Wachstum und Schrumpfung in Ost

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Wachstum und Schrumpfung in Ost
Informationen zur Raumentwicklung
Heft 8.2008
485
Wachstum und Schrumpfung in Ost- und
Südostasien
Winfried Flüchter
Herausforderungen des demographischen Wandels im
Zeichen des „Gänseflug-Modells“? Japan als Trendsetter
neuer urbaner Entwicklungen?
Das von dem japanischen Nationalökonom
Kaname Akamatsu in den 1930er Jahren
konzipierte und in den 1960er Jahren revitalisierte „Gänseflug-Modell der industriellen Entwicklung“ (sangyô hatten no gankôō
keitairon) wurde seit den späten 1980er Jahren im Zuge der forcierten Globalisierung
der japanischen Unternehmen ein vieldiskutierter Ansatz zur Erklärung wirtschaftlicher Aufholprozesse der Länder Ost- und
Südostasiens.
Hintergrund dieses vor allem in Japan lange
populären Ansatzes ist die Produktzyklustheorie der internationalen Arbeitsteilung.1
Entsprechend dem Lebenszyklus eines
standardisierten Produkts (Einführungs-,
Wachstums-, Reife-, Sättigungsphase) erfolgt der Entwicklungsprozess einer Volkswirtschaft nach folgendem Muster: 1. Import (aus wirtschaftlich fortgeschritteneren
Ländern), 2. Importsubstitution (durch
zunehmende Eigenproduktion), 3. Export
(durch kräftiges Produktionswachstum über
den Eigenbedarf hinaus), 4. Import (Übernahme der Standardproduktion durch weniger entwickelter Länder, im eigenen Land
Konzentration auf höherwertige Produkte).
International übertragen auf die Staaten
Ost- und Südostasiens bedeutet der „Gänseflug-“ oder „Flying geese“-Ansatz, dass
Japan als „Leitgans“ des Subkontinents
durch technologische Innovation neue Zyklen hervorbringt und die Nachbarländer
nach dem Konzept des „aufholenden Produktzyklus“ phasenverschoben folgen. In
dieser Aufholjagd fliegen hinter der „Leitgans“ Japan die asiatischen Zugvögel in
folgender Hierarchie (Abb. 1): 2. ANICs
(Asian Newly Industrialized Countries), d. h.
die „Kleinen Tiger“ als Schwellenländer
auf dem Weg zu Industrieländern: Taiwan,
Südkorea, Singapur, Hongkong (Letzte-
Abbildung 1: Das asiatisch-pazifische Gänseflug-Modell wandernder
komparativer Kostenvorteile
Zeit
W
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er
Re
gio
Wachstum und Schrumpfung verschiedener Industriebranchen
in einem Land / einer Region –
Korrelation von wirtschaftlichem wohlstand und Schrumpfung /
Alterung der Bevölkerung
1 Das „Gänseflug-Modell“: Japan
als ökonomische „Leitgans“
pazifisch-asiatischer Zugvögel?
n
Niedrige Entwicklungsstufe
ASEAN 2
Vietnam
Kambodscha
Laos
Myanmar
Mikroelektronik
Auto
Stahl
Chemie
Textil
Hohe Entwicklungsstufe
China
ASEAN 1
Thailand
Malaysia
Philippinen
Indonesien
ANICs
Taiwan
Südkorea
Singapur
Hongkong
Japan
Gänseflug-Modell
Entwurf: Harald Krähe
Winfried Flüchter
Quelle: eigener Entwurf, erweitert/verändert nach Yamazawa, I.: Economic Integration in the
Asia-Pacific Region. – London et al. 1998
res seit 1997 Sonderverwaltungszone der
Volksrepublik China ); 3. ASEAN 1, d. h. die
dynamischen Entwicklungsländer der Association of Southeast Asian Nations auf dem
Weg zu Schwellenländern: Malaysia, Thailand, Philippinen, Indonesien; 4. China: Die
Einstufung auf Rang 4 betrifft das Land als
Gesamtheit, spiegelt nur sehr unvollkommen seine ökonomische Heterogenität 2,
5. ASEAN 2: ehemalige sozialistische Länder als ASEAN-Neumitglieder (erst seit
Mitte der 1990er Jahre): Vietnam, Kambodscha, Laos, Myanmar. Diese Reihenfolge ist
konstruiert und gibt die Situation Ende der
1990er Jahre wieder.
Ziel dieses Beitrags ist es, vor dem Hintergrund dieses außenwirtschaftsorientierten
Prof. Dr. Winfried Flüchter
Univ. Duisburg-Essen
Institut für Ostasienwissenschaften
Lotharstraße 65
47048 Duisburg
E-Mail:
[email protected]
486
Winfried Flüchter: Wachstum und Schrumpfung in Ost- und Südostasien
Abbildung 2
Gänseflug-Formation: Idee und Wirklichkeit
Taiw an
Südk orea
Hongk ong
Singapur
Thailand
Mala ysia
Indonesien
Philippinen
China
Modells dem demographischen Wandel der
Staaten und Städte(regionen) Ost- und Südostasiens nachzugehen. Im Spannungsfeld
zwischen Wachstum, Schrumpfung und Alterung fragt er erstens, ob Japan „Leitgans“
einer pazifisch-asiatischen „GänseflugFormation“ nicht nur im Hinblick auf wirtschaftliche, sondern auch auf demographische Aufhol- und Modernisierungsprozesse
ist, und zweitens, ob das Inselreich auch
Trendsetter für schrumpfende Städte und
Reurbanisierung ist.
Vietnam
Myanmar
Laos
Kambodscha
Japan
a) In manchen Lehrbüchern dargestellte Gänseflug-Formation mit der „Leitgans“ Japan
Positionswechsel bei der Leitgans?
b) Hinterfragung einer „Leitgans“ aus ornithologischer Sicht: Zugvögel fliegen in energiesparender
V-Formation. An der Spitze sind keine Leittiere (alle Vögel haben den gleichen Orientierungssinn),
sie ermüden und müssen sich regelmäßig abwechseln! Falls der führende Vogel einmal vom Kurs
abweicht, kann es sein, dass der Schwarm aus der Mitte heraus die Richtung ändert.
Quellen:Böhn, D. u. a. (Hrsg.): Mensch und Raum, Geographie. Der asiatisch-pazifische
Raum. – Berlin 2001, S. 38 (a); Rheinische Post v. 21.10.2006 (Photo: NABU) (b);
Bearbeitung: W. Flüchter, H. Krähe
Abbildung 3
Bruttosozialprodukt pro Kopf in den Ländern Ost- und Südostasiens – 2004
Japan
37050
Nordkorea
k.A.
Südkorea
14 000
VR China
1 500
Taiwan
14 770
Myanmar
k.A.
Laos
Philippinen
390
1 170
Thailand
Vietnam
2 490
540
350
Zum Vergleich:
30690 Deutschland
41440 USA
BSP pro Kopf nach Ländern
in Zahlen:
1170 (US$)
in Flächenfarben:
niedrig
hoch
Kambodscha
Brunei
k.A.
Malaysia
4 520
24 760
Singapur
1 140 Indonesien
550
Osttimor
Quelle: Fischer Weltalmanach 2007; Bearbeitung: W. Flüchter, H. Krähe
0
1000 km
Das „Gänseflug-Modell hat seinen Reiz dadurch, dass es erstens nachholende Entwicklung in hierarchischen Etappen (staats)
räumlich veranschaulicht, zweitens Beziehungen zwischen Binnenentwicklung und
Außenverflechtung herstellt sowie drittens
den asiatischen Schwellen- und Entwicklungsländern, denen der Aufstieg Japans
zur Weltwirtschaftsmacht als Vorbild dient,
Zukunftsperspektiven eröffnet. Es war in
wirtschaftswissenschaftlicher Theorie und
Praxis von Beginn an nicht unumstritten 3,
auch geopolitisch brisant. In den Nachbarstaaten regten sich Befürchtungen wegen
einer Neuauflage der vorkriegszeitlichen
„Großostasiatischen Sphäre Gemeinsamen
Wohlstands“ unter der Ägide Japans unter
veränderten Bedingungen.4 Bis in die 1990er
Jahre ging man aufgrund der starken Auslandsdirektinvestitionen des Inselreichs und
der Netzwerkbildung seiner Keiretsu (verflochtene Großunternehmen) in Ost- und
Südostasien von der Entwicklung eines auf
Japan ausgerichteten Aufholprozesses aus.
Diese Ansicht hat sich nach dem Platzen
der japanischen „Seifenblasenwirtschaft“
(bubble economy) 1991/92 verändert. Während Japan seit Mitte der 1990er Jahre durch
ein „verlorenes Jahrzehnt“ relativ zurückgeworfen wurde, verzeichnete China aufsehenerregende Wirtschaftserfolge.
Die „Leitgans“ ist relativ (vor allem im Vergleich zu China) müde geworden. Dies
steht ihr nicht nur ökonomisch, sondern
auch ornithologisch zu (Abb. 2). Das Gänseflug-Modell lässt in seiner graphischen Gestaltung die Realität außer Acht. Zugvögel
haben in Wirklichkeit keine „Leitgans“, sondern wechseln sich an der Spitze einer energiesparenden V-Formation regelmäßig ab,
um sich zu erholen. Wird in Zukunft China
Japan an der Spitze ablösen? Werden zwei
Leitgänse die Richtung bestimmen? Gibt es
Informationen zur Raumentwicklung
Heft 8.2008
in der ökonomischen Hierarchie Ostasiens
überhaupt noch eine Dominanz? Spricht
man angesichts der starken ökonomischen
Prägung des Subkontinents durch Auslandsdirektinvestitionen (nicht nur japanischer,
sondern auch auslandschinesischer, amerikanischer und sonstiger Provenienz) nicht
besser von seiner „Hybridisierung“5? Wie
stark auch immer die Spekulationen um diese Fragen ins Kraut schießen, so bleibt doch
festzuhalten: Japan ist trotz zwischenzeitlicher Ermüdungserscheinungen die mit
Abstand bedeutendste Wirtschaftsmacht
des Subkontinents und stellt immerhin noch
etwa 60 % des Bruttosozialprodukts aller
Länder Ost- und Südostasiens. Sein Bruttosozialprodukt pro Kopf (Abb. 3, 4 a) liegt mit
37 060 US$ fast dreimal höher im Vergleich
zu den nächstfolgenden Flächenstaaten der
Kleinen Tiger (Taiwan und Südkorea) und
selbst noch ein Drittel höher im Vergleich
zum Stadtstaat Singapur. Weit abgeschlagen
folgen dahinter die ASEAN 1-Länder Malaysia und Thailand, dann China, die Philippinen und Indonesien und ganz am unteren
Ende schließlich mit Ost-Timor, Vietnam,
Laos und Kambodscha Staaten, deren Bruttosozialprodukt pro Kopf im Durchschnitt
nur 1,3 % des japanischen Wertes ausmachen. Gemessen nach dem Bruttosozialprodukt pro Kopf in Kaufkraftparitäten
(Abb. 4 b) bleibt diese Reihenfolge unverändert, wenngleich die Unterschiede zwischen Japan (29 614 US$) und den folgenden pazifisch-asiatischen Zugvögeln längst
nicht mehr so deutlich ausfallen – Singapur
folgt Japan ziemlich dicht auf den Fersen,
der Abstand zu Taiwan und Südkorea beträgt nur noch ein Drittel, die Länder am
unteren Ende verzeichnen im Durchschnitt
nun immerhin 7,6 des japanischen Wertes.
Legt man den Human Development Index
als Mischung ökonomischer und sozialer
Kriterien zugrunde (Abb. 4 c), bestätigt sich
dieser Befund. Unter den 193 gewichteten
Staaten nimmt Japan mit Rang 11 die absolut führende Position unter den Ländern
Ost- und Südostasiens ein, gefolgt von den
Kleinen Tigern Singapur (25) und Südkorea (28), weit dahinter die ASEAN 1-Länder
Malaysia, Thailand und die Philippinen
(Ränge 61– 84) sowie China (85), abgeschlagen die Gruppe Vietnam, Indonesien,
Myanmar, Kambodscha, Laos und OstTimor (Ränge 108 –140). Fazit: Das außenwirtschaftsorientierte
„Gänseflug-Modell
der industriellen Entwicklung“ lässt sich im
Hinblick auf Kriterien des Wohlstands mehr
oder weniger bestätigen.
487
Abbildung 4
Wirtschaftskraft und Human Development Index der ost- und südostasiatischen Länder im Vergleich – 2004
a) Bruttosozialprodukt pro Kopf 2004 (US$)
0
5 000
10 000
15 000
20 000
25 000
30 000
BSP pro Kopf (US $ )
35 000
40 000
USA
41 440
37 060
Japan
30 690
Deutschland
24 760
Singapur
Taiwan
Südkorea
14 770
14 000
4 520
Malaysia
2 490
1 500
1 170
1 140
550
540
390
350
Thailand
VR China
Philippinen
Indonesien
Ost-Timor
Vietnam
Laos
Kambodscha
Quelle: Fischer Weltalmanach 2007
b) Bruttosozialprodukt pro Kopf in Kaufkraftparitäten 2004 (PPP$)
0
5 000
10 000
15 000
20 000
25 000
30 000
BSP pro Kopf (PPP$)
35 000
40 000
USA
39 624
29 614
Japan
Deutschland
Singapur
Taiwan
Südkorea
28 168
27 372
?
20 526
Malaysia
9 715
7 933
Thailand
VR China
5 885
4 946
Philippinen
Indonesien
Ost-Timor
Vietnam
Kambodscha
Laos
3 485
?
2 702
2 311
1 878
Quelle: Fischer Weltalmanach 2007
c) HDI(Human Development Index)-Rang 2004 unter 193 Staaten
• Lebenserwartung
• Alphabetisierungsgrad der Erwachsenen
• Kaufkraft pro Kopf
10
11
USA
Japan
20
Deutschland
25
28
Singapur
Südkorea
61
Malaysia
73
Thailand
84
85
Philippinen
VR China
108
110
Vietnam
Indonesien
130
133
Kambodscha
Laos
140
Ost-Timor
Quelle: Fischer Weltalmanach 2007
??
Taiwan
??
Nordkorea
488
Winfried Flüchter: Wachstum und Schrumpfung in Ost- und Südostasien
2 Gilt die „Gänseflug-Formation“
auch als Modell für demographische Entwicklungen?
schwächt auch für Malaysia. Alles in allem
geht der Rückgang der Bevölkerung mit zunehmendem Wohlstand der einzelnen Staaten einher.
Ist Japan auch in Bezug auf demographische
Aufholprozesse „Leitgans“ einer pazifischasiatischen „Gänseflug-Formation“? Diese
Frage mag auf den ersten Blick Stirnrunzeln
auslösen, lässt sich aber gut nachvollziehbar mit einem „Ja“ beantworten. Die Fakten:
Entscheidend für die langfristige demographische Entwicklung eines Landes ist die
Totale Fruchtbarkeitsrate (TFR), d. h. die
durchschnittliche Zahl von Kindern, die
eine Frau im Alter von 15 bis 49 zur Welt
bringt (2,1: Sicherung der Reproduktion).
Die Statistiken bringen überraschende Aufschlüsse. Im Jahr 2004 wird Japan mit einer
TFR von 1,3 von Taiwan (1,1), Südkorea und
Singapur (je 1,2) noch übertroffen (Abb. 5d).
Im Vergleich der Jahrfünfte 2000 – 2005 und
2005 – 2010 (mittlere Annahmen) wird die
„Leitgans“ Japan auf Platz 184 unter den 195
aufgeführten Staaten überholt (allerdings
nur knapp) von allen Kleinen Tigern. Diese
nehmen nicht nur in Ost- und Südostasien,
sondern weltweit Spitzenwerte ein. Die folgenden Daten zeigen die Fakten und Trends
der Perioden 2000 – 2005 und 2005 – 2010:
In keinem Land nicht nur Ost- und Südostasiens, sondern weltweit ist die Lebenserwartung bei der Geburt (Abb. 5a) so hoch
wie in Japan (82,0 Jahre). Allerdings folgt der
Stadtstaat Singapur (81,8 Jahre) sehr dicht
auf den Fersen, mit Abstand vor Taiwan und
Südkorea (77–78 Jahre), dahinter China,
Malaysia, Thailand, Vietnam (72,9 –70,2 Jahre) in Gruppe vier, am Schluss die übrigen
Staaten in der bekannten Reihenfolge. Im
Vergleich zu den bisherigen Kriterien sind
China und Vietnam in der Lebenserwartung
um eine Rangstufe von vier nach drei aufgestiegen, was aber die Folge der „Zugvögel“
nicht wesentlich in Frage stellt. Sehr ähnlich ist die Einstufung im Hinblick auch auf
die Altersstruktur (Abb. 5b). Der Anteil der
Alterskohorte 65 plus beträgt in Japan bereits über 20 % an der Gesamtbevölkerung,
also mehr als doppelt so viel wie in Taiwan
(10 %), Südkorea (9 %), China (8 %) und so
fort.
In Bezug auf das Bevölkerungswachstum
1994–2004 (Abb. 5c) ist Japan das Land mit
der mit Abstand geringsten Bevölkerungszunahme (0,2 %) – seit 2005 ist der Höhepunkt der Einwohnerzahl mit 127,8 Mio.
bereits überschritten und die Bilanz rückläufig! Weit dahinter rangieren an zweiter
Stelle Südkorea und Taiwan (je 0,7 %) und
erstaunlicherweise auch China (0,8 %) –
Ost-Timor (0,5 %) ist in dieser Gruppe aufgrund der desolaten Zustände vor und nach
der Staatsgründung 1998 ein Ausreißer. Es
folgen auf Stufe drei Thailand, Myanmar,
Indonesien und Vietnam (1,0 –1,5 %), dahinter als letzte Gruppe (2,0 –2,4 %) so verschiedenartige Länder wie die Philippinen,
Kambodscha, Laos, Malaysia und merkwürdigerweise auch der Stadtstaat Singapur. Dieser ist ein Magnet für Zuwanderer,
wodurch sich die unerwartete Höhe des
Bevölkerungswachstums erklärt; die natürliche Bevölkerungsbewegung beträgt nur
1,27 %. Der Zuwanderungsaspekt gilt abge-
Als „Leitgänse“ präsentieren sich Taiwan
(1,76 → 1,12) 6 und Südkorea (1,24 → 1,21),
sieht man von Macau (0,84 → 0,91) und
Hongkong (0,94 → 0,97) ab, die als Stadtterritorien nicht vergleichbar sind. Mit in
dieser Spitzengruppe „fliegen“ in nur geringem Abstand Japan (1,29 → 1,26) und Singapur (1,35 → 1,26). Deutlich dahinter rangieren in Gruppe zwei China (1,70 → 1,73)
und Thailand (1,83 → 1,85), ferner in Gruppe drei Myanmar (2,25 → 2,07), Vietnam
(2,32 → 2,14) und Indonesien (2,38 → 2,18).
In der Schlussgruppe findet sich erstaunlicherweise auch Malaysia (1,87 → 2,60)
vor Laos (3,59 → 3,21), den Philippinen
(3,54 → 3,23) und dem „Ausreißer“ OstTimor (6,96 → 6,53).
Diese Daten bestätigen cum grano salis das
demographisch-ökonomische
Paradoxon:
die umgekehrte Korrelation zwischen Wohlstand und Fruchtbarkeit. Die traditionelle,
von Malthus beeinflusste Vorstellung, mehr
Wohlstand führe automatisch zu mehr Kinderreichtum, wird auf den Kopf gestellt, erscheint paradox. Dagegen steht der schon
lange zu beobachtende Trend, dass in Ländern mit höherem Bruttosozialprodukt pro
Kopf immer weniger Kinder geboren werden (obwohl ihre immer reicher werdende
Bevölkerung sich diese umso mehr leisten
könnte). Die Gründe für diese Reaktion
sind mannigfaltig: zunehmende Lebenserwartung, abnehmende Kindersterblichkeit,
Informationen zur Raumentwicklung
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Abbildung 5
Bevölkerungsdaten Ost- und Südostasiens
a) Lebenserwartung bei der Geburt 2007
0
5
10
15
20
25
30
35
40
b) Altersstruktur 2005
45
50
55
Japan
Singapur
Deutschland
USA
Taiwan
Südkorea
Brunei
VR China
Malaysia
Thailand
Nordkorea
Vietnam
Philippinen
Indonesien
Ost-Timor
Myanmar
Kambodscha
Laos
60
65
70
75
80
85
55,9
0
5
10
15
20
25
30
35
40
45
50
55
60
65
70
75
80
0
10
20
0
10
20
30
40
50
60
70
30
40
50
60
70
80
9 0 100 %
80
9 0 100 %
Laos
Ost-Timor
Kambodscha
Philippinen
Malaysia
Vietnam
Brunei
Myanmar
Indonesien
Thailand
Nordkorea
VR China
USA
Singapur
Südkorea
Taiwan
Japan
Deutschland
82,0
81,8
79,0
78,0
77,6
77,2
75,3
72,9
72,8
72,6
71,9
71,1
70,5
70,2
66,6
62,5
61,3
85
0–1 4
Quelle: www.cia.gov/cia/publications/factbook/rankorder/2102rank.html
© W. Flüchter /H . Krähe
1 5–6 4
65 plus
Quelle: http://www.adb.org/Documents/Books/Key_Indicators/2006/pdf/rt07.pdf;
www.welt-auf-einen-blick.de/bevoelkerung/altersstruktur-2005.php
© W. Flüchter / H . Krähe
c) Bevölkerungswachstum 1994–2004
0
1,0
2,0
d) Fruchtbarkeitsrate 2004
3,0 %
Singapur
Laos
2,4
2,4
Malaysia
0
1,0
Zahl der Kinder pro Frau
2,0
3,0
4,0
6,0
7,0
8,0
7,8
2,3
Kambodscha
2,2
Philippinen
2,0
Laos
4,6
Kambodscha
Vietnam
4,0
1,5
Indonesien
1,3
Philippinen
3,1
Malaysia
1,0
1,0
Thailand
USA
VR China
0,8
Taiwan
Südkorea
0,7
0,7
Ost-Timor
Japan
Deutschland
5,0
Ost-Timor
0,5
0,2
0,2
2,8
Indonesien
2,3
2,0
1,9
1,8
1,8
USA
Thailand
VR China
Vietnam
Deutschland
Japan
Singapur
Südkorea
Taiwan
1,4
1,3
1,2
1,2
1,1
Quelle: Fischer Weltalmanach 2007
höhere Bildung, längere Ausbildung und
spätere Elternschaft, größere Unabhängigkeit und berufliche Selbständigkeit der
Frau, Urbanisierung und Ansprüche, deren
Kosten im Hinblick auf den Nachwuchs oft
als (vermeintlich) hoch empfunden werden
(für Bildung, Kleidung, Essen, Geselligkeit)
– Phänomene, die auf wachsenden Wohlstand zurückgehen und dem Modell des
demographischen Übergangs entsprechen,
also der Annahme, dass der Rückgang der
TFR mit dem Grad der sozioökonomischen
Entwicklung parallel läuft. Damit korrespondieren hohe TFRs in den Entwicklungsländern, deren Gesellschaften auf Kinder
Quelle: Fischer Weltalmanach 2007
angewiesen sind (Arbeitskräfte, Altenpflege)
und deren Frauen über geringere Bildung
verfügen, wenig(er) Zugang zu Methoden
der Empfängnisverhütung haben und beruflich wenig(er) in Anspruch genommen
sind.
Schreckensvisionen einer „Wohlstandsfalle“7 mit der Annahme, dass Vergreisung,
Kinderlosigkeit und Schrumpfung in den
Untergang der Gesellschaft führen, kontrastieren mit der Auffassung, dass „weniger mehr sind“ und der Geburtenrückgang
sogar als „Glücksfall“ für die jeweilige Gesellschaft gelten kann.8 Typischerweise sind
490
Winfried Flüchter: Wachstum und Schrumpfung in Ost- und Südostasien
es weltweit, von Ausnahmen wie den USA
abgesehen, die wirtschaftlich-industriell
dynamischsten Länder, deren TFR tief unter die magische Idealnorm gesunken ist.
Global „konkurrieren“ Europa und Ostasien um die niedrigsten TFRs. In Europa
gibt es zahlreiche Länder mit einer TFR
von weniger als 1,3. Es sind einerseits fast
alle ehemals sozialistischen bzw. neu aus
diesen hervorgegangenen Staaten (Ränge
191–179 von 195 UN-erfassten Ländern):
Bosnien-Herzegowina, Tschechien, Slowenien, Litauen, Lettland, Ukraine, Bulgarien,
Slowakei, Polen, Rumänien, Ungarn. Ihre
transformationsbedingte
Sonderstellung
hebt die Bedeutung des demographischökonomischen Paradoxons nicht auf. Unter
dem Wert von 1,3 bleiben in Europa andererseits auch traditionelle Länder mit überwiegend katholischer Bevölkerung wie Italien und Spanien (Ränge 173 und 169, vgl.
Deutschland Rang 175, TFR 1,35).
Für Ostasien stellt sich die spannende Frage, wie lange es noch dauert, bis China in
der Rangstufung nach TFRs aus der Gruppe zwei in die Spitzengruppe vorstößt. Das
Land ist mit 1,3 Mrd. Menschen das mit Abstand bevölkerungsreichste der Erde. Umso
30
Sterberate ( )
25
20
15
Osteuropa
35
Nordeuropa
Westeuropa
Südeuropa
( )
Nordamerika
Geburtenrate
40
Ostasien
45
Südliches Zentralasien
Westasien
Nordafrika
Südafrika
Zentralamerika
Südostasien
Südamerika
Karibik
Ozeanien
Geburtenrate/
Sterberate (‰)
50
Ostafrika
Westafrika
Zentralafrika
Abbildung 6
Modell des demographischen Übergangs nach Großregionen 2003
10
5
0
Phase 1
Prätransformativ
Phase 2
Frühtransformativ
Phase 3
Mitteltransformativ
Phase 4
Phase 5
Spättransformativ
Posttransformativ
Quelle: Kramer, C.: Bevölkerungsexplosion und schrumpfende Gesellschaften. Münchner
Wissenschaftstage 2005, Powerpoint Präsentation, Chart 11 (www.muenchner-wissenschaftstage.de/mwt2005/contente/e160/e707/e728/e929/filetitle/BevlkerungsexplosionundschrumpfendeGesellschaften_Folien_klein_ger.pdf) nach Husa/Wohlschlag 2003, S. 106, Daten:
World Population Data Sheer 2003; Husa, K.; Wohlschlägl, H.: Südostasiens „demographischer Übergang“: Bevölkerungsdynamik, Bevölkerungsverteilung und demographische
Prozesse im 20. Jahrhundert. In: Südostasien. Gesellschaften, Räume und Entwicklung im
20. Jahrhundert: Feldbauer, P.; Husa, K.; Korff, R. (Hrsg.). – Wien 2003, S. 133–158
mehr wiegt das Problem der sicheren statistischen Ermittlung seiner Fruchtbarkeit.
Die Werte der TFR variieren zwischen 1,22
und 1,82 erheblich (!) – mit Konsequenzen
für die Bandbreite seiner zukünftigen Bevölkerung. Der weltweit seit langem zu beobachtende Rückgang der TFR ist in China
besonders spürbar: von ca. 6 (1950) über
4 (1975), 2 (1990) auf die genannten Werte
weit darunter. Für diesen rapiden Prozess
war zu Beginn der Transformationsphase
die strikte staatliche Geburtenkontrolle sicher von ausschlaggebender Bedeutung.
Längst spielt aber auch der steigende Wohlstand eine wichtige Rolle, der die anhaltende Geburtenpolitik in Frage stellt. Läge die
TFR laut unbereinigter amtlicher Statistik
wirklich bei 1,22, gehörte China bereits zum
kleinen Kreis der Länder mit der niedrigsten TFR. Die Angaben differieren allerdings
nach oben bis zu 1,82, erklärbar durch statistische Anpassungen, die aufgrund nicht
gemeldeter Geburten für nötig erachtet
werden und eine Korrektur der Werte um
25 bis 50 % beinhalten.9 Extremwerte erreichen chinesische TFRs im Spannungsfeld regionaler Abweichungen auf der Basis
der Kreise (counties). Den Rekord nach unten mit 0,41 (!) verzeichnet der wirtschaftlich entwickelte Distrikt Xiangyang im Verwaltungsgebiet der Stadt Jiamusi, Provinz
Heilongjiang, den Rekord nach oben hält
mit 5,47 der ländlich-ärmliche Kreis Baqing
im Autonomen Gebiet Tibet (Terrel 2005:
S. 97 ff. nach Bevölkerungszensus 2000):
Befunde, die auch im substaatlichen Rahmen das demographisch-ökonomische Paradoxon bestätigen. Beträchtliche regionale
Unterschiede ergeben sich auch im Kontext
der Geburtenpolitik, z. B. in der Erlaubnis
einer Kinderzahl von mehr als 1. Typischerweise verzeichnet die regierungsunmittelbare Stadt Beijing eine TFR von nur 0,67, die
ländliche Provinz Guizhou dagegen 2,19.10
Abschließend stellt sich die Frage, wo sich
Ost- und Südostasien in der „Konkurrenz“
um weltweite Schrumpfung und Alterung
subkontinental einordnen lassen. Im Modell des demographischen Übergangs 2003
(Abb. 6) liegt Europa in führender Position, dicht dahinter Ostasien, weiter zurück
Südostasien. Die Kurven der Geburten- und
Sterberate tendieren in Phase 5 zur Überschneidung, die Wachstumsrate wird negativ, der betreffende Subkontinent (Ost- und
Süd-Europa!) tritt in die Phase der Bevölkerungsschrumpfung ein, falls das Gebur-
Informationen zur Raumentwicklung
Heft 8.2008
tendefizit nicht durch Einwanderungen
ausgeglichen wird. Als führender Vertreter
Ostasiens ist die „Leitgans“ Japan bereits in
diese Phase eingetreten. Die anderen „Gänse“ werden folgen. Denn Abbildung 6 spiegelt die Ergebnisse der TFRs der Vergangenheit wider und berücksichtigt nicht deren
aktuelle Spitzenwerte in Ostasien. Deren
Resultate werden im Modell des demographischen Übergangs erst langfristig spürbar
und lassen für die Zukunft ein Kopf-anKopf-Rennen zwischen Europa und Ostasien um die Vorherrschaft von Schrumpfung und Alterung erwarten.
3 Demographischer Wandel,
schrumpfende und alternde Städte:
Japan als Trendsetter?
In subnationaler Perspektive bietet sich im
Hinblick auf Städte und Stadtregionen eine
Fokussierung auf Japan an. China beeindruckt zwar durch rapide Verstädterung,
deren „Manhattisierung“ im Laufe nur eines
Jahrzehnts in der Geschichte der Menschheit einmalig ist.
Japan dagegen macht als „Leitgans“ einer
subkontinentalen „Gänseflug-Formation“
den stärkeren Eindruck in ökonomischer
und demographischer Hinsicht, hat die größere Reife in der Stadtentwicklung und verfügt nicht zuletzt über eine solide Statistik,
die wirklichkeitsnahe Ergebnisse liefert.
Die vitale japanische Großstadtgesellschaft
und die Dynamik der Urbanisierung in Japan können nicht darüber hinwegtäuschen,
dass schrumpfende und alternde Städte ein
weltweites Phänomen und auch in diesem
Land ein zentrales Problem der Zukunft, ja
bereits der Gegenwart sind. Während einerseits die Metropolregionen, Großregionszentren, bestimmte Regionalstädte und
Städte in Suburbia noch wachsen (aber nur
noch mäßig), schrumpft andererseits die
Bevölkerung vor allem der kleineren Städte
dramatisch. Deindustrialisierung, Abwanderung, niedrige Fruchtbarkeit und extreme Überalterung nehmen in bestimmten,
vor allem peripheren Räumen Japans Szenarien vorweg, die langfristig weiten Teilen
des Landes außerhalb der Metropolen und
Großregionszentren drohen. Im Gegensatz
zu Mitteleuropa kann das Problem der Bevölkerungsverluste in Japan vorerst nicht
durch Zuwanderungen entschärft werden.
491
Das Selbstverständnis eines ethnisch und
sozial homogenen Landes sowie die damit
verbundenen psychologischen Barrieren
gegen eine Überfremdung sind dort sehr
hoch, entsprechend restriktiv seine Einwanderungsgesetze.
Stadtentwicklung Gesamt-Japan 2000–2005
Im Vergleich der wachstumsstarken Jahrzehnte zuvor beeindrucken vor allem zwei
Tatsachen: erstens die landesweit viel größere Masse der Städte, die durch Schrumpfung gekennzeichnet ist, zweitens die eindrucksvolle Zunahme der Bevölkerung im
Bereich der Metropolen, allen voran Tokyo.
Was das Schrumpfen der Masse der Städte
betrifft, so fällt auf, dass es sich zwar – wie
schon in den Jahrzehnten zuvor – insbesondere um die kleine(re)n, peripher gelegenen
Vertreter handelt. Betroffen sind fast alle
Städte mit weniger als 200 000, aber auch
einige größere mit bis zu 500 000 Einwohnern. Bevölkerungsverluste verzeichnen
auch erstaunlich viele Präfekturhauptstädte
(vgl. Abb. 7). Als regionale Zentren der Verwaltung, Wirtschaft und Kultur hatten diese
in der Vergangenheit gewöhnlich eine positive Bevölkerungsbilanz, bedingt vor allem
durch binnenregionale Zuwanderungen.
Dieser Trend erscheint bei vielen gebrochen.
Absoluten Rückgang weisen insbesondere
die weniger großen Präfekturhauptstädte (200 000 bis 455 000 Einwohner) in der
Peripherie auf, doch betroffen sind selbst
größere am Rand der Metropolregionen.
Bei allen diesen Städten, vor allem den
größeren, könnte man vermuten, dass ihre
Negativbilanzen auf Suburbanisierungsprozesse zurückgehen, auf eine Zunahme
der Bevölkerung ihrer unmittelbar benachbarten Gemeinden. Dies ist jedoch in nur
geringem Umfang der Fall. Das schwache
Abschneiden all dieser Städte spiegelt die
Realität wieder.
Japans Peripherie:
Schrumpfungsarena Hokkaido
Die sich bereits seit den 1990er Jahren abzeichnende Polarisierung des Städtesystems
in Hokkaido schlägt 2000 – 2005 voll zu Buche. Sieht man vom Ballungsraum Sapporo
ab, verzeichnen alle Städte Negativbilanzen.
Erstaunlich ist dies vor allem für Asahikawa
(355 000 Einwohner), dem mit Abstand führenden Regionalzentrum Mittel-Hokkaidos,
aber auch für alle weiteren größeren Solitärstädte. Ihre Schrumpfung hängt gene-
492
Winfried Flüchter: Wachstum und Schrumpfung in Ost- und Südostasien
Abbildung 7
Bevölkerungsentwicklung der Städte Japans 2000–2005
Japan: Bevölkerungsentwicklung
der Städte (shi) 2000–2005
8,5 bis 16,8 %
5,0 bis unter 8,5 %
3,0 bis unter 5,0 %
1,0 bis unter 3,0 %
0 bis unter 1,0 %
< 0 bis über -1,0 %
-1,0 bis über -3,0 %
-3,0 bis über -5,0 %
-5,0 bis über -8,5 %
-8,5 bis -12,1 %
Durchschnitt
aller Städte: 1,0 %
Wachstum
Schrumpfung
Japan gesamt: 0,7 %
Einwohnerzahlen 2005
8 483 000
3 579 100
2 628 800
2 215 000
1 525 400
1 000 000
500 000
200 000
50 000
Präfekturgrenzen
Gemeindegrenzen
0
100 km
Bearbeitung: W. Flüchter
Kartographie: H. Krähe
Quelle: eigene Berechnungen nach Sômushô Tôkeikyoku (2005)
rell mit der schwachen Wirtschaftsstruktur
Hokkaidos und der im Vergleich zum Landesdurchschnitt zurückgebliebenen industriellen Entwicklung zusammen; zahlreiche
industrielle Arbeitsplätze sind verlorengegangen. Ein weiterer Grund für den Rückgang dieser Städte liegt in der Anziehungs-
kraft Sapporos als Magnet für Zuwanderer
aus der gesamten Präfektur. In Bezug auf
Hokkaido ist von der „Ein-Punkt-Konzentration auf Sapporo“ die Rede, in Anspielung auf die „Ein-Punkt-Konzentration auf
Tokyo“ im Hinblick auf Gesamtjapan.
Informationen zur Raumentwicklung
Heft 8.2008
Die noch viel stärkere Schrumpfung der
kleine(re)n Städte Hokkaidos bestätigt den
anhaltenden Negativtrend. Schockierend ist
die Situation im ehemaligen Steinkohlenrevier Sorachi, vor allem in Yûbari, der ehemals größten Zechenstadt der Region. Auf
dem Höhepunkt ihrer Entwicklung hatte sie
Anfang der 1960er Jahre 117 000 Einwohner.
Seitdem schrumpfte sie bis 2007 auf 12 000,
also um 90 % (!) in 45 Jahren. In dieser Stadt
liegt der Anteil der Personen über 64 Jahre
schon heute bei über 40 %, d. h. doppelt so
hoch wie der ohnehin hohe Landesdurchschnitt von 20 %. Seit der Schließung der
letzten Zeche 1990 fehlen die industriellen
Arbeitsplätze. Die Bemühungen der Stadt
um einen Strukturwandel in Richtung Tourismus konnten den Niedergang nicht aufhalten. 2006 musste die Gemeinde Konkurs
anmelden und hängt seitdem am Tropf der
Zentralregierung.
Strukturell ähnliche Probleme weisen alle
oben genannten ehemaligen Bergbaustädte Sorachis auf. Das Image ihrer Region ist
schlecht. Die Bergbaugesellschaften als die
dort entscheidenden Akteure zeigten keine
sonderliche Verantwortung für ihre Arbeitskräfte, worüber diverse Zechenunglücke
Aufschluss geben. Nach den Jahrzehnten
des Booms zogen sie sich aus der Region
zurück und hinterließen eine stark verunsicherte Bevölkerung. Der Leerstand noch
bestehender Häuser ist unübersehbar, spiegelt aber nur unzureichend die anstehenden
Probleme wider, da die große Masse der aus
Holz gebauten Bergarbeiterreihenhäuser
längst abgerissen wurde und die Natur sich
ihre Freiräume zurückholt.
Der japanische Staat hat dem regionalen
Verfall nicht tatenlos zugesehen und schon
früh Mittel zur Restrukturierung alter Bergbaugebiete bereitgestellt. Die staatliche
Förderung sollte 2002 auslaufen, wurde
aber für besonders notleidende Standorte
– darunter auch für das Sorachi-Revier – bis
2007 verlängert. Es wird spannend sein zu
verfolgen, wie in einer Region, die die Zukunftsprobleme großer Teile Japans schon
heute wie in einem Brennglas spiegelt, die
Schrumpfungs- und Alterungsprozesse bewältigt werden. Stadtplanerisch findet ein
Rückzug aus der Fläche, ein Schrumpfen
auf Kerncluster statt, um eine Basisinfrastruktur für die Ortsbevölkerung aufrechtzuerhalten.
493
Japans Metropolregionen zwischen
Reurbanisierung und Schrumpfung
Die eindrucksvolle Zunahme der Bevölkerung im Kern der Metropolen zeigt erstaunliche Reurbanisierung-Tendenzen der
Metropolentwicklung, die sich bereits Ende
der 1990er Jahre anbahnten. Diese neue
Entwicklung kontrastiert mit der rapiden
Suburbanisierung der Jahrzehnte zuvor
(Abb. 8). Diese hatte zu einer erheblichen
Zunahme der Bevölkerung in den Außengebieten, zu einem enormen Rückgang der
Bevölkerung in der City („Wohnbevölkerungskrater“) und zu extrem aufwändigen
Formen des Pendelns geführt. Vorreiter
der neuen Entwicklung ist Tokyo, wo die
23 Stadtbezirke (2005: 8,5 Mio. Einwohner)
im Jahrfünft 2000 – 2005 eine beachtlich
positive Bilanz aufweisen (Abb. 8 unten).
Am stärksten ausgeprägt ist dieser Prozess
in den drei zentralen Stadtbezirken Chûôūō,
Minato und Chiyoda, in den tiefsten Stellen des „Wohnbevölkerungskraters“. Parallel zu dieser Entwicklung wachsen die
Städte am Rand der Metropolregion nur
noch gering, nicht wenige nehmen sogar
ab. Verschiedene Ursachen erklären diesen Reurbanisierungstrend: (1) Der Rückgang der Grundstückspreise landesweit
(Folge der langdauernden Rezession bzw.
Deflation), insbesondere aber im Kern der
Metropolen, macht den lange typischen
Erwerb eines Eigenheims in immer größerer Distanz zum Zentrum hinfällig; (2)
staatliche, präfekturale und stadtbezirkliche Maßnahmen zur Erhöhung des innerstädtischen Wohnungsangebots – vor dem
Hintergrund des Leitbilds der vertikalen,
kompakten, multifunktionalen Stadt; (3)
die Nachfrage unterschiedlicher Klientels
(Singles und berufstätige Paare sowie ältere
gutsituierte Menschen) nach innenstadtnahen, urbanen Wohnstandorten als Alternative zu Suburbia11. Forciert wurde dieser
Prozess (4) durch das 2002 erlassene und
auf zehn Jahre befristete Gesetz über „Sondermaßnahmen zur städtischen Revitalisierung in den Metropolregionen“.
Fazit
Die japanische Bevölkerung ist eine Großstadtgesellschaft, die zu 21 % in Millionenstädten, zu 48 % in Städten über 200 000
Einwohnern lebt. Urbanität und Vitalität
kennzeichnen die großen japanischen
Städte. Jüngste Herausforderungen wie Rezession, Deflation, Rückgang der Bevölke-
494
Winfried Flüchter: Wachstum und Schrumpfung in Ost- und Südostasien
Abbildung 8
Metropolregionen Tokyo, Nagoya, Osaka: Bevölkerungsentwicklung 1960 – 2000, 2000 – 2005
450 bis 1 397 %
1960–2000
280 bis unter 450 %
180 bis unter 280 %
100 bis unter 180 %
52,1 bis unter 100 %
25 bis unter 52,1 %
0 bis unter 25 %
<0 bis über -15 %
Durchschnitt
aller Städte: 52,1 %
Einwohnerzahlen 2000
8 130 400
Japan gesamt: 34,4 %
Wachstum
3 426 500
2 598 600
2 171 400
1 493 600
1 249 900
500 000
200 000
50 000
Schrumpfung
-15 bis über -35 %
-35 bis über -60 %
Präfekturgrenzen
Gemeindegrenzen
-60 %
Bearbeitung: W. Flüchter
Ka rtographie: H. Krähe
0
10 km
0
30 km
0
30 km
30 km
0
30 km
2000–2005
8,5 bis 35,3 %
5,0 bis unter 8,5 %
3,0 bis unter 5,0 %
Einwohnerzahlen 2005
Wachstum
8 483 000
1,0 bis unter 3,0 %
Durchschnitt
aller Städte: 1,0 %
0 bis unter 1,0 %
Japan gesamt: 0,7 %
<0 bis unter 1,0 %
-1,0 bis über -3,0 %
Schrumpfung
3 579 100
2 628 800
2 215 000
1 525 400
1 000 000
500 000
200 000
50 000
-3,0 bis über -5,0 %
-5,0 bis -7,7 %
Präfekturgrenzen
Gemeindegrenzen
Bearbeitung: W. Flüchter
Kartographie: H. Krähe
0
10 km
0
Quelle: eigene Berechnungen nach Sômushô Tôkeikyoku (alle 5 Jahre, zuletzt 2000)
Informationen zur Raumentwicklung
Heft 8.2008
495
rung und Alterung der Gesellschaft haben
die Vorliebe der Japaner(innen) für Urbanität nicht in Frage stellen können. Von
„schrumpfenden Städten“ ist im öffentlichen Bewusstsein kaum die Rede, wohl
aber von „Schrumpfenden, ausgedünnten Gebieten“ (kaso chiiki) im Sinne der
ländlichen Peripherie. Die Recherchen zur
Stadtentwicklung bestätigen diesen Befund
weitgehend – vorausgesetzt, man nimmt
speziell die größeren Städte ins Visier und
betrachtet die Städte in Ballungsräumen
nicht isoliert, sondern im Kontext von Metropolregionen, Suburbanisierungs- und
Reurbanisierungsprozessen.
Angesichts des rapiden Bevölkerungsrückgangs und der Alterung der Gesellschaft
landesweit werden schrumpfende und alternde Städte in Japan zwar als Problem zur
Kenntnis genommen, aber noch nicht dermaßen als Herausforderung empfunden,
dass nun Handlungsstrategien angesagt wären. „Wandel ohne Wachstum“ war in Japan
bisher nicht vorstellbar, erscheint politischpraktisch (noch) nicht akzeptabel. Über das
Thema Schrumpfung und Alterung schwebt
Pessimismus. Der Rückzug des Staates aus
der Fläche zugunsten räumlicher Verdichtung und Sicherung einer angemessenen
Infrastruktur steht noch aus.
Die Schrumpfung der Städte in Japan findet räumlich sehr selektiv statt. Wachstums- und Schrumpfungsregionen können dicht nebeneinander liegen. Die Frage
nach dem Warum der Schrumpfung ist eng
mit der Frage nach dem Wo gekoppelt. In
den außermetropolitanen Räumen geht
Schrumpfung fast immer mit Deindustrialisierung, Abwanderung junger Leute und
Alterung der Gesellschaft einher. Dies gilt
nachdrücklich für monostrukturierte Industrie-, insbesondere Bergbaureviere, deren
Bevölkerung nach Schließung der Betriebe
vor großen Problemen steht. In den Metropolregionen dagegen haben Suburbanisierungsprozesse über Jahrzehnte hinweg zur
Ausdünnung der Bevölkerung im Kern der
Metropolen geführt. Dieser Trend hat sich
zugunsten von Reurbanisierungsprozessen
dahingehend umgekehrt, dass in Zukunft
nicht mehr die Kerne, sondern die Ränder
der Metropolen unter Schrumpfungserscheinungen leiden.
Die verantwortlichen Akteure (aus den Bereichen Politik, Ministerialbürokratie, Wirtschaft, Medien) werden sich deutlicher als
bisher klarmachen müssen, dass die goldenen Jahrzehnte von Zuwachs und Entwicklung vorbei sind. In Schrumpfungsgebieten müsste der Stadtumbau der Zukunft
sinnvollerweise zum Stadtrückbau werden.
Schrumpfung könnte der auf engem Raum
siedelnden Wohlstandsgesellschaft Japans
mehr Lebensqualität bescheren, z. B. eine
Entlastung des Wohnungsmarkts, erhöhte
städtische Lebens- und Wohnqualität durch
neu entstehende Freiflächen, ökologische
Potenziale zur Verbesserung der Umweltqualität. So gesehen bedeutet Schrumpfung
in Japan nicht nur Risiken, sondern auch
Chancen. Um diese voll auszuschöpfen, ist
in Planung und Entwicklung ein Paradigmenwechsel von Wachstum zu Schrumpfung dringend nötig. Dies gilt für weite Teile
der Welt, auch für Deutschland. Hier, insbesondere im Hinblick auf Ostdeutschland,
scheinen Bewusstsein und Handlungssstrategien, wiewohl immer noch wachstumsorientiert, bezüglich der Risiken und Chancen der Schrumpfung im Verhältnis zu
Japan relativ fortgeschritten.12
496
Winfried Flüchter: Wachstum und Schrumpfung in Ost- und Südostasien
Anmerkungen
(1)
Akamatsu, K.: A historical pattern of economic growth
in developing countries. The Developing Economies,
Preliminary Issue (1962) Nr. 1, S. 3-25; Kim, K.-H.: Development Dynamics in East Asian Capitalism. Asian
Perspective 18 (1994), Nr. 1: 66 – 85
(2)
Die regionale Unterteilung Chinas in 22 Provinzen, fünf
autonome Gebiete, vier regierungsunmittelbare Städte
und zwei Sonderverwaltungszonen (Hongkong, Macau)
betrifft Regionen, die im „Gänseflug-Modell der industriellen Entwicklung“ auf dem zweiten (Shanghai) oder
dritten (u. a. Beijing, Zhejiang), aber auch fünften Rang
vorstellbar wären (u. a. Tibet, Guizhou).
(3)
Katzenstein, P.; Shiraishi, T. (eds). Beyond Japan: The
Dynamics of East Asian Regionalism. – Ithaca, London
2006
(4)
Flüchter, W.: Bedeutung und Einfluss Japans in Ostund Südostasien. Friedliche Neuauflage der „Großostasiatischen Sphäre Gemeinsamen Wohlstands“? Geogr.
Rundschau 48 (1996) H. 12, S. 702 –709
(5)
Katzenstein, P.; Shiraishi, T. (eds). Beyond Japan,
a. a. O.
(6)
The CIA World Factbook auf der Grundlage der jahresspezifischen Fruchtbarkeit 2007. Der sonst hier zitierte
United Nations World Population Prospect Report liefert
keine Daten zu Taiwan.
(7)
Birg, H.: Die Weltbevölkerung. Dynamik und Gefahren.
– München 1996. = Beck’sche Reihe 2050, S. 80
(8)
Hondrich, K.O.: Weniger sind mehr. Warum der Geburtenrückgang ein Glücksfall für unsere Gesellschaft ist.
– Frankfurt, New York 2007; S. 28 ff.
(9)
Scharping, T.: The politics of numbers: Fertility Statistics
in Recent Decades. In: Transition and challenge. China’s
population at the beginning of the 21th century. Hrsg.:
Zhao, Z.; Guo, F. – Oxford 2007, S. 34-53 (52); England,
R.S.: Aging China. ���������������������������������
The demographic challenge to China’s economic prospects. – Westport/Ct. 2005, S. 36
(10)
Terrel, H.K.M.: Fertility in China 2000: A County Level
Analysis. – Texas A&M University 2005, S. 97 ff. (http://
txspace.tamu.edu/bitstream/handle/1969.1/3892/etdtamu-2005A-SOCI-Terrell.pdf;jsessionid=68DDD3E66D
C59D7A57D9210289E03853?sequence=1)
(11)
Hohn, U.: Trend zur Reurbanisierung. Renaissance innerstädtischen Wohnens in Tõkyõ. Geogr. Rundschau
54 (2002), S. 4–11
(12)
Flüchter, W.: Shrinking Cities in Japan and Germany:
A Comparative View. In: The future of the periphery?
A European-Japanese symposium on forgotten territories in Japan and Europe. Hrsg.: Kunzmann, K. –
München 2008 (im Druck)
Weitere Literatur
Flüchter, W.: Schrumpfende Städte in Japan – Megalopolen und ländliche Peripherie. In: Schrumpfende Städte. Bd. 1:
Internationale Untersuchung. Hrsg.: Oswalt, P. – Ostfildern-Ruit 2004, S. 82–92
Kramer, C.: Bevölkerungsexplosion und schrumpfende Gesellschaften. Münchner Wissenschaftstage 2005 (http://
www.muenchner-wissenschaftstage.de/mwt2005/contente/e160/e707/e728/e929/filetitle/BevlkerungsexplosionundschrumpfendeGesellschaften_Folien_klein_ger.pdf)