des ersten Teils der „Lemming“-Serie betrinkt sich der durch die Grausamkeit und Unmenschlichkeit seiner Kollegen verzweifelte Polizist Leopold Wallisch
maßlos. Daraufhin zieht er sich aus und läuft durch die Straßen Wiens, was ihm Negativpresse und Suspendierung vom Polizeidienst einbringt. Er findet eine Stelle bei
einem Detektivbüro und von da an geht das Buch weiter wie Stefan Slupetzkys andere Kriminalromane: Am Anfang der Geschichte steht ein Geschehnis, das nur entfernt mit dem schlussendlichen Ausmaß des Falls zu tun hat14, und Wallisch, der von
seinen ehemaligen Kollegen „der Lemming“ genannt wird, beginnt der Spur zu folgen. Oft wird Wallisch mitverdächtigt und fühlt sich deshalb verpflichtet, den Fall aufzuklären. In Lemmings Himmelfahrt (Slupetzky 2005) muss er sich sogar vor der Justiz verstecken. In den ersten zwei Büchern ist er noch dazu im ständigen Wettlauf
gegen seinen ehemaligen Kollegen Krotznig, kommt aber schneller voran. Wie bei
Haas sterben Slupetzkys Mörder am Ende des Buches nach einem Kampf gegen
Wallisch auf brutale Art und Weise. Alle seine Romane enden wie bei Agatha Christie
(vgl. Christie 1952: 167f) mit einem Brief eines der Beteiligten an den Lemming, der
den Ausgang der Handlung zusammenfasst und sich bei ihm bedankt.
Themen
Bei Slupetzky immer wieder aufgegriffene Themen sind unbelehrbarer Rassismus
und Unmenschlichkeit im Umgang mit Minderheiten.
Sprache und Stil
Slupetzkys Romane sind in einfachen, häufig langen Sätzen verfasst. Sein Schreibstil ist fließend und angenehm zu lesen, das eine führt ins andere. Einen ungewöhnlichen Kontrast bilden seine trockenen Kommentare mit den poetischen Beschreibungen, wie: „ […] als hätte die Natur mit seinem zarten Flügelschlag den Taktstock
gehoben […]“ (Slupetzky 2006: 9).
14
Zum Beispiel der erhängte Pinguin in Schönbrunn, der schließlich mit einem der größten österreichischen Kunstraube zusammenhängt (vgl. Slupetzky 2006) oder ein als Drogenkurier fungierender
Hund, der ihn zu zwei mutmaßlichen Tätern führt. (vgl. Slupetzky 2004)
23
Perspektive
Von den Fällen des Lemming berichtet ganz klassisch ein personaler Erzähler im
Präsens, was geschieht. Große Teile der Erzählung spielen sich in der Gedankenwelt von Wallisch ab, der immer wieder rekapituliert, was er schon erlebt hat und versucht, mithilfe von Überlegungen der Lösung näher zu kommen.
Milieus
Im Zuge seiner Ermittlungen findet sich der Lemming stets in makabren und abgründigen Milieus wieder, in denen die Menschen ihre dunkle Seite zum Ausdruck bringen, sei es ein Irrenhaus oder ein Bordell.
Der Detektiv
Leopold Wallisch wird nach seiner Polizeikarriere Privatdetektiv und versucht sich
zwischendurch als Nachtwächter, kommt aber immer zur Ermittlungsarbeit zurück.
Entweder muss er beweisen, nichts mit dem Mord zu tun zu haben (da er meist direkt
über den Toten stolpert), oder er wird von seinem Vorgesetzten dazu beauftragt
(Slupetzky 2006: 32ff). Er lernt in Der Fall des Lemming die Tierärztin Klara Breitner
kennen, mit der er zusammenkommt, eine Krise überwindet, zusammenzieht und
schließlich sogar ein Kind zeugt. Er ist angewidert von den Abgründen der Menschen
mit denen er zu tun hat, kommt aber mit den meisten gut aus, da er intelligent ist und
trotzdem einen „guten Schmäh“ hat.
Der Begleiter
Wallisch hat nicht wirklich einen festen Helfer, findet über die Ermittlungen aber immer Kontakt zu Menschen, die ihm helfen. Zusammen mit Klara bespricht er jedoch
oft seine Fälle, und sie bringt ihn auch manchmal auf die richtige Spur.
Die Polizei
Durch seine schlechten Erfahrungen mit dem Ex-Kollegen Adolf Krotznig15 , der den
Lemming bis zu seinem Tod (vgl. Slupetzky 2005: 263) verfolgt und quält, vermeidet
letzterer so weit es geht den Kontakt mit der Polizei. Nur den Pathologen Professor
Bernatzky konsultiert er manchmal in geschichtlichen oder pathologischen Fragen,
da er seine Meinung und seinen Charakter schätzt.
15
Der noch dazu einen wirklich unsympathischen Namen hat
24
Opfer
Es lässt sich kein Schema unter den Opfern der Lemming-Romane erkennen, manche werden aus uralter Rache umgebracht, manche durch Zufall und manche zur
Warnung. Tendenziell ist das erste Opfer jedoch unschuldig und das Motiv lässt sich
erst zum Schluss durch das Gesamtbild erkennen.
Täter
Die Morde, die Wallisch aufklären muss, sind genau geplant. Die Täter sind intelligent und nutzen diese Intelligenz um ihre perfiden Pläne durchzusetzen. Sie arbeiten
mit Symbolen und Täuschungen und sind gegenüber dem Lemming meist im Vorteil,
spielen manchmal sogar mit ihm (wie in Slupetzky 2005). Doch nicht nur die Mörder,
auch die Polizei wird als schlecht dargestellt, verkörpert durch den widerlichen Bezirksinspektor Krotznig, der von Rassismus über Sexismus bis zur Mordlust sämtliche vorstellbaren negativen Eigenschaften in sich vereint.
Beziehungen
Leopold Wallisch hat nicht viele Vertrauenspersonen, freundet sich aber im Zuge der
Ermittlungen durch seine umgängliche Art schnell und gut mit Leuten an, die ihm so
wertvolle Tipps geben und am Schluss für die Lösung des Falles dankbar sind. Generell holt er sich im Gegensatz zu Mira Valensky seine Informationen nicht über Papierrecherche, sondern über Gespräche und Befragungen, die ihn auf neue Spuren
bringen.
Gesellschaftskritik
Neben Amtsmissbrauch durch die Polizei wird von Slupetzky die Ausnutzung niedriger stehender und schwacher Menschen kritisiert. Der sensible Leopold Wallisch ist
oft schockiert von der Gewissenlosigkeit und Brutalität seiner Mitmenschen, die ohne
Mitgefühl handeln16. Der Autor geht zwar vom Bösen im Menschen aus, jedoch
kommen im Gegensatz zu den Haas-Krimis stets einige freundliche und verständige
– um nicht zu sagen „gute“ – Personen vor, die das trübe Weltbild des Lemming erhellen.
1616
Ein gutes Beispiel hierfür ist seine betroffene Reaktion auf den erhängten Pinguin, der nur zur
Abschreckung getötet wurde (vgl. Slupetzky 2006:16f)
25
7.
Fazit
Ziel meiner Arbeit war es, griffig zusammenzufassen, durch welche Merkmale der
idealtypische Kriminalroman des „Golden Age“ sich auszeichnet und wie jener seitdem weiterentwickelt und modernisiert wurde. All diese Merkmale, klassische und
moderne, habe ich anhand von Textanalysen in den Werken dreier Autoren aus Österreich gesucht. Ich habe österreichische Werke gewählt, da sie einen sehr eigenwilligen Stil aufweisen und durch ihre Aktualität geeignet sind, auf etablierte und zeitgenössische Einflüsse untersucht zu werden.
Das Hauptanliegen der experimentellen Bewegung von Kriminalautoren, die nach
dem zweiten Weltkrieg die verstaubten Strukturen des Detektivromans aufrütteln
wollten, war eine realitätsnähere Romanwelt. Die Protagonisten sollten zu echten
Menschen werden, die abseits des spannenden Falles auch mit Alltagssorgen zu
kämpfen haben. Auch die Auflösung der klaren Grenzen zwischen Gut und Böse war
ein wichtiger Schritt, der gerade im Kampf gegen einseitiges Denken und Ausgrenzung heute so aktuell ist wie eh und je. Den Lesern sollte klar werden, dass den Ermittlern in der Realität viel mehr Steine in den Weg gelegt werden, dass die schwerwiegendsten Verbrechen der modernen Gesellschaft17 aus dem Chefsessel begangen werden. Diese Veränderungen hatten aber zur Folge, dass der ursprüngliche
Charakter des Detektivromans, nämlich der eines Rätselspiels für den Leser, vernichtet wurde. Allerdings trat nach einer experimentellen Phase, in der der Detektivroman in seine Fragmente zerlegt und immer wieder neu zusammengefügt wurde,
das Prinzip der Fesselung und Entfesselung ein. Viele Elemente dieser Neuordnung
in der Kriminalliteratur wurden übernommen, jedoch verbanden die neuen Autoren
sie mit traditionellen Strukturen.
Genau dieses Konzept haben die drei österreichischen Autoren, deren Bücher ich
nach den oben genannten Aspekten untersucht habe, übernommen. Sie arbeiten mit
dem klassischen Handlungsablauf Verbrechen – Ermittlung – Überführung und mit
Elementen wie der least likely person und der Gruppe von Verdächtigen, welche
durch den Beruf oder ein gemeinsames Unterfangen verbunden sind. Dafür sind die
Geschichten der österreichischen Detektive sehr realitätsnah geschrieben, sie haben
ein Privat- und Sexualleben abseits der Ermittlungen, sie lassen sich von Finten ihrer
Gegenspieler und Vorurteilen täuschen und haben keinesfalls volle Kontrolle über
17
Menschenhandel, Ausbeutung, Kriege uvm.
26
das Geschehen. Es wird stark auf gesellschaftliche Probleme eingegangen, besonders Unterdrückung und Benachteiligung. Ein speziell österreichisches Merkmal der
Romane ist das Misstrauen gegenüber sämtlichen Institutionen, die alle als korrupt
gelten, besonders gegenüber der Polizei. Es herrscht kein richtiger „Respekt vor der
Obrigkeit“, wie er in den klassischen Detektivromanen den Ermittlern gezeigt wird.
Meist reagieren die Leute sehr verschlossen auf letztere, es wird gegen das Gesetz
zusammengehalten. Eine weitere österreichische und speziell wienerische Eigenschaft ist der trockene Humor, mit dem die Erzähler auf die makabersten Situationen
reagieren um den Schock des soeben Gesehenen abzuschütteln.
Zur klassischen Kriminalliteratur gab es viele ausführliche Quellen und auch die Recherche in Bezug auf Entwicklung derselben war nicht schwer. Jedoch hat mich verwundert, wie wenig Literatur zum österreichischen Kriminalroman vorhanden ist, der
zwar erst nach dem zweiten Weltkrieg wieder aufblühte, nun aber schon lange wieder besteht. Daher ist der Abschnitt, welcher den Detektivroman in Österreich behandelt, auch eher kurz und hauptsächlich geschichtlich informierend (was ja auch
viel über den Stil und die Entwicklung aussagt).
Ich war während meiner Recherche immer wieder überrascht, wie genau die Regeln
des ursprünglichen Detektivromans formuliert waren und wie gewissenhaft sie von
den Autoren auch befolgt wurden. Nach der Lektüre mehrerer Fachbücher zu klassischen Strukturen ist mir erst bewusst geworden, wie simpel die Kriminalromane von
Arthur Conan Doyle und Edgar Allen Poe, welche ich immer gern gelesen habe, eigentlich sind. In unserer heutigen Gesellschaft, die ununterbrochen bestehende
Strukturen und Machtverhältnisse hinterfragt, passen solche unreflektierten Zuweisungen von Gut und Böse nicht mehr ins Bild.
Abschließend gesagt hat sich aus dem festgefahrenen Detektivroman der Anfangszeit über die experimentellen Kompositionen der Nachkriegszeit ein modernisierter
Kriminalroman entwickelt, der die bewährten Methoden übernimmt und sie in einen
reflektierten und kritischen Kontext zu setzen weiß.
27
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Fink Verlag.
29
Selbstständigkeitserklärung
Ich erkläre hiermit, dass ich die vorwissenschaftliche Arbeit eigenständig angefertigt und nur die im Literaturverzeichnis angeführten Quellen und Hilfsmittel benutzt habe.
Wien, am 14.02.2014
Helene Haslinger