Big Data Die HIV-Kohortenstudie - Aids

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Big Data Die HIV-Kohortenstudie - Aids
MEDIZIN | GESELLSCHAF T | RECHT
Swiss Aids News
4 | DEZEMBER 2015
Big Data
Die HIV-Kohortenstudie
E D I T O R I A L Liebe Leserin
Lieber Leser
IMPRESSUM
Herausgeber
Aids-Hilfe Schweiz (AHS)
Bundesamt für Gesundheit BAG
Redaktion
Brigitta Javurek (jak), Journalistin BR,
Chefredaktion
Dr. iur. LL. M. Caroline Suter (cs)
BLaw Cliff Egle (ce), MLaw Julia Hug (jh)
Dr. Andrea Six, Wissenschaftsjournalistin (six)
lic. phil. Stéphane Praz (sp)
Noëmi Baumann (nb)
Nathan Schocher, Programmleiter
Menschen mit HIV (nsch)
Bildredaktion
Mary Manser
Gestaltung
Ritz & Häfliger, Visuelle Kommunikation, Basel
SAN Nr. 4, Dezember 2015
© Aids-Hilfe Schweiz, Zürich
Die SAN erscheinen dreimonatlich
in einer Auflage von 2700 Exemplaren
mit der Unterstützung von:
Bundesamt für Gesundheit, Bern
Boehringer Ingelheim (Schweiz) AG
Bristol-Myers Squibb SA
Die industriellen Partner der Swiss Aids News
nehmen keinen Einfluss auf deren Inhalt.
Abo-Service
Redaktion Swiss Aids News
Aids-Hilfe Schweiz
Postfach 1118, 8031 Zürich
Tel. 044 447 11 11
[email protected], www.aids.ch
Jeweils im Herbst ziehen sie los, zeichnen prächtige Formationen in den Himmel, auf
der Suche nach einem Winterquartier: Scharen von Staren. Natürlich widmen sich
die letzten Swiss Aids News in diesem Jahr nicht den Vögeln, sondern einer Kohorte,
genauer der Schweizerischen HIV-Kohortenstudie. Eine Gemeinsamkeit gibt es gleichwohl. Der Begriff Kohorte leitet sich aus dem Lateinischen «cohors», was so viel wie
Schar oder Gefolge bedeutet, ab. Die Sozialwissenschaft spricht von einer Kohorte,
wenn alle Menschen einer Gruppe, mindestens eine Gemeinsamkeit haben. In der
grossen Datensammlung der Schweizerischen HIV-Kohortenstudie, haben alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer von Beginn weg dieselbe Krankheit: Sie sind HIV-positiv.
Und sind doch verschieden. Was die Gemeinsamkeiten sind, was das Trennende ist
und wie sich über lange Jahre die HIV-Infektion entwickelt, dies sind nur einige der
Fragen, denen Forscher nachgehen und worauf sie Antworten suchen.
Die Swiss Aids News lassen Experten und Expertinnen zu Wort kommen und
werfen einen Blick hinter die Kulissen der Kohortenstudie.
Weiter publizieren wir die Diskriminierungsmeldungen 2015, die leider unvermindert hoch, zu hoch sind. Das ist für die Aids-Hilfe Schweiz Ansporn und Aufgabe zu
gleichen Teilen, sich weiterhin mit Verve für alle HIV-positiven Menschen einzusetzen.
Auch im kommenden Jahr.
Wir wüschen Ihnen und Ihren Angehörigen einen guten Flug ins neue Jahr!
Daniel Seiler
Geschäftsleiter der Aids-Hilfe Schweiz
Inhalt
MEDIZIN | GESELL SCHAF T | RECHT
Swiss Aids News
Big Data
Die HIV-Kohortenstudie
© KEYSTONE/SCIENCE PHOTO LIBRARY
4 | D E Z E M B E R 2015
Stare (Sturnus vulgaris) suchen einen
Schlafplatz in Rom.
Forschung
3 «Die Schweiz hat weltweit eine der besten HIV-Kohortenstudien»
5 Goldminen der Gesundheitsforschung
8 Die ungezählte Menschlichkeit
11 «Die Motivation, den Partner zu schützen, ist nicht zu
unterschätzen»
ie besten Jahre
D
12 Altern mit HIV: Worauf muss man achten?
Sammelsurium
13 Ausstellung, Album, Krimi
Meinung
15 Gegendarstellung: Hepatitis C – die unterschätzte Krankheit
Recht
16 Diskriminierungsmeldungen 2015
19 Forum Recht: Sie fragen – wir antworten
2
Swiss Aids News 4 | Dezember 2015
FORSCHUNG
«Die Schweiz hat weltweit eine
der besten HIV-Kohortenstudien»
Frau Schöni-Affolter, woran forschen
Sie derzeit?
Wir untersuchen beispielsweise, inwiefern HIV-positive Menschen im Vergleich
mit nicht infizierten anfälliger auf andere
Krankheiten wie bestimmte Krebsarten
oder Demenz sind. Da gewisse Tendenzen
bei HIV-Positiven bereits festgestellt
werden konnten, gehen wir der Frage
nach, ob dies die Folge der Einnahme von
virenunterdrückenden Medikamenten
ist oder ob frühere Verhaltensweisen
oder Krankheiten der Testpersonen
dafür verantwortlich sind. Ein anderes
Forschungsprojekt hat gezeigt, dass HCV
(Hepatitis C) bei MSM über Sexkontakte
übertragen werden kann.
«Die Teilnahme an dieser Studie
ist selbstverständlich freiwillig
und bedarf der schriftlichen
Einwilligung.»
Untersuchen Sie auch sozioökonomische Aspekte?
Ja. So konnten wir beispielsweise aufzeigen, dass HIV-positive Menschen aus
tieferen Einkommensschichten später
in Behandlung kommen als solche mit
einem höheren Einkommen. Grund
dafür ist, dass Letztere sich früher
testenlassen und deshalb einer erfolgreichen Unterdrückung der Virenlast
unterziehen können. Weiter konnten wir
kürzlich nachweisen, dass bei Frauen die
Virenlast in den ersten Jahren der cARTBehandlung (combined anti-retroviral
therapy) weniger erfolgreich unterdrückt
werden konnte als bei Männern. Auch
dieser Unterschied zwischen Mann und
Frau ist auf unterschiedliche sozialdemografische Faktoren zurückzuführen. All
diese Erkenntnisse gewinnen wir aus der
Datenerfassung der halbjährlichen Untersuchung und Befragung der Patientinnen
und Patienten, die in der Schweizer HIVKohortenstudie mitmachen.
Wer gehört der HIV-Kohorte an?
Die Schweizerische HIV-Kohortenstudie
(SHCS) besteht seit 1988. Seit Beginn bis
heute hat sie über 18 000 Patientinnen
und Patienten registriert, das sind 66%
der dem Bundesamt für Gesundheit gemeldeten Fälle. Die Teilnahme an dieser
Studie ist selbstverständlich freiwillig
und bedarf auch der schriftlichen Einwilligung. Vor allem Männer aus dem MSMBereich erklären sich dazu bereit, Frauen
sind leider zurückhaltender, wobei die
SHCS auch diesbezüglich besser dasteht
als andere europäische Kohorten. Seit
1988 werden epidemiologische, klinische
und labormässige Daten erfasst; im
Moment noch auf Papier. Eines meiner
derzeit wichtigsten Projekte ist die
schrittweise Umstellung auf die elektronische Datenerfassung.
© Aids-Hilfe-Schweiz / Marilyn Manser
Seit 1988 besteht die Schweizerische HIV-Kohortenstudie (SHCS). Seit Beginn wurden über 18 000 Patientinnen und Patienten registriert. Damit verfügt die Schweiz
über eine hervorragende Datenlage in Bezug auf Menschen mit HIV. Franziska Schöni-Affolter ist Ärztin und Epidemiologin und leitet das Datenzentrum der SHCS. Ein
Interview mit der Hüterin der HIV-Kohortenstudie.
Franziska Schöni-Affolter arbeitet
als Ärztin und Epidemiologin in der
HIV/Aids-Forschung am Centre hospitalier universitaire vaudois (CHUV)
in Lausanne und leitet dort das
Datazentrum der Schweizerischen
HIV-Kohortenstudie (SHCS). Seit
2010 sitzt sie für die Grünliberale
Partei im Grossrat des Kantons Bern.
Für die Aids-Hilfe Schweiz engagiert
sie sich seit 2013 im Vorstand und
seit 2015 ist sie Vizepräsidentin der
Aids-Hilfe Schweiz.
Welche Vorteile wird diese Neuerung
bringen?
Die Umstellung wird zwar eine geringe
Zeitersparnis für die untersuchenden
Ärzte bringen. Aber die Datenqualität
für Forschungszwecke kann bei ungefähr
gleichbleibendem Aufwand eindeutig
verbessert werden. Da heute – dank den
immer besseren Behandlungen – die
meis­ten Patienten eine hohe Lebenserwartung haben, müssen pro Person immer mehr Daten erfasst werden. Je höher
Swiss Aids News 4 | Dezember 2015
3
FORSCHUNG
das Alter, desto mehr Beschwerden und
Medikamente für andere Krankheiten.
All diese Variablen müssen festgehalten
und, für mögliche Rückschlüsse, wieder
auseinanderdividiert werden können.
Eine gut aufgebaute elektronische Datenbank mit zusätzlichen Informationen zum
Beispiel bei der gesamten Medikamenteneinnahme vereinfacht zudem das ano­
nyme Matching mit anderen Registern,
z.B. dem Krebsregister.
Finden auch Kooperationen mit dem
Ausland statt?
«Je höher die Lebenserwartung
der HIV-positiven Personen, desto
wichtiger wird für ihr optimales
Wohl auch die Datenerfassung zur
Monitorisierung ihrer Gesundheit.»
Ja, die europäischen Forschungsinstitutionen tauschen ihre Daten regelmässig
aus. Dies ist insbesondere dann von
Bedeutung, wenn in einem Land für eine
bestimmte Studie zu kleine Fallzahlen
vorhanden sind. Allerdings verfügt bei
Weitem nicht jedes Land über eine eigene nationale Kohorte. Deutschland zum
Beispiel hat keine, dafür pflegt Holland
seine Daten vorbildlich. Zudem besteht
eine europäische Forschungsplattform,
die Collaboration of Observational
HIV Epidemiological Research Europe
­(COHERE), die 2005 gegründet wurde.
Wie ist die Datenlage in der Schweiz
im Vergleich zum Ausland?
Die Schweiz verfügt über eine der
besten Kohortenstudien weltweit, unter
anderem weil wir vergleichsweise viele
Variablen festhalten. Auch werden nur
Daten mit einer ausserordentlich hohen
Qualität erfasst. Allerdings ist diese Vorreiterstellung nicht mehr gesichert, denn
der Bund (Schweizerischer Nationalfonds) hat die finanzielle Unterstützung
im letzten Jahr gekürzt. Dabei bräuchten
wir mehr Geld, um die immer grössere
Datenmenge bewirtschaften und mittels
Modernisierung das Optimum aus den
Daten heraus-ziehen zu können.
Gemäss Bundesrat Didier Burkhalter
ist HIV im Jahr 2030 eliminiert, vielleicht hält er die Datenpflege deshalb
für nicht mehr nötig?
Schön wär’s, wenn dem so wäre.
Tatsache ist aber, dass bis heute kein
wirksamer Impfstoff gefunden werden
4
Swiss Aids News 4 | Dezember 2015
konnte. Auch ist noch keine Therapie
­etabliert, welche die Virennester im
Körper endgültig vernichtet oder Re­
sistenzen sicher vermeidet. Erfreulich ist
aber, dass man in der Forschung laufend
Fortschritte macht. Für die Betroffenen
sind zum Beispiel die Kombinationstherapien eine grosse Errungenschaft. Heute
muss nur noch einmal täglich ein Medikament für die Unterdrückung der Viren
eingenommen werden. Wir arbeiten in
der HIV/Aids-Forschung auf Hochdruck
daran, die Therapien laufend zu optimieren und eines Tages ein Heilmittel zu
finden. Bis dahin ist es aber ganz wichtig,
dass Prävention und Aufklärungsarbeit
betrieben werden.
Welche Form der Prävention braucht
es Ihrer Meinung nach?
Es ist ganz wichtig, dass wir das Kind
beim Namen nennen. Es ist für viele
Menschen nicht zielführend, wenn von
einem Leben mit nur einem Sexualpartner gepredigt wird, denn die Realität
ist eine andere. Wir sollten vielmehr
junge Menschen auf ein vernünftiges
Sexualverhalten vorbereiten. Die offene
Kommunikation zum Thema ist dabei
zentral. Eine provokative Kampagne wie
«LOVE LIFE» erfüllt ihren Zweck. Sie zeigt
auf, dass HIV und Aids immer noch präsent sind. Das Problem ist – trotz immer
besseren Therapien – noch nicht gelöst.
nb
FORSCHUNG
Goldminen der Gesundheitsforschung
Aufwendig, teuer, ohne eindeutige Erkenntnisse zu Ursache und Wirkung: Kohortenstudien
scheinen auf den ersten Blick nicht gerade vielversprechend. Doch ihr Beitrag an die Forschung ist von unschätzbarem Wert.
Ist vom Fortschritt der Medizin die Rede, denkt
man zumeist an experimentelle Studien, an
neuartige Wirkstoffe und bisher unbekannte
biochemische Prozesse. Doch am Anfang vieler Entwicklungen steht eine Art von wissenschaftlicher Studie, die auf den ersten Blick wenig attraktiv daherkommt: die Kohortenstudie.
In einer Kohortenstudie beobachten Forscher
über längere Zeit – von Monaten bis zu vielen
Jahren – eine Gruppe von Menschen (Kohorte),
die alle eine Gemeinsamkeit haben. Sei es das
gleiche Geburtsjahr, der gleiche Beruf oder der
gleiche Wohnort. Die Wissenschaftler erheben
dann, wie viele der untersuchten Teilnehmer
über die Zeit eine bestimmte Krankheit entwickeln. Und sie versuchen zu erkennen, was
diese Teilnehmer von jenen unterscheidet,
«Kohortenstudien: Sie können oft
gleich mehrere Risikofaktoren und
Krankheiten untersuchen – dank vieler
Teilnehmer und langer Laufzeiten.»
die gesund bleiben. Kohortenstudien können
deshalb aufdecken, weshalb Krankheiten überhaupt entstehen. Das Augenmerk liegt dabei
oft auf Fragen des Lebensstils, zum Beispiel
auf dem Rauchverhalten oder der Ernährung.
Vorteil Kohorte
Bei vielen Kohortenstudien ist das gemeinsame
Merkmal der Teilnehmer, dass sie von Beginn
weg dieselbe Krankheit haben. In diesem Falle
soll durch die Studie geklärt werden, wie und
weshalb sich die Krankheit unterschiedlich
entwickelt. So auch in der Schweizerischen
HIV-Kohortenstudie. Sie erfasst seit 1988 einen
grossen Teil aller HIV-Patienten in der Schweiz
(bisher insgesamt über 18 500 Menschen) und
liefert regelmässig wichtige Erkenntnisse
zur HIV-Infektion und deren Therapie. Zum
Beispiel, dass HIV-positive Frauen bei erfolgreicher HIV-Therapie auf natürliche Weise gebären können, ohne dass sie das Virus an ihr
Kind weitergeben. Oder dass die HIV-Therapie
bei den Patienten kaum Einfluss auf die Entwicklung von Herzkrankheiten hat, das Rauchen jedoch einen ziemlich grossen.
Kaum private Finanzierung
Das Beispiel unterstreicht einen zentralen
­Vorteil von Kohortenstudien: Sie können oft
gleich mehrere Risikofaktoren und Krankheiten untersuchen – dank vieler Teilnehmer
und langer Laufzeiten. Allerdings haben Kohortenstudien auch Nachteile. Erstens sind sie
teuer, führen aber nicht zu unmittelbar nutzbaren Produkten. Deshalb werden sie kaum
durch private Firmen finanziert, sondern zumeist durch öffentliche Gelder – in der Schweiz
stellt insbesondere der Schweizerische Nationalfonds (SNF) Geld für Kohortenstudien zur
Verfügung. Zweitens können Kohortenstudien
zwar viele mögliche Zusammenhänge aufzeigen, doch eindeutige Beweise zu Ursache und
Wirkung liefern sie nicht. Was die Medien nicht
daran hindert, in ihren Gesundheitsnews regelmässig die Hinweise von Kohortenstudien
unhinterfragt als gesicherte Zusammenhänge
weiterzugeben – von den Vorteilen von Fischöl
oder Milch bis zu den Gefahren von Transfetten
oder elektromagnetischen Feldern. Gesundheitsforscher hingegen nehmen die Resultate
von Kohortenstudien als Ausgangspunkt, um
weitere Überlegungen anzustellen und die
Medizin weiterzubringen. Für sie sind Kohortenstudien wahre Goldminen. sp
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FORSCHUNG
5 grosse Kohortenstudien
e Rauchen und Lungenkrebs
In den 1920er-Jahren nahmen in vielen Ländern die Lungenkrebsfälle zu. Als Ursachen vermutete man vor allem Luftverschmutzung und feuchtes Klima. Zwar verdächtigten einige
Wissenschaftler bereits das Rauchen, doch mindestens ebenso viele hielten den Tabakkonsum
nicht nur für harmlos, sondern sogar für äusserst gesundheitsfördernd.
Das änderte sich 1954. Der Engländer Richard Doll und sein Team hatten in der berühmt
gewordenen «British Doctors’ Cohort Study» über 40 000 Ärzte befragt und konnten nun zeigen: Bei den rauchenden Medizinern war Lungenkrebs weit verbreiteter als bei den anderen.
r Cholesterin und Herzkrankheiten
Um die individuelle Gefahr von Herz-Kreislauf-Erkrankungen einzuschätzen, verwenden Ärzte
Risikotabellen. Die bekannteste davon ist der sogenannte Framingham-Score. Dieser berücksichtigt Geschlecht, Alter, Raucherstatus, Blutdruck und die Blutcholesterinwerte einer
Person. Benannt ist er nach der amerikanischen Kleinstadt Framingham. Hier wurden ab
1948 über 5000 Einwohner regelmässig befragt und klinisch untersucht, um die Gründe für
die wachsende Zahl der Herz-Kreislauf-Todesfälle in den USA herauszufinden. Vor allem der
grosse Einfluss der Cholesterinwerte überraschte die Wissenschaftler; vor der «Framingham
Heart Study» hatte man diesen Zusammenhang gar nicht gekannt. Die Studie läuft mit neuen
Generationen von Einwohnern bis heute weiter und sucht nach Ursachen für Krebs, Demenz,
Arthritis und weitere Krankheiten.
t Ionisierende Strahlung und Langzeitschäden
Die wichtigste wissenschaftliche Basis für heutige Grenzwerte im Strahlenschutz hat einen
traurigen Hintergrund: Seit 1950 werden in einer Kohortenstudie Überlebende der Atombombenabwürfe über Hiroshima und Nagasaki beobachtet, die unterschiedlich hohen Strahlenbelastungen ausgesetzt waren. Von den anfänglich rund 120 000 Teilnehmern leben heute
noch rund 40%. Diese werden weiterhin regelmässig untersucht, um Langzeiteffekte der
Strahlenbelastung zu erforschen. Die Life Span Study hat unter anderem wichtige Hinweise
zum erhöhten Leukämierisiko nach erfolgter Strahlenbelastung ergeben. Auf der anderen
Seite hat sie bisher nicht bestätigt, dass – wie oft vermutet wurde – die Strahlenbelastung
zu Veränderungen der Erbsubstanz geführt hat.
u «Fünf am Tag» und Krebs
«Fünf am Tag» – fünf Portionen Obst und Gemüse – lautet eine gängige Ernährungsregel.
Das amerikanische National Cancer Institute formulierte sie 1991 als wichtige krebsvermeidende Massnahme. Seither ging sie um die Welt. Doch ob Obst und Gemüse gegen Krebs
vorbeugen, war und ist in Fachkreisen umstritten. Wesentliche Zweifel ergaben sich vor allem
aufgrund der EPIC-Studie (European Prospective Investigation into Cancer and Nutrition).
Wahrlich von epischen Ausmassen, umfasste diese Kohortenstudie über 500 000 Menschen
in zehn europäischen Ländern. Ab 1992 wurden die Teilnehmer während mehrerer Jahre
immer wieder befragt. 2010 präsentierten die Forscher dann eine ernüchternde Auswertung
der Daten: «Fünf am Tag» senkt das Krebsrisiko kaum. Allerdings ist das kein Grund, sich nicht
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an die Regel zu halten. Denn ihre vorbeugende Wirkung gegen Herz-Kreislauf-Krankheiten
ist weniger umstritten.
i Hormontherapie und Herzinfarkt
© KEYSTONE/SCIENCE PHOTO LIBRARY
Women’s Health Initiative hiess eine Studie in den Neunzigerjahren, an der 160 000 amerikanische Frauen zwischen 50 und 79 teilnahmen. Das Ziel war, Gründe für die häufigsten
Todesursachen bei Frauen nach der Menopause zu finden. Für weltweite Schlagzeilen sorgte
insbesondere eine Erkenntnis der Studie: Postmenopausale Hormontherapien können das
Risiko für Herzinfarkt erhöhen. Bis dahin war man genau vom Gegenteil ausgegangen und hatte
die vorbeugende Wirkung von Hormontherapien propagiert. Die Erkenntnisse der Studie haben
dazu geführt, dass Hormonpräparate heute vorsichtiger und gezielter eingesetzt werden. sp
Ein Star unter vielen
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7
FORSCHUNG
Die ungezählte Menschlichkeit
Hinter den Zahlen der medizinischen Statistiken tummeln sich Menschen mit Zügelterminen, Reiseplänen und Heimlichkeiten. Was kein Mathematiker berechnen kann, und
warum manche Patienten bewusst ungezählt bleiben. Neuste Erkenntnisse aus der HIVKohortenstudie.
«Statt der klassischen
Methode, neue Diagnosen
aufzusummieren und die
Zahl der Todesfälle abzuziehen, greift die neue Studie
darüber hinaus auf Daten
zurück, die Hinweise auf
die HIV-Verbreitung geben
können.»
Es klingt ernüchternd. Von allen HIV-Infizierten
in der Schweiz erhalten nur 68 Prozent eine
wirksame Behandlung. Kann das sein? Laut
einer neuen Studie aus der Schweiz, welche
die Daten der Schweizerischen HIV-Kohortenstudie (SHCS) nutzt, sieht es ganz danach aus.
Zwar lügen die Zahlen nicht, sie beschreiben
aber auch eine Realität, die komplexer ist, als
es auf den ersten Blick wirkt. Denn hinter jeder Zahl steht ein Mensch, ein Schicksal, ein
Lebensweg.
Zuerst die gute Nachricht: In der Schweiz
gibt es weniger HIV-Infizierte als gedacht. Im
Jahr 2012 nahm man zunächst an, dass hierzulande zwischen 22 000 und 29 000 Menschen
das Virus tragen. In diesem Wert enthalten ist
auch die unbeweisbare «Dunkelziffer», also
die geschätzte Zahl von Menschen, die noch
nichts von ihrer Infektion wissen und nicht
diagnostiziert sind. Die neue Studie* zeigt nun,
dass die Verbreitung des Virus einige Tausend
Menschen weniger trifft als angenommen.
Die korrigierte Statistik
* The HIV care cascade in Switzerland:
­reaching the UNAIDS/WHO targets for
patients diagnosed with HIV. Kohler, P.,
Schmidt, A., Cavassini, M., Furrer, H.,
Calmy, A., Battegay, M., Bernasconi, E.,
Ledergerber, B., Vernazza, P. and the Swiss
HIV Cohort Study. AIDS, 2015, Bd. 29, S.
2509–2515.
8
Swiss Aids News 4 | Dezember 2015
Das Forscherteam errechnete, dass 15 200 Menschen im Jahr 2012 mit HIV infiziert waren.
Woher kommt diese drastische Reduktion?
Axel Jeremias Schmidt, Koautor der Studie und
Epidemiologe am Kantonsspital St. Gallen und
an der London School of Hygiene and Tropical
Medicine, kann die Zahlen in der Studie erklären. «Wir haben die Schätzungen präzisiert und
die Daten der SHCS mit weiteren Informationen angereichert», sagt der Mediziner. Statt
der klassischen Methode, neue Diagnosen
aufzusummieren und die Zahl der Todesfälle
abzuziehen, greift die neue Studie darüber hinaus auf Daten zurück, die Hinweise auf die
HIV-Verbreitung geben können. Denn lediglich die Zahl der gestorbenen Aidspatienten
von der Summe der lebenden HIV-Infizierten
zu subtrahieren, liefert nur ein grobes Bild.
«Heute sterben HIV-Positive immer seltener an
Aids, weil die Behandlung besser ist», so Axel J.
Schmidt. Ist die Todesursache ein Herzinfarkt
oder ein Unfall, wird auf dem Totenschein nicht
unbedingt vermerkt, dass der Tote Virusträger
war. Und schon ist ein Fehler in der Statistik.
In der aktuellen Studie wurde zudem die
Dunkelziffer auf einem komplizierteren, aber
realistischeren Weg ermittelt. Daten der SHCS
wurden mit Ergebnissen aus europäischen
Untersuchungen gekoppelt, sodass geschätzt
werden konnte, wie viele Menschen unwissend
Virusträger sind. Diese Schätzwerte basieren
unter anderem auf der Erfahrung, dass sich
bestimmte Bevölkerungsgruppen unterschiedlich häufig auf HIV testen lassen. Für die Gruppe der MSM, der Männer, die Sex mit Männern
haben, schätzt man beispielsweise, dass 13,5 Prozent der HIV-Infizierten nicht von ihrer Infektion wissen. Der gleiche Wert gilt für die
Gruppe der Menschen, die Injektionsdrogen
verwenden, kurz IDU. Im Vergleich zu ­anderen
Bevölkerungsgruppen mit geschätzten 25 Prozent an nicht diagnostizierten Fällen liegt der
Wert niedriger, da man weiss, dass sowohl MSM
als auch IDU sich regelmässiger testen lassen.
Auf der Strecke geblieben
So erfreulich die geringere Zahl an HIV-Infizierten auch ist, es bleibt noch immer der hohe Anteil jener, die keine wirksame Therapie
erhalten. Denn 32 Prozent aller Infizierten stehen mit unverändert hoher Viruslast da. Diese
Zahlen gilt es genauer zu betrachten: Zunächst
können Ärzte keine Infizierten behandeln,
die als Teil der Dunkelziffer geschätzt sind
und selbst nichts von ihrer Infektion wissen.
Daher muss von der Zahl der diagnostizierten
Fälle ausgegangen werden. Hier versteckten
sich nun das typisch Menschliche, das Verhalten des Einzelnen und die statistisch nicht zu
vermeidenden Fehler in der Statistik. «Man
muss die gesamte Versorgungskaskade bei
HIV-Infizierten betrachten, dann lassen sich
die Zahlen erklären», sagt Schmidt. Geht man
von der Zahl der diagnostizierten Fälle aus, so
biegen bei jedem Schritt der Versorgung Menschen ab (siehe Grafik).
Schritt für Schritt durch die
Versorgungskaskade
So begleitet die Statistik infizierte Menschen auf dem Weg zur erfolgreichen
Therapie. Von 100 diagnostizierten Fällen in der Schweiz erhielten 84 im Jahr
2012 eine Therapie, mit der die Viruslast gesenkt wurde.
Schritt e
Schritt r
Schritt t
Geschätzte
HIV-Fälle
Diagnostizierte
HIV-Fälle
Erster Besuch beim
HIV-Spezialisten
  
124
100
99
–

–
1

2
Schritt u
Schritt i
Schritt o
Regelmässig beim
HIV-Spezialisten
Medikamententherapie
Therapie
wirkt
  
97
–


9
88
84
–

4
Quelle: A. J. Schmidt, Zahlen von 2012
Nach einem positiven Test erscheinen nicht
alle Infizierten in einem Behandlungszentrum.
Warum? «Bei vielen Menschen hängt das mit
dem Zeitpunkt des Tests zusammen», erklärt
der Gesundheitswissenschaftler. Mancher wolle erst noch einen zweiten Test machen, bevor
er sich in einem Behandlungszentrum melde.
Andere bewältigten gerade eine Trennung vom
Partner, zögen in eine andere Stadt, hätten eine
lange Reise gebucht, wollten erst Prüfungen
im Studium hinter sich bringen oder seien ohnehin nur für kurze Zeit in der Schweiz gewesen. Diese Lebensbereiche führten bei einigen
Infizierten zu einem verspäteten Auftauchen
in einem Zentrum, womöglich noch nicht einmal in der Schweiz. Manche Menschen hindere
zudem grosse Angst, ein Sprachproblem, oder
sie befürchteten, beim Arztbesuch von einem
Nachbarn gesehen zu werden, sodass sich der
Erstkontakt mit dem Spezialisten um Wochen,
Swiss Aids News 4 | Dezember 2015
9
FORSCHUNG
Monate oder gar ein Jahr verzögere. «Erstaunlich an der Schweizer Kaskade ist aber, dass
dieser Anteil sehr klein ist.»
Bei jedem Schritt entlang der Versorgungskaskade biegt ein weiterer Teil der Infizierten
ab, der schliesslich nicht bei der Station «Therapie wirkt» ankommt. Ein Teil bleibt so vor
der Station «Regelmässige Besuche beim HIVSpezialisten» stehen und ein weiterer, bevor
eine Medikamententherapie begonnen wird.
Zuletzt biegen 4 Prozent der Infizierten ab,
die eine Therapie beginnen, bei denen die
«So erfreulich die geringere Zahl an
HIV-Infizierten auch ist, es bleibt noch
immer der hohe Anteil jener, die keine
wirksame Therapie erhalten.»
Wert von durchschnittlich 19 Prozent aller HIVInfizierten, die nichts von ihrer Infektion wissen, gibt es eindeutig Verbesserungsbedarf»,
sagt Schmidt. Selbst bei der Gruppe der MSM,
wo der Anteil der Unwissenden mit 13,5 Prozent geringer ist, sei dies nötig. Ein Teil der MSM
und der IDU setze sich konsequent mit regelmässigen HIV-Tests auseinander. Ein anderer
Teil ist jedoch weniger gut in einen passenden
Testmodus eingebunden. Wenn hier Verhaltensänderungen erzielt würden, wüssten mehr
HIV-Infizierte von ihrer Infektion, wodurch sie
früher behandelt werden und das Virus nicht
verbreiten könnten. Dann wären die Verluste in
der Versorgungskaskade nur noch statistische
Schönheitsfehler anstatt medizinische Lücken.
six
Virus­last aber nicht reduziert ist. Jeder ­dieser
Verluste von Schritt zu Schritt macht den Eindruck, als bekäme ein Kranker keine Medikamente oder als versage die Therapie. Dabei
handelt es sich vor allem um unvermeidbare
Folgen der Erhebung, die hier Individuen aus
der Statistik herausmarschieren lassen. «Wenn
der Erhebungszeitpunkt für einzelne Patienten
kurz nach Therapiebeginn liegt, erhalten wir
hier einen weiteren Patienten, bei dem die
Medikamente scheinbar nicht gewirkt haben,
obwohl die volle Wirksamkeit vier Wochen
später zu sehen wäre», sagt Schmidt.
Insgesamt, so ist er überzeugt, verläuft die Kaskade von der Diagnose bis zur erfolgreichen
Therapie in der Schweiz sehr gut. Ganz anders
sieht dies im aussereuropäischen Ausland
aus: In den USA erhält nur ein Viertel aller
Menschen mit HIV-Diagnose eine wirksame
Therapie. Der Grund ist hier der tatsächlich
schlechtere Zugang zu Medikamenten. «Verliert man in den USA den Job, ist in der Regel
auch die Krankenversicherung weg – und die
Medikamente werden unbezahlbar», erklärt
der Wissenschaftler.
Deutlich ist an der schweizerischen Versorgungskaskade, dass die Verluste zwischen
erfolgter Diagnose und wirksamer Therapie
kaum zu mindern sind. Sichtbar wird aber
auch, dass der Erfolg der Kaskade massgeblich
durch den Anteil der nicht diagnostizierten
Fälle beeinflusst wird. «Bei einem geschätzten
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Swiss Aids News 4 | Dezember 2015
© Fotolia: connel_design
Verbesserungspotenzial vorhanden
Herr Schmidt, wie steht die Schweiz in
der HIV/Aids-Behandlung da?
Woran liegt dieser frühe
Behandlungsbeginn?
Wenn ich die Versorgungskaskaden
anderer Länder in Westeuropa ansehe,
gibt es eigentlich keine relevanten Unterschiede. Die Schweiz steht allerdings besonders gut da. Das gilt insbesondere für
die letzten beiden Stufen der Kaskade,
die Versorgung mit Medikamenten und
den Anteil an Patienten mit erfolgreich
unterdrückter Viruslast. Vorgaben der
Weltgesundheitsorganisation werden
hier eingehalten oder sogar übertroffen.
In der Schweiz wurde bereits 2008 sehr
mutig kommuniziert, dass Infizierte
unter wirksamer Therapie nicht mehr
ansteckend sind. Das hat dazu geführt,
dass viele Patienten eine HIV-Behandlung frühzeitig beginnen wollten. Die
Motivation dahinter ist sehr häufig der
Wunsch, den Partner vor der Infektion zu
schützen. Diese Motivation ist nicht
zu unterschätzen.
Das gilt aber nur für Westeuropa?
Ja. Es existiert ein deutliches Ost-WestGefälle. In Ländern der ehemaligen
Sowjetunion ist der Zugang zu Medikamenten nicht gesichert, insbesondere der
Zugang zu den neuesten Medikamenten.
Letzteres gilt auch für osteuropäische
EU-Länder und die Türkei.
«Vorgaben der Weltgesund­
heitsorganisation WHO werden
hier eingehalten oder sogar
übertroffen.»
Und warum schneidet die Schweiz
besser ab als viele andere Länder?
Ein Grund ist, dass viele Patienten hierzulande eine Therapie beginnen wollen,
bevor es gemäss den europäischen
Richtlinien klinisch notwendig ist. Das
bedeutet, HIV-Infizierte sind bei uns
kürzere Zeit ansteckend als in anderen
Ländern, da das Virus bereits in einem
frühen Stadium niedergezwungen wird.
Unterscheiden sich nur die Patienten
oder auch die Ärzte im internationalen Vergleich?
Für die behandelnden Ärzte in der
Schweiz geht ein zusätzlicher Anreiz von
der nationalen Kohortenstudie aus. Da
die Mehrheit der Patienten in die Studie
eingeschlossen ist, sind die Mediziner
umso mehr interessiert, Patienten mit
HIV regelmässig einzubestellen und sich
im Zweifelsfall darum zu kümmern, dass
der Patient wiederkommt. Davon profitiert auch der Erfolg der Versorgungskaskade.
six
Zvg
«Die Motivation, den Partner zu
schützen, ist nicht zu unterschätzen»
Dr. Axel J. Schmidt forscht seit
zehn Jahren als Epidemiologe und
Gesundheitswissenschaftler zu den
Themen HIV, Hepatitis und sexuell
übertragene Infektionen, speziell
bei Männern mit gleichgeschlechtlichen Sexualkontakten. In Deutschland war er am Robert-Koch-Institut
und am Wissenschaftszentrum
Berlin für Sozialforschung tätig. Er
hatte die wissenschaftliche Leitung
des Europäischen MSM Internet
Survey (EMIS) und ist Research
Fellow an der London School of Hygiene and Tropical Medicine (Sigma
Research) sowie wissenschaftlicher
Mitarbeiter des Bundesamts für
Gesundheit in Bern. Dr. Schmidt
ist seit drei Jahren in der Schweiz,
war unter anderem zwei Jahre Arzt
am Checkpoint Zürich und arbeitet
seit Ende 2014 ausserdem als Arzt
in der infektiologischen Ambulanz
des Kantonsspitals St. Gallen und
betreut dort die Sprechstunde für
sexuell übertragene Infektionen.
Swiss Aids News 4 | Dezember 2015
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DIE BESTEN JAHRE
Altern mit HIV:
Worauf muss man achten?
Älterwerden mit HIV ist auch für die Schweizerische HIV-Kohortenstudie (SHCS) ein
Thema. Dr. med. Helen Kovari hat unsere Fragen zum Forschungsstand beantwortet.
Zvg
Seit wann ist man sich in der SHCS
des Themas Älterwerden mit HIV
bewusst?
Dr. med. Helen Kovari ist
Oberärztin an der Klinik für Infektionskrankheiten und Spitalhy­
giene des Universitätsspitals Zürich
und Koleiterin der «Metabolic und
Aging»- Studie der Schweizerischen
HIV-Kohortenstudie.
Spätestens seit man weiss, dass Menschen mit HIV unter antiretroviraler
Therapie wahrscheinlich eine vergleichbar hohe Lebenserwartung haben wie
die HIV-negative Allgemeinbevölkerung.
So steht das Thema Komorbiditäten
im Fokus. Damit ist das Auftreten von
Altersbeschwerden gemeint, die auch
in der Allgemeinbevölkerung verbreitet
sind, zum Beispiel Herzinfarkte, Demenz,
Abnahme der Knochendichte, Nierenschäden etc. Eine brennende Frage ist, ob
Menschen mit HIV früher altern.
Was für Studien laufen zurzeit in
diesem Bereich?
In der SHCS laufen verschiedene Projekte zu diesem Thema. Ein Kernprojekt
ist die «Metabolic and Aging»-Studie
(M+A-Studie). Sie umfasst gesamtschweizerisch 1000 Menschen mit HIV ab 45
Jahren, davon 350 in Zürich. Wir messen
alle zwei Jahre die Knochendichte
und Hirnleistungen der Patienten und
untersuchen den Urin. In Zürich und
Genf untersuchen wir zusätzlich die
Herzkranzarterien und suchen nach Ablagerungen, die später zu einem Herzinfarkt führen können. Wir vergleichen die
Befunde mit denjenigen HIV-negativer
Personen, um herauszufinden, ob diese
Vorstufen des Herzinfarktes in einem
früheren Alter häufiger auftreten und
rascher fortschreiten.
Mit welchen Schwierigkeiten ist die
Forschung hier konfrontiert?
Um mit etwas Positivem anzufangen:
Unsere HIV-positiven Patienten sind sehr
interessiert und motiviert, bei dieser
Forschung mitzumachen. Schwierig ist
die Logistik, die Studien sind zeitintensiv
12
Swiss Aids News 4 | Dezember 2015
und wegen der Untersuchungen auch
relativ teuer. Eine besondere Herausforderung ist es, eine Kontrollgruppe
HIV-negativer Personen zu finden, die
sich zum Beispiel in Bezug auf Rauchen
oder den allgemeinen Lebenswandel gut
vergleichen lässt.
Was für Probleme treten bei alternden
Menschen mit HIV verstärkt auf?
Eine besondere Herausforderung bei
Menschen mit HIV ist die Einnahme
verschiedener Medikamente; allfällige
Wechselwirkungen und gegenseitige
Beeinflussung der Therapien müssen gut
beobachtet werden. Es ist auch nicht bekannt, ob ältere Menschen mit tieferem
Körpergewicht oder eingeschränkter
Nierenfunktion tiefere Dosierungen der
HIV-Therapie brauchen. Hier sind also
noch viele Fragen offen.
Was sind erste Erkenntnisse, worauf
Menschen mit HIV achten sollen in
Bezug auf das Älterwerden?
Sie sollten auf dieselben Dinge achten
wie die Allgemeinbevölkerung: ausreichend Bewegung, gesunde Ernährung
und Nichtrauchen. Hinzu kommt die regelmässige Einnahme der Medikamente.
nsch
Die besten Jahre
Viele Menschen mit HIV sind
mittlerweile in den besten Jahren.
In dieser Rubrik gehen die SAN
Themen nach, die für sie von
besonderem Interesse sind.
…
SAMMELSURIUM
AUSSTELLUNG
ALBUM
John Grant: «Grey Tickles,
Black Pressure»
Nicole Bachmann:
«Endstation Bern»
Nachdem John Grant die Rockband
The Czars durch sein unberechenbares
Verhalten zur Auflösung getrieben hatte,
überredete ihn die befreundete Band
Midlake 2010 zum Soloalbum «The Queen
of Denmark», das prompt vom Musikmagazin «Mojo» zum Album des Jahres
gewählt wurde.
In der Privatklinik Walmont in Bern ist
der Teufel los. Die Klinik muss nach allen
Regeln der Geschäftskunst lukrativer
werden. Will heissen, konkurrenzfähiger,
mit Kundenbindung und mehr Kunden-,
als Spitalpflege.
© Swen Marcel
© Emons Verlag
«SuperQueeroes – Unsere
LGBTIQ*Comic Held_innen»
KRIMI
Berlin ist zu jeder Jahreszeit eine Reise
wert. Ist man erst einmal da, kann man
getrost den Koffer stehen und sich treiben lassen.
Zum Beispiel im Schwulen Museum. Diese
einzigartige Institution wartet im neuen Jahr
mit der Ausstellung «SuperQueeroes – Unsere LGBTIQ*Comic Held_innen» auf. Dabei
stehen nicht Micky Maus und Co. im Mittelpunkt, sondern: «Wie heroisch Alltags-Storys von LGBTIQ*-Menschen sein können, die
sich in einer heteronormativen Welt – auch
einer von Zensur und Codes dominierten
Welt – durchsetzen mussten bzw. immer
noch müssen.» Ein Teil der Ausstellung ist
dem Thema Aids gewidmet. Dieser Teil wurde vom Schweizer Sammler und Comicexperten Mario Russo betreut. Ging es in den
Anfängen oft um glaubwürdige Vorkämpfer
in Sachen Safer Sex, so stehen heutzutage
die Stigma-Fighter, die die Ausgrenzung von
HIV-positiven Menschen bekämpfen und für
einen entspannten Umgang mit Positiven im
Alltag werben, in der ersten Reihe. jak
•
Schwules Museum*, Berlin
schwulesmuseum.de, ab 22. Januar 2016
Sein neues Album ist laut Grant das heiterste, das er je gemacht hat. Doch die erste
Hälfte des Albumtitels bezieht sich auf den
isländischen Ausdruck für Midlife-Crisis, die
zweite Hälfte ist türkisch für Albtraum. Grant
ringt also erneut mit seinen Dämonen: dem
Kampf mit Alkohol- und Drogenabhängigkeit
oder dem Aufwachsen als schwuler Junge in
Michigan und Colorado, wo seine religiöse
Familie und bösartige Mitschüler ihm das
Leben schwer machten. Überraschung und
Respekt erntete Grant 2012, als er sich an
einem Konzert in London als HIV-positiv
outete. Starke Songs über die Geister der
Vergangenheit und die Sehnsucht nach einer
Liebe, die alles überwindet. nsch
•
«Grey Tickles, Black Pressure», 2015 von John
Grant, Bella UnionX
Rentieren soll die Klinik, so will es
Dr. Schneider. Oberarzt Schneider, ist Vorgesetzter von Lou Beck, einer umtriebigen
Epidemiologin die diese neuen Arbeitsbedingungen nicht einfach so hinnehmen will.
Sie trägt das Herz auf dem linken Fleck,
beruflich wie auch privat. So setzt sie sich
für Sans-Papiers ein, die an multiresistenter
Tuberkulose erkrankt sind und dringend in
ärztliche Behandlung gehören. Und dann
geht in Bern auch noch ein Serienkiller
um ... Nicole Bachmann verknüpft in ihrem
Krimi gekonnt verschiedene Stränge und
nimmt die Lesenden mit auf eine medizinische Bildungsreise, ohne die politischen
und sozialen Komponenten rund um eine
lebensgefährliche Krankheit und Menschen
ohne Aufenthaltsstatus auszublenden. Der
Krimi, dessen Schauplätze allen Bernkennern bekannt sein dürften, kommt mit Drive
und etlichen Überraschungen daher. Der
Plot ist brandaktuell, stellenweise etwas gar
aufgeregt, lesenswert ist er allemal.
jak
•
«Endstation Bern» von Nicole Bachmann,
Krimi aus der Schweiz, emons Verlag
Swiss Aids News 4 | Dezember 2015
13
I N S E R AT
la_ceylor_inserat_Y+_210x292_gleitgel_GzD_de.pdf
1
21.10.15
13:19
Die neuen Gleitgele.
Sinnlich. Exotisch. Samtweich.
14
Swiss Aids News 4 | Dezember 2015
MEINUNG
Gegendarstellung zu SAN 3/15
Hepatitis C – die unterschätzte Krankheit
Die Swiss Aids News haben die September-Ausgabe dem Thema
Hepatitis C gewidmet. Dies ist sehr erfreulich, ist doch Hepatitis C
für die öffentliche Gesundheit ähnlich relevant wie HIV. Die Ausgabe
zeigt uns jedoch auch, dass noch einiges an Aufklärungspotenzial
besteht. Hepatitis C wird oft unterschätzt, weil die Krankheit über
Jahrzehnte schleichend voranschreitet. Und weil sie oft keine oder
keine spezifischen Symptome zeigt. Das macht sie gerade so gefährlich. Wir meinen: Insbesondere die erwähnten Zahlen auf Seite 3
der letzten SAN-Ausgabe (Frisch von der Leber weg) greift zu kurz
und wird der Krankheit Hepatitis C nicht gerecht. Gerne nehmen
wir dazu Stellung.
Die Feststellung im Text, wonach nur eine von drei Personen krank
werde und man deshalb nicht alle behandeln müsse, stimmt so
nicht. Nach einer Ansteckung führt Hepatitis C gemäss neuesten
Erkenntnissen rasch zu einer Vernarbung der Leber, bei einem von
fünf Betroffenen innerhalb von 10 Jahren gar zu einer Leberzirrhose
(Butt 2015). Selbst wenn Betroffene keine spezifischen Symptome
haben sollten, sind sie nicht gesund. Und sie leben mit einem erhöhten Risiko für Leberfolgeerkrankungen, insbesondere Leberkrebs.
Hepatitis C ist eine Infektionskrankheit, die den ganzen Körper befällt, nicht nur die Leber (Negro 2015). Mögliche Folgen von
Hepatitis C sind Krankheiten wie Diabetes, Arterienverkalkung,
Lymphdrüsenkrebs, chronische Hautkrankheiten, Nierenentzündungen, Depression und weitere. Hepatitis C verursacht bei vielen
Betroffenen in unterschiedlicher Ausprägung und unabhängig vom
Leberbefall Müdigkeit – darüber klagen mehr als die Hälfte der
Betroffenen –, Konzentrationsschwäche, Gelenkschmerzen und etliche andere Symptome, die sich negativ auf die Lebensqualität und
Arbeitsfähigkeit auswirken (Sarkar 2012).
In der Schweiz starben seit dem Jahr 2001 mehr Menschen an
den Folgen von Hepatitis C als an den Folgen von HIV (Quelle:
Bundesamt für Statistik). Hepatitis-C-Betroffene sterben nicht nur
häufiger an Lebererkrankungen als die Allgemeinbevölkerung,
sondern weisen allgemein ein erhöhtes Sterblichkeitsrisiko auf,
erklärbar durch die erwähnten Folgeerkrankungen wie Diabetes
und Arterienverkalkung (Lee 2012).
Mit einer Hepatitis-C-Therapie kann nicht nur die Infektionskrankheit geheilt, sondern es können auch die Folgekrankheiten verhindert werden (Van der Meer 2012). Doch Behandeln alleine reicht
nicht. Die Menschen und das Gesundheitspersonal müssen auch
Bescheid wissen: Es braucht angesichts der Dunkelziffer von über
der Hälfte der Betroffenen zusätzliche Massnahmen beim Testen.
Ebenso müssen die Medikamente günstiger werden.
Diesen und vielen Themen mehr nimmt sich die nationale schweizerische Hepatitis-Strategie an. 80 Persönlichkeiten aus Medizin,
Public Health, Betroffenenorganisationen, Wirtschaft, Krankenversicherungen sowie Politik arbeiten seit knapp zwei Jahren an einem
umfassenden Massnahmenplan. Als Vision hat die schweizerische
Hepatitis-Strategie die Elimination der viralen Hepatitis bis 2030
definiert.e
Die schweizerische Hepatitis-Strategie kann viel lernen von den
erfolgreichen HIV-Projekten in der Schweiz. Umgekehrt könnte
Hepatitis wichtige neue Inhalte für die etablierten Strukturen im
HIV-Bereich liefern. Wenn das geschieht, kann die Elimination Realität werden.
Mehr Informationen unter: www.hepatitis-schweiz.ch.
Philip Bruggmann
Leiter schweizerische Hepatitis-Strategie
Bemerkung
e Auch die WHO ist zurzeit an der Ausarbeitung einer globalen Strategie. Diese
sieht ebenfalls die Elimination der viralen Hepatitis vor.
Literaturhinweise
Butt A, Yan P, Lo Re V, et al. Liver Fibrosis Progression in Hepatitis C Virus Infec-
Lee M, Yang H, Lu S, et al. Chronic Hepatitis C Virus Infection Increases Mortality
tion After Seroconversion. JAMA Intern Med. 2015;175(2):178–185
From Hepatic and Extrahepatic Diseases: A Community-Based Long-Term Prospec-
Negro F, Forton D, Craxi A, et al. Extrahepatic Morbidity and Mortality of Chronic
Hepatitis C. Gastroenterology 2015;149:1345–1360
Sarkar S, Jiang Z, Evon D, et al. Fatigue Before, During and After Antiviral Therapy
of Chronic Hepatitis C: Results from the Virahep-C Study. J Hepatol 2012; 57 (5):
tive Study. JID 2012;206:469–77
Van der Meer A, Bart J, Feld J, et al. Association Between Sustained Virological
Response and All-Cause Mortality Among Patients With Chronic Hepatitis C and
Advanced Hepatic Fibrosis. JAMA. 2012;308(24):2584–2593
946–952
Swiss Aids News 4 | Dezember 2015
15
RECHT
Diskriminierungsmeldungen 2015
Frau B. wurde plötzlich von einer Vielzahl ihrer Bekannten auf ihre HIV-Infektion angesprochen, obwohl sie nur ihr engstes Umfeld über ihre HIV-Infektion informiert hatte. Nach
einiger Zeit stellte sich heraus, dass die Ex-Freundin ihres neuen Partners dessen Handy
ausspioniert und so von ihrer HIV-Infektion erfahren hatte. Aus Wut über die neue Partnerin
schickte diese sämtlichen Handykontakten des Ex-Freundes ein MMS mit einem Foto von
Frau B. und der Mitteilung, dass sie HIV-positiv ist. Das ungewollte Outing zog schwerwiegende psychische Folgen nach sich.
Dies ist eine von 116 Diskriminierungen, die
der Aids-Hilfe Schweiz 2015 gemeldet wurden.
Im Auftrag des Bundesamts für Gesundheit amtiert die Aids-Hilfe Schweiz als eidgenössische
Meldestelle für Diskriminierungen und Datenschutzverletzungen von Menschen mit HIV. Sie
sammelt die ihr gemeldeten Fälle und leitet
sie zweimal jährlich in anonymisierter Form
an die Eidgenössische Kommission für sexuelle Gesundheit weiter. In Absprache mit
den betroffenen Personen und sofern diese es
wünschen, interveniert sie im Einzelfall. Bei
einer Häufung von Fällen in einem bestimmten Bereich, prüft sie die Einflussnahme auf
übergeordneter Ebene.
«Künftig soll das tatsächliche
Leistungsvermögen jeder Person
mit einer solchen Diagnose ergebnisoffen bewertet werden.»
Überblick
Von Ende Oktober 2014 bis Ende Oktober 2015
wurden der Aids-Hilfe Schweiz insgesamt 116
Diskriminierungen gemeldet. Damit bleibt die
Anzahl der gemeldeten Fälle auf einem hohen
Niveau, wobei es zu beachten gilt, dass die Dunkelziffer um ein Vielfaches höher sein dürfte.
Fast die Hälfte aller 2015 gemeldeten Diskriminierungen betrafen das Versicherungsumfeld mit 33 Meldungen aus dem Bereich
Sozialversicherung und 21 Meldungen aus
dem Bereich Privatversicherung. Zudem wurden 21 Datenschutzverletzungen sowie 14 Diskriminierungen im Erwerbsbereich und 10 im
Gesundheitswesen gemeldet.
Auf eine kleine Auswahl der gemeldeten
Diskriminierungen wird nachfolgend näher
eingegangen und die Rechtslage erläutert. Alle
Fälle sind echt, wurden aber zum Zweck der
Anonymisierung teilweise angepasst.
Diskriminierungsmeldungen der letzten 5 Jahre
Datenschutzverletzungen
Diverses
Militär
Strafrecht
Einreise/Aufenthalt
Gesundheitswesen
Ausländerrecht
Privatversicherungen
Sozialversicherungen
Erwerbstätigkeit
16
Swiss Aids News 4 | Dezember 2015
Versicherungsbereich
Erwerbsbereich
Dieses Jahr waren im Sozialversicherungsbereich besonders viele Diskriminierungen bei
der Krankenpflegeversicherung zu verzeichnen. Mehrere Meldungen gab es auch von Personen, die sich selbstständig machen wollten,
aber keine Krankentaggeldversicherung abschliessen konnten.
Diskriminierungsmeldungen im Bereich Erwerbstätigkeit haben in diesem Jahr etwas
abgenommen. Nach wie vor ziehen Diskriminierungen in diesem Umfeld jedoch meist
gravierende Folgen nach sich.
Ein in die Schweiz zurückgekehrter Aus­
land­­­schweizer hatte die Krankenkasse vor
dem Abschluss der Versicherung über seine
bestehende HIV-Infektion informiert. Diese
teilte ihm mit, dass er keine Grundversicherung abschliessen könne, solange er nicht erwerbstätig sei.
Rechtslage: Hierbei handelt es sich um eine
Falschaussage, vermutlich mit der ­Motivation,
die Kosten einer HIV-positiven Person nicht
tragen zu müssen. Alle in der Schweiz wohnhaften Personen haben das Recht, ohne Gesundheitsfragen und vorbehaltlos in die Grundversicherung aufgenommen zu werden. Eine
Erwerbstätigkeit ist nicht vorausgesetzt.
Eine Frau wollte eine Stelle als Kinderbe­
treuerin annehmen. Die Arbeitgeberin verlangte von ihr den Abschluss einer Einzeltaggeldversicherung und die Bestätigung des
Versicherungsabschlusses. Aufgrund ihrer
HIV-Infektion wurde die Frau aber von der
Versicherung abgewiesen. Die Arbeitgeberin
fragte sie nach den Gründen der Ablehnung
und nahm ihr Jobangebot zurück.
Rechtslage: Bei der Krankentaggeldversicherung handelt es sich um eine private Versicherung. Solche Versicherungen dürfen eine
Risikoselektion vornehmen und Personen mit
vorbestehenden Krankheiten ausschliessen.
Einzeltaggeldversicherungen lehnen ­Men­schen mit HIV regelmässig ab, selbst wenn
diese gut therapiert, unter der Nachweisgrenze
und nicht häufiger krank sind als HIV-negative
Personen, also kein erhöhtes Risiko besteht. Es
handelt sich hierbei um eine klare Ungleichbehandlung.
Eine Arbeitsvermittlerin wollte einen Koch
infolge seiner HIV-Infektion nicht in eine Kantine vermitteln. Sie fürchtete, dass sie haftbar
gemacht werden könnte, wenn es zu einer HIVÜbertragung im Restaurant kommen würde.
Rechtslage: In der Schweiz gibt es keine verbotenen Berufe für Menschen mit HIV, weder
im medizinischen noch im gastronomischen
Bereich. Ein Ausschluss infolge der HIV-Infektion lässt sich nicht begründen und ist klar
rechtswidrig.
«Fast die Hälfte aller 2015
gemeldeten Diskriminierungsmeldungen betrafen Sozialversicherungen und Privatversicherungen.»
Nach einem Therapiewechsel war ein
Mann längere Zeit krankgeschrieben. Der
Vorgesetzte wollte die Gründe dafür wissen.
Nachdem er ihm von seiner HIV-Infektion erzählt hatte, wurde ihm u.a. mit der Kündigung
gedroht, wenn er erneut krank werden sollte.
Aus Angst vor dem Verlust seiner Arbeitsstelle
arbeitete der Mann, obwohl er vom Arzt krankgeschrieben war.
Rechtslage: Ein Arbeitgeber darf keine Gesundheitsfragen stellen. Mit der Kündigungsandrohung hat der Arbeitgeber seine arbeitsrechtliche Fürsorgepflicht aufs Gröbste verletzt.
Gesundheitswesen
Oft wird vermutet, dass im Gesundheitsbereich
tätige Personen die Übertragungswege von HIV
kennen und entsprechend sensibilisiert sind.
Dem ist nicht immer so; Diskriminierungen im
Gesundheitswesen kommen immer wieder vor.
Ein Mann wurde vom Pflegepersonal
diskriminiert, nachdem dieses erfahren hatte,
dass er HIV-positiv ist. Die Pflegenden waren
der Ansicht, dass sie einem grossen Risiko einer HIV-Ansteckung ausgesetzt seien.
Rechtslage: Unter Einhaltung der im Gesundheitsbereich ohnehin vorgeschriebenen Schutzmassnahmen kann eine HIV-Übertragung ausgeschlossen werden. Das Pflegepersonal hat mit
seinem Verhalten seine Pflicht zur sorgfältigen
und würdevollen Behandlung verletzt.
Swiss Aids News 4 | Dezember 2015
17
© kallejipp / photocase.com
R E C H T Rechtsberatung
der Aids-Hilfe Schweiz
Wir beantworten kostenlos Rechtsfragen
im Zusammenhang mit HIV in folgenden
Gebieten:
Sozialversicherungsrecht
Sozialhilferecht
Privatversicherungen
Eine Frau hatte das Personal eines Pflegeheims über ihre HIV-Infektion informiert.
Daraufhin wurde sie schikaniert und es wurde ihr nach einem Zusammenbruch sogar die
Hilfeleistung verweigert.
Rechtslage: Die nicht gebotene Hilfeleistung
erfüllt den Straftatbestand der Unterlassung
der Nothilfe, welche mit Freiheitsstrafe bis zu
drei Jahren oder Geldstrafe geahndet wird. Die
Leitung des Pflegeheims hätte hier eine Pflicht
gehabt, die Schikanen sofort zu unterbinden
und gegenüber den verantwortlichen Mitarbeitenden personalrechtliche Konsequenzen
zu ergreifen.
Datenschutzverletzungen
Datenschutzverletzungen kommen in allen Bereichen vor: am Arbeitsplatz, im Freundes- und
Familienkreis, im medizinischen Umfeld und
bei Behörden. Eine Zunahme ist im Bereich der
Social Media zu verzeichnen, wo via Facebook,
Partnerplattformen oder SMS HIV-positive Personen geoutet werden.
Arbeitsrecht
Datenschutzrecht
Patientenrecht
Einreise- und Aufenthaltsrecht
Öffnungszeiten
Di und Do 9–12, 14–16 Uhr
Tel. 044 447 11 11
[email protected]
Ein HIV-positiver Mann wurde von seiner
Hausärztin an eine Dermatologin überwiesen.
Bei der Dermatologin stellte der Mann fest, dass
auf der Überweisung der Vermerk «HIV-positiv» angebracht und mit Leuchtstift markiert
war. Als die Dermatologin eine Spezialistin
hinzuziehen musste, wies sie diese auf die HIVInfektion hin mit den Worten «der Patient ist
übrigens HIV-positiv, du musst also aufpassen».
Der Patient fühlte sich wie ein Aussätziger.
Rechtslage: Ärztinnen und deren Hilfspersonen unterstehen der beruflichen Schweigepflicht. Diese gilt auch gegenüber anderen
Medizinalpersonen. Die Weitergabe von Gesundheitsdaten an andere Ärzte oder Medizinalpersonen (Physiotherapeuten, Apotheker
etc.) bedarf daher der ausdrücklichen Einwilligung des Patienten. Liegt diese nicht vor,
wird der Straftatbestand der Verletzung des
Berufsgeheimnisses erfüllt. Dies gilt auch für
Geistliche, Anwältinnen, Revisoren und Psychologinnen.
Eine Frau hatte eine Arbeitskollegin im
Vertrauen über ihre HIV-Infektion informiert,
worauf diese die Diagnose sämtlichen Arbeitskolleginnen des Betriebs weitererzählt hat. Die
Frau wurde in der Folge vom Team gemieden
18
Swiss Aids News 4 | Dezember 2015
und es wurde permanent hinter ihrem Rücken
getuschelt.
Rechtslage: Die Arbeitskollegin hat sich einer
Datenschutzverletzung schuldig gemacht, welche zivilrechtlich geahndet werden kann. Der
Arbeitgeber hätte hier zudem aufgrund seiner
Fürsorgepflicht zum Schutz der gemobbten Mitarbeiterin intervenieren müssen, falls er über
die Geschehnisse informiert war.
Mangelhafter Diskriminierungsschutz in der Schweiz
Im internationalen Vergleich schneidet die
Schweiz im Diskriminierungsschutz schlecht
ab. Ein Antidiskriminierungsgesetz, wie es
die meisten europäischen Länder kennen,
fehlt. Zahlreiche politische Vorstösse im Parlament sind gescheitert; der Bundesrat vertritt
bis anhin die Meinung, dass die bestehenden
Regelungen im Straf-, Privat- und öffentlichen
Recht ausreichenden Schutz bieten. Ein Blick
auf die gemeldeten Fälle zeigt jedoch, dass dem
nicht so ist. Umso wichtiger ist die Durchführung von Aufklärungskampagnen und das
Monitoring von Diskriminierungen. So kann
versucht werden, im Einzelfall zu intervenieren. Die Meldungen dienen aber auch dazu,
gesellschaftliche Tendenzen aufzuspüren und
notfalls auf übergeordneter Ebene Einfluss zu
nehmen. cs/ce/jh
Diskriminiert? Melden Sie sich bei uns!
Um ein umfassendes Bild der aktuellen Diskriminierungslage zu erhalten, gezielt dagegen
anzukämpfen und informieren zu können, ist
die Aids-Hilfe Schweiz auf Ihre Meldung angewiesen. Teilen Sie uns Fälle mit, welche Ihr
Rechtsempfinden verletzen. Auf www.aids.ch/
leben-mit-hiv/beratung-information/diskriminiert.php finden Sie ein entsprechendes Formular. Die Angaben werden streng vertraulich
behandelt. Sie haben auch die Möglichkeit,
anonym zu bleiben, wenn Sie dies wünschen.
FORUM RECHT
Sie fragen – wir antworten
Erwähnung von Krankheitsabsenzen im
Arbeitszeugnis
Anlässlich einer Reorganisation im Betrieb
wurde mir nach 17-jähriger Tätigkeit gekündigt. Ich habe nun das Schlusszeugnis bekommen. Es ist ein gutes Zeugnis, jedoch wird
darin erwähnt, dass ich des Öfteren krank
war. Das ist korrekt, ich musste in der Vergangenheit mehrere Male die Therapie wechseln und fiel dann jeweils einige Wochen aus.
Seit drei Jahren hat sich meine Therapie
aber gut eingependelt und ich kann meine
Krankheitstage fast an einer Hand abzählen.
Darf ich verlangen, dass der Arbeitgeber
die Krankheitsabwesenheiten streicht? Und
kann ich verlangen, dass der Arbeitgeber im
Arbeitszeugnis festhält, dass es uncodiert ist?
Antwort von Dr. iur. Caroline Suter
Eine krankheitsbedingte ­Arbeitsverhinderung
darf in einem Arbeitszeugnis nur dann erwähnt werden, wenn dies für die Gesamtbeurteilung der Arbeitsleistung notwendig ist.
Dies ist gemäss Bundesgericht dann der Fall,
wenn eine Krankheit erheblichen Einfluss
auf die Leistung und/oder auf das Verhalten
des Arbeitnehmers bzw. der Arbeitnehmerin
hat oder wenn eine Krankheit die Eignung
für den Job infrage stellt. Berücksichtigt wird
dabei das Verhältnis zwischen der Dauer des
Arbeitsverhältnisses und der Dauer der Krankheitsabsenz. Nur wenn die krankheitsbedingte
Arbeitsverhinderung im Verhältnis zur Dauer
der Anstellung erheblich ins Gewicht fällt,
darf sie im Arbeitszeugnis erwähnt werden.
Sie haben 17 Jahre im Betrieb gearbeitet. Einige
Wochen Krankheitsabsenzen fallen dabei nicht
ins Gewicht und dürfen deshalb nicht erwähnt
werden. Anders würde dies aussehen, wenn
Sie beispielsweise nur ein Jahr im Betrieb tätig
gewesen wären. Dann würde ohne Erwähnung
der Krankheitsabsenz gemäss der bundesgerichtlichen Rechtsprechung beim neuen Arbeitgeber ein falscher Eindruck bezüglich der
erworbenen Berufserfahrung entstehen. Eine
Diagnose, wie beispielsweise die HIV-Infektion,
dürfte aber in einem Arbeitszeugnis unter keinen Umständen erwähnt werden.
«Es ist ein gutes Zeugnis, jedoch wird
erwähnt, dass ich des Öfteren krank
war. Darf ich verlangen, dass der
Arbeitgeber die Krankheitsabwesenheiten streicht?»
Die Verwendung von Geheimcodes verstösst
gegen den Grundsatz von Treu und Glauben
und ist deshalb nicht zulässig. Sie verstossen
gegen das Klarheitsgebot. Die Anmerkung
«nicht codiert» in einem Arbeitszeugnis ist
deshalb nicht notwendig, da davon ausgegangen werden darf, dass das Zeugnis uncodiert
ist. Der Arbeitgeber könnte mit einer solchen
Anmerkung den Anschein erwecken, dass das
uncodierte Zeugnis nicht seiner normalen Praxis entspricht.
© Mary Manser
Anfrage von Frau S. H.
Dr. iur. Caroline Suter, kostenloser Rechtsdienst der Aids-Hilfe Schweiz
Melden Sie sich so schnell wie möglich bei
Ihrem Arbeitgeber und bitten Sie ihn, die
Krankheitsabsenzen herauszustreichen. Sie
haben einen Zeugnisberichtigungsanspruch,
den Sie notfalls auf dem Klageweg durchsetzen können.
Swiss Aids News 4 | Dezember 2015
19
I N S E R AT
Hier wird dir
geholfen!
Dr. Gay beantwortet online Fragen
zu Sex, Homosexualität, Coming Out,
schwuler Gesundheit, Liebe und
Beziehung.
Für eine persönliche Beratung oder
eine Behandlung ist der Checkpoint
in deiner Nähe für dich da – in Zürich,
Basel, Lausanne und Genève.
www.drgay.ch