Mit Sockenpuppen unterwegs
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Mit Sockenpuppen unterwegs
Mit Sockenpuppen unterwegs Interkulturelles Figurenspiel im Partnerschaftsprojekt der Pädagogischen Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz mit der Pädagogischen Fakultät der Universität Luigj Gurakuqi in Shkodra, Albanien von Sabine Amstad, Claudia Schuh, Christiane Lubos Die Partnerschaft Bereits acht Pädagogische Hochschulen in der Schweiz haben ein Partnerschaftsprojekt im Nord-Süd-‐ Bereich. Zu den ersten davon gehört seit 2004 die Pädagogische Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz. Diese Partnerschaft möchte einen Beitrag zum Verständnis zweier Kulturen leisten, die viele Berührungspunkte haben. Sie soll es (künftigen) Lehrpersonen ermöglichen, persönliche, fachliche und soziale Kompetenzen aufzubauen. Das Partnerschaftsprojekt der Pädagogischen Hochschule der FHNW mit der Universität Luigj Gurakuqi (in Shkodra, Nord-Albanien) beinhaltet einen kulturellen, fachpädagogischen und auch persönlichen Austausch zwischen Menschen aus beiden Institutionen. Diese internationale Kooperation ist Teil des Nord-Süd-Partnerschaftsprogramms, für das sich die Stiftung Bildung und Entwicklung mit der Unterstützung der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit DEZA an den Pädagogischen Hochschulen der Schweiz engagiert: Partnerschaftsprojekte sollen integrativer Bestandteil der Ausbildung angehender Lehrpersonen sein. Sie fördern das gegenseitige Lernen, begünstigen globales Lernen und machen die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel unabdingbar. Sie basieren auf gegenseitigem Verständnis füreinander und für das gemeinsame Projekt und dem Willen, den Austausch als Lernprozess zu verstehen. Das Projekt Kern unseres Partnerschaftsprojekts mit Albanien ist ein gemeinsames und interkulturelles kreatives Projekt. Es eröffnet gegenseitige respektvolle und wertschätzende Beziehungen und wirkt in der Auseinandersetzung mit dem «fremden Anderen» ich- und wirstärkend. Es ermöglicht, die eigene Vitalität zu erleben, Fantasie und Visionen zu entwickeln und fordert auf ganzheitliche Weise heraus. Gemeinsam mit unseren albanischen Partnern gestalteten wir Workshops zum Interkulturellen Figurenspiel in der Schweiz (Solothurn, 25.–27.9.2009) und in Albanien (Shkodra, 28.6.–30.6.2010). Diese waren eingebettet in eine Zeit der Begegnungen mit Menschen, Land und Kultur und einer Auseinandersetzung mit dem Schulsystem vor Ort. In den Workshops engagierten sich Fachleute aus beiden Ausbildungsstätten für angehende Kindergärtnerinnen und Lehrpersonen der Primarschulstufe sowie der Zürcher Hochschule der Künste gemeinsam mit kulturell gemischten Gruppen von albanischen und schweizerischen Studierenden, praktizierenden Kindergärtnerinnen und Lehrpersonen. Wie wir auf die Socke kamen Die Methode des gemeinsamen Figurenspiels in kulturell gemischten Gruppen war von beiden Partnern gemeinsam gewählt worden. Wir gingen dabei von folgenden Prämissen aus: • Das Figurenspiel fördert den Dialog in der (multikulturellen) Gruppe. • Es exponiert weniger direkt als das Schauspiel: Die Puppe darf Dinge sagen, die der Mensch manchmal nicht sagen kann oder darf. Dadurch können problematische Themen und Tabus zur Sprache oder ins Spiel kommen. • Es arbeitet oft mit Gegensätzen wie Gut–Böse, Unbewusst–Bewusst ... Diesbezügliche Wertvorstellungen können insbesondere in multikulturellen Gruppen reflektiert werden. • Durch das Gestalten mit möglichst einfachen Mitteln kann der Ausdruck herausgefordert und gestärkt, zugespitzt und geschärft werden. • Das Figurenspiel eignet sich für die Übertragung auf die Arbeit mit unterschiedlichen Altersstufen, z.B. in (multikulturellen) Kindergarten- und Schulklassen. 1 Ziele, die wir bei den Beteiligten auf beiden Seiten, der albanischen und der schweizerischen, anstrebten: • Eine hohe Sensibilität gegenüber kommunikativen Prozessen entwickeln, verbale und nonverbale Botschaften bewusster wahrzunehmen und angemessen darauf reagieren. • Möglichkeiten erfahren, mittels künstlerischer Mittel zu kommunizieren. • Durch das eigene «Fremd-Sein» sich selbst neu erfahren und offener für Vieldeutigkeit werden. • Durch die Sicht des anderen die eigene Wahrnehmung hinterfragen. • Verschiedene Herangehensweisen und Arbeitstempi kennenlernen. • Sich mit Werten und Geschmack des anderen auseinandersetzen und diese tolerieren. Von Mensch zu Mensch Das Aufbauen von Beziehung, einer Nähe auf Augenhöhe unter den Beteiligten – Studierenden, Lehrpersonen und Dozierenden – bildete die wesentliche Basis für die beiden Workshops. Vertrauen entsteht nicht selbstverständlich. Die Besucher aus der Partnerinstitution wurden immer auch konfrontiert mit Gefühlen von Fremdheit, Nicht-Verstehen, Verlust von Orientierungspunkten, Machtgefälle. Das Verhältnis von «Gastgebenden» und «Gästen» war jeweils 4:1. «Trotz eigener Migrationserfahrung war meine Austauscherfahrung in Albanien schwieriger als erwartet. Ich habe sprachlich-kulturelle Unterschiede bewusst wahrgenommen. Ich habe 1 gelernt, wie sich ein Kind [in einer fremden Kultur] vorkommt, resp. wie es sich anfühlt, fremd 2 zu sein.» Um die Vertrauensbildung untereinander zu unterstützen, wurden die Studierenden in den Familien der Kolleginnen des Partnerlandes aufgenommen. «Wir wurden von den Dozierenden, den Studierenden und unseren Gastfamilien herzlich willkommen geheissen. Über Vertrauen in der Beziehung ist das Sich-Einlassen einfacher, es ist eine Erfahrung, um weiterzuarbeiten.» Regelmässige Austauschrunden und Kontaktspiele unterstützten das gegenseitige Kennenlernen und erleichterten so die gemeinsame Zusammenarbeit. (1) Kontaktspiele unterstützen das gegenseitige Kennenlernen Vom Gestalten der Puppen zum Spiel Workshop in Solothurn Nach einer Einführung ins Figurenspiel und seine kulturellen Hintergründe lernten die Teilnehmenden verschiedene Figurentypen und ihren Einsatz kennen (Stabfiguren, Figuren aus Papiermaché, Sockenpuppen …). Sie spielten mit den Figuren zu zweit, zu dritt, lernten sie zu führen und dabei auch die Stimme einzusetzen. Das gemeinsame Entwickeln der Spielgeschichte in den kulturell gemischten Gruppen forderte heraus, 1 Anmerkung der Verfasserinnen werden im Text jeweils in Klammern aufgeführt: […]. Mündliche resp. schriftliche Rückmeldungen von Teilnehmenden an den beiden Workshops werden jeweils in direkter Rede zitiert. 2 2 eigene Fremdsprachenkenntnisse einzusetzen (Italienisch, Englisch, Französisch, Spanisch, Albanisch, Deutsch ...) oder alternative Kommunikationswege zu suchen. Dies erforderte «viel Einfühlungsvermögen und Geduld und auch den Willen, gemeinsam etwas zu kreieren». Aber es öffnete auch die Sinne für nonverbale Kommunikationsmöglichkeiten. Bei den in den Kleingruppen entwickelten Figurenspielstücken fiel uns auf, dass die albanischen Studierenden eher ernste Themen einbrachten. Wiederholt kamen erfahrene ältere Personen und Wesen vor, die die Moral vertraten. Die Schweizer Studierenden gestalteten und spielten auf unbeschwertere Weise. Es stellte sich uns die Frage, ob sich in den Figuren und im Spiel verschiedene Lebens- und Familienkonzepte zeigen. Studierende stellen ihre selbstgestalteten Figuren vor: (2a) Schweizer Studentin mit ihrer Sockenpuppe Curly. (2b) Albanische Studierende mit ihrer Handpuppe aus Papiermaché: die alte Frau. In der gemeinsamen Nachbereitung setzten wir uns mit unterschiedlichen kulturellen Prägungen und Wertmassstäben auseinander. Ebenso reflektierten wir die Chancen und Herausforderungen des Figurenspiels in (multikulturellen) Schulklassen. «Man braucht nicht die gleiche Kultur oder die gleiche Sprache, um ein gemeinsames Projekt auf die Beine zu stellen. Im Gegenteil, die interkulturelle Zusammenarbeit ist viel reicher und vielseitiger.» «Ich erlebte, dass man sich auch gut verstehen kann, ohne die andere Sprache zu sprechen. Mit Verständnis, Offenheit gegenüber anderen, konnten wir Sprachbarrieren überschreiten, von einander lernen. Es war eine tolle Erfahrung mit Gleichgesinnten (angehenden Lehrern und Lehrerinnen).» Workshop in Shkodra Im zweiten Workshop in Albanien vertieften wir unsere Erfahrungen. Die Gruppe der albanischen Teilnehmenden wurde auf ca. 25 Studierende, Kindergärtnerinnen und Lehrpersonen beschränkt, um wiederum multikulturelle Kleingruppen im Verhältnis 4:1 bilden zu können. Als Ausgangslage zur Entwicklung der Figurenspiele wählten wir beidseitig bekannte Tierfabeln. Die Figuren sollten aus Socken, Stoffen, Fäden und Knöpfen entwickelt werden. Die Wahl einfachster Materialien entspricht der Tradition der Arte Povera. Sie unterstützt Abstraktionsprozesse und die expressive Steigerung des Ausdrucks. Die Materialien sind zudem überall leicht auffindbar und kosten wenig. «Das war eine schöne Erfahrung, speziell für uns [Albanerinnen], die hier in diesem Land arbeiten. Mittels Figurenspiel kann mehr gelernt, die Fantasie weiterentwickelt werden, mit wenig Material.» 3 (3) (4) Die pantomimischen und gestischen Ausdrucksmöglichkeiten der bewegten Hand im Socken sind Ausgangspunkt für das Gestalten der Sockenpuppen. Beim Gestalten der Figuren fiel uns die Handfertigkeit der Albanerinnen, ihr geschicktes, kreatives, rasches und intensives Vorgehen auf. «Die Albanerinnen sind starke Frauen, die viel leisten, arbeiten, sich auseinandersetzen und einbringen in das gemeinsame Werken. Viele können besser handwerken als wir und haben eine schöne Handschrift (5) Puppen aus Socken, Stoffresten, Fäden und Knöpfen als Fabeltiere: Hase (7) Fuchs (6) Löwe (8) Rabe Das erste Spielen liegt noch sehr nahe an der Erzählform. Die albanische Sprache dominierte, obgleich kurze Erklärungen auch in andere Sprachen übersetzt wurden. Die schweizerischen Teilnehmenden drohten unterzugehen oder mussten sich mit Nachdruck einbringen. Geschah das auch im ersten Workshop in der Schweiz so – oder nur umgekehrt? War es uns damals nicht aufgefallen, da wir in der dominanten Mehrheit waren? 4 Wir beschlossen, die Sprache auf höchstens zwanzig Schlüsselwörter zu reduzieren. Die nonverbale Arbeit minderte unsere Sprachprobleme, was dem pantomimischen und theatralischen Ausdruck zugutekam. Wichtig waren dabei klare Spielregeln. In diesem Prozess war auch ein Storyboard hilfreich. Die einzelnen Spielsequenzen der Fabel wurden gezeichnet, die Geräusche und Schlüsselwörter eingetragen. Das Storyboard unterstützte die Planung des Spielablaufs und erleichterte die Kommunikation der Spielenden. Mittels Bewegungen der Figuren, Geräuschen, Stimme und vielfältiger im gastgebenden Kindergarten vorgefundener Klang-Gegenstände wurde eine Dramaturgie entwickelt. (9) Zusammenspiel über Sprachbarrieren hinweg: albanische und schweizerische Studierende, Kindergärtnerinnen und Lehrpersonen hinter der Bühne «Da war zunächst der Sprachmix: Albanisch, Deutsch und Englisch. Es gelang uns bald einmal, die gesprochene Sprache praktisch zu eliminieren und uns einzig mit Laut- und Körper-/ Bewegungssprache der Tiere darzustellen. Es ist fast unbeschreiblich, wie wir ab diesem Zeitpunkt des Prozesses hinter der Kulisse zum Team zusammenschmolzen: Gespannt wie die Tiere auf der szenischen Bühne interagierten wir präzise hinter der Kulisse miteinander. So wurde schliesslich die Performance zum lebendigen Ausdruck dessen, was wir selber in uns und im Spiel miteinander erlebten. Wir haben uns selber Gestalt gegeben und sind als Gruppe zu einem Klangkörper geworden, der mehr war, als die Summe der verschieden Rollen. Und diese Erfahrung war für mich grossartig und einmalig.» Die Rückmeldungen der am Workshop teilnehmenden albanischen und schweizerischen Studierenden, Kindergärtnerinnen und Lehrpersonen waren einstimmig positiv. So wies eine Teilnehmende darauf hin, dass sie «sehr fasziniert war, was für ein Prozess in den beiden Tagen entstanden ist und wie ausdrucksstark die einzelnen Stücke waren, da mit verschiedensten Ausdrucksmitteln gearbeitet worden war. Ich war sehr berührt». Auch die menschliche Erfahrung der Zusammenarbeit wurde oft angesprochen. Das Arbeiten in Gruppen, die Inspiration und der Austausch Schweiz/Albanien, aber auch derjenige zwischen Studierenden, Lehrpersonen verschiedener Stufen und Dozierenden wurde geschätzt. Für ihren zukünftigen interkulturellen Unterricht unterstrichen die Schweizer Studierenden folgende Erkenntnisse als wesentlich: «Es wird für mich wichtig sein, gewisse Vorstellungen und Erfahrungen loszulassen, um offen und mit einer positiven Haltung auf Kinder und Eltern anderer Kulturen zugehen zu können. Viel Verständnis und immer wieder den Mut und die Freude, gemeinsame Wege zu gehen und so eine gemeinsame Sprache zu finden.» 5 Wir machen uns auf die Socken! Die Erfahrungen der gemeinsamen Workshops werden in beiden Institutionen vertieft und weitere Erkenntnisse zum Einsatz des Figurenspiels in Hochschullehre, Kindergarten und Primarschule gewonnen. In Shkodra wurde das Figurenspiel ins Curriculum der Ausbildung aufgenommen: Rund 700 Studierende entwickelten im Rahmen ihrer Ausbildung eigene Figurenspiele und setzten diese während ihrer Praktika in Kindergarten und Primarschule um. Mit einem Figurenspiel legten Studierende der Pädagogischen Fakultät von Shkodra im Herbst 2010 auch erstmals ihre Abschlussprüfung im Fach Kunst ab. Praktizierende Kindergärtnerinnen und Lehrpersonen, die am Workshop teilgenommen hatten, gestalteten Figurenspiele in ihren Klassen und vermittelten ihre Erfahrungen weiter. In der Schweiz vertieften wir unsere Erfahrung zunächst im ausserschulischen Bereich anlässlich des Scalabrinifestes in Solothurn. Vierzig Kinder im Alter von vier bis zwölf Jahren aus über 20 verschiedenen Kulturen gestalteten Figuren und Spielszenen. Auch bei den Kindern war das Bilden von Vertrauen grundlegend. Alle Kinder, gleich welchen Alters und welcher Kultur, waren mit Begeisterung dabei. Sie entwickelten eine eigene Beziehung zur gestalteten Figur. Zu unserer Freude zeigte es sich darin, dass einzelne Kinder die am Vormittag gestaltete Figur den ganzen Tag mit sich herum trugen. Das Projekt hat weit mehr Fuss gefasst, als es dieses Beispiel beschreibt: Wir gestalten ein eigenes Modul im Rahmen der Wahlpflichtveranstaltungen der Pädagogischen Hochschule. Wir erarbeiten gemeinsam mit Studierenden Lehrmaterialien zum interkulturellen Figurenspiel. Diese werden in Praktika erprobt und in Bachelorarbeiten weiter vertieft. Unser Partnerschaftsprojekt ist zu einer Plattform der Begegnung und des fachlichen Austausches geworden und es ist in Zukunft weiter ausbaufähig. Es gibt viele Möglichkeiten, sich zu engagieren, für Studierende, Lehrpersonen, Interessierte… aller Sprachen und Kulturen – denn Socke, calzino, ﺝجﻭوﺭرﺏب, sock, chaussette, чарапа, çorap, ciorap, suntok, κάλτσα, strumpa ... das kennen alle! Faleminderit – herzlichen Dank an die vielen Mitarbeitenden, die das Projekt auf wesentliche Weise mitgestalten. Ohne sie wäre es nicht zu verwirklichen. Sabine Amstad, Dozentin Pädagogische Hochschule der FHNW, Künstlerin, [email protected] Christiane Lubos, Dozentin Pädagogische Hochschule der FHNW, [email protected] Claudia Schuh, emer. Dozentin Zürcher Hochschule der Künste, Künstlerin, [email protected] Literatur Hösli, Elisabeth: Schaut, was ich zu sagen habe. Intermodales Lernen in multikulturellen Klassen. Zürich, Pestalozzianum, 2000. Bänninger, Christine; Di Giulio, Antonietta; Künzli, Christine: Nord-Süd Partnerschaft an Pädagogischen Hochschulen – eine Fallstudie: http://www.globaleducation.ch/globaleducation_de/resources/XY/sbe_AN_AN_PeNn_FallstudieFHNW.pdf Kirchner, Constanze et al. (Hrsg.): Ästhetische Bildung und Identität. Fächerverbindende Vorschläge für die Sekundarstufe 1 und 2. München, Kopaed, 2006. Informationen Projektdarstellung auf dem FHNW Server: http://www.fhnw.ch/ph/internationale-kooperationen/shkoder Internetseite der Stiftung Bildung und Entwicklung zu den Partnerschaftsprojekten Nord-Süd: http://www.globaleducation.ch/globaleducation_de/pages/AN/AN_PeNn.php?navanchor=2110004 6