FABIO Pusterla - tessiner zeitung
Transcrição
FABIO Pusterla - tessiner zeitung
15 28. Januar 2011 Literatur MAGAZIN Wie Gedichte zu lesen sind, ist nie ausgemacht. Jeder Gedichtband verlangt von seinen Lesern eine andere Justierung der inneren Leseoptik bearbeitet von Angelika Tauscher Se potessi scegliere un gesto, un luogo, un’ora, l’ora sarebbe una sera d’aria tesa e il luogo sarebbe un luogo come tanti: una baracca in curva, una pausa appena accennata di qualcosa, calda bassa e fumosa, dove seduto a un tavolo, toccando una spalla, una mano o un bicchiere, prenderei tempo prima di alzarmi a seguire qualche sconosciuto fuori. Könnte ich Ort, Zeit und Geste bestimmen, dann wäre die Zeit ein Abend gläserner Luft, und der Ort wäre ein Ort wie so viele: eine Baracke in einer Kurve, ein kaum angedeutetes Innehalten, warm, niedrig und verraucht, wo ich, an einem Tisch sitzend, eine Schulter, eine Hand oder ein Glas berührend, mir Zeit liesse bevor ich aufstehe und einem Unbekannten hinausfolge. VON DUNKEL ZU DUNKEL, GLITZERNDE ZEIT Das Buch Der Autor PROTAGONIST der Gedichtsammlung ist ein Mann, der “Bockstenmannen”, der 1936, sechshundert Jahre nach seinem Tod, in einem schwedischen Torfmoor gefunden wurde. Drei Pfähle in seiner Brust deuten auf eine rituelle Tötung hin. Mit dieser Gestalt nimmt Pusterla eine verdrängte und vergrabene Vergangenheit auf und setzt sich dem unsicheren Boden der Dunkelheit aus. Ort des Dialogs mit dem Toten ist ein Sumpfgebiet in der Nähe des Meeres, dort, wo sich die Grenzen zwischen Wasser und Land auflösen. Aufgerufen werden Bilder einer prähistorischen Welt, als würde sich die Dichtung aus geologischem Material konstituieren. Die Aufmerksamkeit gilt dem Erdboden, dem Mineralischen: den Sedimenten der Geschichte, der Natur als Deponie der Geschichte. Dennoch findet die Dichtung Pusterlas ihre Sinnbilder im Alltagsleben, in den Dingen ohne Geschichte, im Versuch, Vergessenes und Abwesendes zu restituieren. Eine radikale, schonungslose, menschliche Poesie. Italienisch und Deutsch, übersetzt von Jacqueline Aerne, mit einem Vorwort von Andreas Isenschmid und einem Nachwort von Jacqueline Aerne. Mit freundlicher Erlaubnis des Limmat Verlags Zürich, ISBN 978-3-85791-612-0 FABIO Pusterla, geboren 1957 in Mendrisio, lebt in Norditalien und unterrichtet in Lugano am Gymnasium. Bekannt geworden vor allem als Lyriker, aber auch als Übersetzer und als Herausgeber von Lyrik aus dem Französischen und Portugiesischen sowie als Essayist. 2007 wurde er mit dem Gottfried-Keller-Preis ausgezeichnet. Im Limmat Verlag sind der zweisprachige Gedichtband “Solange Zeit bleibt/Dum vacat” und der Band “Zur Verteidigung der Schule. 37 kurze Geschichten eines Lehrers” lieferbar. E c’era solo acqua, e riquadri di terra: acqua piatta, solo a tratti increspata da lontanissimi miti, avventure, e terra scura, crosta profonda, dura, con sotto qualcosa pulsante, forse maleodorante, forse no. Alcuni hanno scelto il mare, il suo rollio. Altri coltivano segale, radici, e danzano la notte attorno ai fuochi. Io scavo, scavo, non so perché. Und da war nichts als Wasser, und Erdfelder: flaches Wasser, nur strichweise gekräuselt von weit entfernten Sagen, Abenteuern; und nichts als dunkles Land, Erdkruste, tief, hart, darunter etwas, das pulsiert, das vielleicht stank, vielleicht nicht. Manche haben das Meer gewählt, sein Rollen. Andere pflanzen Roggen, Rüben, und tanzen nachts um das Feuer. Ich grabe und grabe, weiss auch nicht warum. No che non hai capito, e il senso non è questo Dunque dov’è, non certo nelle parole scritte: forse in quelle da dire? O forse sul limitare, quando si crede possibile un altrove, nell’ora della boscaglia, del ritornare con se stessi, per non morire. Nein, du hast es nicht verstanden, das ist nicht der Sinn. Worin liegt er also, bestimmt nicht in den geschriebenen Worten: vielleicht in den noch zu sagenden? Oder vielleicht dort, am Waldrand, zur Dämmerstunde, dann wenn ein Anderswo möglich erscheint, auf der Heimkehr zu sich selbst, um nicht zu sterben. Non è vero che dove finisce il bianco inizia il nero. Fra la somma e l’assenza, il pieno e il vuoto, era dolcissimo il campo dei colori. Es stimmt nicht, dass wo das Weiss aufhört das Schwarz beginnt. Zwischen dem Ganzen und dem Abwesenden, der Fülle und der Leere, öffnet sich weit das Feld der Farben. Il buio è privazione di luce, di colore; disperanza totale, che non fa male, pesa, e non è indifferenza ma assenza di rimpianto od attesa; allo scuro svanisce la nozione di passato e futuro e resta muto un mutilo presente: un presente incosciente. Dunkelheit ist der Entzug von Licht, von Farbe; sie ist gänzliche Enthoffnung, sie schmerzt nicht, sie ist schwer, sie ist nicht gleichgültig, in ihr gibt es weder Erwartung noch Wehmut; im Dunkeln verschwimmen Vergangenheit und Zukunft; zurück bleibt stumm eine verstümmelte Gegenwart: eine unbewusste Gegenwart. Così si snoda la strada coi suoi spaventi: perchè il rischio non è nel rischio, il rischio è rischiare di perdere il sogno, il senso del camminare. So schlängelt sich der Weg mit seinen Schrecken: weil das Risiko nicht im Risiko liegt, das Risiko ist zu riskieren den Traum zu verlieren, den Sinn des Gehens.