Was die Kids heute so bewegt
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Was die Kids heute so bewegt
15. März 2012 DIE ZEIT No 12 63 Foto: Werner Bartsch für DIE ZEIT/www.wernerbartsch.de MUSIK In einem Forsthaus in Winsen an der Luhe gibt Matthias Kaul (zweiter von rechts) Komponierseminare für Kinder Was die Kids heute so bewegt Anna und Rebekka, Mahnaz und Gustav sind Teenager und komponieren. Ihre Werke klingen so spannend, dass sie mit ihrer CD nun Preise abräumen. Ein Besuch in einer außergewöhnlichen Komponistenwerkstatt VON VOLKER HAGEDORN M an sollte das nicht beim Autofahren hören. Wenn nach sachten Beckenschlägen urplötzlich ratternder Sprechgesang einsetzt, eine Liste spanischer Städte wie aus der Erdkundestunde, vom Tamburin unterstützt, und sich dreckig jaulend eine E-Gitarre darunterschiebt bis zu einer jähen, perfekt getimten Zäsur, kann einen das schon aus der Spur hauen. Und fürs filigrane Gewebe vorher, in dem, snoinngg, aus einem Hackbrett Glissandofäden gezogen werden und eine Piccoloflöte mal kurz ein Märschlein zur Snaredrum andeutet, ist es auf der Autobahn sowieso zu laut. Man will das wieder hören. Obwohl es doch nur Pausenbrot heißt und das Werk eines Zwölfjährigen ist. Obwohl? Jonathan Mummert ist kein »Wunderkind«. Er ist allerdings eins von acht Kindern, die mitsamt dem renommierten Ensemble L’Art pour l’Art gerade ein kleines Wunder bewirkt haben. Die verwöhnten Juroren vom Preis der Deutschen Schallplattenkritik haben erstmals eine CD mit Kompositionen minderjähriger Zeitgenossen auf ihre Quartalsbestenliste gehoben, beurteilt »auf einer Stufe mit professionellem Komponieren«. An großen Namen zogen sie vorbei als beste Neuerscheinung zeitgenössischer Musik, die Stücke von Anna und Lea, Agnes und Rebekka, Mahnaz und Kikan, Gustav und Jonathan, alles Schüler der Kinderkompositionsklasse von L’Art pour l’Art. Es sind normale Kinder, derzeit viele aus musikalischen Familien – wobei man nicht mal Noten lesen können muss, um hier mitzumachen. Was an ihren Stücken auf Anhieb packt, ist die Freiheit und Genauigkeit, in der Klänge gefunden und kombiniert wurden, das wunderbare Timing der maximal zehn Minuten langen Stücke, die Räume, die sie jenseits ihrer »Programme« öffnen, bis zu leuchtender Abstraktion. Natürlich hätte das vor 100 Jahren anders geklungen, die Umgebung färbt ab. Doch sind die Stücke so persönlich, dass der Verdacht, hier seien Neun- bis Vierzehnjährige avantgardistisch auf Linie gebracht worden, schon zerfällt, ehe man nachforscht, wie die Musik entstanden ist. Am Rand von Winsen an der Luhe, einem norddeutschen Städtchen von 34 000 Einwohnern, steht ein altes Forsthaus. Seit zwölf Jahren geben Matthias Kaul, einer der besten Schlagzeuger der Avantgarde, und die Flötistin Astrid Schmeling hier Kompositionsunterricht, ein halbes Jahr lang bis zum Sommer, eine Stunde pro Woche und Schüler, immer mit einem Thema. Das Thema »Pause« brachte Jonathan dazu, nach Klängen für den Belag seines Pausenbrots zu suchen. Doch dem entsteigt der Duft der weiten Welt. Von der Mayonnaise hat sich die E-Gitarre ebenso emanzipiert wie Piccolo und Snaredrum von den »beiden Hälften eines deutschen Brötchens«, die dem Komponisten vorschwebten. Ganz ungegenständlich sind die zerbrechlich austarierten Luftlöcher für Klavier und Becken von Kikan E. Nelle, gefolgt von Gustav Baiers fröhlicher Kombi aus Percussion und elektrischer Schreibmaschine, an deren Ende Böller krachen, »weil ich kein Stück kenne, das mit einer Explosion aufhört«. Und das spannende Dissonanzenquintett von Mahnaz Shahriyar geht zurück auf »irgendein Mädchen, das im Klassenraum geistig abwesend ist«. Darum träumt in i et i ein Trio aus Geige, Klarinette und Klavier in H-Dur, während Kontrabass und E-Bass atonal als »schreiende Klasse drum herumrumpeln«. Jetzt sitzt die Vierzehnjährige mit ihrer Dozentin am Küchentisch, um Schneeflocken als Töne zu fixieren, kleine, große, oben, unten. Die Umwelt ist die Basis. »Wenn’s um eine Fuge geht, würden wir eher mit der Fuge in der Mauer anfangen«, meint Kaul. »Es geht um hier und jetzt. Und was die Kids so bewegt.« Es kam schon vor, dass für eine Uraufführung eine Straßenkreuzung gesperrt wurde, weil ein Kind sich ein Stück für vier Autos mit musizierenden Beifahrern ausgedacht hatte, unabhängig von Stockhausen übrigens. M anche Winsener halten das für Quatsch, manche Eltern auch. Eine ehrgeizige russische Mutter, deren Sohn mit neun Jahren einen beachtlichen Chopin hinlegte, erwartete klassische Harmonielehre und war entsetzt, als der Junge begeistert erzählte, man habe ein Klavier auseinandergenommen. Ein Arzt aus dem Ort brach den Stab über das szenische Stück, an dem seine Tochter ein halbes Jahr lang gearbeitet hatte: mit Schuhen als Requisiten und Klangerzeugern zugleich. Daraufhin führten Kaul und Schmeling Elternabende ein, mit Hörminute: mit Stoppuhr einfach nur mal lauschen, was los ist, wenn kein Ton gespielt wird. Und dann in so eine Minute mal eine Aktion setzen. Für das Erfahren von Stille wie für das Entdecken von Klängen ist das labyrinthische Winsener Forsthaus ein Wunderort wie aus dem Bilderbuch. An Treppenecken lauern archaische RAFAŁ BLECHACZ „WIR WURDEN ZEUGEN DER GEBURT EINES TITANEN ...“ FRANCISCO CHRONICLE Rafał Blechacz, Klavier CLAUDE DEBUSSY Pour le piano · Estampes · L’Isle joyeuse KAROL SZYMANOWSKI Prelude und Fuge cis-moll Sonate Nr. 1 op. 8 c-moll © DG / Felix Broede Das neue Album als CD & Download! www.rafal-blechacz.de LIVE-TERMINE 2012: 16.04. Hannover · 18.04. Hamburg 20.04. Heidelberg · 27.04. Stuttgart Hochtrommeln, in unverschlossenen Vitrinen warten alle Arten von Klangerzeugern. Röhren und Harfen, Scherzartikel und Badewannenketten – Gustav probiert gerade aus, wie die ein Vibrafon zum Klingen bringen. Weil hier aber auch das Ensemble L’Art pour l’Art probt und konzertiert, erfahren die Kinder, was eine Flöte kann, eine Geige, eine Posaune, ein Akkordeon. Diese Profis spielen dann auch die neuen Stücke, im Sommer, und sie haben die CD eingespielt – unter strenger Aufsicht der Komponisten. »Für die Partituren legen wir auch mal Nachtschichten ein«, gesteht Astrid Schmeling. Auch Kindern, die selbst Noten schreiben können, ist die Herstellung von Aufführungsmaterial nicht zumutbar. Was aber erklingt, das legen sie fest – und mit jeder Stufe im Prozess wird der andere Blick deutlicher, den Kinder auf die Welt haben. Anna Weißbach, zehnjährig, entdeckte, dass die Schale jeder Banane fünf Kanten hat, woraus sie einen Fünfvierteltakt machte. In dem bewegen sich Klarinette, Viola, Posaune, Akkordeon, Waterphone und Tempelblocks in so rätselhaft klarer Anmut, dass selbst die Berliner Philharmoniker auf Süßes oder Saures aufmerksam wurden. Anna ist die Jüngste von allen, die beim Schülerkompositionswettbewerb des Orchesters eine Auszeichnung erhielten – was eher ein falsches Licht aufs Konzept der Winsener wirft. Sie wollen hier keine Elite heranziehen, sondern vermitteln, dass sich Kunst und Leben gegenseitig bereichern können, ganz alltäglich. Die wenigsten der rund 90 Kinder, die hier schon komponierten, werden Musiker, aber Kaul hat wohl recht, wenn er meint, »das hat was aufgemacht, die tragen alle Spätschä- den davon«. Heilsam beschädigt wird nicht zuletzt das Image des Komponierens als hehre Handlung einsamer Geister. N atürlich ist John Cage ein heimlicher Schutzpatron des Hauses, der Mann, der gern nur einen Rahmen steckte, in dem sich Klänge zueinander verhalten können. Aber als Vorbild wird er nicht gebraucht. »So was hassen wir«, sagt Kaul, »vor einem Helden darf man sich erst mal nur ganz klein fühlen.« Sein Unterrichtsrezept: »Wir fragen viel.« Ihm ist es auch recht, wenn ein Schüler Heavy Metal oder deutsche Schlager einbauen möchte. Und wer vor lauter Freiheit nicht weiß, wie er anfangen soll, den fragt Kaul: »Willst Du von unten anfangen oder von oben? Banal! Aber schon ist man verwickelt!« Vielleicht ist nicht die Begabung der Ausnahmefall, sondern die Umgebung, in der sie blühen kann. Jonathan hat das Pausenbrot längst hinter sich, er sucht jetzt mit Kaul nach dem Feuer. Sie haben Wawa-Tubes über schwingende Klaviersaiten gehalten, da züngelte schon etwas, aber er ist unzufrieden. »Ich probier’s mal hier unten«, sagt er und schlägt ein paar Basstöne an, während Hexenmeister Kaul den Kopf unter den Deckel des Flügels steckt. Er drückt eine Halbkugel aus Styropor auf die Saiten, wälzt sie. Der Junge probiert einen tiefen Triller dazu. Und da ist er, der Hotspot. Man muss nur die Ohren offen haben. Kompositionsklasse und Solisten des Ensemble L’Art pour l’Art: »Haltbar gemacht«, CD & DVD (Vertrieb Nurnichtnur) ALBRECHT MAYER: SCHILFLIEDER Die Schönsten romantischen Werke für Oboe DAS NEUE ALBUM Ab sofort ERHÄLTLICH! „Schilflieder“ live – Das Konzert Am 21. März im Französischen Dom am Gendarmenmarkt Berlin Tickets unter: 030 - 826 47 27 www.ALBRECHT-MAYER.de