02_kognitive/informationsbezogene Landeskunde File

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02_kognitive/informationsbezogene Landeskunde File
HS 2012, Mittwoch, 13:15-14:45, AVR 1.16
Vorlesung:
Literatur und Landeskunde im
DaF-Unterricht
Sitzung 02:
Landeskunde: kognitiv/informativ - kommunikativ
Deutsch als Fremdsprache/ Deutsch als Zweitsprache
Thomas Studer
• Fragen
– Eignet sich der Text für landeskundliches Lernen?
– Würden Sie etwas ändern/ergänzen?
• Diskussionskriterien
– Realitätsebene – Konkretisierungsebene - Transferebene
• Zitate aus dem Text
– Wirklichkeit und Sage liegen in diesem Fall ziemlich nahe
beieinander.
– Man kann sagen, der Bundesbrief ist die Gründungsurkunde der
modernen Schweiz.
– 1386 werden die Habsburger bei Sempach vernichtend
geschlagen. Die Schweizer haben sich ihre Freiheit zurück
erobert. Und sie haben den ersten modernen demokratischen
Staat auf dem europäischen Kontinent geschaffen.
• „Wirklichkeit und Sage“
– Tatort: die Hohle Gasse
Regieanweisung zur Szene
„Die Hohle Gasse bei
Küssnacht“ aus Schillers
Tell-Drama (4. Aufzug, 3.
Szene)
„Man steigt von hinten
zwischen Felsen herunter
und die Wanderer werden,
ehe sie auf der Szene
erscheinen, schon von der
Höhe gesehen. Felsen
umschliessen die ganze
Szene, auf einem der
vordersten ist ein
Vorsprung mit Gesträuch
bewachsen.“
Der Ort wurde nach den
Regieanweisungen in Schillers Drama
umgestaltet, d.h. nicht eigentlich
restauriert, sondern stilisiert.
Die literarische Fiktion liefert das
Vorbild für die kulturelle Wirklichkeit.
(Neidlinger & Pasewalck, 2011, 152)
Die Hohle Gasse vor der
Restaurierung um 1930
Die Hohle Gasse nach der
Restaurierung (1937)
„Der Täter – und die Bewertung der Tat“
Tell-Figur bei Schiller
• Zum Ungeheuren hast Du mich
gewöhnt –
• Wer sich des Kindes Haupt zum
Ziele setzte,
•Moralisches
Der kann auch
treffen hehres
in das Herz
Dilemma:
Feinds.
Zieldes
und
problematische Mittel
• Die armen Kindlein, die
unschuldigen,
• Das treue Weib muss ich vor
deiner Wut
• Beschützen, Landvogt. – Da, als
ich den Bogenstrang
• Anzog – als mir die Hand erzitterte
–
• Als du mit grausam teuflischer
Lust
• Mich zwangst, aufs Haupt des
Kindes anzulegen –
• Als ich ohnmächtig flehend rang
vor dir
Verse 2575-2584
Tell-Figur bei Max Frisch (1971, 117f)
• Ritter Konrad oder Grisler, immer
wahrscheinlicher aber Ritter Konrad
von Tillendorf erreichte die Hohle
Perspektive
des Opfers
Gasse
gegen Mittag,
hungrig auf
einen Imbiss in Immensee; er
Dekonstruktion des
dachte an gebackenen Fisch, als er
Helden-Mythos
plötzlich einen Schmerz empfand.
… Ob er den Mann mit dem
rötlichen Bart und mit den nackten
Knien, der jetzt aufrecht und
breitbeinig aus dem Gebüsch trat
mit der Armbrust in der rechten
Hand, überhaupt noch erkannt
hatte, ist ungewiss; er röchelte nur,
als die beiden Knechte ihn zu
stützen versuchten, was nicht
gelang. … Einer der Knechte sagte
bloss: Sauhund!
Plädoyer für die Heldensage
Auszug aus der 1.-August Rede von Peter von Matt auf dem Rütli
Quelle: NZZ am Sonntag, 02.08.2009, Nummer 31, Seite 16
(…) Wir sind in den letzten Jahrzehnten im Verhältnis zu unserer
Geschichte in eine Falle geraten. Diese Falle heisst: Mythos oder
Wahrheit? In den Medien ist das zur fixen Formel geworden. Der
Rütlischwur – Mythos oder Wahrheit? Die Hohle Gasse – Mythos
oder Wahrheit? Morgarten – Mythos oder Wahrheit? (…)
Und alle, die diese Frage stellen, wissen die Antwort stets im
Voraus. Sie rufen: «Mythos! Mythos!», meinen damit Lügen und
Märchen und kommen sich unerhört aufgeklärt vor.
So einfach ist es aber nicht. Wer die Geschichte vom
Rütlischwur für die blanke historische Wahrheit hält, ist nicht das
naivere Gemüt als der, der mit ebenso glänzenden Augen
«Mythos! Mythos!» ruft. Für jede Nation verdichtet sich ihre
historische Herkunft in erregenden Geschichten, die man erzählt
bekommt und weitererzählt. Schon die Kinder berichten sie
einander und erleben dabei erstmals ein Gefühl von Politik.
Diese Geschichten haben eine eminente Funktion. Denn sie
sind in ihrem Wesen politische Verhaltensanweisungen. Sie
reden vom richtigen und vom falschen Handeln. In ihnen
erscheint elementar der politische Wille dieses Landes. Die
Geschichte von Wilhelm Tell haben wir zwar aus Dänemark
bezogen, aus dem gleichen Buch, aus dem William
Shakespeare die Geschichte vom Prinzen Hamlet bezogen hat.
Aber bei uns bekam das Killermärchen eine Sendung. Es teilte
dem Volk eine politische Wahrheit mit. Sie lautet: Der Gehorsam
im Staat hat seine Grenzen. Untertanengeist darf nie überhand
nehmen. Und keine Situation ist so schlimm, dass man nicht
doch noch etwas unternehmen kann. Dies aber geschieht immer
Das „Killermärchen“ als „politische
auf doppelte Weise:
durch
Einzelne
und
gemeinsam.
Ohne
den
Verhaltensanweisung“!?
Eigensinn des Einzelnen wird die Gemeinschaft zur Herde.
Ohne das Zusammenspannen mit den andern wird der Einzelne
zum Eigenbrötler.
So also müssen wir diese überlieferten Erzählungen verstehen:
als bildkräftige Formulierungen des politischen Willens, der die
Eidgenossenschaft früh geprägt und sie mit viel Glück und
einigen blauen Augen hat überleben lassen. (…)
Drei traditionelle Ausrichtungen
Basis: Weimann & Hösch (1991), Pauldrach (1992), Zeuner (2004)
Didaktisches Kognitiver
Konzept
Ansatz
Kommunikativer Ansatz
Interkultureller
Ansatz
Didaktischer Selbständiges
Ort
Fach/ separate
Lerneinheit
Übergeord- Wissen: syst.
netes Ziel
Kenntnisse der
Zielkultur
In FU integriert
In FU integriert
Kommunikative
Kompetenz:
funktionierende
Verständigung
Alltagskultur,
z.B. Wie Leute
wohnen
Interkulturelle
Kompetenz: andere
und sich selbst
(besser) verstehen
„Kultureme/
Behavioreme“, z.B.
Raum und Zeit
Inhalte
„Landesbild“,
z.B. Politik
Kognitive LK am Beispiel (des DaFUnterrichts in) der DDR
• Zentraler Begriff: Landesbild als
„Widerspiegelung des Objektes Land“ (Herrde/
Marnette et.al. 1989, 46)
– Widerspiegelungstheorie (als Element der
marxistisch-leninistische Philosophie): Objekte einer
als objektiv gedachten Realität, darunter z.B. auch
Gesellschaftssysteme, können im Bewusstsein exakt
‚gespiegelt‘, d.h. 1:1 abgebildet und erklärt werden.
• „Innerhalb von Deutsch als Fremdsprache in der DDR
vermittelt das Fach ‘Landeskunde DDR’ ein ‘Landesbild
DDR’. Dieses muß - unter Zugrundelegung der
philosophischen Abbild-Kategorie in ständiger
Annäherung an die Realität - von der landeskundlichen
Forschung bereitgestellt werden.“ (Fischer 1987, 356).
• In der Lehre geht es darum, „dem Studierenden ein
möglichst umfassendes, möglichst konkretes und
möglichst anschauliches Wissen über die
gesellschaftliche Realität des Landes der Zielsprache,
also der DDR, zu vermitteln, das hinter der Fülle
lebendiger und in Bewegung befindlicher Erscheinungen
Verständnis für Gesetzmäßigkeiten der
gesellschaftlichen Entwicklung ermöglicht.“ (ebd.).
• Kriterien für die Beurteilung landeskundlich
orientierter Materialien (hier mit Blick auf
Landeskundefilme; Landmann 1985, 277ff.):
– Vermittlung wahrer Abbilder der objektiven Realität
– Parteilichkeit und Erziehungswirksamkeit der
Darstellung
• „Da man hier davon ausgeht, daß Wahrheit und Parteilichkeit
grundsätzlich miteinander vereinbar sind, und daraus die
Verpflichtung ableitet, die Wahrheit parteilich im Sinne der
Beförderung des Menschheitsfortschritts zu propagieren,
steht nicht die Parteilichkeit selbst zur Debatte, sondern
vielmehr das sich aus der genannten Verpflichtung
ergebende Wie. Geforscht wird also nach einer Antwort
darauf, wie Landeskundefilme praktisch gestaltet sein
müssen, daß parteilich dargebotene Wahrheit erzieherisch
den höchsten Nutzen bringt.“ (Landmann 1985, 279)
¾ Die Parteiideologie bestimmt, was ein ‚wahres Abbild
der objektiven Realität‘ zu sein hat.
• Kriterien für die Auswahl • inhaltliche Schwerpunkte für
von Themen, Situationen,
ein objektives DDR-Bild
Sachverhalten aus der
– sozialistische Lebensweise
(Familien- und Berufsleben,
DDR-Realität
–
–
–
–
–
Objektivität
Korrektheit
Gegenwartsnähe
Lebensverbundenheit
hoher Grad von
Allgemeingültigkeit
– persönlichkeitsbildender
Wert
– Möglichst emotionale
Wirkung
Auszüge aus Förster 1983, 17 - 18
gesellschaftliche Arbeit,
demokratische Beteiligung an
der Leitung des Staates usw.),
– sozialistisches Menschenbild
(neue Beziehungen der
Menschen zueinander,
gegenseitige Achtung,
kameradschaftliche Hilfe und
Unterstützung, Entwicklung im
Kollektiv usw.),
– planmäßige Hebung des
materiellen und kulturellen
Lebensniveaus,
– Teilnahme aller Werktätigen an
der Leitung, Planung und
Kontrolle der Produktion
• Vermittlung des DDR-Landesbildes (Hackl 2010, 1466)
– Landeskunde als Werkzeug, um die DDR als eigenen Staat mit
normalen völkerrechtlichen Beziehungen zu verankern.
– Abbau von Informationsdefiziten: Einfordern der staatlichen
Souveränität
– Korrektur von Verzerrungen: Verwehrung gegen die
marginalisierende und abwertende Darstellung des Landes in
der Deutschlandkunde nichtsozialistischer Länder.
– Freilich auch: politisch-ideologische Funktionalisierung des
Unterrichts
– Beispiel: Der so genannte "antiimperialistische Schutzwall" mit
seinen politischen Konsequenzen und seiner Symbolik bedurfte
der steten Legitimation, nicht nur in der Landeskunde für
Fremdsprachige, sondern auch im regulären DDRSchulunterricht…
• Ausschnitt aus einer Geschichtsstunde, die 1977 an der Berliner
Humboldt-Universität aufgezeichnet wurde.
• Das Lernziel: Warum die Errichtung der Mauer ein Beitrag zur
Sicherung des Friedens war.
Kleiner Exkurs: Kinderlieder aus der DDR
„Unsere Patenbrigade“
Patenbrigade – in der DDR eine Gruppe von Arbeitern („Brigade“), meist
Industriearbeiter oder Arbeiter aus landwirtschaftlichen
Produktionsgenossenschaften. Solche Gruppen übernahmen eine Patenschaft
über Kindergartengruppen und Schulklassen. Ziele dieser Patenschaften waren
u.a.: Einblick in die Arbeitswelt in den Betrieben, Verbundenheit zur
Arbeiterklasse, Begleitung bei der Herausbildung von Berufswünschen,
Entwicklung einer sozialistischen Persönlichkeit. (Grundlage: Wikipedia)
Unsere Patenbrigade
• Kinder, welch ein Glück!
• Unsere Patenbrigade arbeitet in der Bonbonfabrik.
• Bonbonfabrik, Bonbonfabrik, Bonbonfabrik.
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•
Freundlich helfen uns die Paten
mit oft und gern mit Patentaten.
Manchmal auch mit kleinen süßen
Bonbonbrigadepatengrüßen.
Bonbonfabrik, Bonbonfabrik, Bonbonfabrik.
Zugänge zur DDR-Geschichte –
Anregungen zu projektorientiertem
Lernen.
Stuttgart: Landesinstitut für
Schulentwicklung, 2009/2010
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•
War das neulich schön!
Unsere Patenbrigade zeigte uns,
wie die Bonbons entstehn,
Bonbons entstehn, Bonbons entstehn.
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Klug bedienten unsere Paten
Bonbonelektroautomaten
Wir übernehmen dann die Rolle
der strengen Qualitätskontrolle.
Bonbonfabrik, Bonbonfabrik, Bonbonfabrik.
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•
Jedem ist bekannt,
unsere Patenbrigade
achtet auf unseren Leistungsstand,
den Leistungsstand, den Leistungsstand.
.
Weil uns die Brigadepaten
(§ 11 des Gesetzes über das
Mit ihrer großen Klugheit raten,
wollen wir die Hausaufgaben so gut machen einheitliche sozialistische
Bildungssystem; ebd. 35)
wie sie die süßen Sachen.
Bonbonfabrik, Bonbonfabrik, Bonbonfabrik.
„In den Kindergärten lernen die
Kinder, in zunehmendem Maße
selbständig in der Gemeinschaft
tätig zu sein. Sie sind in einer
ihren Kräften und Fähigkeiten
angemessenen Weise auf das
Lernen in der Schule
vorzubereiten und mit dem
sozialistischen Leben und dem
Schaffen der werktätigen
Menschenbekannt zu machen.“
• Allerdings: Ideologisierungen beim „Landesbild“ sind
keineswegs auf den Kontext der DDR beschränkt.
• Beispiel aus einem der ersten DaF-Lehrwerke in der BRD,
Deutsch lernen leicht gemacht (Kessler 1943, nach
Deinzer 2001, 117f.)
– Am 1. Mai, dem Tag der Arbeit, macht die gesamte
Fabrikbelegschaft, von der jüngsten Bürogehilfin bis hin zum
Arbeiter mit 36 Dienstjahren, einen Ausflug, der komplett vom
Werk bezahlt wird. Allen geht es sehr gut, sie leben im Wohlstand
und ein Arbeiter bedankt sich sogar beim Fabrikdirektor. Dieser ist
beim anschließenden Tanz am lustigsten von allen und erscheint
als jedermanns Freund. Nach dem rauschenden Fest werden alle
wieder nach Hause gefahren – von Bussen der Fabrik. Der Chef
erscheint als derjenige, dem alle ihren Wohlstand zu verdanken
haben, und der sich um seine Untergebenen sorgt
(Lehrstück 10, S. 49).
• Zur Kritik des in DDR-Lehrbüchern dargestellten
Landesbildes und der Präsentationsweise (z.B.
Wazel 1989)
– Landesbild: normativ/ideologisch-dokumentarisch,
affirmativ-exklamatorisch, abstrahierend,
widerspruchsfrei, auf positive Klischees hin angelegt
– Präsentationsweise: lehrerzentriert, nicht dynamisch
• Doppeltes Dilemma kognitiver LK (nicht nur) der
DDR
– Enzyklopädie-Problem des Landesbildes
– Monologisches Lehren und rezeptives Lernen als
alleiniges Prinzip der Wissensvermittlung kollidiert mit
der Forderung landeskundlichen Könnens (optimales
Handeln in Begegnungen mit Bürgern des Ziellandes),
die schon in den 1970er Jahren auch in der DDR
erhoben wird.
• Ende der 1980er Jahre : kontroverse
Landeskundediskussionen im Kontext der
internationalen Forschung auch innerhalb der
DDR
• Neuausrichtung der Landeskunde im Zuge der
ABCD-Thesen
– Inhaltlich:
• Abkehr von enzyklopädischen Ansätzen
• Problemorientiertheit anstelle von Faktenvermittlung
• Ländervergleichend statt monoperspektivisch
– Didaktisch:
• Handlungsorientierter, erfahrungsbasierter, kommunikativer
FU
Kognitive Landeskunde heute:
Totgesagte leben länger
Im Zeichen der
Zum Zweck der Informations- Mangels didaktischIntegrationskurse in D vermittlung und Selbstpädagogischer Konzepte?
darstellung z.B. in CH oder D
Inhaltsverzeichnis
Materialien für
Orientierungskurse,
Beispiel Langenscheidt
Landeskunde-Tests für
Einbürgerungswillige in der Schweiz
Wie viele politische Gemeinden
gab es in der Schweiz im Jahre
2010?
a) etwa 50
b) etwa 200
c) etwa 2’700
d) etwa 8’000
Wie ist das Vermögen in der Schweiz
verteilt? Ein Prozent der Reichsten
besitzt rund
a) 10 Prozent des gesamten Vermögens
b) 20 Prozent des gesamten Vermögens
c) 60 Prozent des gesamten Vermögens
d) 90 Prozent des gesamten Vermögens