Wachstum und Schrumpfung in Ost
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Wachstum und Schrumpfung in Ost
Informationen zur Raumentwicklung Heft 8.2008 485 Wachstum und Schrumpfung in Ost- und Südostasien Winfried Flüchter Herausforderungen des demographischen Wandels im Zeichen des „Gänseflug-Modells“? Japan als Trendsetter neuer urbaner Entwicklungen? Das von dem japanischen Nationalökonom Kaname Akamatsu in den 1930er Jahren konzipierte und in den 1960er Jahren revitalisierte „Gänseflug-Modell der industriellen Entwicklung“ (sangyô hatten no gankôō keitairon) wurde seit den späten 1980er Jahren im Zuge der forcierten Globalisierung der japanischen Unternehmen ein vieldiskutierter Ansatz zur Erklärung wirtschaftlicher Aufholprozesse der Länder Ost- und Südostasiens. Hintergrund dieses vor allem in Japan lange populären Ansatzes ist die Produktzyklustheorie der internationalen Arbeitsteilung.1 Entsprechend dem Lebenszyklus eines standardisierten Produkts (Einführungs-, Wachstums-, Reife-, Sättigungsphase) erfolgt der Entwicklungsprozess einer Volkswirtschaft nach folgendem Muster: 1. Import (aus wirtschaftlich fortgeschritteneren Ländern), 2. Importsubstitution (durch zunehmende Eigenproduktion), 3. Export (durch kräftiges Produktionswachstum über den Eigenbedarf hinaus), 4. Import (Übernahme der Standardproduktion durch weniger entwickelter Länder, im eigenen Land Konzentration auf höherwertige Produkte). International übertragen auf die Staaten Ost- und Südostasiens bedeutet der „Gänseflug-“ oder „Flying geese“-Ansatz, dass Japan als „Leitgans“ des Subkontinents durch technologische Innovation neue Zyklen hervorbringt und die Nachbarländer nach dem Konzept des „aufholenden Produktzyklus“ phasenverschoben folgen. In dieser Aufholjagd fliegen hinter der „Leitgans“ Japan die asiatischen Zugvögel in folgender Hierarchie (Abb. 1): 2. ANICs (Asian Newly Industrialized Countries), d. h. die „Kleinen Tiger“ als Schwellenländer auf dem Weg zu Industrieländern: Taiwan, Südkorea, Singapur, Hongkong (Letzte- Abbildung 1: Das asiatisch-pazifische Gänseflug-Modell wandernder komparativer Kostenvorteile Zeit W zu and m er nä un ch g e ste in n m er I it ndu ko st m rie pa b ra ran tiv c en he Ko von ste e nv ine or m tei La len nd / ein er Re gio Wachstum und Schrumpfung verschiedener Industriebranchen in einem Land / einer Region – Korrelation von wirtschaftlichem wohlstand und Schrumpfung / Alterung der Bevölkerung 1 Das „Gänseflug-Modell“: Japan als ökonomische „Leitgans“ pazifisch-asiatischer Zugvögel? n Niedrige Entwicklungsstufe ASEAN 2 Vietnam Kambodscha Laos Myanmar Mikroelektronik Auto Stahl Chemie Textil Hohe Entwicklungsstufe China ASEAN 1 Thailand Malaysia Philippinen Indonesien ANICs Taiwan Südkorea Singapur Hongkong Japan Gänseflug-Modell Entwurf: Harald Krähe Winfried Flüchter Quelle: eigener Entwurf, erweitert/verändert nach Yamazawa, I.: Economic Integration in the Asia-Pacific Region. – London et al. 1998 res seit 1997 Sonderverwaltungszone der Volksrepublik China ); 3. ASEAN 1, d. h. die dynamischen Entwicklungsländer der Association of Southeast Asian Nations auf dem Weg zu Schwellenländern: Malaysia, Thailand, Philippinen, Indonesien; 4. China: Die Einstufung auf Rang 4 betrifft das Land als Gesamtheit, spiegelt nur sehr unvollkommen seine ökonomische Heterogenität 2, 5. ASEAN 2: ehemalige sozialistische Länder als ASEAN-Neumitglieder (erst seit Mitte der 1990er Jahre): Vietnam, Kambodscha, Laos, Myanmar. Diese Reihenfolge ist konstruiert und gibt die Situation Ende der 1990er Jahre wieder. Ziel dieses Beitrags ist es, vor dem Hintergrund dieses außenwirtschaftsorientierten Prof. Dr. Winfried Flüchter Univ. Duisburg-Essen Institut für Ostasienwissenschaften Lotharstraße 65 47048 Duisburg E-Mail: [email protected] 486 Winfried Flüchter: Wachstum und Schrumpfung in Ost- und Südostasien Abbildung 2 Gänseflug-Formation: Idee und Wirklichkeit Taiw an Südk orea Hongk ong Singapur Thailand Mala ysia Indonesien Philippinen China Modells dem demographischen Wandel der Staaten und Städte(regionen) Ost- und Südostasiens nachzugehen. Im Spannungsfeld zwischen Wachstum, Schrumpfung und Alterung fragt er erstens, ob Japan „Leitgans“ einer pazifisch-asiatischen „GänseflugFormation“ nicht nur im Hinblick auf wirtschaftliche, sondern auch auf demographische Aufhol- und Modernisierungsprozesse ist, und zweitens, ob das Inselreich auch Trendsetter für schrumpfende Städte und Reurbanisierung ist. Vietnam Myanmar Laos Kambodscha Japan a) In manchen Lehrbüchern dargestellte Gänseflug-Formation mit der „Leitgans“ Japan Positionswechsel bei der Leitgans? b) Hinterfragung einer „Leitgans“ aus ornithologischer Sicht: Zugvögel fliegen in energiesparender V-Formation. An der Spitze sind keine Leittiere (alle Vögel haben den gleichen Orientierungssinn), sie ermüden und müssen sich regelmäßig abwechseln! Falls der führende Vogel einmal vom Kurs abweicht, kann es sein, dass der Schwarm aus der Mitte heraus die Richtung ändert. Quellen:Böhn, D. u. a. (Hrsg.): Mensch und Raum, Geographie. Der asiatisch-pazifische Raum. – Berlin 2001, S. 38 (a); Rheinische Post v. 21.10.2006 (Photo: NABU) (b); Bearbeitung: W. Flüchter, H. Krähe Abbildung 3 Bruttosozialprodukt pro Kopf in den Ländern Ost- und Südostasiens – 2004 Japan 37050 Nordkorea k.A. Südkorea 14 000 VR China 1 500 Taiwan 14 770 Myanmar k.A. Laos Philippinen 390 1 170 Thailand Vietnam 2 490 540 350 Zum Vergleich: 30690 Deutschland 41440 USA BSP pro Kopf nach Ländern in Zahlen: 1170 (US$) in Flächenfarben: niedrig hoch Kambodscha Brunei k.A. Malaysia 4 520 24 760 Singapur 1 140 Indonesien 550 Osttimor Quelle: Fischer Weltalmanach 2007; Bearbeitung: W. Flüchter, H. Krähe 0 1000 km Das „Gänseflug-Modell hat seinen Reiz dadurch, dass es erstens nachholende Entwicklung in hierarchischen Etappen (staats) räumlich veranschaulicht, zweitens Beziehungen zwischen Binnenentwicklung und Außenverflechtung herstellt sowie drittens den asiatischen Schwellen- und Entwicklungsländern, denen der Aufstieg Japans zur Weltwirtschaftsmacht als Vorbild dient, Zukunftsperspektiven eröffnet. Es war in wirtschaftswissenschaftlicher Theorie und Praxis von Beginn an nicht unumstritten 3, auch geopolitisch brisant. In den Nachbarstaaten regten sich Befürchtungen wegen einer Neuauflage der vorkriegszeitlichen „Großostasiatischen Sphäre Gemeinsamen Wohlstands“ unter der Ägide Japans unter veränderten Bedingungen.4 Bis in die 1990er Jahre ging man aufgrund der starken Auslandsdirektinvestitionen des Inselreichs und der Netzwerkbildung seiner Keiretsu (verflochtene Großunternehmen) in Ost- und Südostasien von der Entwicklung eines auf Japan ausgerichteten Aufholprozesses aus. Diese Ansicht hat sich nach dem Platzen der japanischen „Seifenblasenwirtschaft“ (bubble economy) 1991/92 verändert. Während Japan seit Mitte der 1990er Jahre durch ein „verlorenes Jahrzehnt“ relativ zurückgeworfen wurde, verzeichnete China aufsehenerregende Wirtschaftserfolge. Die „Leitgans“ ist relativ (vor allem im Vergleich zu China) müde geworden. Dies steht ihr nicht nur ökonomisch, sondern auch ornithologisch zu (Abb. 2). Das Gänseflug-Modell lässt in seiner graphischen Gestaltung die Realität außer Acht. Zugvögel haben in Wirklichkeit keine „Leitgans“, sondern wechseln sich an der Spitze einer energiesparenden V-Formation regelmäßig ab, um sich zu erholen. Wird in Zukunft China Japan an der Spitze ablösen? Werden zwei Leitgänse die Richtung bestimmen? Gibt es Informationen zur Raumentwicklung Heft 8.2008 in der ökonomischen Hierarchie Ostasiens überhaupt noch eine Dominanz? Spricht man angesichts der starken ökonomischen Prägung des Subkontinents durch Auslandsdirektinvestitionen (nicht nur japanischer, sondern auch auslandschinesischer, amerikanischer und sonstiger Provenienz) nicht besser von seiner „Hybridisierung“5? Wie stark auch immer die Spekulationen um diese Fragen ins Kraut schießen, so bleibt doch festzuhalten: Japan ist trotz zwischenzeitlicher Ermüdungserscheinungen die mit Abstand bedeutendste Wirtschaftsmacht des Subkontinents und stellt immerhin noch etwa 60 % des Bruttosozialprodukts aller Länder Ost- und Südostasiens. Sein Bruttosozialprodukt pro Kopf (Abb. 3, 4 a) liegt mit 37 060 US$ fast dreimal höher im Vergleich zu den nächstfolgenden Flächenstaaten der Kleinen Tiger (Taiwan und Südkorea) und selbst noch ein Drittel höher im Vergleich zum Stadtstaat Singapur. Weit abgeschlagen folgen dahinter die ASEAN 1-Länder Malaysia und Thailand, dann China, die Philippinen und Indonesien und ganz am unteren Ende schließlich mit Ost-Timor, Vietnam, Laos und Kambodscha Staaten, deren Bruttosozialprodukt pro Kopf im Durchschnitt nur 1,3 % des japanischen Wertes ausmachen. Gemessen nach dem Bruttosozialprodukt pro Kopf in Kaufkraftparitäten (Abb. 4 b) bleibt diese Reihenfolge unverändert, wenngleich die Unterschiede zwischen Japan (29 614 US$) und den folgenden pazifisch-asiatischen Zugvögeln längst nicht mehr so deutlich ausfallen – Singapur folgt Japan ziemlich dicht auf den Fersen, der Abstand zu Taiwan und Südkorea beträgt nur noch ein Drittel, die Länder am unteren Ende verzeichnen im Durchschnitt nun immerhin 7,6 des japanischen Wertes. Legt man den Human Development Index als Mischung ökonomischer und sozialer Kriterien zugrunde (Abb. 4 c), bestätigt sich dieser Befund. Unter den 193 gewichteten Staaten nimmt Japan mit Rang 11 die absolut führende Position unter den Ländern Ost- und Südostasiens ein, gefolgt von den Kleinen Tigern Singapur (25) und Südkorea (28), weit dahinter die ASEAN 1-Länder Malaysia, Thailand und die Philippinen (Ränge 61– 84) sowie China (85), abgeschlagen die Gruppe Vietnam, Indonesien, Myanmar, Kambodscha, Laos und OstTimor (Ränge 108 –140). Fazit: Das außenwirtschaftsorientierte „Gänseflug-Modell der industriellen Entwicklung“ lässt sich im Hinblick auf Kriterien des Wohlstands mehr oder weniger bestätigen. 487 Abbildung 4 Wirtschaftskraft und Human Development Index der ost- und südostasiatischen Länder im Vergleich – 2004 a) Bruttosozialprodukt pro Kopf 2004 (US$) 0 5 000 10 000 15 000 20 000 25 000 30 000 BSP pro Kopf (US $ ) 35 000 40 000 USA 41 440 37 060 Japan 30 690 Deutschland 24 760 Singapur Taiwan Südkorea 14 770 14 000 4 520 Malaysia 2 490 1 500 1 170 1 140 550 540 390 350 Thailand VR China Philippinen Indonesien Ost-Timor Vietnam Laos Kambodscha Quelle: Fischer Weltalmanach 2007 b) Bruttosozialprodukt pro Kopf in Kaufkraftparitäten 2004 (PPP$) 0 5 000 10 000 15 000 20 000 25 000 30 000 BSP pro Kopf (PPP$) 35 000 40 000 USA 39 624 29 614 Japan Deutschland Singapur Taiwan Südkorea 28 168 27 372 ? 20 526 Malaysia 9 715 7 933 Thailand VR China 5 885 4 946 Philippinen Indonesien Ost-Timor Vietnam Kambodscha Laos 3 485 ? 2 702 2 311 1 878 Quelle: Fischer Weltalmanach 2007 c) HDI(Human Development Index)-Rang 2004 unter 193 Staaten • Lebenserwartung • Alphabetisierungsgrad der Erwachsenen • Kaufkraft pro Kopf 10 11 USA Japan 20 Deutschland 25 28 Singapur Südkorea 61 Malaysia 73 Thailand 84 85 Philippinen VR China 108 110 Vietnam Indonesien 130 133 Kambodscha Laos 140 Ost-Timor Quelle: Fischer Weltalmanach 2007 ?? Taiwan ?? Nordkorea 488 Winfried Flüchter: Wachstum und Schrumpfung in Ost- und Südostasien 2 Gilt die „Gänseflug-Formation“ auch als Modell für demographische Entwicklungen? schwächt auch für Malaysia. Alles in allem geht der Rückgang der Bevölkerung mit zunehmendem Wohlstand der einzelnen Staaten einher. Ist Japan auch in Bezug auf demographische Aufholprozesse „Leitgans“ einer pazifischasiatischen „Gänseflug-Formation“? Diese Frage mag auf den ersten Blick Stirnrunzeln auslösen, lässt sich aber gut nachvollziehbar mit einem „Ja“ beantworten. Die Fakten: Entscheidend für die langfristige demographische Entwicklung eines Landes ist die Totale Fruchtbarkeitsrate (TFR), d. h. die durchschnittliche Zahl von Kindern, die eine Frau im Alter von 15 bis 49 zur Welt bringt (2,1: Sicherung der Reproduktion). Die Statistiken bringen überraschende Aufschlüsse. Im Jahr 2004 wird Japan mit einer TFR von 1,3 von Taiwan (1,1), Südkorea und Singapur (je 1,2) noch übertroffen (Abb. 5d). Im Vergleich der Jahrfünfte 2000 – 2005 und 2005 – 2010 (mittlere Annahmen) wird die „Leitgans“ Japan auf Platz 184 unter den 195 aufgeführten Staaten überholt (allerdings nur knapp) von allen Kleinen Tigern. Diese nehmen nicht nur in Ost- und Südostasien, sondern weltweit Spitzenwerte ein. Die folgenden Daten zeigen die Fakten und Trends der Perioden 2000 – 2005 und 2005 – 2010: In keinem Land nicht nur Ost- und Südostasiens, sondern weltweit ist die Lebenserwartung bei der Geburt (Abb. 5a) so hoch wie in Japan (82,0 Jahre). Allerdings folgt der Stadtstaat Singapur (81,8 Jahre) sehr dicht auf den Fersen, mit Abstand vor Taiwan und Südkorea (77–78 Jahre), dahinter China, Malaysia, Thailand, Vietnam (72,9 –70,2 Jahre) in Gruppe vier, am Schluss die übrigen Staaten in der bekannten Reihenfolge. Im Vergleich zu den bisherigen Kriterien sind China und Vietnam in der Lebenserwartung um eine Rangstufe von vier nach drei aufgestiegen, was aber die Folge der „Zugvögel“ nicht wesentlich in Frage stellt. Sehr ähnlich ist die Einstufung im Hinblick auch auf die Altersstruktur (Abb. 5b). Der Anteil der Alterskohorte 65 plus beträgt in Japan bereits über 20 % an der Gesamtbevölkerung, also mehr als doppelt so viel wie in Taiwan (10 %), Südkorea (9 %), China (8 %) und so fort. In Bezug auf das Bevölkerungswachstum 1994–2004 (Abb. 5c) ist Japan das Land mit der mit Abstand geringsten Bevölkerungszunahme (0,2 %) – seit 2005 ist der Höhepunkt der Einwohnerzahl mit 127,8 Mio. bereits überschritten und die Bilanz rückläufig! Weit dahinter rangieren an zweiter Stelle Südkorea und Taiwan (je 0,7 %) und erstaunlicherweise auch China (0,8 %) – Ost-Timor (0,5 %) ist in dieser Gruppe aufgrund der desolaten Zustände vor und nach der Staatsgründung 1998 ein Ausreißer. Es folgen auf Stufe drei Thailand, Myanmar, Indonesien und Vietnam (1,0 –1,5 %), dahinter als letzte Gruppe (2,0 –2,4 %) so verschiedenartige Länder wie die Philippinen, Kambodscha, Laos, Malaysia und merkwürdigerweise auch der Stadtstaat Singapur. Dieser ist ein Magnet für Zuwanderer, wodurch sich die unerwartete Höhe des Bevölkerungswachstums erklärt; die natürliche Bevölkerungsbewegung beträgt nur 1,27 %. Der Zuwanderungsaspekt gilt abge- Als „Leitgänse“ präsentieren sich Taiwan (1,76 → 1,12) 6 und Südkorea (1,24 → 1,21), sieht man von Macau (0,84 → 0,91) und Hongkong (0,94 → 0,97) ab, die als Stadtterritorien nicht vergleichbar sind. Mit in dieser Spitzengruppe „fliegen“ in nur geringem Abstand Japan (1,29 → 1,26) und Singapur (1,35 → 1,26). Deutlich dahinter rangieren in Gruppe zwei China (1,70 → 1,73) und Thailand (1,83 → 1,85), ferner in Gruppe drei Myanmar (2,25 → 2,07), Vietnam (2,32 → 2,14) und Indonesien (2,38 → 2,18). In der Schlussgruppe findet sich erstaunlicherweise auch Malaysia (1,87 → 2,60) vor Laos (3,59 → 3,21), den Philippinen (3,54 → 3,23) und dem „Ausreißer“ OstTimor (6,96 → 6,53). Diese Daten bestätigen cum grano salis das demographisch-ökonomische Paradoxon: die umgekehrte Korrelation zwischen Wohlstand und Fruchtbarkeit. Die traditionelle, von Malthus beeinflusste Vorstellung, mehr Wohlstand führe automatisch zu mehr Kinderreichtum, wird auf den Kopf gestellt, erscheint paradox. Dagegen steht der schon lange zu beobachtende Trend, dass in Ländern mit höherem Bruttosozialprodukt pro Kopf immer weniger Kinder geboren werden (obwohl ihre immer reicher werdende Bevölkerung sich diese umso mehr leisten könnte). Die Gründe für diese Reaktion sind mannigfaltig: zunehmende Lebenserwartung, abnehmende Kindersterblichkeit, Informationen zur Raumentwicklung Heft 8.2008 489 Abbildung 5 Bevölkerungsdaten Ost- und Südostasiens a) Lebenserwartung bei der Geburt 2007 0 5 10 15 20 25 30 35 40 b) Altersstruktur 2005 45 50 55 Japan Singapur Deutschland USA Taiwan Südkorea Brunei VR China Malaysia Thailand Nordkorea Vietnam Philippinen Indonesien Ost-Timor Myanmar Kambodscha Laos 60 65 70 75 80 85 55,9 0 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 80 0 10 20 0 10 20 30 40 50 60 70 30 40 50 60 70 80 9 0 100 % 80 9 0 100 % Laos Ost-Timor Kambodscha Philippinen Malaysia Vietnam Brunei Myanmar Indonesien Thailand Nordkorea VR China USA Singapur Südkorea Taiwan Japan Deutschland 82,0 81,8 79,0 78,0 77,6 77,2 75,3 72,9 72,8 72,6 71,9 71,1 70,5 70,2 66,6 62,5 61,3 85 0–1 4 Quelle: www.cia.gov/cia/publications/factbook/rankorder/2102rank.html © W. Flüchter /H . Krähe 1 5–6 4 65 plus Quelle: http://www.adb.org/Documents/Books/Key_Indicators/2006/pdf/rt07.pdf; www.welt-auf-einen-blick.de/bevoelkerung/altersstruktur-2005.php © W. Flüchter / H . Krähe c) Bevölkerungswachstum 1994–2004 0 1,0 2,0 d) Fruchtbarkeitsrate 2004 3,0 % Singapur Laos 2,4 2,4 Malaysia 0 1,0 Zahl der Kinder pro Frau 2,0 3,0 4,0 6,0 7,0 8,0 7,8 2,3 Kambodscha 2,2 Philippinen 2,0 Laos 4,6 Kambodscha Vietnam 4,0 1,5 Indonesien 1,3 Philippinen 3,1 Malaysia 1,0 1,0 Thailand USA VR China 0,8 Taiwan Südkorea 0,7 0,7 Ost-Timor Japan Deutschland 5,0 Ost-Timor 0,5 0,2 0,2 2,8 Indonesien 2,3 2,0 1,9 1,8 1,8 USA Thailand VR China Vietnam Deutschland Japan Singapur Südkorea Taiwan 1,4 1,3 1,2 1,2 1,1 Quelle: Fischer Weltalmanach 2007 höhere Bildung, längere Ausbildung und spätere Elternschaft, größere Unabhängigkeit und berufliche Selbständigkeit der Frau, Urbanisierung und Ansprüche, deren Kosten im Hinblick auf den Nachwuchs oft als (vermeintlich) hoch empfunden werden (für Bildung, Kleidung, Essen, Geselligkeit) – Phänomene, die auf wachsenden Wohlstand zurückgehen und dem Modell des demographischen Übergangs entsprechen, also der Annahme, dass der Rückgang der TFR mit dem Grad der sozioökonomischen Entwicklung parallel läuft. Damit korrespondieren hohe TFRs in den Entwicklungsländern, deren Gesellschaften auf Kinder Quelle: Fischer Weltalmanach 2007 angewiesen sind (Arbeitskräfte, Altenpflege) und deren Frauen über geringere Bildung verfügen, wenig(er) Zugang zu Methoden der Empfängnisverhütung haben und beruflich wenig(er) in Anspruch genommen sind. Schreckensvisionen einer „Wohlstandsfalle“7 mit der Annahme, dass Vergreisung, Kinderlosigkeit und Schrumpfung in den Untergang der Gesellschaft führen, kontrastieren mit der Auffassung, dass „weniger mehr sind“ und der Geburtenrückgang sogar als „Glücksfall“ für die jeweilige Gesellschaft gelten kann.8 Typischerweise sind 490 Winfried Flüchter: Wachstum und Schrumpfung in Ost- und Südostasien es weltweit, von Ausnahmen wie den USA abgesehen, die wirtschaftlich-industriell dynamischsten Länder, deren TFR tief unter die magische Idealnorm gesunken ist. Global „konkurrieren“ Europa und Ostasien um die niedrigsten TFRs. In Europa gibt es zahlreiche Länder mit einer TFR von weniger als 1,3. Es sind einerseits fast alle ehemals sozialistischen bzw. neu aus diesen hervorgegangenen Staaten (Ränge 191–179 von 195 UN-erfassten Ländern): Bosnien-Herzegowina, Tschechien, Slowenien, Litauen, Lettland, Ukraine, Bulgarien, Slowakei, Polen, Rumänien, Ungarn. Ihre transformationsbedingte Sonderstellung hebt die Bedeutung des demographischökonomischen Paradoxons nicht auf. Unter dem Wert von 1,3 bleiben in Europa andererseits auch traditionelle Länder mit überwiegend katholischer Bevölkerung wie Italien und Spanien (Ränge 173 und 169, vgl. Deutschland Rang 175, TFR 1,35). Für Ostasien stellt sich die spannende Frage, wie lange es noch dauert, bis China in der Rangstufung nach TFRs aus der Gruppe zwei in die Spitzengruppe vorstößt. Das Land ist mit 1,3 Mrd. Menschen das mit Abstand bevölkerungsreichste der Erde. Umso 30 Sterberate ( ) 25 20 15 Osteuropa 35 Nordeuropa Westeuropa Südeuropa ( ) Nordamerika Geburtenrate 40 Ostasien 45 Südliches Zentralasien Westasien Nordafrika Südafrika Zentralamerika Südostasien Südamerika Karibik Ozeanien Geburtenrate/ Sterberate (‰) 50 Ostafrika Westafrika Zentralafrika Abbildung 6 Modell des demographischen Übergangs nach Großregionen 2003 10 5 0 Phase 1 Prätransformativ Phase 2 Frühtransformativ Phase 3 Mitteltransformativ Phase 4 Phase 5 Spättransformativ Posttransformativ Quelle: Kramer, C.: Bevölkerungsexplosion und schrumpfende Gesellschaften. Münchner Wissenschaftstage 2005, Powerpoint Präsentation, Chart 11 (www.muenchner-wissenschaftstage.de/mwt2005/contente/e160/e707/e728/e929/filetitle/BevlkerungsexplosionundschrumpfendeGesellschaften_Folien_klein_ger.pdf) nach Husa/Wohlschlag 2003, S. 106, Daten: World Population Data Sheer 2003; Husa, K.; Wohlschlägl, H.: Südostasiens „demographischer Übergang“: Bevölkerungsdynamik, Bevölkerungsverteilung und demographische Prozesse im 20. Jahrhundert. In: Südostasien. Gesellschaften, Räume und Entwicklung im 20. Jahrhundert: Feldbauer, P.; Husa, K.; Korff, R. (Hrsg.). – Wien 2003, S. 133–158 mehr wiegt das Problem der sicheren statistischen Ermittlung seiner Fruchtbarkeit. Die Werte der TFR variieren zwischen 1,22 und 1,82 erheblich (!) – mit Konsequenzen für die Bandbreite seiner zukünftigen Bevölkerung. Der weltweit seit langem zu beobachtende Rückgang der TFR ist in China besonders spürbar: von ca. 6 (1950) über 4 (1975), 2 (1990) auf die genannten Werte weit darunter. Für diesen rapiden Prozess war zu Beginn der Transformationsphase die strikte staatliche Geburtenkontrolle sicher von ausschlaggebender Bedeutung. Längst spielt aber auch der steigende Wohlstand eine wichtige Rolle, der die anhaltende Geburtenpolitik in Frage stellt. Läge die TFR laut unbereinigter amtlicher Statistik wirklich bei 1,22, gehörte China bereits zum kleinen Kreis der Länder mit der niedrigsten TFR. Die Angaben differieren allerdings nach oben bis zu 1,82, erklärbar durch statistische Anpassungen, die aufgrund nicht gemeldeter Geburten für nötig erachtet werden und eine Korrektur der Werte um 25 bis 50 % beinhalten.9 Extremwerte erreichen chinesische TFRs im Spannungsfeld regionaler Abweichungen auf der Basis der Kreise (counties). Den Rekord nach unten mit 0,41 (!) verzeichnet der wirtschaftlich entwickelte Distrikt Xiangyang im Verwaltungsgebiet der Stadt Jiamusi, Provinz Heilongjiang, den Rekord nach oben hält mit 5,47 der ländlich-ärmliche Kreis Baqing im Autonomen Gebiet Tibet (Terrel 2005: S. 97 ff. nach Bevölkerungszensus 2000): Befunde, die auch im substaatlichen Rahmen das demographisch-ökonomische Paradoxon bestätigen. Beträchtliche regionale Unterschiede ergeben sich auch im Kontext der Geburtenpolitik, z. B. in der Erlaubnis einer Kinderzahl von mehr als 1. Typischerweise verzeichnet die regierungsunmittelbare Stadt Beijing eine TFR von nur 0,67, die ländliche Provinz Guizhou dagegen 2,19.10 Abschließend stellt sich die Frage, wo sich Ost- und Südostasien in der „Konkurrenz“ um weltweite Schrumpfung und Alterung subkontinental einordnen lassen. Im Modell des demographischen Übergangs 2003 (Abb. 6) liegt Europa in führender Position, dicht dahinter Ostasien, weiter zurück Südostasien. Die Kurven der Geburten- und Sterberate tendieren in Phase 5 zur Überschneidung, die Wachstumsrate wird negativ, der betreffende Subkontinent (Ost- und Süd-Europa!) tritt in die Phase der Bevölkerungsschrumpfung ein, falls das Gebur- Informationen zur Raumentwicklung Heft 8.2008 tendefizit nicht durch Einwanderungen ausgeglichen wird. Als führender Vertreter Ostasiens ist die „Leitgans“ Japan bereits in diese Phase eingetreten. Die anderen „Gänse“ werden folgen. Denn Abbildung 6 spiegelt die Ergebnisse der TFRs der Vergangenheit wider und berücksichtigt nicht deren aktuelle Spitzenwerte in Ostasien. Deren Resultate werden im Modell des demographischen Übergangs erst langfristig spürbar und lassen für die Zukunft ein Kopf-anKopf-Rennen zwischen Europa und Ostasien um die Vorherrschaft von Schrumpfung und Alterung erwarten. 3 Demographischer Wandel, schrumpfende und alternde Städte: Japan als Trendsetter? In subnationaler Perspektive bietet sich im Hinblick auf Städte und Stadtregionen eine Fokussierung auf Japan an. China beeindruckt zwar durch rapide Verstädterung, deren „Manhattisierung“ im Laufe nur eines Jahrzehnts in der Geschichte der Menschheit einmalig ist. Japan dagegen macht als „Leitgans“ einer subkontinentalen „Gänseflug-Formation“ den stärkeren Eindruck in ökonomischer und demographischer Hinsicht, hat die größere Reife in der Stadtentwicklung und verfügt nicht zuletzt über eine solide Statistik, die wirklichkeitsnahe Ergebnisse liefert. Die vitale japanische Großstadtgesellschaft und die Dynamik der Urbanisierung in Japan können nicht darüber hinwegtäuschen, dass schrumpfende und alternde Städte ein weltweites Phänomen und auch in diesem Land ein zentrales Problem der Zukunft, ja bereits der Gegenwart sind. Während einerseits die Metropolregionen, Großregionszentren, bestimmte Regionalstädte und Städte in Suburbia noch wachsen (aber nur noch mäßig), schrumpft andererseits die Bevölkerung vor allem der kleineren Städte dramatisch. Deindustrialisierung, Abwanderung, niedrige Fruchtbarkeit und extreme Überalterung nehmen in bestimmten, vor allem peripheren Räumen Japans Szenarien vorweg, die langfristig weiten Teilen des Landes außerhalb der Metropolen und Großregionszentren drohen. Im Gegensatz zu Mitteleuropa kann das Problem der Bevölkerungsverluste in Japan vorerst nicht durch Zuwanderungen entschärft werden. 491 Das Selbstverständnis eines ethnisch und sozial homogenen Landes sowie die damit verbundenen psychologischen Barrieren gegen eine Überfremdung sind dort sehr hoch, entsprechend restriktiv seine Einwanderungsgesetze. Stadtentwicklung Gesamt-Japan 2000–2005 Im Vergleich der wachstumsstarken Jahrzehnte zuvor beeindrucken vor allem zwei Tatsachen: erstens die landesweit viel größere Masse der Städte, die durch Schrumpfung gekennzeichnet ist, zweitens die eindrucksvolle Zunahme der Bevölkerung im Bereich der Metropolen, allen voran Tokyo. Was das Schrumpfen der Masse der Städte betrifft, so fällt auf, dass es sich zwar – wie schon in den Jahrzehnten zuvor – insbesondere um die kleine(re)n, peripher gelegenen Vertreter handelt. Betroffen sind fast alle Städte mit weniger als 200 000, aber auch einige größere mit bis zu 500 000 Einwohnern. Bevölkerungsverluste verzeichnen auch erstaunlich viele Präfekturhauptstädte (vgl. Abb. 7). Als regionale Zentren der Verwaltung, Wirtschaft und Kultur hatten diese in der Vergangenheit gewöhnlich eine positive Bevölkerungsbilanz, bedingt vor allem durch binnenregionale Zuwanderungen. Dieser Trend erscheint bei vielen gebrochen. Absoluten Rückgang weisen insbesondere die weniger großen Präfekturhauptstädte (200 000 bis 455 000 Einwohner) in der Peripherie auf, doch betroffen sind selbst größere am Rand der Metropolregionen. Bei allen diesen Städten, vor allem den größeren, könnte man vermuten, dass ihre Negativbilanzen auf Suburbanisierungsprozesse zurückgehen, auf eine Zunahme der Bevölkerung ihrer unmittelbar benachbarten Gemeinden. Dies ist jedoch in nur geringem Umfang der Fall. Das schwache Abschneiden all dieser Städte spiegelt die Realität wieder. Japans Peripherie: Schrumpfungsarena Hokkaido Die sich bereits seit den 1990er Jahren abzeichnende Polarisierung des Städtesystems in Hokkaido schlägt 2000 – 2005 voll zu Buche. Sieht man vom Ballungsraum Sapporo ab, verzeichnen alle Städte Negativbilanzen. Erstaunlich ist dies vor allem für Asahikawa (355 000 Einwohner), dem mit Abstand führenden Regionalzentrum Mittel-Hokkaidos, aber auch für alle weiteren größeren Solitärstädte. Ihre Schrumpfung hängt gene- 492 Winfried Flüchter: Wachstum und Schrumpfung in Ost- und Südostasien Abbildung 7 Bevölkerungsentwicklung der Städte Japans 2000–2005 Japan: Bevölkerungsentwicklung der Städte (shi) 2000–2005 8,5 bis 16,8 % 5,0 bis unter 8,5 % 3,0 bis unter 5,0 % 1,0 bis unter 3,0 % 0 bis unter 1,0 % < 0 bis über -1,0 % -1,0 bis über -3,0 % -3,0 bis über -5,0 % -5,0 bis über -8,5 % -8,5 bis -12,1 % Durchschnitt aller Städte: 1,0 % Wachstum Schrumpfung Japan gesamt: 0,7 % Einwohnerzahlen 2005 8 483 000 3 579 100 2 628 800 2 215 000 1 525 400 1 000 000 500 000 200 000 50 000 Präfekturgrenzen Gemeindegrenzen 0 100 km Bearbeitung: W. Flüchter Kartographie: H. Krähe Quelle: eigene Berechnungen nach Sômushô Tôkeikyoku (2005) rell mit der schwachen Wirtschaftsstruktur Hokkaidos und der im Vergleich zum Landesdurchschnitt zurückgebliebenen industriellen Entwicklung zusammen; zahlreiche industrielle Arbeitsplätze sind verlorengegangen. Ein weiterer Grund für den Rückgang dieser Städte liegt in der Anziehungs- kraft Sapporos als Magnet für Zuwanderer aus der gesamten Präfektur. In Bezug auf Hokkaido ist von der „Ein-Punkt-Konzentration auf Sapporo“ die Rede, in Anspielung auf die „Ein-Punkt-Konzentration auf Tokyo“ im Hinblick auf Gesamtjapan. Informationen zur Raumentwicklung Heft 8.2008 Die noch viel stärkere Schrumpfung der kleine(re)n Städte Hokkaidos bestätigt den anhaltenden Negativtrend. Schockierend ist die Situation im ehemaligen Steinkohlenrevier Sorachi, vor allem in Yûbari, der ehemals größten Zechenstadt der Region. Auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung hatte sie Anfang der 1960er Jahre 117 000 Einwohner. Seitdem schrumpfte sie bis 2007 auf 12 000, also um 90 % (!) in 45 Jahren. In dieser Stadt liegt der Anteil der Personen über 64 Jahre schon heute bei über 40 %, d. h. doppelt so hoch wie der ohnehin hohe Landesdurchschnitt von 20 %. Seit der Schließung der letzten Zeche 1990 fehlen die industriellen Arbeitsplätze. Die Bemühungen der Stadt um einen Strukturwandel in Richtung Tourismus konnten den Niedergang nicht aufhalten. 2006 musste die Gemeinde Konkurs anmelden und hängt seitdem am Tropf der Zentralregierung. Strukturell ähnliche Probleme weisen alle oben genannten ehemaligen Bergbaustädte Sorachis auf. Das Image ihrer Region ist schlecht. Die Bergbaugesellschaften als die dort entscheidenden Akteure zeigten keine sonderliche Verantwortung für ihre Arbeitskräfte, worüber diverse Zechenunglücke Aufschluss geben. Nach den Jahrzehnten des Booms zogen sie sich aus der Region zurück und hinterließen eine stark verunsicherte Bevölkerung. Der Leerstand noch bestehender Häuser ist unübersehbar, spiegelt aber nur unzureichend die anstehenden Probleme wider, da die große Masse der aus Holz gebauten Bergarbeiterreihenhäuser längst abgerissen wurde und die Natur sich ihre Freiräume zurückholt. Der japanische Staat hat dem regionalen Verfall nicht tatenlos zugesehen und schon früh Mittel zur Restrukturierung alter Bergbaugebiete bereitgestellt. Die staatliche Förderung sollte 2002 auslaufen, wurde aber für besonders notleidende Standorte – darunter auch für das Sorachi-Revier – bis 2007 verlängert. Es wird spannend sein zu verfolgen, wie in einer Region, die die Zukunftsprobleme großer Teile Japans schon heute wie in einem Brennglas spiegelt, die Schrumpfungs- und Alterungsprozesse bewältigt werden. Stadtplanerisch findet ein Rückzug aus der Fläche, ein Schrumpfen auf Kerncluster statt, um eine Basisinfrastruktur für die Ortsbevölkerung aufrechtzuerhalten. 493 Japans Metropolregionen zwischen Reurbanisierung und Schrumpfung Die eindrucksvolle Zunahme der Bevölkerung im Kern der Metropolen zeigt erstaunliche Reurbanisierung-Tendenzen der Metropolentwicklung, die sich bereits Ende der 1990er Jahre anbahnten. Diese neue Entwicklung kontrastiert mit der rapiden Suburbanisierung der Jahrzehnte zuvor (Abb. 8). Diese hatte zu einer erheblichen Zunahme der Bevölkerung in den Außengebieten, zu einem enormen Rückgang der Bevölkerung in der City („Wohnbevölkerungskrater“) und zu extrem aufwändigen Formen des Pendelns geführt. Vorreiter der neuen Entwicklung ist Tokyo, wo die 23 Stadtbezirke (2005: 8,5 Mio. Einwohner) im Jahrfünft 2000 – 2005 eine beachtlich positive Bilanz aufweisen (Abb. 8 unten). Am stärksten ausgeprägt ist dieser Prozess in den drei zentralen Stadtbezirken Chûôūō, Minato und Chiyoda, in den tiefsten Stellen des „Wohnbevölkerungskraters“. Parallel zu dieser Entwicklung wachsen die Städte am Rand der Metropolregion nur noch gering, nicht wenige nehmen sogar ab. Verschiedene Ursachen erklären diesen Reurbanisierungstrend: (1) Der Rückgang der Grundstückspreise landesweit (Folge der langdauernden Rezession bzw. Deflation), insbesondere aber im Kern der Metropolen, macht den lange typischen Erwerb eines Eigenheims in immer größerer Distanz zum Zentrum hinfällig; (2) staatliche, präfekturale und stadtbezirkliche Maßnahmen zur Erhöhung des innerstädtischen Wohnungsangebots – vor dem Hintergrund des Leitbilds der vertikalen, kompakten, multifunktionalen Stadt; (3) die Nachfrage unterschiedlicher Klientels (Singles und berufstätige Paare sowie ältere gutsituierte Menschen) nach innenstadtnahen, urbanen Wohnstandorten als Alternative zu Suburbia11. Forciert wurde dieser Prozess (4) durch das 2002 erlassene und auf zehn Jahre befristete Gesetz über „Sondermaßnahmen zur städtischen Revitalisierung in den Metropolregionen“. Fazit Die japanische Bevölkerung ist eine Großstadtgesellschaft, die zu 21 % in Millionenstädten, zu 48 % in Städten über 200 000 Einwohnern lebt. Urbanität und Vitalität kennzeichnen die großen japanischen Städte. Jüngste Herausforderungen wie Rezession, Deflation, Rückgang der Bevölke- 494 Winfried Flüchter: Wachstum und Schrumpfung in Ost- und Südostasien Abbildung 8 Metropolregionen Tokyo, Nagoya, Osaka: Bevölkerungsentwicklung 1960 – 2000, 2000 – 2005 450 bis 1 397 % 1960–2000 280 bis unter 450 % 180 bis unter 280 % 100 bis unter 180 % 52,1 bis unter 100 % 25 bis unter 52,1 % 0 bis unter 25 % <0 bis über -15 % Durchschnitt aller Städte: 52,1 % Einwohnerzahlen 2000 8 130 400 Japan gesamt: 34,4 % Wachstum 3 426 500 2 598 600 2 171 400 1 493 600 1 249 900 500 000 200 000 50 000 Schrumpfung -15 bis über -35 % -35 bis über -60 % Präfekturgrenzen Gemeindegrenzen -60 % Bearbeitung: W. Flüchter Ka rtographie: H. Krähe 0 10 km 0 30 km 0 30 km 30 km 0 30 km 2000–2005 8,5 bis 35,3 % 5,0 bis unter 8,5 % 3,0 bis unter 5,0 % Einwohnerzahlen 2005 Wachstum 8 483 000 1,0 bis unter 3,0 % Durchschnitt aller Städte: 1,0 % 0 bis unter 1,0 % Japan gesamt: 0,7 % <0 bis unter 1,0 % -1,0 bis über -3,0 % Schrumpfung 3 579 100 2 628 800 2 215 000 1 525 400 1 000 000 500 000 200 000 50 000 -3,0 bis über -5,0 % -5,0 bis -7,7 % Präfekturgrenzen Gemeindegrenzen Bearbeitung: W. Flüchter Kartographie: H. Krähe 0 10 km 0 Quelle: eigene Berechnungen nach Sômushô Tôkeikyoku (alle 5 Jahre, zuletzt 2000) Informationen zur Raumentwicklung Heft 8.2008 495 rung und Alterung der Gesellschaft haben die Vorliebe der Japaner(innen) für Urbanität nicht in Frage stellen können. Von „schrumpfenden Städten“ ist im öffentlichen Bewusstsein kaum die Rede, wohl aber von „Schrumpfenden, ausgedünnten Gebieten“ (kaso chiiki) im Sinne der ländlichen Peripherie. Die Recherchen zur Stadtentwicklung bestätigen diesen Befund weitgehend – vorausgesetzt, man nimmt speziell die größeren Städte ins Visier und betrachtet die Städte in Ballungsräumen nicht isoliert, sondern im Kontext von Metropolregionen, Suburbanisierungs- und Reurbanisierungsprozessen. Angesichts des rapiden Bevölkerungsrückgangs und der Alterung der Gesellschaft landesweit werden schrumpfende und alternde Städte in Japan zwar als Problem zur Kenntnis genommen, aber noch nicht dermaßen als Herausforderung empfunden, dass nun Handlungsstrategien angesagt wären. „Wandel ohne Wachstum“ war in Japan bisher nicht vorstellbar, erscheint politischpraktisch (noch) nicht akzeptabel. Über das Thema Schrumpfung und Alterung schwebt Pessimismus. Der Rückzug des Staates aus der Fläche zugunsten räumlicher Verdichtung und Sicherung einer angemessenen Infrastruktur steht noch aus. Die Schrumpfung der Städte in Japan findet räumlich sehr selektiv statt. Wachstums- und Schrumpfungsregionen können dicht nebeneinander liegen. Die Frage nach dem Warum der Schrumpfung ist eng mit der Frage nach dem Wo gekoppelt. In den außermetropolitanen Räumen geht Schrumpfung fast immer mit Deindustrialisierung, Abwanderung junger Leute und Alterung der Gesellschaft einher. Dies gilt nachdrücklich für monostrukturierte Industrie-, insbesondere Bergbaureviere, deren Bevölkerung nach Schließung der Betriebe vor großen Problemen steht. In den Metropolregionen dagegen haben Suburbanisierungsprozesse über Jahrzehnte hinweg zur Ausdünnung der Bevölkerung im Kern der Metropolen geführt. Dieser Trend hat sich zugunsten von Reurbanisierungsprozessen dahingehend umgekehrt, dass in Zukunft nicht mehr die Kerne, sondern die Ränder der Metropolen unter Schrumpfungserscheinungen leiden. Die verantwortlichen Akteure (aus den Bereichen Politik, Ministerialbürokratie, Wirtschaft, Medien) werden sich deutlicher als bisher klarmachen müssen, dass die goldenen Jahrzehnte von Zuwachs und Entwicklung vorbei sind. In Schrumpfungsgebieten müsste der Stadtumbau der Zukunft sinnvollerweise zum Stadtrückbau werden. Schrumpfung könnte der auf engem Raum siedelnden Wohlstandsgesellschaft Japans mehr Lebensqualität bescheren, z. B. eine Entlastung des Wohnungsmarkts, erhöhte städtische Lebens- und Wohnqualität durch neu entstehende Freiflächen, ökologische Potenziale zur Verbesserung der Umweltqualität. So gesehen bedeutet Schrumpfung in Japan nicht nur Risiken, sondern auch Chancen. Um diese voll auszuschöpfen, ist in Planung und Entwicklung ein Paradigmenwechsel von Wachstum zu Schrumpfung dringend nötig. Dies gilt für weite Teile der Welt, auch für Deutschland. Hier, insbesondere im Hinblick auf Ostdeutschland, scheinen Bewusstsein und Handlungssstrategien, wiewohl immer noch wachstumsorientiert, bezüglich der Risiken und Chancen der Schrumpfung im Verhältnis zu Japan relativ fortgeschritten.12 496 Winfried Flüchter: Wachstum und Schrumpfung in Ost- und Südostasien Anmerkungen (1) Akamatsu, K.: A historical pattern of economic growth in developing countries. The Developing Economies, Preliminary Issue (1962) Nr. 1, S. 3-25; Kim, K.-H.: Development Dynamics in East Asian Capitalism. Asian Perspective 18 (1994), Nr. 1: 66 – 85 (2) Die regionale Unterteilung Chinas in 22 Provinzen, fünf autonome Gebiete, vier regierungsunmittelbare Städte und zwei Sonderverwaltungszonen (Hongkong, Macau) betrifft Regionen, die im „Gänseflug-Modell der industriellen Entwicklung“ auf dem zweiten (Shanghai) oder dritten (u. a. Beijing, Zhejiang), aber auch fünften Rang vorstellbar wären (u. a. Tibet, Guizhou). (3) Katzenstein, P.; Shiraishi, T. (eds). Beyond Japan: The Dynamics of East Asian Regionalism. – Ithaca, London 2006 (4) Flüchter, W.: Bedeutung und Einfluss Japans in Ostund Südostasien. Friedliche Neuauflage der „Großostasiatischen Sphäre Gemeinsamen Wohlstands“? Geogr. Rundschau 48 (1996) H. 12, S. 702 –709 (5) Katzenstein, P.; Shiraishi, T. (eds). Beyond Japan, a. a. O. (6) The CIA World Factbook auf der Grundlage der jahresspezifischen Fruchtbarkeit 2007. Der sonst hier zitierte United Nations World Population Prospect Report liefert keine Daten zu Taiwan. (7) Birg, H.: Die Weltbevölkerung. Dynamik und Gefahren. – München 1996. = Beck’sche Reihe 2050, S. 80 (8) Hondrich, K.O.: Weniger sind mehr. Warum der Geburtenrückgang ein Glücksfall für unsere Gesellschaft ist. – Frankfurt, New York 2007; S. 28 ff. (9) Scharping, T.: The politics of numbers: Fertility Statistics in Recent Decades. In: Transition and challenge. China’s population at the beginning of the 21th century. Hrsg.: Zhao, Z.; Guo, F. – Oxford 2007, S. 34-53 (52); England, R.S.: Aging China. ��������������������������������� The demographic challenge to China’s economic prospects. – Westport/Ct. 2005, S. 36 (10) Terrel, H.K.M.: Fertility in China 2000: A County Level Analysis. – Texas A&M University 2005, S. 97 ff. (http:// txspace.tamu.edu/bitstream/handle/1969.1/3892/etdtamu-2005A-SOCI-Terrell.pdf;jsessionid=68DDD3E66D C59D7A57D9210289E03853?sequence=1) (11) Hohn, U.: Trend zur Reurbanisierung. Renaissance innerstädtischen Wohnens in Tõkyõ. Geogr. Rundschau 54 (2002), S. 4–11 (12) Flüchter, W.: Shrinking Cities in Japan and Germany: A Comparative View. In: The future of the periphery? A European-Japanese symposium on forgotten territories in Japan and Europe. Hrsg.: Kunzmann, K. – München 2008 (im Druck) Weitere Literatur Flüchter, W.: Schrumpfende Städte in Japan – Megalopolen und ländliche Peripherie. In: Schrumpfende Städte. Bd. 1: Internationale Untersuchung. Hrsg.: Oswalt, P. – Ostfildern-Ruit 2004, S. 82–92 Kramer, C.: Bevölkerungsexplosion und schrumpfende Gesellschaften. Münchner Wissenschaftstage 2005 (http:// www.muenchner-wissenschaftstage.de/mwt2005/contente/e160/e707/e728/e929/filetitle/BevlkerungsexplosionundschrumpfendeGesellschaften_Folien_klein_ger.pdf)