Gesundheitsversorgung ist Menschenrecht!

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Gesundheitsversorgung ist Menschenrecht!
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Titelthema
Gesundheitsversorgung
ist Menschenrecht!
Foto: Andreas Reeg
Foto: Michelle Schönbein
Aus dem Alltag einer aufsuchenden ärztlichen und sozialarbeiterischen Versorgung
Prof. Dr. Gerhard Trabert
Nele Kleinehanding
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Innerhalb der Debatte zur gesundheitlichen Versorgungssituation von Flüchtlingen in Deutschland muss zunächst zwischen verschiedenen „Flüchtlingsgruppen“ unterschieden werden, da deren Status
und somit deren Versorgungssituation sich als sehr heterogen darstellt.
So gibt es einerseits die wachsende
Gruppe der Personen, die in Deutschland einen Asylantrag stellt (Asylbewerber), andererseits die Gruppe der
sogenannten Kontingentflüchtlinge,
insbesondere aus Kriegsregionen wie
Syrien, die aufgrund der Verpflichtungserklärungsregelung zu Verwandten nach Deutschland einreisen
dürfen. Eine dritte Gruppe bilden die
papierlosen Menschen, die ohne
einen gültigen Aufenthaltstitel illegalisiert in Deutschland leben (siehe
Abb. 1).
Die bestehende Gesundheitsversorgung dieser drei Gruppen muss in
vielen Bereichen als defizitär und teilweise auch als überhaupt nicht vorhanden bezeichnet werden. Das medizinische Leistungsspektrum, das
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Das Team der medizinischen Ambulanz ohne Grenzen des Vereins Armut und Gesundheit e.V. sucht seit einigen Monaten
auch Menschen in einer Flüchtlingsunterkunft in Mainz auf.
Aus Sicht des Vereins ist die medizinische Versorgungssituation
von Asylbewerberinnen und Asylbewerbern, die nach dem
Asylbewerberleistungsgesetz ausschließlich einen Behandlungsanspruch bei akuten Erkrankungen und Schmerzzuständen haben, dringend verbesserungsbedürftig. Der Beitrag
berichtet über die Arbeit in diesem Bereich und erläutert,
welche Voraussetzungen geschaffen werden müssen, um
die Situation für die betroffenen Menschen zu erleichtern.
Die Autoren fordern für diese Menschen, hinter denen in der
Regel eine lange Geschichte aus Gefahren für Leib und Leben,
Angst und Elend steht, dringend bessere Voraussetzungen,
damit sie sich hier willkommen und sicher fühlen können.
Geflüchtete in Anspruch nehmen
können, ist gekennzeichnet von Begrenzungen, Ausschlüssen und Zugangsverweigerungen.
Aus unserer Sicht ist die Gesundheitsversorgungsrealität von Flüchtlingen mit den Standards einer menschenrechtskonformen Versorgungstruktur nicht vereinbar. Der Beitrag
bezieht sich aber primär auf die medizinische Versorgungssituation von
Asylbewerberinnen und Asylbewerbern, da für diese Flüchtlingsgruppe
aufgrund zahlreicher Hürden und der
bestehenden restriktiven Gesetzgebung aktuell ein aufsuchendes, interdisziplinäres Versorgungskonzept notwendig ist.
Ein aufsuchendes Konzept
in den Flüchtlingsunterkünften
ist notwendig
Seit September 2015 ist Armut und
Gesundheit in Deutschland e. V. im Be-
Forum sozialarbeit + gesundheit 2/2016
reich der aufsuchenden Flüchtlingshilfe tätig und bietet aufsuchende
Sprechstunden, bestehend aus einem Team von Kinderärzten, Allgemeinmedizinern und einer Sozialarbeiterin, in zwei Flüchtlingsunterkünften der Kommune Mainz an. Die
Erfahrungen der Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter bei der Gesundheitsversorgung zeigen einerseits die dringende Notwendigkeit eines niedrigschwelligen, aufsuchenden Versorgungskonzeptes. Andererseits müssen schnellstmöglich hinderliche
Strukturen innerhalb unseres Sozialund Gesundheitswesens modifiziert
und neu geregelt werden.
Mit der zuständigen Betreuungsorganisation findet ein regelmäßiger
Austausch statt. Diese enge Kooperation fördert die Sicherstellung der
derzeitigen bürokratischen Erfordernisse, beispielsweise die Beschaffung der Krankenbehandlungsschei-
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Abbildung 1: Möglichkeiten und Grenzen der Gesundheitsversorgung der unterschiedlichen Flüchtlingspersonengruppen
Personengruppe
Möglichkeiten
Grenzen
Asylbewerber
n Die medizinische Versorgung erfolgt über
die §§ 4 und 6 AsylbLG.
n Krankenversicherungschipkarte in einigen
Kommunen/Stadtstaaten (Hamburg, Bremen,
in anderen Bundesländern vereinzelt).
n Leistungseinschränkungen und strittige
Fälle in Bezug auf Kostenübernahme.
n Krankenbehandlungsscheine werden
durch fachfremdes, nicht medizinisches
Personal ausgestellt.
n Bürokratische Wege verzögern den
Behandlungsbeginn.
n Fehlende Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten sowie Dolmetscherinnen und
Dolmetscher bei hoher Anzahl traumatisierter
Menschen.
n Aufenthaltsrechtliche Lebensbedingungen
können zu weiteren traumatischen
Belastungsstörungen führen.
Kontingentflüchtlinge im Rahmen
der Verpflichtungsregelung
n Nach unseren Kenntnissen haben bislang
folgende Länder die Krankenkosten von
der Verpflichtungserklärung ausgenommen
und übernehmen diese: Brandenburg,
Berlin, Bremen, NRW, Sachsen Anhalt,
Thüringen, Schleswig-Holstein,
Niedersachsen und Hessen.
n In folgenden Bundesländern müssen die
Beiträge zum Krankenschutz bzw. die Behandlungskosten im Falle einer Erkrankung durch
den Unterzeichner der Verpflichtungserklärung bezahlt werden: Hamburg, Mecklenburg- Vorpommern, Sachsen, Rheinland-Pfalz,
Baden-Württemberg, Bayern, Saarland.
Menschen ohne
gültigen Aufenthaltsstatus
(Papierlose oder Illegalisierte)
n Anonymisierte Behandlung und Kostenerstattung für die Leistungserbringer über
den Nothelferparagrafen möglich.
n Implementierte niedrig-schwellige,
medizinische Versorgungseinrichtungen
bundesweit.
n Angst vor Aufdeckung und Abschiebung
führt durch prekäre Lebensbedingungen
zu bestimmten Erkrankungen und deren
Chronifizierungen.
n Medizinische Versorgung wird nur in
Notfällen in Anspruch genommen.
n Finanzielle Mittel für Behandlungskosten
und Medikamente fehlen. Leistungen nach
§ 4 AsylbLG werden aus Angst vor einer
Abschiebung nicht in Anspruch genommen.
ne, und sorgt außerdem dafür, dass
vorhandene Kräfte vernetzt und gebündelt werden. Die muttersprachliche Kommunikation während der Behandlung wird durch ehrenamtliche
Dolmetscherinnen und Dolmetscher
gewährleistet. Diese kamen anfangs
spontan, später gezielt, zu den Sprechstunden dazu. Außerdem ist eine Verständigung über unseren medizinischen Anamnesebogen, der bereits in
14 verschiedene Sprachen übersetzt
wurde, möglich (zu fin den auf
www.armut-gesundheit.de unter Tipps
und Infos). Auch die Hilfsbereitschaft
der Asylsuchenden, die ins Englische
übersetzen können, ist groß.
Mangels geeigneter Räumlichkeiten fahren wir mit unserem Arztmobil, einem fahrbaren Sprechzimmer,
zu den Flüchtlingsunterkünften. Teilweise werden an einem Nachmittag
bis zu 50 Erwachsene und Kinder
behandelt. Die Notwendigkeit einer
niedrigschwelligen, interdisziplinären
Gesundheitsversorgung innerhalb
der Flüchtlingsunterkünfte ist jedes
Mal deutlich zu erkennen: Neben
einer medizinischen Beratung und
Behandlung vermitteln wir die Menschen auch an niedergelassene Fachärzte und vereinbaren noch vor Ort
telefonisch in den Arztpraxen die Termine. Ein spezieller Stadtplan mit den
wichtigsten Adressen, den wir vor
einem Jahr gemeinsam mit Geflüchteten erarbeitet haben, wird unseren
Patientinnen und Patienten ausgehändigt und soll die Suche nach wichtigen Anlaufstellen erleichtern. Hierdurch werden gesellschaftliche Partizipation, Mobilität und Selbständigkeit gefördert.
Wir unterstützen Asylsuchende
außerdem bei der Wahrnehmung
ihrer Rechte und nehmen Kontakt zu
den Sozial- und Gesundheitsbehörden auf, sofern notwendige Behandlungen oder Heil- und Hilfsmittel
abgelehnt werden. Neben einer regu-
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Foto: Armut und Gesundheit e. V.
Titelthema
Das „Frauenteam“: Sprechstunde von Frauen für Frauen. Von links nach rechts:
Nele Kleinehanding (Sozialarbeiterin), Rachida Benazza (Übersetzerin) und Astrid Gaida (Internistin)
lären medizinischen Versorgung bieten wir mit Unterstützung von ehrenamtlichen Helfern (Ärzte, Studierende
der Medizin, Dolmetscher, Sozialarbeiter) Impfsprechstunden für Kinder
und Erwachsene an. Auch hier ist
unsere Erfahrung, dass dieses Angebot sehr intensiv in Anspruch genommen wird. So konnten innerhalb von
zwei Wochen etwa 150 Kinder und
Erwachsene geimpft werden.
Problemfelder
Unsere Erkenntnisse zeigen, dass die
Inanspruchnahme des niedergelassenen ärztlichen Versorgungsangebotes für Flüchtlinge nur erschwert oder
gar nicht möglich ist. Es ist naiv,
davon auszugehen, dass ein Mensch,
der fremd in unserem Land ist, sich
einen Krankenschein von der Sozialbehörde besorgen, einen Termin bei
einem Arzt vereinbaren, den Weg
dorthin ohne Probleme finden und
dann in unserer Sprache seine Beschwerden vermitteln kann. Aus diesem Grund findet die Gesundheitsversorgung auch akuter Erkrankungen oft erst verzögert statt. Unsere
Sprechstunden vor Ort, in den Flüchtlingsunterkünften, zeigen den wirklichen Behandlungsbedarf immer wie-
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der auf: Wir diagnostizieren häufig
akute Erkrankungen der Atemwege,
des Herz- Kreislaufsystems und der
Verdauungsorgane. Zahlreiche Hautinfektionen und parasitäre Erkrankungen konnten wir genauso wie Stoffwechselentgleisungen, speziell im
Kontext einer Blutzuckerkrankheit,
feststellen. Akute psychiatrische Erkrankungen, wie die Posttraumatische Belastungsstörung, gehören
ebenfalls zum häufig diagnostizierten
Erkrankungsspektrum.
Auch die kontinuierliche Behandlung chronischer Erkrankungen findet
nicht oder nur rudimentär statt. Eine
Informationsweitergabe von medizinischen Befunden aus Erstaufnahmeeinrichtungen des Landes in die weiterbetreuenden Flüchtlingseinrichtungen der Kommune erfolgt nur in
Einzelfällen. So wäre ein Patient beinahe gestorben, da die in der Erstaufnahme festgestellte Diagnose einer
chronisch myeloischen Leukämie
nicht weitergegeben wurde.
Wir stellen zudem fest: Bestehende
Gesundheitsleistungsansprüche werden durch die Sozialbehörde immer
wieder verweigert oder massiv ver-
Forum sozialarbeit + gesundheit 2/2016
zögert. Beispielsweise setzen wir uns
seit Oktober 2015 für eine vom
Augenarzt verordnete Brillenversorgung für Kinder oder einen Rollstuhl
für einen Patienten mit einer amyotrophen Lateralsklerose ein. Eine adäquate psychiatrische und psychologische Versorgung von Patientinnen
und Patienten mit posttraumatischen
Belastungsstörungen findet mangels
Genehmigung auch nur in Ausnahmefällen statt. Eine weitere Erkenntnis unserer Arbeit vor Ort ist, dass die
Gesundheitsversorgung von Schwangeren und Neugeborenen und deren
Müttern Defizite aufweist. Aus diesen
und auch aus kultursensiblen Gründen sind wir nun auch einmal im
Monat mit einem Frauenteam vor Ort:
„Frauen für Frauen“ heißt unser
neues Angebot. Zusätzlich mussten
und müssen wir immer wieder feststellen, dass der Impfstatus zahlreicher Kinder und Erwachsener unzureichend ist.
Handlungsvorschläge
Aufgrund unserer praktischen Erfahrungen plädieren wir für die Realisierung unserer Handlungsvorschläge
zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung von Asylbewerberinnen und
Aylbewerbern. So halten wir eine
Sprechstunde vor Ort, zumindest in
Asylbewerberunterkünften mit mehr
als 100 Flüchtlingen, für dringend notwendig. Es sollte mindestens einmal
wöchentlich eine allgemeinmedizinische und kinderärztliche Sprechstunde in Zusammenarbeit mit Sozialarbeit stattfinden. Bestandteil dieser
Sprechstunden sollte eine ärztliche
Diagnostik und gegebenenfalls Erstbehandlung sowie, falls notwendig, die
direkte Weitervermittlung zu einem
niedergelassenen Haus- oder Facharzt
sein. Die Aufgabe der Sozialen Arbeit
in diesem Gatekeeper-Angebot ist es
einerseits, falls noch nicht geschehen,
detaillierte Informationen zum sehr
umständlichen Procedere der Beantragung von Krankenscheinen zur Verfügung zu stellen. Andererseits spielen
auch die konkrete Vermittlung, Vereinbarung und Sicherstellung einer Weiterbehandlung eine wichtige Rolle.
Hierbei müssen Aspekte der Erreich-
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barkeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln und der muttersprachlichen Kommunikation geklärt und wenn nötig
organisiert werden.
Bei diesem interdisziplinären Gesundheitsversorgungskontakt sollte
generell der Impfstatus überprüft und
eventuelle Impflücken, geschlossen
konsequenterweise die Forderung
nach Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes, insbesondere der
Paragraphen 4 und 6, mit der nicht
menschenrechtskonformen
Einschränkung des Leistungsspektrums,
im Krankheitsfall nur akute Erkrankungen und Schmerzzustände behandeln zu dürfen.
In Asylbewerberunterkünften mit mehr als 100 Flüchtlingen,
sollte mindestens einmal wöchentlich eine allgemeinmedizinische und kinderärztliche Sprechstunde
in Zusammenarbeit mit Sozialarbeit stattfinden.
Des Weiteren sollte den Menschen
eine Gesundheitsversorgungsmappe
(bestehend aus einem Impfausweis,
individuellen Patientenheft, evtl. Vorsorgeheft bei Kindern, evtl. Mutterpass) ausgehändigt werden, falls dies
in der Erstaufnahmeeinrichtung noch
nicht geschehen ist.
Soweit möglich, muss von den
Patientinnen und Patienten ein muttersprachlicher Anamnesebogen ausgefüllt und in der Gesundheitsmappe
aufbewahrt werden. Es wird dringend
empfohlen, diese Gesundheitsmappe
bei jedem Arztbesuch vorzulegen,
damit ein Informationsfluss zur Gesundheitssituation des betroffenen
Patienten realisiert werden kann. Im
Kontext der Versorgung traumatisierter Geflüchteter sollte die Vernetzung
zu psychiatrisch-psychologischen Behandlungszentren sollte garantiert
sein. Auch chronische Erkrankungen
müssen behandelt werden: Ein anderer Umgang ist mit der ärztlichen
Ethik sowie der Menschenrechtskonvention nicht vereinbar. Hieraus folgt
Schließlich fordern wir die Einführung einer Krankenversichertenkarte
für Flüchtlinge und damit die Abschaffung der bürokratischen, diskriminierenden und sehr umständlichen
Krankenscheinbeschaffung bei Sozialbehörden.Die Kosten für eine medizinische Versorgung von Kontigentflüchtlingen sollten von den Ländern
flächendeckend getragen werden.
Bezüglich der prekären Gesundheitsversorgungssituation von illegalisier-
Nur durch Erfüllung dieser Maßnahmen ist eine ganzheitliche, ärztlichen und sozialarbeiterischen Standards folgende Gesundheitsversorgung möglich: Eine Gesundheitsversorgung, die den Menschenrechten
entspricht.
■ Prof. Dr. Gerhard Trabert,
Arzt und Dipl.-Sozialarbeiter, Professor an der Hochschule RheinMain in Wiesbaden, ist 1. Vorsitzender des Vereins Armut und Gesundheit in Deutschland sowie
Leiter der Arbeitsgruppe Armut
und Gesundheit der Nationalen
Armutskonferenz Deutschlands,
6 [email protected]
■ Nele Kleinehanding,
Sozialarbeiterin B.A. und Ergotherapeutin, leitet den Bereich
Soziale Arbeit des Vereins Armut
und Gesundheit in Deutschland,
6 nele.kleinehanding@
armut-gesundheit.de
Foto: Andreas Reeg
werden, sofern die Patientinnen und
Patienten dies wünschen. Zusätzlich
müssen Grippeschutzimpfungsmaßnahmen sowie Pneumokokken-Impfungen bei besonders gefährdeten
Personen und Menschen, die älter als
65 Jahre sind, angeboten werden.
ten Menschen in Deutschland plädieren wir für eine konsequente Anwendung des Nothelferparagrafen, der
eine anonymisierte Behandlung und
Kostenerstattung für die Leistungserbringer ermöglicht.
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