Big Data Die HIV-Kohortenstudie - Aids
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Big Data Die HIV-Kohortenstudie - Aids
MEDIZIN | GESELLSCHAF T | RECHT Swiss Aids News 4 | DEZEMBER 2015 Big Data Die HIV-Kohortenstudie E D I T O R I A L Liebe Leserin Lieber Leser IMPRESSUM Herausgeber Aids-Hilfe Schweiz (AHS) Bundesamt für Gesundheit BAG Redaktion Brigitta Javurek (jak), Journalistin BR, Chefredaktion Dr. iur. LL. M. Caroline Suter (cs) BLaw Cliff Egle (ce), MLaw Julia Hug (jh) Dr. Andrea Six, Wissenschaftsjournalistin (six) lic. phil. Stéphane Praz (sp) Noëmi Baumann (nb) Nathan Schocher, Programmleiter Menschen mit HIV (nsch) Bildredaktion Mary Manser Gestaltung Ritz & Häfliger, Visuelle Kommunikation, Basel SAN Nr. 4, Dezember 2015 © Aids-Hilfe Schweiz, Zürich Die SAN erscheinen dreimonatlich in einer Auflage von 2700 Exemplaren mit der Unterstützung von: Bundesamt für Gesundheit, Bern Boehringer Ingelheim (Schweiz) AG Bristol-Myers Squibb SA Die industriellen Partner der Swiss Aids News nehmen keinen Einfluss auf deren Inhalt. Abo-Service Redaktion Swiss Aids News Aids-Hilfe Schweiz Postfach 1118, 8031 Zürich Tel. 044 447 11 11 [email protected], www.aids.ch Jeweils im Herbst ziehen sie los, zeichnen prächtige Formationen in den Himmel, auf der Suche nach einem Winterquartier: Scharen von Staren. Natürlich widmen sich die letzten Swiss Aids News in diesem Jahr nicht den Vögeln, sondern einer Kohorte, genauer der Schweizerischen HIV-Kohortenstudie. Eine Gemeinsamkeit gibt es gleichwohl. Der Begriff Kohorte leitet sich aus dem Lateinischen «cohors», was so viel wie Schar oder Gefolge bedeutet, ab. Die Sozialwissenschaft spricht von einer Kohorte, wenn alle Menschen einer Gruppe, mindestens eine Gemeinsamkeit haben. In der grossen Datensammlung der Schweizerischen HIV-Kohortenstudie, haben alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer von Beginn weg dieselbe Krankheit: Sie sind HIV-positiv. Und sind doch verschieden. Was die Gemeinsamkeiten sind, was das Trennende ist und wie sich über lange Jahre die HIV-Infektion entwickelt, dies sind nur einige der Fragen, denen Forscher nachgehen und worauf sie Antworten suchen. Die Swiss Aids News lassen Experten und Expertinnen zu Wort kommen und werfen einen Blick hinter die Kulissen der Kohortenstudie. Weiter publizieren wir die Diskriminierungsmeldungen 2015, die leider unvermindert hoch, zu hoch sind. Das ist für die Aids-Hilfe Schweiz Ansporn und Aufgabe zu gleichen Teilen, sich weiterhin mit Verve für alle HIV-positiven Menschen einzusetzen. Auch im kommenden Jahr. Wir wüschen Ihnen und Ihren Angehörigen einen guten Flug ins neue Jahr! Daniel Seiler Geschäftsleiter der Aids-Hilfe Schweiz Inhalt MEDIZIN | GESELL SCHAF T | RECHT Swiss Aids News Big Data Die HIV-Kohortenstudie © KEYSTONE/SCIENCE PHOTO LIBRARY 4 | D E Z E M B E R 2015 Stare (Sturnus vulgaris) suchen einen Schlafplatz in Rom. Forschung 3 «Die Schweiz hat weltweit eine der besten HIV-Kohortenstudien» 5 Goldminen der Gesundheitsforschung 8 Die ungezählte Menschlichkeit 11 «Die Motivation, den Partner zu schützen, ist nicht zu unterschätzen» ie besten Jahre D 12 Altern mit HIV: Worauf muss man achten? Sammelsurium 13 Ausstellung, Album, Krimi Meinung 15 Gegendarstellung: Hepatitis C – die unterschätzte Krankheit Recht 16 Diskriminierungsmeldungen 2015 19 Forum Recht: Sie fragen – wir antworten 2 Swiss Aids News 4 | Dezember 2015 FORSCHUNG «Die Schweiz hat weltweit eine der besten HIV-Kohortenstudien» Frau Schöni-Affolter, woran forschen Sie derzeit? Wir untersuchen beispielsweise, inwiefern HIV-positive Menschen im Vergleich mit nicht infizierten anfälliger auf andere Krankheiten wie bestimmte Krebsarten oder Demenz sind. Da gewisse Tendenzen bei HIV-Positiven bereits festgestellt werden konnten, gehen wir der Frage nach, ob dies die Folge der Einnahme von virenunterdrückenden Medikamenten ist oder ob frühere Verhaltensweisen oder Krankheiten der Testpersonen dafür verantwortlich sind. Ein anderes Forschungsprojekt hat gezeigt, dass HCV (Hepatitis C) bei MSM über Sexkontakte übertragen werden kann. «Die Teilnahme an dieser Studie ist selbstverständlich freiwillig und bedarf der schriftlichen Einwilligung.» Untersuchen Sie auch sozioökonomische Aspekte? Ja. So konnten wir beispielsweise aufzeigen, dass HIV-positive Menschen aus tieferen Einkommensschichten später in Behandlung kommen als solche mit einem höheren Einkommen. Grund dafür ist, dass Letztere sich früher testenlassen und deshalb einer erfolgreichen Unterdrückung der Virenlast unterziehen können. Weiter konnten wir kürzlich nachweisen, dass bei Frauen die Virenlast in den ersten Jahren der cARTBehandlung (combined anti-retroviral therapy) weniger erfolgreich unterdrückt werden konnte als bei Männern. Auch dieser Unterschied zwischen Mann und Frau ist auf unterschiedliche sozialdemografische Faktoren zurückzuführen. All diese Erkenntnisse gewinnen wir aus der Datenerfassung der halbjährlichen Untersuchung und Befragung der Patientinnen und Patienten, die in der Schweizer HIVKohortenstudie mitmachen. Wer gehört der HIV-Kohorte an? Die Schweizerische HIV-Kohortenstudie (SHCS) besteht seit 1988. Seit Beginn bis heute hat sie über 18 000 Patientinnen und Patienten registriert, das sind 66% der dem Bundesamt für Gesundheit gemeldeten Fälle. Die Teilnahme an dieser Studie ist selbstverständlich freiwillig und bedarf auch der schriftlichen Einwilligung. Vor allem Männer aus dem MSMBereich erklären sich dazu bereit, Frauen sind leider zurückhaltender, wobei die SHCS auch diesbezüglich besser dasteht als andere europäische Kohorten. Seit 1988 werden epidemiologische, klinische und labormässige Daten erfasst; im Moment noch auf Papier. Eines meiner derzeit wichtigsten Projekte ist die schrittweise Umstellung auf die elektronische Datenerfassung. © Aids-Hilfe-Schweiz / Marilyn Manser Seit 1988 besteht die Schweizerische HIV-Kohortenstudie (SHCS). Seit Beginn wurden über 18 000 Patientinnen und Patienten registriert. Damit verfügt die Schweiz über eine hervorragende Datenlage in Bezug auf Menschen mit HIV. Franziska Schöni-Affolter ist Ärztin und Epidemiologin und leitet das Datenzentrum der SHCS. Ein Interview mit der Hüterin der HIV-Kohortenstudie. Franziska Schöni-Affolter arbeitet als Ärztin und Epidemiologin in der HIV/Aids-Forschung am Centre hospitalier universitaire vaudois (CHUV) in Lausanne und leitet dort das Datazentrum der Schweizerischen HIV-Kohortenstudie (SHCS). Seit 2010 sitzt sie für die Grünliberale Partei im Grossrat des Kantons Bern. Für die Aids-Hilfe Schweiz engagiert sie sich seit 2013 im Vorstand und seit 2015 ist sie Vizepräsidentin der Aids-Hilfe Schweiz. Welche Vorteile wird diese Neuerung bringen? Die Umstellung wird zwar eine geringe Zeitersparnis für die untersuchenden Ärzte bringen. Aber die Datenqualität für Forschungszwecke kann bei ungefähr gleichbleibendem Aufwand eindeutig verbessert werden. Da heute – dank den immer besseren Behandlungen – die meisten Patienten eine hohe Lebenserwartung haben, müssen pro Person immer mehr Daten erfasst werden. Je höher Swiss Aids News 4 | Dezember 2015 3 FORSCHUNG das Alter, desto mehr Beschwerden und Medikamente für andere Krankheiten. All diese Variablen müssen festgehalten und, für mögliche Rückschlüsse, wieder auseinanderdividiert werden können. Eine gut aufgebaute elektronische Datenbank mit zusätzlichen Informationen zum Beispiel bei der gesamten Medikamenteneinnahme vereinfacht zudem das ano nyme Matching mit anderen Registern, z.B. dem Krebsregister. Finden auch Kooperationen mit dem Ausland statt? «Je höher die Lebenserwartung der HIV-positiven Personen, desto wichtiger wird für ihr optimales Wohl auch die Datenerfassung zur Monitorisierung ihrer Gesundheit.» Ja, die europäischen Forschungsinstitutionen tauschen ihre Daten regelmässig aus. Dies ist insbesondere dann von Bedeutung, wenn in einem Land für eine bestimmte Studie zu kleine Fallzahlen vorhanden sind. Allerdings verfügt bei Weitem nicht jedes Land über eine eigene nationale Kohorte. Deutschland zum Beispiel hat keine, dafür pflegt Holland seine Daten vorbildlich. Zudem besteht eine europäische Forschungsplattform, die Collaboration of Observational HIV Epidemiological Research Europe (COHERE), die 2005 gegründet wurde. Wie ist die Datenlage in der Schweiz im Vergleich zum Ausland? Die Schweiz verfügt über eine der besten Kohortenstudien weltweit, unter anderem weil wir vergleichsweise viele Variablen festhalten. Auch werden nur Daten mit einer ausserordentlich hohen Qualität erfasst. Allerdings ist diese Vorreiterstellung nicht mehr gesichert, denn der Bund (Schweizerischer Nationalfonds) hat die finanzielle Unterstützung im letzten Jahr gekürzt. Dabei bräuchten wir mehr Geld, um die immer grössere Datenmenge bewirtschaften und mittels Modernisierung das Optimum aus den Daten heraus-ziehen zu können. Gemäss Bundesrat Didier Burkhalter ist HIV im Jahr 2030 eliminiert, vielleicht hält er die Datenpflege deshalb für nicht mehr nötig? Schön wär’s, wenn dem so wäre. Tatsache ist aber, dass bis heute kein wirksamer Impfstoff gefunden werden 4 Swiss Aids News 4 | Dezember 2015 konnte. Auch ist noch keine Therapie etabliert, welche die Virennester im Körper endgültig vernichtet oder Re sistenzen sicher vermeidet. Erfreulich ist aber, dass man in der Forschung laufend Fortschritte macht. Für die Betroffenen sind zum Beispiel die Kombinationstherapien eine grosse Errungenschaft. Heute muss nur noch einmal täglich ein Medikament für die Unterdrückung der Viren eingenommen werden. Wir arbeiten in der HIV/Aids-Forschung auf Hochdruck daran, die Therapien laufend zu optimieren und eines Tages ein Heilmittel zu finden. Bis dahin ist es aber ganz wichtig, dass Prävention und Aufklärungsarbeit betrieben werden. Welche Form der Prävention braucht es Ihrer Meinung nach? Es ist ganz wichtig, dass wir das Kind beim Namen nennen. Es ist für viele Menschen nicht zielführend, wenn von einem Leben mit nur einem Sexualpartner gepredigt wird, denn die Realität ist eine andere. Wir sollten vielmehr junge Menschen auf ein vernünftiges Sexualverhalten vorbereiten. Die offene Kommunikation zum Thema ist dabei zentral. Eine provokative Kampagne wie «LOVE LIFE» erfüllt ihren Zweck. Sie zeigt auf, dass HIV und Aids immer noch präsent sind. Das Problem ist – trotz immer besseren Therapien – noch nicht gelöst. nb FORSCHUNG Goldminen der Gesundheitsforschung Aufwendig, teuer, ohne eindeutige Erkenntnisse zu Ursache und Wirkung: Kohortenstudien scheinen auf den ersten Blick nicht gerade vielversprechend. Doch ihr Beitrag an die Forschung ist von unschätzbarem Wert. Ist vom Fortschritt der Medizin die Rede, denkt man zumeist an experimentelle Studien, an neuartige Wirkstoffe und bisher unbekannte biochemische Prozesse. Doch am Anfang vieler Entwicklungen steht eine Art von wissenschaftlicher Studie, die auf den ersten Blick wenig attraktiv daherkommt: die Kohortenstudie. In einer Kohortenstudie beobachten Forscher über längere Zeit – von Monaten bis zu vielen Jahren – eine Gruppe von Menschen (Kohorte), die alle eine Gemeinsamkeit haben. Sei es das gleiche Geburtsjahr, der gleiche Beruf oder der gleiche Wohnort. Die Wissenschaftler erheben dann, wie viele der untersuchten Teilnehmer über die Zeit eine bestimmte Krankheit entwickeln. Und sie versuchen zu erkennen, was diese Teilnehmer von jenen unterscheidet, «Kohortenstudien: Sie können oft gleich mehrere Risikofaktoren und Krankheiten untersuchen – dank vieler Teilnehmer und langer Laufzeiten.» die gesund bleiben. Kohortenstudien können deshalb aufdecken, weshalb Krankheiten überhaupt entstehen. Das Augenmerk liegt dabei oft auf Fragen des Lebensstils, zum Beispiel auf dem Rauchverhalten oder der Ernährung. Vorteil Kohorte Bei vielen Kohortenstudien ist das gemeinsame Merkmal der Teilnehmer, dass sie von Beginn weg dieselbe Krankheit haben. In diesem Falle soll durch die Studie geklärt werden, wie und weshalb sich die Krankheit unterschiedlich entwickelt. So auch in der Schweizerischen HIV-Kohortenstudie. Sie erfasst seit 1988 einen grossen Teil aller HIV-Patienten in der Schweiz (bisher insgesamt über 18 500 Menschen) und liefert regelmässig wichtige Erkenntnisse zur HIV-Infektion und deren Therapie. Zum Beispiel, dass HIV-positive Frauen bei erfolgreicher HIV-Therapie auf natürliche Weise gebären können, ohne dass sie das Virus an ihr Kind weitergeben. Oder dass die HIV-Therapie bei den Patienten kaum Einfluss auf die Entwicklung von Herzkrankheiten hat, das Rauchen jedoch einen ziemlich grossen. Kaum private Finanzierung Das Beispiel unterstreicht einen zentralen Vorteil von Kohortenstudien: Sie können oft gleich mehrere Risikofaktoren und Krankheiten untersuchen – dank vieler Teilnehmer und langer Laufzeiten. Allerdings haben Kohortenstudien auch Nachteile. Erstens sind sie teuer, führen aber nicht zu unmittelbar nutzbaren Produkten. Deshalb werden sie kaum durch private Firmen finanziert, sondern zumeist durch öffentliche Gelder – in der Schweiz stellt insbesondere der Schweizerische Nationalfonds (SNF) Geld für Kohortenstudien zur Verfügung. Zweitens können Kohortenstudien zwar viele mögliche Zusammenhänge aufzeigen, doch eindeutige Beweise zu Ursache und Wirkung liefern sie nicht. Was die Medien nicht daran hindert, in ihren Gesundheitsnews regelmässig die Hinweise von Kohortenstudien unhinterfragt als gesicherte Zusammenhänge weiterzugeben – von den Vorteilen von Fischöl oder Milch bis zu den Gefahren von Transfetten oder elektromagnetischen Feldern. Gesundheitsforscher hingegen nehmen die Resultate von Kohortenstudien als Ausgangspunkt, um weitere Überlegungen anzustellen und die Medizin weiterzubringen. Für sie sind Kohortenstudien wahre Goldminen. sp Swiss Aids News 4 | Dezember 2015 5 FORSCHUNG 5 grosse Kohortenstudien e Rauchen und Lungenkrebs In den 1920er-Jahren nahmen in vielen Ländern die Lungenkrebsfälle zu. Als Ursachen vermutete man vor allem Luftverschmutzung und feuchtes Klima. Zwar verdächtigten einige Wissenschaftler bereits das Rauchen, doch mindestens ebenso viele hielten den Tabakkonsum nicht nur für harmlos, sondern sogar für äusserst gesundheitsfördernd. Das änderte sich 1954. Der Engländer Richard Doll und sein Team hatten in der berühmt gewordenen «British Doctors’ Cohort Study» über 40 000 Ärzte befragt und konnten nun zeigen: Bei den rauchenden Medizinern war Lungenkrebs weit verbreiteter als bei den anderen. r Cholesterin und Herzkrankheiten Um die individuelle Gefahr von Herz-Kreislauf-Erkrankungen einzuschätzen, verwenden Ärzte Risikotabellen. Die bekannteste davon ist der sogenannte Framingham-Score. Dieser berücksichtigt Geschlecht, Alter, Raucherstatus, Blutdruck und die Blutcholesterinwerte einer Person. Benannt ist er nach der amerikanischen Kleinstadt Framingham. Hier wurden ab 1948 über 5000 Einwohner regelmässig befragt und klinisch untersucht, um die Gründe für die wachsende Zahl der Herz-Kreislauf-Todesfälle in den USA herauszufinden. Vor allem der grosse Einfluss der Cholesterinwerte überraschte die Wissenschaftler; vor der «Framingham Heart Study» hatte man diesen Zusammenhang gar nicht gekannt. Die Studie läuft mit neuen Generationen von Einwohnern bis heute weiter und sucht nach Ursachen für Krebs, Demenz, Arthritis und weitere Krankheiten. t Ionisierende Strahlung und Langzeitschäden Die wichtigste wissenschaftliche Basis für heutige Grenzwerte im Strahlenschutz hat einen traurigen Hintergrund: Seit 1950 werden in einer Kohortenstudie Überlebende der Atombombenabwürfe über Hiroshima und Nagasaki beobachtet, die unterschiedlich hohen Strahlenbelastungen ausgesetzt waren. Von den anfänglich rund 120 000 Teilnehmern leben heute noch rund 40%. Diese werden weiterhin regelmässig untersucht, um Langzeiteffekte der Strahlenbelastung zu erforschen. Die Life Span Study hat unter anderem wichtige Hinweise zum erhöhten Leukämierisiko nach erfolgter Strahlenbelastung ergeben. Auf der anderen Seite hat sie bisher nicht bestätigt, dass – wie oft vermutet wurde – die Strahlenbelastung zu Veränderungen der Erbsubstanz geführt hat. u «Fünf am Tag» und Krebs «Fünf am Tag» – fünf Portionen Obst und Gemüse – lautet eine gängige Ernährungsregel. Das amerikanische National Cancer Institute formulierte sie 1991 als wichtige krebsvermeidende Massnahme. Seither ging sie um die Welt. Doch ob Obst und Gemüse gegen Krebs vorbeugen, war und ist in Fachkreisen umstritten. Wesentliche Zweifel ergaben sich vor allem aufgrund der EPIC-Studie (European Prospective Investigation into Cancer and Nutrition). Wahrlich von epischen Ausmassen, umfasste diese Kohortenstudie über 500 000 Menschen in zehn europäischen Ländern. Ab 1992 wurden die Teilnehmer während mehrerer Jahre immer wieder befragt. 2010 präsentierten die Forscher dann eine ernüchternde Auswertung der Daten: «Fünf am Tag» senkt das Krebsrisiko kaum. Allerdings ist das kein Grund, sich nicht 6 Swiss Aids News 4 | Dezember 2015 an die Regel zu halten. Denn ihre vorbeugende Wirkung gegen Herz-Kreislauf-Krankheiten ist weniger umstritten. i Hormontherapie und Herzinfarkt © KEYSTONE/SCIENCE PHOTO LIBRARY Women’s Health Initiative hiess eine Studie in den Neunzigerjahren, an der 160 000 amerikanische Frauen zwischen 50 und 79 teilnahmen. Das Ziel war, Gründe für die häufigsten Todesursachen bei Frauen nach der Menopause zu finden. Für weltweite Schlagzeilen sorgte insbesondere eine Erkenntnis der Studie: Postmenopausale Hormontherapien können das Risiko für Herzinfarkt erhöhen. Bis dahin war man genau vom Gegenteil ausgegangen und hatte die vorbeugende Wirkung von Hormontherapien propagiert. Die Erkenntnisse der Studie haben dazu geführt, dass Hormonpräparate heute vorsichtiger und gezielter eingesetzt werden. sp Ein Star unter vielen Swiss Aids News 4 | Dezember 2015 7 FORSCHUNG Die ungezählte Menschlichkeit Hinter den Zahlen der medizinischen Statistiken tummeln sich Menschen mit Zügelterminen, Reiseplänen und Heimlichkeiten. Was kein Mathematiker berechnen kann, und warum manche Patienten bewusst ungezählt bleiben. Neuste Erkenntnisse aus der HIVKohortenstudie. «Statt der klassischen Methode, neue Diagnosen aufzusummieren und die Zahl der Todesfälle abzuziehen, greift die neue Studie darüber hinaus auf Daten zurück, die Hinweise auf die HIV-Verbreitung geben können.» Es klingt ernüchternd. Von allen HIV-Infizierten in der Schweiz erhalten nur 68 Prozent eine wirksame Behandlung. Kann das sein? Laut einer neuen Studie aus der Schweiz, welche die Daten der Schweizerischen HIV-Kohortenstudie (SHCS) nutzt, sieht es ganz danach aus. Zwar lügen die Zahlen nicht, sie beschreiben aber auch eine Realität, die komplexer ist, als es auf den ersten Blick wirkt. Denn hinter jeder Zahl steht ein Mensch, ein Schicksal, ein Lebensweg. Zuerst die gute Nachricht: In der Schweiz gibt es weniger HIV-Infizierte als gedacht. Im Jahr 2012 nahm man zunächst an, dass hierzulande zwischen 22 000 und 29 000 Menschen das Virus tragen. In diesem Wert enthalten ist auch die unbeweisbare «Dunkelziffer», also die geschätzte Zahl von Menschen, die noch nichts von ihrer Infektion wissen und nicht diagnostiziert sind. Die neue Studie* zeigt nun, dass die Verbreitung des Virus einige Tausend Menschen weniger trifft als angenommen. Die korrigierte Statistik * The HIV care cascade in Switzerland: reaching the UNAIDS/WHO targets for patients diagnosed with HIV. Kohler, P., Schmidt, A., Cavassini, M., Furrer, H., Calmy, A., Battegay, M., Bernasconi, E., Ledergerber, B., Vernazza, P. and the Swiss HIV Cohort Study. AIDS, 2015, Bd. 29, S. 2509–2515. 8 Swiss Aids News 4 | Dezember 2015 Das Forscherteam errechnete, dass 15 200 Menschen im Jahr 2012 mit HIV infiziert waren. Woher kommt diese drastische Reduktion? Axel Jeremias Schmidt, Koautor der Studie und Epidemiologe am Kantonsspital St. Gallen und an der London School of Hygiene and Tropical Medicine, kann die Zahlen in der Studie erklären. «Wir haben die Schätzungen präzisiert und die Daten der SHCS mit weiteren Informationen angereichert», sagt der Mediziner. Statt der klassischen Methode, neue Diagnosen aufzusummieren und die Zahl der Todesfälle abzuziehen, greift die neue Studie darüber hinaus auf Daten zurück, die Hinweise auf die HIV-Verbreitung geben können. Denn lediglich die Zahl der gestorbenen Aidspatienten von der Summe der lebenden HIV-Infizierten zu subtrahieren, liefert nur ein grobes Bild. «Heute sterben HIV-Positive immer seltener an Aids, weil die Behandlung besser ist», so Axel J. Schmidt. Ist die Todesursache ein Herzinfarkt oder ein Unfall, wird auf dem Totenschein nicht unbedingt vermerkt, dass der Tote Virusträger war. Und schon ist ein Fehler in der Statistik. In der aktuellen Studie wurde zudem die Dunkelziffer auf einem komplizierteren, aber realistischeren Weg ermittelt. Daten der SHCS wurden mit Ergebnissen aus europäischen Untersuchungen gekoppelt, sodass geschätzt werden konnte, wie viele Menschen unwissend Virusträger sind. Diese Schätzwerte basieren unter anderem auf der Erfahrung, dass sich bestimmte Bevölkerungsgruppen unterschiedlich häufig auf HIV testen lassen. Für die Gruppe der MSM, der Männer, die Sex mit Männern haben, schätzt man beispielsweise, dass 13,5 Prozent der HIV-Infizierten nicht von ihrer Infektion wissen. Der gleiche Wert gilt für die Gruppe der Menschen, die Injektionsdrogen verwenden, kurz IDU. Im Vergleich zu anderen Bevölkerungsgruppen mit geschätzten 25 Prozent an nicht diagnostizierten Fällen liegt der Wert niedriger, da man weiss, dass sowohl MSM als auch IDU sich regelmässiger testen lassen. Auf der Strecke geblieben So erfreulich die geringere Zahl an HIV-Infizierten auch ist, es bleibt noch immer der hohe Anteil jener, die keine wirksame Therapie erhalten. Denn 32 Prozent aller Infizierten stehen mit unverändert hoher Viruslast da. Diese Zahlen gilt es genauer zu betrachten: Zunächst können Ärzte keine Infizierten behandeln, die als Teil der Dunkelziffer geschätzt sind und selbst nichts von ihrer Infektion wissen. Daher muss von der Zahl der diagnostizierten Fälle ausgegangen werden. Hier versteckten sich nun das typisch Menschliche, das Verhalten des Einzelnen und die statistisch nicht zu vermeidenden Fehler in der Statistik. «Man muss die gesamte Versorgungskaskade bei HIV-Infizierten betrachten, dann lassen sich die Zahlen erklären», sagt Schmidt. Geht man von der Zahl der diagnostizierten Fälle aus, so biegen bei jedem Schritt der Versorgung Menschen ab (siehe Grafik). Schritt für Schritt durch die Versorgungskaskade So begleitet die Statistik infizierte Menschen auf dem Weg zur erfolgreichen Therapie. Von 100 diagnostizierten Fällen in der Schweiz erhielten 84 im Jahr 2012 eine Therapie, mit der die Viruslast gesenkt wurde. Schritt e Schritt r Schritt t Geschätzte HIV-Fälle Diagnostizierte HIV-Fälle Erster Besuch beim HIV-Spezialisten 124 100 99 – – 1 2 Schritt u Schritt i Schritt o Regelmässig beim HIV-Spezialisten Medikamententherapie Therapie wirkt 97 – 9 88 84 – 4 Quelle: A. J. Schmidt, Zahlen von 2012 Nach einem positiven Test erscheinen nicht alle Infizierten in einem Behandlungszentrum. Warum? «Bei vielen Menschen hängt das mit dem Zeitpunkt des Tests zusammen», erklärt der Gesundheitswissenschaftler. Mancher wolle erst noch einen zweiten Test machen, bevor er sich in einem Behandlungszentrum melde. Andere bewältigten gerade eine Trennung vom Partner, zögen in eine andere Stadt, hätten eine lange Reise gebucht, wollten erst Prüfungen im Studium hinter sich bringen oder seien ohnehin nur für kurze Zeit in der Schweiz gewesen. Diese Lebensbereiche führten bei einigen Infizierten zu einem verspäteten Auftauchen in einem Zentrum, womöglich noch nicht einmal in der Schweiz. Manche Menschen hindere zudem grosse Angst, ein Sprachproblem, oder sie befürchteten, beim Arztbesuch von einem Nachbarn gesehen zu werden, sodass sich der Erstkontakt mit dem Spezialisten um Wochen, Swiss Aids News 4 | Dezember 2015 9 FORSCHUNG Monate oder gar ein Jahr verzögere. «Erstaunlich an der Schweizer Kaskade ist aber, dass dieser Anteil sehr klein ist.» Bei jedem Schritt entlang der Versorgungskaskade biegt ein weiterer Teil der Infizierten ab, der schliesslich nicht bei der Station «Therapie wirkt» ankommt. Ein Teil bleibt so vor der Station «Regelmässige Besuche beim HIVSpezialisten» stehen und ein weiterer, bevor eine Medikamententherapie begonnen wird. Zuletzt biegen 4 Prozent der Infizierten ab, die eine Therapie beginnen, bei denen die «So erfreulich die geringere Zahl an HIV-Infizierten auch ist, es bleibt noch immer der hohe Anteil jener, die keine wirksame Therapie erhalten.» Wert von durchschnittlich 19 Prozent aller HIVInfizierten, die nichts von ihrer Infektion wissen, gibt es eindeutig Verbesserungsbedarf», sagt Schmidt. Selbst bei der Gruppe der MSM, wo der Anteil der Unwissenden mit 13,5 Prozent geringer ist, sei dies nötig. Ein Teil der MSM und der IDU setze sich konsequent mit regelmässigen HIV-Tests auseinander. Ein anderer Teil ist jedoch weniger gut in einen passenden Testmodus eingebunden. Wenn hier Verhaltensänderungen erzielt würden, wüssten mehr HIV-Infizierte von ihrer Infektion, wodurch sie früher behandelt werden und das Virus nicht verbreiten könnten. Dann wären die Verluste in der Versorgungskaskade nur noch statistische Schönheitsfehler anstatt medizinische Lücken. six Viruslast aber nicht reduziert ist. Jeder dieser Verluste von Schritt zu Schritt macht den Eindruck, als bekäme ein Kranker keine Medikamente oder als versage die Therapie. Dabei handelt es sich vor allem um unvermeidbare Folgen der Erhebung, die hier Individuen aus der Statistik herausmarschieren lassen. «Wenn der Erhebungszeitpunkt für einzelne Patienten kurz nach Therapiebeginn liegt, erhalten wir hier einen weiteren Patienten, bei dem die Medikamente scheinbar nicht gewirkt haben, obwohl die volle Wirksamkeit vier Wochen später zu sehen wäre», sagt Schmidt. Insgesamt, so ist er überzeugt, verläuft die Kaskade von der Diagnose bis zur erfolgreichen Therapie in der Schweiz sehr gut. Ganz anders sieht dies im aussereuropäischen Ausland aus: In den USA erhält nur ein Viertel aller Menschen mit HIV-Diagnose eine wirksame Therapie. Der Grund ist hier der tatsächlich schlechtere Zugang zu Medikamenten. «Verliert man in den USA den Job, ist in der Regel auch die Krankenversicherung weg – und die Medikamente werden unbezahlbar», erklärt der Wissenschaftler. Deutlich ist an der schweizerischen Versorgungskaskade, dass die Verluste zwischen erfolgter Diagnose und wirksamer Therapie kaum zu mindern sind. Sichtbar wird aber auch, dass der Erfolg der Kaskade massgeblich durch den Anteil der nicht diagnostizierten Fälle beeinflusst wird. «Bei einem geschätzten 10 Swiss Aids News 4 | Dezember 2015 © Fotolia: connel_design Verbesserungspotenzial vorhanden Herr Schmidt, wie steht die Schweiz in der HIV/Aids-Behandlung da? Woran liegt dieser frühe Behandlungsbeginn? Wenn ich die Versorgungskaskaden anderer Länder in Westeuropa ansehe, gibt es eigentlich keine relevanten Unterschiede. Die Schweiz steht allerdings besonders gut da. Das gilt insbesondere für die letzten beiden Stufen der Kaskade, die Versorgung mit Medikamenten und den Anteil an Patienten mit erfolgreich unterdrückter Viruslast. Vorgaben der Weltgesundheitsorganisation werden hier eingehalten oder sogar übertroffen. In der Schweiz wurde bereits 2008 sehr mutig kommuniziert, dass Infizierte unter wirksamer Therapie nicht mehr ansteckend sind. Das hat dazu geführt, dass viele Patienten eine HIV-Behandlung frühzeitig beginnen wollten. Die Motivation dahinter ist sehr häufig der Wunsch, den Partner vor der Infektion zu schützen. Diese Motivation ist nicht zu unterschätzen. Das gilt aber nur für Westeuropa? Ja. Es existiert ein deutliches Ost-WestGefälle. In Ländern der ehemaligen Sowjetunion ist der Zugang zu Medikamenten nicht gesichert, insbesondere der Zugang zu den neuesten Medikamenten. Letzteres gilt auch für osteuropäische EU-Länder und die Türkei. «Vorgaben der Weltgesund heitsorganisation WHO werden hier eingehalten oder sogar übertroffen.» Und warum schneidet die Schweiz besser ab als viele andere Länder? Ein Grund ist, dass viele Patienten hierzulande eine Therapie beginnen wollen, bevor es gemäss den europäischen Richtlinien klinisch notwendig ist. Das bedeutet, HIV-Infizierte sind bei uns kürzere Zeit ansteckend als in anderen Ländern, da das Virus bereits in einem frühen Stadium niedergezwungen wird. Unterscheiden sich nur die Patienten oder auch die Ärzte im internationalen Vergleich? Für die behandelnden Ärzte in der Schweiz geht ein zusätzlicher Anreiz von der nationalen Kohortenstudie aus. Da die Mehrheit der Patienten in die Studie eingeschlossen ist, sind die Mediziner umso mehr interessiert, Patienten mit HIV regelmässig einzubestellen und sich im Zweifelsfall darum zu kümmern, dass der Patient wiederkommt. Davon profitiert auch der Erfolg der Versorgungskaskade. six Zvg «Die Motivation, den Partner zu schützen, ist nicht zu unterschätzen» Dr. Axel J. Schmidt forscht seit zehn Jahren als Epidemiologe und Gesundheitswissenschaftler zu den Themen HIV, Hepatitis und sexuell übertragene Infektionen, speziell bei Männern mit gleichgeschlechtlichen Sexualkontakten. In Deutschland war er am Robert-Koch-Institut und am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung tätig. Er hatte die wissenschaftliche Leitung des Europäischen MSM Internet Survey (EMIS) und ist Research Fellow an der London School of Hygiene and Tropical Medicine (Sigma Research) sowie wissenschaftlicher Mitarbeiter des Bundesamts für Gesundheit in Bern. Dr. Schmidt ist seit drei Jahren in der Schweiz, war unter anderem zwei Jahre Arzt am Checkpoint Zürich und arbeitet seit Ende 2014 ausserdem als Arzt in der infektiologischen Ambulanz des Kantonsspitals St. Gallen und betreut dort die Sprechstunde für sexuell übertragene Infektionen. Swiss Aids News 4 | Dezember 2015 11 DIE BESTEN JAHRE Altern mit HIV: Worauf muss man achten? Älterwerden mit HIV ist auch für die Schweizerische HIV-Kohortenstudie (SHCS) ein Thema. Dr. med. Helen Kovari hat unsere Fragen zum Forschungsstand beantwortet. Zvg Seit wann ist man sich in der SHCS des Themas Älterwerden mit HIV bewusst? Dr. med. Helen Kovari ist Oberärztin an der Klinik für Infektionskrankheiten und Spitalhy giene des Universitätsspitals Zürich und Koleiterin der «Metabolic und Aging»- Studie der Schweizerischen HIV-Kohortenstudie. Spätestens seit man weiss, dass Menschen mit HIV unter antiretroviraler Therapie wahrscheinlich eine vergleichbar hohe Lebenserwartung haben wie die HIV-negative Allgemeinbevölkerung. So steht das Thema Komorbiditäten im Fokus. Damit ist das Auftreten von Altersbeschwerden gemeint, die auch in der Allgemeinbevölkerung verbreitet sind, zum Beispiel Herzinfarkte, Demenz, Abnahme der Knochendichte, Nierenschäden etc. Eine brennende Frage ist, ob Menschen mit HIV früher altern. Was für Studien laufen zurzeit in diesem Bereich? In der SHCS laufen verschiedene Projekte zu diesem Thema. Ein Kernprojekt ist die «Metabolic and Aging»-Studie (M+A-Studie). Sie umfasst gesamtschweizerisch 1000 Menschen mit HIV ab 45 Jahren, davon 350 in Zürich. Wir messen alle zwei Jahre die Knochendichte und Hirnleistungen der Patienten und untersuchen den Urin. In Zürich und Genf untersuchen wir zusätzlich die Herzkranzarterien und suchen nach Ablagerungen, die später zu einem Herzinfarkt führen können. Wir vergleichen die Befunde mit denjenigen HIV-negativer Personen, um herauszufinden, ob diese Vorstufen des Herzinfarktes in einem früheren Alter häufiger auftreten und rascher fortschreiten. Mit welchen Schwierigkeiten ist die Forschung hier konfrontiert? Um mit etwas Positivem anzufangen: Unsere HIV-positiven Patienten sind sehr interessiert und motiviert, bei dieser Forschung mitzumachen. Schwierig ist die Logistik, die Studien sind zeitintensiv 12 Swiss Aids News 4 | Dezember 2015 und wegen der Untersuchungen auch relativ teuer. Eine besondere Herausforderung ist es, eine Kontrollgruppe HIV-negativer Personen zu finden, die sich zum Beispiel in Bezug auf Rauchen oder den allgemeinen Lebenswandel gut vergleichen lässt. Was für Probleme treten bei alternden Menschen mit HIV verstärkt auf? Eine besondere Herausforderung bei Menschen mit HIV ist die Einnahme verschiedener Medikamente; allfällige Wechselwirkungen und gegenseitige Beeinflussung der Therapien müssen gut beobachtet werden. Es ist auch nicht bekannt, ob ältere Menschen mit tieferem Körpergewicht oder eingeschränkter Nierenfunktion tiefere Dosierungen der HIV-Therapie brauchen. Hier sind also noch viele Fragen offen. Was sind erste Erkenntnisse, worauf Menschen mit HIV achten sollen in Bezug auf das Älterwerden? Sie sollten auf dieselben Dinge achten wie die Allgemeinbevölkerung: ausreichend Bewegung, gesunde Ernährung und Nichtrauchen. Hinzu kommt die regelmässige Einnahme der Medikamente. nsch Die besten Jahre Viele Menschen mit HIV sind mittlerweile in den besten Jahren. In dieser Rubrik gehen die SAN Themen nach, die für sie von besonderem Interesse sind. … SAMMELSURIUM AUSSTELLUNG ALBUM John Grant: «Grey Tickles, Black Pressure» Nicole Bachmann: «Endstation Bern» Nachdem John Grant die Rockband The Czars durch sein unberechenbares Verhalten zur Auflösung getrieben hatte, überredete ihn die befreundete Band Midlake 2010 zum Soloalbum «The Queen of Denmark», das prompt vom Musikmagazin «Mojo» zum Album des Jahres gewählt wurde. In der Privatklinik Walmont in Bern ist der Teufel los. Die Klinik muss nach allen Regeln der Geschäftskunst lukrativer werden. Will heissen, konkurrenzfähiger, mit Kundenbindung und mehr Kunden-, als Spitalpflege. © Swen Marcel © Emons Verlag «SuperQueeroes – Unsere LGBTIQ*Comic Held_innen» KRIMI Berlin ist zu jeder Jahreszeit eine Reise wert. Ist man erst einmal da, kann man getrost den Koffer stehen und sich treiben lassen. Zum Beispiel im Schwulen Museum. Diese einzigartige Institution wartet im neuen Jahr mit der Ausstellung «SuperQueeroes – Unsere LGBTIQ*Comic Held_innen» auf. Dabei stehen nicht Micky Maus und Co. im Mittelpunkt, sondern: «Wie heroisch Alltags-Storys von LGBTIQ*-Menschen sein können, die sich in einer heteronormativen Welt – auch einer von Zensur und Codes dominierten Welt – durchsetzen mussten bzw. immer noch müssen.» Ein Teil der Ausstellung ist dem Thema Aids gewidmet. Dieser Teil wurde vom Schweizer Sammler und Comicexperten Mario Russo betreut. Ging es in den Anfängen oft um glaubwürdige Vorkämpfer in Sachen Safer Sex, so stehen heutzutage die Stigma-Fighter, die die Ausgrenzung von HIV-positiven Menschen bekämpfen und für einen entspannten Umgang mit Positiven im Alltag werben, in der ersten Reihe. jak • Schwules Museum*, Berlin schwulesmuseum.de, ab 22. Januar 2016 Sein neues Album ist laut Grant das heiterste, das er je gemacht hat. Doch die erste Hälfte des Albumtitels bezieht sich auf den isländischen Ausdruck für Midlife-Crisis, die zweite Hälfte ist türkisch für Albtraum. Grant ringt also erneut mit seinen Dämonen: dem Kampf mit Alkohol- und Drogenabhängigkeit oder dem Aufwachsen als schwuler Junge in Michigan und Colorado, wo seine religiöse Familie und bösartige Mitschüler ihm das Leben schwer machten. Überraschung und Respekt erntete Grant 2012, als er sich an einem Konzert in London als HIV-positiv outete. Starke Songs über die Geister der Vergangenheit und die Sehnsucht nach einer Liebe, die alles überwindet. nsch • «Grey Tickles, Black Pressure», 2015 von John Grant, Bella UnionX Rentieren soll die Klinik, so will es Dr. Schneider. Oberarzt Schneider, ist Vorgesetzter von Lou Beck, einer umtriebigen Epidemiologin die diese neuen Arbeitsbedingungen nicht einfach so hinnehmen will. Sie trägt das Herz auf dem linken Fleck, beruflich wie auch privat. So setzt sie sich für Sans-Papiers ein, die an multiresistenter Tuberkulose erkrankt sind und dringend in ärztliche Behandlung gehören. Und dann geht in Bern auch noch ein Serienkiller um ... Nicole Bachmann verknüpft in ihrem Krimi gekonnt verschiedene Stränge und nimmt die Lesenden mit auf eine medizinische Bildungsreise, ohne die politischen und sozialen Komponenten rund um eine lebensgefährliche Krankheit und Menschen ohne Aufenthaltsstatus auszublenden. Der Krimi, dessen Schauplätze allen Bernkennern bekannt sein dürften, kommt mit Drive und etlichen Überraschungen daher. Der Plot ist brandaktuell, stellenweise etwas gar aufgeregt, lesenswert ist er allemal. jak • «Endstation Bern» von Nicole Bachmann, Krimi aus der Schweiz, emons Verlag Swiss Aids News 4 | Dezember 2015 13 I N S E R AT la_ceylor_inserat_Y+_210x292_gleitgel_GzD_de.pdf 1 21.10.15 13:19 Die neuen Gleitgele. Sinnlich. Exotisch. Samtweich. 14 Swiss Aids News 4 | Dezember 2015 MEINUNG Gegendarstellung zu SAN 3/15 Hepatitis C – die unterschätzte Krankheit Die Swiss Aids News haben die September-Ausgabe dem Thema Hepatitis C gewidmet. Dies ist sehr erfreulich, ist doch Hepatitis C für die öffentliche Gesundheit ähnlich relevant wie HIV. Die Ausgabe zeigt uns jedoch auch, dass noch einiges an Aufklärungspotenzial besteht. Hepatitis C wird oft unterschätzt, weil die Krankheit über Jahrzehnte schleichend voranschreitet. Und weil sie oft keine oder keine spezifischen Symptome zeigt. Das macht sie gerade so gefährlich. Wir meinen: Insbesondere die erwähnten Zahlen auf Seite 3 der letzten SAN-Ausgabe (Frisch von der Leber weg) greift zu kurz und wird der Krankheit Hepatitis C nicht gerecht. Gerne nehmen wir dazu Stellung. Die Feststellung im Text, wonach nur eine von drei Personen krank werde und man deshalb nicht alle behandeln müsse, stimmt so nicht. Nach einer Ansteckung führt Hepatitis C gemäss neuesten Erkenntnissen rasch zu einer Vernarbung der Leber, bei einem von fünf Betroffenen innerhalb von 10 Jahren gar zu einer Leberzirrhose (Butt 2015). Selbst wenn Betroffene keine spezifischen Symptome haben sollten, sind sie nicht gesund. Und sie leben mit einem erhöhten Risiko für Leberfolgeerkrankungen, insbesondere Leberkrebs. Hepatitis C ist eine Infektionskrankheit, die den ganzen Körper befällt, nicht nur die Leber (Negro 2015). Mögliche Folgen von Hepatitis C sind Krankheiten wie Diabetes, Arterienverkalkung, Lymphdrüsenkrebs, chronische Hautkrankheiten, Nierenentzündungen, Depression und weitere. Hepatitis C verursacht bei vielen Betroffenen in unterschiedlicher Ausprägung und unabhängig vom Leberbefall Müdigkeit – darüber klagen mehr als die Hälfte der Betroffenen –, Konzentrationsschwäche, Gelenkschmerzen und etliche andere Symptome, die sich negativ auf die Lebensqualität und Arbeitsfähigkeit auswirken (Sarkar 2012). In der Schweiz starben seit dem Jahr 2001 mehr Menschen an den Folgen von Hepatitis C als an den Folgen von HIV (Quelle: Bundesamt für Statistik). Hepatitis-C-Betroffene sterben nicht nur häufiger an Lebererkrankungen als die Allgemeinbevölkerung, sondern weisen allgemein ein erhöhtes Sterblichkeitsrisiko auf, erklärbar durch die erwähnten Folgeerkrankungen wie Diabetes und Arterienverkalkung (Lee 2012). Mit einer Hepatitis-C-Therapie kann nicht nur die Infektionskrankheit geheilt, sondern es können auch die Folgekrankheiten verhindert werden (Van der Meer 2012). Doch Behandeln alleine reicht nicht. Die Menschen und das Gesundheitspersonal müssen auch Bescheid wissen: Es braucht angesichts der Dunkelziffer von über der Hälfte der Betroffenen zusätzliche Massnahmen beim Testen. Ebenso müssen die Medikamente günstiger werden. Diesen und vielen Themen mehr nimmt sich die nationale schweizerische Hepatitis-Strategie an. 80 Persönlichkeiten aus Medizin, Public Health, Betroffenenorganisationen, Wirtschaft, Krankenversicherungen sowie Politik arbeiten seit knapp zwei Jahren an einem umfassenden Massnahmenplan. Als Vision hat die schweizerische Hepatitis-Strategie die Elimination der viralen Hepatitis bis 2030 definiert.e Die schweizerische Hepatitis-Strategie kann viel lernen von den erfolgreichen HIV-Projekten in der Schweiz. Umgekehrt könnte Hepatitis wichtige neue Inhalte für die etablierten Strukturen im HIV-Bereich liefern. Wenn das geschieht, kann die Elimination Realität werden. Mehr Informationen unter: www.hepatitis-schweiz.ch. Philip Bruggmann Leiter schweizerische Hepatitis-Strategie Bemerkung e Auch die WHO ist zurzeit an der Ausarbeitung einer globalen Strategie. Diese sieht ebenfalls die Elimination der viralen Hepatitis vor. Literaturhinweise Butt A, Yan P, Lo Re V, et al. Liver Fibrosis Progression in Hepatitis C Virus Infec- Lee M, Yang H, Lu S, et al. Chronic Hepatitis C Virus Infection Increases Mortality tion After Seroconversion. JAMA Intern Med. 2015;175(2):178–185 From Hepatic and Extrahepatic Diseases: A Community-Based Long-Term Prospec- Negro F, Forton D, Craxi A, et al. Extrahepatic Morbidity and Mortality of Chronic Hepatitis C. Gastroenterology 2015;149:1345–1360 Sarkar S, Jiang Z, Evon D, et al. Fatigue Before, During and After Antiviral Therapy of Chronic Hepatitis C: Results from the Virahep-C Study. J Hepatol 2012; 57 (5): tive Study. JID 2012;206:469–77 Van der Meer A, Bart J, Feld J, et al. Association Between Sustained Virological Response and All-Cause Mortality Among Patients With Chronic Hepatitis C and Advanced Hepatic Fibrosis. JAMA. 2012;308(24):2584–2593 946–952 Swiss Aids News 4 | Dezember 2015 15 RECHT Diskriminierungsmeldungen 2015 Frau B. wurde plötzlich von einer Vielzahl ihrer Bekannten auf ihre HIV-Infektion angesprochen, obwohl sie nur ihr engstes Umfeld über ihre HIV-Infektion informiert hatte. Nach einiger Zeit stellte sich heraus, dass die Ex-Freundin ihres neuen Partners dessen Handy ausspioniert und so von ihrer HIV-Infektion erfahren hatte. Aus Wut über die neue Partnerin schickte diese sämtlichen Handykontakten des Ex-Freundes ein MMS mit einem Foto von Frau B. und der Mitteilung, dass sie HIV-positiv ist. Das ungewollte Outing zog schwerwiegende psychische Folgen nach sich. Dies ist eine von 116 Diskriminierungen, die der Aids-Hilfe Schweiz 2015 gemeldet wurden. Im Auftrag des Bundesamts für Gesundheit amtiert die Aids-Hilfe Schweiz als eidgenössische Meldestelle für Diskriminierungen und Datenschutzverletzungen von Menschen mit HIV. Sie sammelt die ihr gemeldeten Fälle und leitet sie zweimal jährlich in anonymisierter Form an die Eidgenössische Kommission für sexuelle Gesundheit weiter. In Absprache mit den betroffenen Personen und sofern diese es wünschen, interveniert sie im Einzelfall. Bei einer Häufung von Fällen in einem bestimmten Bereich, prüft sie die Einflussnahme auf übergeordneter Ebene. «Künftig soll das tatsächliche Leistungsvermögen jeder Person mit einer solchen Diagnose ergebnisoffen bewertet werden.» Überblick Von Ende Oktober 2014 bis Ende Oktober 2015 wurden der Aids-Hilfe Schweiz insgesamt 116 Diskriminierungen gemeldet. Damit bleibt die Anzahl der gemeldeten Fälle auf einem hohen Niveau, wobei es zu beachten gilt, dass die Dunkelziffer um ein Vielfaches höher sein dürfte. Fast die Hälfte aller 2015 gemeldeten Diskriminierungen betrafen das Versicherungsumfeld mit 33 Meldungen aus dem Bereich Sozialversicherung und 21 Meldungen aus dem Bereich Privatversicherung. Zudem wurden 21 Datenschutzverletzungen sowie 14 Diskriminierungen im Erwerbsbereich und 10 im Gesundheitswesen gemeldet. Auf eine kleine Auswahl der gemeldeten Diskriminierungen wird nachfolgend näher eingegangen und die Rechtslage erläutert. Alle Fälle sind echt, wurden aber zum Zweck der Anonymisierung teilweise angepasst. Diskriminierungsmeldungen der letzten 5 Jahre Datenschutzverletzungen Diverses Militär Strafrecht Einreise/Aufenthalt Gesundheitswesen Ausländerrecht Privatversicherungen Sozialversicherungen Erwerbstätigkeit 16 Swiss Aids News 4 | Dezember 2015 Versicherungsbereich Erwerbsbereich Dieses Jahr waren im Sozialversicherungsbereich besonders viele Diskriminierungen bei der Krankenpflegeversicherung zu verzeichnen. Mehrere Meldungen gab es auch von Personen, die sich selbstständig machen wollten, aber keine Krankentaggeldversicherung abschliessen konnten. Diskriminierungsmeldungen im Bereich Erwerbstätigkeit haben in diesem Jahr etwas abgenommen. Nach wie vor ziehen Diskriminierungen in diesem Umfeld jedoch meist gravierende Folgen nach sich. Ein in die Schweiz zurückgekehrter Aus landschweizer hatte die Krankenkasse vor dem Abschluss der Versicherung über seine bestehende HIV-Infektion informiert. Diese teilte ihm mit, dass er keine Grundversicherung abschliessen könne, solange er nicht erwerbstätig sei. Rechtslage: Hierbei handelt es sich um eine Falschaussage, vermutlich mit der Motivation, die Kosten einer HIV-positiven Person nicht tragen zu müssen. Alle in der Schweiz wohnhaften Personen haben das Recht, ohne Gesundheitsfragen und vorbehaltlos in die Grundversicherung aufgenommen zu werden. Eine Erwerbstätigkeit ist nicht vorausgesetzt. Eine Frau wollte eine Stelle als Kinderbe treuerin annehmen. Die Arbeitgeberin verlangte von ihr den Abschluss einer Einzeltaggeldversicherung und die Bestätigung des Versicherungsabschlusses. Aufgrund ihrer HIV-Infektion wurde die Frau aber von der Versicherung abgewiesen. Die Arbeitgeberin fragte sie nach den Gründen der Ablehnung und nahm ihr Jobangebot zurück. Rechtslage: Bei der Krankentaggeldversicherung handelt es sich um eine private Versicherung. Solche Versicherungen dürfen eine Risikoselektion vornehmen und Personen mit vorbestehenden Krankheiten ausschliessen. Einzeltaggeldversicherungen lehnen Menschen mit HIV regelmässig ab, selbst wenn diese gut therapiert, unter der Nachweisgrenze und nicht häufiger krank sind als HIV-negative Personen, also kein erhöhtes Risiko besteht. Es handelt sich hierbei um eine klare Ungleichbehandlung. Eine Arbeitsvermittlerin wollte einen Koch infolge seiner HIV-Infektion nicht in eine Kantine vermitteln. Sie fürchtete, dass sie haftbar gemacht werden könnte, wenn es zu einer HIVÜbertragung im Restaurant kommen würde. Rechtslage: In der Schweiz gibt es keine verbotenen Berufe für Menschen mit HIV, weder im medizinischen noch im gastronomischen Bereich. Ein Ausschluss infolge der HIV-Infektion lässt sich nicht begründen und ist klar rechtswidrig. «Fast die Hälfte aller 2015 gemeldeten Diskriminierungsmeldungen betrafen Sozialversicherungen und Privatversicherungen.» Nach einem Therapiewechsel war ein Mann längere Zeit krankgeschrieben. Der Vorgesetzte wollte die Gründe dafür wissen. Nachdem er ihm von seiner HIV-Infektion erzählt hatte, wurde ihm u.a. mit der Kündigung gedroht, wenn er erneut krank werden sollte. Aus Angst vor dem Verlust seiner Arbeitsstelle arbeitete der Mann, obwohl er vom Arzt krankgeschrieben war. Rechtslage: Ein Arbeitgeber darf keine Gesundheitsfragen stellen. Mit der Kündigungsandrohung hat der Arbeitgeber seine arbeitsrechtliche Fürsorgepflicht aufs Gröbste verletzt. Gesundheitswesen Oft wird vermutet, dass im Gesundheitsbereich tätige Personen die Übertragungswege von HIV kennen und entsprechend sensibilisiert sind. Dem ist nicht immer so; Diskriminierungen im Gesundheitswesen kommen immer wieder vor. Ein Mann wurde vom Pflegepersonal diskriminiert, nachdem dieses erfahren hatte, dass er HIV-positiv ist. Die Pflegenden waren der Ansicht, dass sie einem grossen Risiko einer HIV-Ansteckung ausgesetzt seien. Rechtslage: Unter Einhaltung der im Gesundheitsbereich ohnehin vorgeschriebenen Schutzmassnahmen kann eine HIV-Übertragung ausgeschlossen werden. Das Pflegepersonal hat mit seinem Verhalten seine Pflicht zur sorgfältigen und würdevollen Behandlung verletzt. Swiss Aids News 4 | Dezember 2015 17 © kallejipp / photocase.com R E C H T Rechtsberatung der Aids-Hilfe Schweiz Wir beantworten kostenlos Rechtsfragen im Zusammenhang mit HIV in folgenden Gebieten: Sozialversicherungsrecht Sozialhilferecht Privatversicherungen Eine Frau hatte das Personal eines Pflegeheims über ihre HIV-Infektion informiert. Daraufhin wurde sie schikaniert und es wurde ihr nach einem Zusammenbruch sogar die Hilfeleistung verweigert. Rechtslage: Die nicht gebotene Hilfeleistung erfüllt den Straftatbestand der Unterlassung der Nothilfe, welche mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe geahndet wird. Die Leitung des Pflegeheims hätte hier eine Pflicht gehabt, die Schikanen sofort zu unterbinden und gegenüber den verantwortlichen Mitarbeitenden personalrechtliche Konsequenzen zu ergreifen. Datenschutzverletzungen Datenschutzverletzungen kommen in allen Bereichen vor: am Arbeitsplatz, im Freundes- und Familienkreis, im medizinischen Umfeld und bei Behörden. Eine Zunahme ist im Bereich der Social Media zu verzeichnen, wo via Facebook, Partnerplattformen oder SMS HIV-positive Personen geoutet werden. Arbeitsrecht Datenschutzrecht Patientenrecht Einreise- und Aufenthaltsrecht Öffnungszeiten Di und Do 9–12, 14–16 Uhr Tel. 044 447 11 11 [email protected] Ein HIV-positiver Mann wurde von seiner Hausärztin an eine Dermatologin überwiesen. Bei der Dermatologin stellte der Mann fest, dass auf der Überweisung der Vermerk «HIV-positiv» angebracht und mit Leuchtstift markiert war. Als die Dermatologin eine Spezialistin hinzuziehen musste, wies sie diese auf die HIVInfektion hin mit den Worten «der Patient ist übrigens HIV-positiv, du musst also aufpassen». Der Patient fühlte sich wie ein Aussätziger. Rechtslage: Ärztinnen und deren Hilfspersonen unterstehen der beruflichen Schweigepflicht. Diese gilt auch gegenüber anderen Medizinalpersonen. Die Weitergabe von Gesundheitsdaten an andere Ärzte oder Medizinalpersonen (Physiotherapeuten, Apotheker etc.) bedarf daher der ausdrücklichen Einwilligung des Patienten. Liegt diese nicht vor, wird der Straftatbestand der Verletzung des Berufsgeheimnisses erfüllt. Dies gilt auch für Geistliche, Anwältinnen, Revisoren und Psychologinnen. Eine Frau hatte eine Arbeitskollegin im Vertrauen über ihre HIV-Infektion informiert, worauf diese die Diagnose sämtlichen Arbeitskolleginnen des Betriebs weitererzählt hat. Die Frau wurde in der Folge vom Team gemieden 18 Swiss Aids News 4 | Dezember 2015 und es wurde permanent hinter ihrem Rücken getuschelt. Rechtslage: Die Arbeitskollegin hat sich einer Datenschutzverletzung schuldig gemacht, welche zivilrechtlich geahndet werden kann. Der Arbeitgeber hätte hier zudem aufgrund seiner Fürsorgepflicht zum Schutz der gemobbten Mitarbeiterin intervenieren müssen, falls er über die Geschehnisse informiert war. Mangelhafter Diskriminierungsschutz in der Schweiz Im internationalen Vergleich schneidet die Schweiz im Diskriminierungsschutz schlecht ab. Ein Antidiskriminierungsgesetz, wie es die meisten europäischen Länder kennen, fehlt. Zahlreiche politische Vorstösse im Parlament sind gescheitert; der Bundesrat vertritt bis anhin die Meinung, dass die bestehenden Regelungen im Straf-, Privat- und öffentlichen Recht ausreichenden Schutz bieten. Ein Blick auf die gemeldeten Fälle zeigt jedoch, dass dem nicht so ist. Umso wichtiger ist die Durchführung von Aufklärungskampagnen und das Monitoring von Diskriminierungen. So kann versucht werden, im Einzelfall zu intervenieren. Die Meldungen dienen aber auch dazu, gesellschaftliche Tendenzen aufzuspüren und notfalls auf übergeordneter Ebene Einfluss zu nehmen. cs/ce/jh Diskriminiert? Melden Sie sich bei uns! Um ein umfassendes Bild der aktuellen Diskriminierungslage zu erhalten, gezielt dagegen anzukämpfen und informieren zu können, ist die Aids-Hilfe Schweiz auf Ihre Meldung angewiesen. Teilen Sie uns Fälle mit, welche Ihr Rechtsempfinden verletzen. Auf www.aids.ch/ leben-mit-hiv/beratung-information/diskriminiert.php finden Sie ein entsprechendes Formular. Die Angaben werden streng vertraulich behandelt. Sie haben auch die Möglichkeit, anonym zu bleiben, wenn Sie dies wünschen. FORUM RECHT Sie fragen – wir antworten Erwähnung von Krankheitsabsenzen im Arbeitszeugnis Anlässlich einer Reorganisation im Betrieb wurde mir nach 17-jähriger Tätigkeit gekündigt. Ich habe nun das Schlusszeugnis bekommen. Es ist ein gutes Zeugnis, jedoch wird darin erwähnt, dass ich des Öfteren krank war. Das ist korrekt, ich musste in der Vergangenheit mehrere Male die Therapie wechseln und fiel dann jeweils einige Wochen aus. Seit drei Jahren hat sich meine Therapie aber gut eingependelt und ich kann meine Krankheitstage fast an einer Hand abzählen. Darf ich verlangen, dass der Arbeitgeber die Krankheitsabwesenheiten streicht? Und kann ich verlangen, dass der Arbeitgeber im Arbeitszeugnis festhält, dass es uncodiert ist? Antwort von Dr. iur. Caroline Suter Eine krankheitsbedingte Arbeitsverhinderung darf in einem Arbeitszeugnis nur dann erwähnt werden, wenn dies für die Gesamtbeurteilung der Arbeitsleistung notwendig ist. Dies ist gemäss Bundesgericht dann der Fall, wenn eine Krankheit erheblichen Einfluss auf die Leistung und/oder auf das Verhalten des Arbeitnehmers bzw. der Arbeitnehmerin hat oder wenn eine Krankheit die Eignung für den Job infrage stellt. Berücksichtigt wird dabei das Verhältnis zwischen der Dauer des Arbeitsverhältnisses und der Dauer der Krankheitsabsenz. Nur wenn die krankheitsbedingte Arbeitsverhinderung im Verhältnis zur Dauer der Anstellung erheblich ins Gewicht fällt, darf sie im Arbeitszeugnis erwähnt werden. Sie haben 17 Jahre im Betrieb gearbeitet. Einige Wochen Krankheitsabsenzen fallen dabei nicht ins Gewicht und dürfen deshalb nicht erwähnt werden. Anders würde dies aussehen, wenn Sie beispielsweise nur ein Jahr im Betrieb tätig gewesen wären. Dann würde ohne Erwähnung der Krankheitsabsenz gemäss der bundesgerichtlichen Rechtsprechung beim neuen Arbeitgeber ein falscher Eindruck bezüglich der erworbenen Berufserfahrung entstehen. Eine Diagnose, wie beispielsweise die HIV-Infektion, dürfte aber in einem Arbeitszeugnis unter keinen Umständen erwähnt werden. «Es ist ein gutes Zeugnis, jedoch wird erwähnt, dass ich des Öfteren krank war. Darf ich verlangen, dass der Arbeitgeber die Krankheitsabwesenheiten streicht?» Die Verwendung von Geheimcodes verstösst gegen den Grundsatz von Treu und Glauben und ist deshalb nicht zulässig. Sie verstossen gegen das Klarheitsgebot. Die Anmerkung «nicht codiert» in einem Arbeitszeugnis ist deshalb nicht notwendig, da davon ausgegangen werden darf, dass das Zeugnis uncodiert ist. Der Arbeitgeber könnte mit einer solchen Anmerkung den Anschein erwecken, dass das uncodierte Zeugnis nicht seiner normalen Praxis entspricht. © Mary Manser Anfrage von Frau S. H. Dr. iur. Caroline Suter, kostenloser Rechtsdienst der Aids-Hilfe Schweiz Melden Sie sich so schnell wie möglich bei Ihrem Arbeitgeber und bitten Sie ihn, die Krankheitsabsenzen herauszustreichen. Sie haben einen Zeugnisberichtigungsanspruch, den Sie notfalls auf dem Klageweg durchsetzen können. Swiss Aids News 4 | Dezember 2015 19 I N S E R AT Hier wird dir geholfen! Dr. Gay beantwortet online Fragen zu Sex, Homosexualität, Coming Out, schwuler Gesundheit, Liebe und Beziehung. Für eine persönliche Beratung oder eine Behandlung ist der Checkpoint in deiner Nähe für dich da – in Zürich, Basel, Lausanne und Genève. www.drgay.ch