Mozarts Zauberflöte und ihre Welten Manfred Wagner

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Mozarts Zauberflöte und ihre Welten Manfred Wagner
Mozarts Zauberflöte und ihre Welten
Manfred Wagner
Diskursanalyse wie auch Semiotik tun sich schwer bei historischen Kunstprodukten. Dies
liegt nicht an einer völligen Verunmöglichung ihrer Anwendungen, sondern an der
Komplexität und wohl auch Individualität des Kunstwerkes an sich, das bei aller ihm
zugeschriebenen Zeitlosigkeit einen spezifischen Ausdrucksmodus aufweist, der in der
Regel nicht vom zeitgenössischen Sprachgebrauch allein subsumiert werden kann. Da
inzwischen auch nur oberflächliches Hören, Sehen oder Empfinden historischer
Ausdrucksmodelle, selbst wenn sie nur 100 Jahre zurückliegen, nicht mehr als Teil des
Bildungswissens vorausgesetzt werden können, entfällt größtenteils auch eine emotionale
Konkordanz, die sich möglicherweise versprachlichen ließe. Nichtsdestoweniger ist es
möglich – und darum dreht sich das Bemühen der folgenden Ausführungen – eine Art
Analogon zur Dimension der Diskurse als Narrationen herzustellen, wo das „Opus
Operatum“ im Hinblick auf die bekannte Symbolik der Freimaurerei untersucht werden
kann, weil ja die Form in der Übertragung der Bedeutung eine entscheidende Rolle spielt.
Um diese in ihrer Grundbefindlichkeit zu erläutern, war nötig, einige Grundsatzdifferenzen
zwischen Oper und Drama für die Zeit zwischen 1600 und 1900 voranzustellen, denen sich
auch modifiziert und spezifiziert Mozarts Zauberflöte unterwirft. Eine weitere
Einschränkung ist, dass diese künstlerischen Narrationen selbstverständlich nur in jenen
Kulturkreisen verstanden werden, die diesbezüglich eine eigene Tradition aufgebaut haben,
also im Gegensatz zu Mythen und Märchen nicht als universeller Modus der
Kommunikation verstanden werden können, ja eingeschränkt durch die spezifische
Freimaurerthematik nicht einmal einheitliche Interpretationsmuster im eigenen Kulturkreis
aufweisen. Dies mag angesichts des „Welterfolgs“ der Zauberflöte verwundern, ändert aber
nichts an dem Befund. Andererseits ist diese Sicht einer eingeschränkten Narration sehr
wohl glaubhaft, weil ihre Methodologie Elemente der narrativen Semiotik aufgreift und in
ihrer Binnenstruktur bei entsprechender Narration gut verständlich erscheint. Allerdings ist
vor einer allzu strikten Verfolgung einzelner Parameter, beispielsweise der Levi-Strausschen
Mytheme zu warnen, weil, wie gerade in der Decouvrierung des Königin-der-NachtDer Grammatik und der Verständlichkeit der Sprache wegen sind alle personalen Begriffe geschlechtsneutral,
also weiblich und männlich zu verstehen.
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Klischees gezeigt wird, die binäre Oppositionslage schlichtweg nicht als selbstverständlich
vorausgesetzt werden kann, was man nebenbei bemerkt in einer Mikroanalyse auch an
Sarastro exemplifizieren könnte. Dass dennoch in der Interpretation dieser spezifisch aus
dem musikalischen Sprachablauf unmittelbar ablesbaren Differenzierungen in der
Umsetzung der Regie nicht gefolgt wird, zeigt nur, wie wenig einerseits Regisseure von
Musik verstehen oder andererseits, wie sehr sie bemüht sind, die von ihnen in Szene
gesetzten Werke zu einer Art Mythos aufzublasen. Dies würde zweifellos vom historischen
Hörer ohne größere Schwierigkeiten durchschaut worden sein, weil er gleichgültig in welcher
Bildungsschicht die Grundsätzlichkeit der Musik seiner Zeit – und letztlich nur diese –
sowohl im Alltags- als auch im kunstmusikalischen Kontext verstand, weil zwischen beider
Konstruktion keine Differenz existierte. Da diese Art des Hörens allgemein verloren
gegangen ist und nur wenigen Fachleuten aufgrund ihrer kognitiven Erkenntnisse vertraut zu
sein scheint, ist auch hier die Logik des Diskurses, beispielsweise der Freimaurerideologie,
nur wenigen direkt zugänglich, bei entsprechender Erläuterung aber – so ist zu hoffen – gut
nachvollziehbar.
Die Geschichte der Interpretation von Wolfgang Amadeus Mozarts letzter Oper Die
Zauberflöte, am 28. September 1791 nach weniger als vier Monaten Arbeitszeit in Wien
vollendet und zwei Tage später in Schikaneders „Theater im Starhembergschen Freyhaus auf
der Wieden“ zur Uraufführung gebracht – also knapp vor Mozarts Tod am 5. Dezember
desselben Jahres –, ist fast so alt wie die Musik selbst. Die Zauberflöte wurde als
Weihespiel und Vorstadtstück, Geschlechterkampf und Zaubermärchen, Realität und
Unwirklichkeit, singspielhafte Einfachheit und Seria-Koloratur, Schauspielgesang und
höchste Artifizialität, Gelehrsamkeit und Empfindung, Aufklärung und Geheimnis, Gipfel
der Opernliteratur und als „Machwerk“ im Widerspruch zwischen jakobinischer,
reaktionärer und freimaurerischer Ausdeutung etc. gedeutet und inszeniert.
Inhalt ist nicht Text allein
Die großen Schwierigkeiten in der Einschätzung lagen – wie meist in der Geschichte der
Oper – in der inhaltlichen Aufbereitung des zweiaktigen Werkes, wobei inhaltlich immer als
sprachtextliche Dimension verstanden und die Musik oft als Illustration dieser textlichen
Ausgangsbasis gesehen wurde. Daraus ergab sich zwangsläufig eine Tendenz, die nach dem
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kausalen Geschehen des Stückes fragte – selbst dort, wo es um die Beurteilung symbolischer
Akte ging – und mit dieser Kausalität letztlich nicht zu Rande kam. Die Schuldzuschreibung
für diesen Umstand fiel auf den Librettisten Emanuel Schikaneder, der dieses Los übrigens
mit vielen anderen Librettisten der Operngeschichte teilte.
Abgesehen davon, dass Schikaneder eine südbayrisch-österreichische Ausdrucksweise des
18. Jahrhunderts verwendete und abgesehen von der Länge des Textes zeigt sich bei
genauerer Betrachtung, dass dieser nicht nur sinnvoll für das Verstehen der Handlung,
sondern darüber hinaus auch eine Pufferzone zwischen den musikalischen Nummern ist,
einen dramaturgischen Anlass für die zahlreichen (fast 50!) Auftritte, eine genaue
Anweisung für die psychischen Befindlichkeiten und – so scheint es in der heute
notwendigen Straffung – eine intelligente Erzählung der Geschichte darstellt, was aber nur
von einem Teil der Fachleute so gesehen wird. Wahrscheinlich hängt die Diskrepanz in der
Einschätzung des Generalunterschiedes der Dramaturgie von Oper und Schauspiel
zusammen, also der Differenzierung zwischen einer literarisch-dramatischen Szene und einer
musikalisch-theatralischen Szene.
Zur Differenz: Drama und Oper
Das gesprochene Wort des Dramas fügt völlig neue Inhalte zur Szene.
Die Oper hingegen beschreibt den Inhalt einer Szene.
Das Drama findet sein Thema vornehmlich in zwischenmenschlichen und zu einer Lösung
drängenden Problemen. Der rationale Weg ist wesentliches Objekt des dynamischen
Verlaufs.
In der Oper hingegen geht es vornehmlich um die Ausbildung der emotionalen Ebene. Nicht
Überlegungen sind wichtig, sondern das Erleben.
Die zwischenmenschliche Welt des Dramas ist vor allem im Dialog niedergelegt. In der Oper
hingegen dreht es sich um das Ich der Arie.
Während das Sprechtheater auf Fortlauf, auf Kausalität Wert legt, bleibt die Oper beim Spot
der Emotion, bei der Momentaufnahme einer Auseinandersetzung stehen.
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Das gesprochene Wort des Dramas kann Personen, Handlungen, Geschichte integrieren, die
selbst Hauptzüge bilden.
Die Oper hat keinerlei evokatorische Fähigkeiten. Was als sichtbares Theaterbild
konkretisiert ist, kann ohne Schwierigkeiten ausgedrückt werden, es ist aber kaum möglich,
eine nicht vorhandene Person, Handlung oder Geschichte musikalisch einzuführen. Die
Ausnahme sind metaphysische Dimensionen („Stimme vom Himmel“).
Das Drama vermeidet zumeist, die Vorgeschichte einer Handlung zu zeigen. Die Oper
hingegen tendiert dazu, die Vorgeschichte zu einem Teil des Bühnenspiels zu machen. Sie
kehrt quasi psychoanalytisch im Verlauf des Geschehens an die Wurzeln dieser Ereignisse
zurück.
Das Drama ist bemüht, den Zeitraum des eigentlichen Vollzugs zusammenzudrängen, der
Oper hingegen geht es darum, nicht zu komprimieren, sondern sich in der Momentaufnahme
auszubreiten.
Das Drama kennt eine innere Integration, eine innere Logik, woraus jeder Teil erst aus dem
Konnex des Ganzen verständlich und wirksam wird. Die Oper ist eine Folge von
Momentaufnahmen, also von bestimmten und voneinander in Intention und
Zusammenhängen unabhängigen Nummern.
Das Drama kennt im Wesentlichen den wirklichen Menschen. Die Oper hingegen arbeitet
mit einem künstlichen Erscheinungsbild des Menschen, weil der singende Mensch nicht so
sehr denkt, sondern vor allem sein Fühlen präsentiert.
Das Drama verhält sich im Großen und Ganzen wirklich logisch analog der Realität des
Menschen. Die Logik der Oper ist theaterimmanent.
Mozart nahm Texte immer ernst
Von diesen Kriterien aus sind die gegensätzlichen Dramaturgien von Oper und Drama
verstehbar, wenn auch oft in der Praxis nicht eindeutig umgesetzt und deswegen zu
Missverständnissen Anlass gebend. Vermutlich liegt auch in diesem grundlegenden
Missverständnis die Diskrepanz in der Einschätzung der Zauberflöte und vor allem in der
Bewertung der Schikanederschen Textgrundlage.
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Mozart selbst äußerte sich mehrmals in ausführlichen Briefen über das Schicksal seiner
Oper Die Zauberflöte, und nichts weist darauf hin, dass er mit der Textkonzeption nicht
einverstanden gewesen wäre. Das stärkste Argument für die Ernsthaftigkeit des
Unternehmens ist aber ein musikalisches: die Ouvertüre. Zwar steht sie am Beginn der
Oper, wird aber wie das Vorwort jedes Literaten gewöhnlich in der Abschlussphase eines
Gesamtwerkes verfasst und beinhaltet daher nahezu automatisch eine zusammenfassende
Sicht. Mozart schrieb die Zauberflöte-Ouvertüre auch am Schluss der Oper, vollendete sie
laut eigenem Werkverzeichnis am 28. September 1791, also zwei Tage vor der
Uraufführung.
Die Ouvertüre sagt schon alles voraus
In dieser Ouvertüre fasst Mozart Kategorien seines Denkens derart konzentriert zusammen,
dass man von einer Art Index sprechen könnte, einem Inhaltsverzeichnis, dessen einzelne
Kapitel zwar nicht „expressis notis“ angeführt werden, die als Bedeutungsfelder wohl aber
eindeutig und unverrückbar festgelegt sind.
Eine der Bedeutungsfelder betrifft die Symbolwelt des Freimaurertums, dem Mozart seit
dem Beitritt zur Loge „Zur Wohltätigkeit“ 1784 verbunden war. Dafür steht der gesamte
Prüfungskomplex mit seinen Wanderungen durch die verschiedensten Phasen, die
Symbolwelt der Dreiheit bei den Eröffnungsakkorden, der Wiederkehr in den drei Damen,
den drei Knaben, den drei Sklaven, den drei Schichten (von Sarastro und Königin der Nacht
als eher Hoch-, zu Tamino und Pamina als Mittel- und Papageno und Papagena als
Unterschicht übersetzbar. Dafür steht die Humanbotschaft, die von dem nahezu
existentiellen Motto, erst über Prüfungen zum Menschen werden zu können, ausgeht und
von der Gleichheit nicht nur der Schichten, sondern auch der Geschlechter aller Menschen
spricht, vom revolutionären Kontext, der die Jugend, die Unverbrauchtheit und die
Solidarität zum Ziele führt. Dafür stehen die Klangfarben der Priester, die an Mozarts eigene
Freimaurerkompositionen erinnern, die drei Tempel: der Weisheit, der Vernunft und der
Natur, das Handeln von der Freiheit, von Klugheit und Arbeit und Kunst, nebenbei bemerkt
einer Welt, die nicht nur in der Zauberflöte ihren Niederschlag fand, sondern auch in dem
kurz vorher fertiggestellten Prager Titus oder auch in der 1788 bereits vollendeten
Jupitersinfonie, die musikalisch gesehen eher den Namen Sarastros tragen müsste.
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Zu Beginn der langsamen Einleitung der Ouvertüre befindet sich der Zuhörer ohne
Vorbereitung in der Welt Sarastros, jenes Symbolträgers der Freimaurerei, dessen geistige
Ebene, nicht seine Argumentationen, in der Tonart Es-Dur eine Färbung erfährt, die, wie
noch zu beweisen ist, von Liebe dominiert wird, sowie in der Symbolik der Dreiheit, die
nahezu unverhüllt das Ideenreich des Freimaurerbundes dokumentiert. Die Verbindung der
Instrumente Holzbläser und Posaunen – in den Wiener Freimaurerlogen der damaligen Zeit
führende Mittel eines warmen, nach innen gekehrten Glanzes – trägt diese Ebene genauso
wie die Verwendung von aus strengsten kirchenmusikalischen Gesetzen stammenden
Liegetönen, die den Nachhallcharakter der Orgel simulieren.
Das Argument der Dreiheit erscheint auch noch in den Stufen des Dreiklanges selbst, des
idealen musikalischen Ausdrucks eines perfekten harmonischen Systems, und in den
Strukturelementen der Wiederholungen: des Rufes am Beginn (später im Rufton der
Priesterwelt wiederholt), der Durchschreitung des Basses und der dreifach wiederkehrenden
Figur in den ersten Geigen, Bratschen und Celli.
Diese symbolische Welt, die auch in allen wichtigen Analysen als unmissverständlich
freimaurerisch empfunden wurde, gleichgültig, ob von Mitbrüdern dieses Bundes oder von
ihm fern stehenden Theoretikern beobachtet, wird von einem Allegro gefolgt, dessen
Konzeption nicht nur an kirchenmusikalische Strukturen erinnert, sondern auch von der
formalen Anlage her eine von Mozart zur Meisterschaft gebrachte Verbindung zweier
Denksysteme offenbart. Es ist jener fugierte Sonatensatz, der von Analytikern oft als bloße
Fuge angesprochen wurde, in Wirklichkeit aber die Symbiose einer strengen Gedankenwelt
einerseits und einer dialektischen Diskussionsebene andererseits darstellt. Gewiss
kennzeichnet diese Verquickung zweier an sich gegensätzlicher Prinzipien Mozarts Spätstil
ebenso wie jenen Beethovens (Missa solemnis, Neunte Sinfonie), Schuberts (C-Dur-Sinfonie
und Mirjams Siegesgesang), Verdis (Falstaff und Quattro pezzi sacri), Bruckners (Achte und
Neunte Sinfonie) und Johannes Brahms’, der zeit seines Lebens die Konfrontation dieser
beiden gegensätzlichen Elemente zum Hauptthema seiner Betrachtungen gemacht hatte.
Diese Kombinationsform, die aus sich selbst die Antipoden: musikalische Emotion und
Disziplin, Klangfläche und Melodie, harmonikales Bewusstsein und polyphones
Liniengefüge vereint, ist weder bei Mozart noch bei seinen Nachfolgekomponisten als
Übungskriterium beiläufiger Formspielerei aufgetreten, sondern immer nur an jenen
Positionspunkten, die die Richtung eines Werkes angaben oder vorformulierten. Dass diese
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Konfrontationen sehr oft im Spätstil sich einstellen, mag damit zu tun haben, dass der
Künstler es noch einmal wissen will: seine Erfahrung, seine Arbeit, sein
Avantgardebewusstsein einer hierarchisch vorformulierten, schon vorher vorhandenen und
in der Konstruktionsweise allgemein anerkannten Welt gegenüberzustellen, zu zeigen, dass
Gelehrsamkeit nicht nur die Umsetzung des eigenen Ichs bedeutet, sondern auch
Bezugnahme auf die Arbeit der Vorväter, dass Gültigkeit in der Kombination von
Fortschritt und Tradition als integrativen Systemen beruht.
Mozart hat, ohne dass wir es zitatmäßig merken, die Tamino-Phrase mit der fallenden Linie
nach Sextsprung eingeführt („Dies Bildnis ist bezaubernd schön“), ebenso jene PapagenoStammelei, die ihm durch das Sprechverbot verordnet wurde („Hm, hm, hm, hm...“), das
heißt, Mozart schaffte es, aus der nebenbei gesummten Melodie das Hauptthema einer der
anspruchvollsten musikalischen Konstruktionen der Musikgeschichte zu entwickeln.
Wenn es kein anderes Argument für die Bedeutung der folgenden Handlung gäbe, genügte die
Kunstfertigkeit dieser Ouvertüre mit ihren artifiziellen und bedeutungsschweren Aussagen.
Sie bedeutet, verzichtet man auf ihre Eigenanalyse, nichts anderes als: Schaut her, wenn es
schon so kunstvoll beginnt, wie bedeutend muss erst das weitere Geschehen im Verständnis
sein.
Mozart hat also mit dieser Ouvertüre klargestellt, dass etwas Bedeutendes passieren würde,
dass sich die Inhalte von Freimaurerbund, Liebe und Menschen aller Formulierungen
gegenüberstehen und dass mit der Ouvertüre ein musikalischer Doppelpunkt gesetzt sei,
Aufmerksamkeit gerichtet würde auf ein Geschehen, das – unabhängig wie immer es
ausgehen sollte – höchste Beachtung verdiente. Diese Doppelpunktfunktion, der
Bestätigungscharakter, der Affirmationstypus der Fuge ist uns längst aus den
kirchenmusikalischen Werken aller Zeiten geläufig: in der Bestätigung des „Amen“ (= So sei
es) beispielsweise, das meistens fugiert abgeführt worden ist. Die zentralen
Glaubensaussagen der katholischen Messe finden in dieser formalen Umsetzung ihre
ästhetische Befestigung, und Mozart selbst, der die Ouvertüre nach dem vollständig
konzipierten und niedergeschriebenen Werk formulierte, soll es nicht ernst gemeint haben
mit seiner Ankündigung, soll ein Zauberspiel, einen Verwirrungstummelplatz, ein maschinell
aufgezogenes Schauspiel, die Maschinenoper allein geplant haben?
Man kann, so sehr man danach sucht, für eine solche Annahme in der gesamten
Mozartschen Klangwelt keine Vergleichsebene finden. Wenn also am Anfang dieser Oper
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die Krone der damals erreichten formalen thematischen und inhaltlichen Auseinandersetzung
steht, wenn verbunden mit emotional einwandfrei in die Richtung weisenden und
musiktheoretisch ebenso einwandfrei zu belegenden Symbolcharakteren operiert wird, muss
der Ansatzpunkt der interpretatorischen Fähigkeiten anders gesetzt werden als dies bislang
ausschließlich dem Textinhalt folgend geschah.
Zur Psychologie der Zauberflöte
Mozarts Zauberflöte besteht aus Welten. Diese Welten sind im Wesentlichen nicht von
Personen besetzt, sondern von Inhalten des emotionalen Bereichs, die sich in Oberbegriffe
zusammenfassen lassen. Diese Welten oder auch Ebenen werden innerhalb der einzelnen
Akte in Szenenkonfrontationen derart durcheinander geschüttelt, dass wir nicht nur das
Gefühl von glänzender Abwechslung (in 49 Szenen), also einen hohen Unterhaltungswert
erfahren, sondern darüber hinaus manchmal auch jene Verwirrungen, die hinlänglich
beschrieben wurden.
Die Ebenen umfassen im Wesentlichen: die Komponenten der Macht, der Liebe, des Leides,
der menschlichen Erregung, der kleinbürgerlichen Zustände von positiver Freude, von
erfüllbaren Wünschen und kurzfristigen Frustrationen, der humanen Emotionen, die auch
versinnbildlicht abstrahiert auftreten können wie dem Abschied, der unerfüllbaren Utopien,
die in der Form des Zaubers ihre Wirklichkeit erfahren.
Im Wesentlichen lassen sich alle textinhaltlichen musikalischen Kriterien nach diesen
Bereichen nachvollziehbar ordnen: Die Welt des Papageno als der alltäglichen NaturMensch-Naivität ebenso wie die manierierte Erregung der Königin der Nacht, die
Liebesbeschreibung der Bildnisarie wie das Humanitätsideal Sarastros.
Das musikalische Leid ist in der Zauberflöte nicht einer Person allein überantwortet. Dieses
Leid, ausgedrückt in Mozarts melancholischster Tonart g-Moll, die ja in der großen g-MollSinfonie K550 von 1788 ihre Absolutierung zur Form erfuhr, widerfährt in gleicher Gestalt
und mit gleicher Qualität in den uns bislang bekannten drei Welten der Zauberflöte, in der
symbolischen der Königin der Nacht, der menschlich suchenden des Naiv-Mädchens Pamina
und der ursprünglich-kleinen Naturwelt des Papageno. Das Grundmodell ist dafür die
Tonart g-Moll und eine Sechsachtel-Struktur mit gleichmäßiger Betonung der Achtelnoten,
von Pamina und Papageno wörtlich so zitiert, von der Königin der Nacht aus der in diesen
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Leidensausdruck hineinspielenden Erregungssituation auf Dreiviertel (=ebenfalls
Sechsachtel) verkürzt.
Die Urform dieses Gedankens singt verständlicherweise der naive Papageno. Dieses Modell,
das auf die Terzvorbereitung des Moll-Dreiklangs aufbaut und im Wesentlichen von der
Kadenz, der musikalisch kürzesten Form der Bestätigung umspielt wird, liegt auch der
Pamina-Arie zugrunde, in einem vornehmeren, weil nicht so einfach leiden könnenden
Rhythmus und mit leidausschmückenden Ziernoten umgeben.
Die Königin der Nacht fixiert den Melodiecharakter der Wendung, den durchschrittenen
Dreiklang ohne eine Tiefenebene, sondern eindringlich verstärkt durch gleichlaufende
Streicher- bzw. Holzbläser. Analog zu diesen Manifestationen des Leides, das von den drei
bislang immer als gegensätzlich bezeichneten Schichtenangehörigen sehr gleichförmig, also
für Menschen einheitlich dargestellt wurde, laufen auch die anderen Ebenen. Monostatos ist
ein direkter Bruder des Papageno, der die kleine Welt des Wunschdenkens („Alles fühlt der
Liebe Freuden“) in sich birgt oder die Schadensfreude des Erwischens oder die
Erlebnissprüche in Richtung Mores lehren.
Die drei Knaben aus der Zauberwelt laufen analog der Flöte als Zauberinstrumente und der
unweltlichen Projektion, weil sie ewige Lebenswahrheit zu sein scheint, abgehoben wie das
konvertitisch übertreibende Duett der Priester „Bewahret euch vor Weibertücken“. Die Welt
der Liebe in Taminos Bildnisarie und im Duett „Bei Männern, welche Liebe fühlen“ ist nicht
weit entfernt von der Zuversicht der Reife („In diesen heil’gen Hallen“) oder Sarastros
Resümee am Ende.
Von den Zuständen
Die großformalen Bausteine der Zauberflöte sind ebenfalls nicht auf Personen zugeschnitten,
sondern auf Zustände, auf Welten, auf Ebenen. So kommen alle naiven Bereiche der
kleinbürgerlichen Welt aus dem deutschen Singspiel vor, von Mozart in der Entführung aus
dem Serail von 1782 vorformuliert, ein Modell, das Beethoven trotz Durchsicht von 50
Libretti nur am Beginn seines Fidelio erreichen konnte. Die Melancholie kommt aus
Mozarts eigener Arbeit, jenem Zerbrechensmodell der Vollendung. Die Menschlichkeit,
kategorisiert durch die Ästhetik der Bildnisarie, entstammt Mozarts Empfindungsweise, zur
Höchstform bei der Liebe (zwischen Mann und Frau) auflaufend, und die Schreckensebenen,
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sei es in einer Welt voller Schlangen oder der nicht minder gefährlichen (geistigen) Aspekte
menschlicher Rache, resultieren aus der Opera seria, dem Fundus der Geschichte des Pathos.
Zu ihren wesentlichsten Kriterien zählte die Sichtbarmachung seelischer Komponenten mit
Hilfe direkt umgesetzter melodischer Strukturen. Deswegen ist nötig, dass die Königin der
Nacht in ihrer Rache-Arie (nahezu automatisch bei Mozart analog Don Giovanni in d-Moll
stehend) mit ihrer schärfsten Stimmhaftigkeit, dem höchsten Spitzenton und dem
schnellsten Wechsel des Zungenschlages Erregung andeutet, deren Maß in dem exzessiven
Anspruch des alten Kunstmittels Koloratur vorgegeben ist. Die formulierte Welt der
Priester, in ihrem Kollektiv eher der Kommentatorik des griechischen Chores verwandt,
stammt ebenso wie die Sentenz der Prüfung im Gesang der „Geharnischten Männer“ aus der
Tradition der Geschichte: einerseits dem Moralsatz Gluckscher Prägung, andererseits der
protestantischen Choralbearbeitung, die über das „Ach Gott vom Himmel sich darein“
(Gesang der Geharnischten) auch eine inhaltliche Bestätigung der angenommenen These
erfährt.
Die Auslotung der Extreme
Die Zauberflöte ist demnach tatsächlich ein Kosmos menschlicher Existenz. Ihre Ebenen
sind vollinhaltlich nicht nur in Kategorien verschiedener menschlicher Gestalten, sondern im
menschlichen Bewusstsein selbst präsent. Die gesamte Welt ist auch die des einzelnen. Sie
wird gespeist von jenen Elementen, die Grundbefindlichkeiten menschlichen Daseins
ausmachen. Die Figuren sind Kategorien des Es der Natur, des Ego, des Über-Ichs der
Utopie, der Verzweiflung, des Zaubers, der Humanität, des Zornes und der Eifersucht, kurz:
der Schattierungen des Menschlichen Seins als Ebenen menschlichen Bewusstseins
dargestellt. Das Erleben verschiedener Bewusstseinskategorien wird symbolisch
manifestiert, ohne deswegen, wie es auch im Bewusstsein stattfindet, Kausalität zu
erzwingen, nur denkbar zu machen. Sarastro und die Königin der Nacht, Monostatos und
Papageno, Pamina und die drei Knaben, Tamino und die Eifersucht der drei Damen – sie alle
leben in jedem einzelnen von uns. Die Entwicklung erfolgt nicht stufenweise aufeinander,
sondern nebeneinander, die Abwechslung ist analog menschlicher Bedürfnisse gegeben, die
großformalen Inhalte sind mit Hilfe ästhetischer kategorischer Formen, die von einer lange
zurückliegenden historischen Erfindung (alter Kirchensatz als Repräsentanz des alten
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Ägypten) bis zur Gegenwart Mozarts reichen. Die Seelenverständnisse sind relativ deutlich
aufeinander bezogen, wenn auch verschiedenen personalen Ebenen überantwortet. Damit
tritt eine Aufhebung der schichtenspezifischen Handlung der Zauberflöte konsequent in
Kraft, damit aber auch eine Aufhebung der Widersprüche, die bislang die Interpretation zu
unterschiedlichen Kommentaren verleitet hat.
Neben der Analyse liegt die deutlichste Ablösung dieses Prozesses in der Entwicklung zur
Schlussweisheit hin, die nicht mehr die abgeklärte Weisheit des Sarastro allein ist, sondern
auch die emanzipierte Gewissheit des Tamino, die Entwicklungsparallele der Pamina und die
Einholung der Weisheit der Geharnischten, die vor den letzten großen Prüfungen, der Feuerund Wasserprobe, in der Wiederholung der gleichen Spitzentöne einander ebenbürtig
machen. Die Erfüllung der kleinen Wünsche Papagenos, jener irdischen von Essen, Trinken
und V/vögeln (um auch diese Doppeldeutigkeit in der Erzählung auf den Punkt zu bringen)
und damit auf die Weisheit, die Lehre und die Sicht der Götter zu verzichten, ist von
Mozart ebenso bewusst in das Finale hineingenommen worden und kann nicht
wegdiskutiert werden. Das Zeichen dieses Verhaltens sind die Märsche oder Gänge durch
Wasser und Feuer.
Hier tritt musikalisch der Marsch als Symbiose höchster Einfachheit und höchster
Artifizialität auf. Die Einfachheit ist gekennzeichnet in den kaum primitiver darzustellenden
Begleitfiguren des Marsches, in Tonfixierung und Bass, auf die Grundelemente der
Bläserstruktur Trompete, Hörner, Posaunen und Pauken zurückgeführt. Sie stehen der
höchsten Blaskunst der Flöte gegenüber, die ein raffiniertes und kompliziertes Klangsystem
vereinigt und der Naivität des Papagenoschen Einfachkonzepts (per aufsteigender
Fünftonskala) entgegenwirkt. In dieser Sicht der Ästhetik vollendet sich ein Widerspruch,
der bislang in unserer Gedankenwelt noch immer antipodisch verstanden wird. Die Wahrheit
menschlichen Strebens, so meint Mozart, findet nämlich nicht in intellektueller Weisheit und
nicht in naiver Empfindung allein ihre Ausformung, sondern wahrscheinlich in einer
Kombination derselben. Diese
Kombination, vorbereitet durch
die
vielen
Szenenkonfrontationen des 1. und 2. Aktes, ist nicht nur die Erreichung des Ziels, sondern
gleichzeitig auch die Strecke des Weges zu diesem Ziel.
Das 2. Finale zeigt im Ablauf die Didaktik: im ersten Anlauf triumphale Freude, vom
siegreichen militärischen C-Dur durchbrochen, vom stotternden Glückserlebnis Papagenos,
dessen persönliches Glück nur in einem Höchstmaß an einfacher, staunender
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Wiederholungsstrategie schilderbar wird; dann der riesige Aufschwung der negativen Stärke,
genannt Rache, bis zum Dazwischenschlagen des Blitzes als dem Licht der Erkenntnis, vom
durchsprungenen doppelt verminderten Septakkord formuliert. Aus diesem Licht steigt
Sarastro noch einmal in die Wiederholung des Urteilsspruchs, die Zerrissenheit und
Zerstücktheit der Rache als Konzept aufnehmend und zur anderen Seite dieses dynamischen
Ausdrucks sich wendend („Die Strahlen der Sonne“).
Die letzte Wahrheit über den Inhalt der Zauberflöte spricht das Schlussallegro der Oper.
Diese letzte Wahrheit ist manifestiert durch das Grundstufe- und Quintespiel Papagenos,
nunmehr vom naiven G-Dur in die Erkenntniswahrheit des Es-Dur gebracht, und der
siegreichen Komponente des Dreiklanges, verstärkt durch die Punktierungen, die uns aus der
Priesterebene schon längst vertraut sind.
Die Moral von der Geschichte ist demnach die Verbindung aus kleiner Menschlichkeit
(Papageno) und hohen Idealen (Sarastro) via Liebe (Pamina und Tamino), die Verbindung
von Naivität und Weisheit durch Zuneigung, die in dieser seltenen Kombination der
Mozartschen Meinung, seiner Wunschvorstellung vom Menschen wohl am ehesten zu
entsprechen schien. Was bislang stattfand, bis zum letzten Zweivierteltakt-Allegro in
Sarastros Tonart Es-Dur ist Geplänkel (vor dem Sein). Geplänkel oder Parallelität oder
Ablesung oder auch Synchronität von Ebenen, die alle Strukturbereiche beinhalteten, die
musikalisch bislang festgestellt waren. Dieses Abbild einer Weltsicht basiert auf einer
psychologisierenden Einzelanalyse von Grundbefindlichkeiten bis hin zur erreichbaren
Zielvorstellung – besser hätte es die Psychoanalyse nie mehr treffen können –, nicht in einer
bloß kausalen Handlungsebene. Denn sie ist nicht nur durch den Spielraum der
Interpretation erreichbar, sondern auch als Wunschtraum einer Symbiose menschlichen
Verhaltens vorstellbar, die Mozarts Ansicht von der Welt (gerade vielleicht auch aus der
Sicht des Freimaurerbundes) entsprach: nämlich nicht nur nach höchster Intellektualität und
nach äußerem Wissen zu streben, sondern eben diese Intellektualität mit naiver
Auffassungsgabe, mit Neugier und spielerischer Komponente, mit dem Bewusstsein des
eigenen kleinen Ichs, aber auch der anderen unerklärbaren Dinge der Welt in Kombination zu
konterkarieren, wie sie der Komponist so sicht- und hörbar machte.