Das Zornsche Lemma
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Das Zornsche Lemma
1- Das Zornsche Lemma RONALD ORTNER Peter und ich starren in den tiefen Ausschnitt der üppigen Blondine, die nur einige Meter von uns entfernt steht. Das heißt, er starrt hin. Ich sehe mir lieber seinen Gesichtsausdruck dabei an. Im Hintergrund höre ich nun schon zum dritten Mal an diesem Abend einen Song, der geschrieben zu worden scheint, um ein musikalisches Äquivalent für das Wort abscheulich zu schaffen. Ein Kerl mit Schnauzbart in Sakko und Jeans bläst mir den Rauch seiner Zigarette ins Gesicht. Als sich Peters Blick dann wieder mir zuwendet, kann ich mir ein „Interessant?“ nicht verkneifen. Er räuspert sich mit einem breiten Grinsen im Gesicht. „Nicht so interessant wie das Zornsche Lemma“, kämpft seine Stimme gegen den ohrenbetäubenden Lärm an. Nun wird Ihnen das Zornsche Lemma nicht viel sagen. Peter und ich sind Mathematiker. Mathematiker umgeben sich mit lauter merkwürdigen Dingen. Wenn Sie bisher der Meinung waren, diese Dinge wären vorwiegend Zahlen, dann verstehen Sie nichts von Mathematik. Die meisten Mathematiker kommen in ihrem Leben mit einer Handvoll Zahlen aus: 0, 1, p, die Eulersche Zahl e, vielleicht zusammen mit noch ein paar anderen. Aber hauptsächlich schwirren in Mathematikerköpfen nicht Zahlen sondern viel obskurere Objekte wie der Brouwersche Fixpunktsatz, die Dehn-Sommerville-Gleichungen, das Banach-TarskiParadox oder auch das Zornsche Lemma herum. Das Zornsche Lemma ist gleichbedeutend mit einer anderen dieser mystischen Entitäten, dem Auswahlaxiom. „Das ist doch äquivalent zum Auswahlaxiom. Wozu brauchst du das?“ Wenn Sie Mathematiker nicht verstehen, dann kann ich Sie trösten. Mathematiker verstehen sich untereinander auch nicht. Außer sie beschäftigen sich mit demselben Spezialgebiet. Peter und ich tun das nicht. Infolgedessen habe ich nur vage Ideen davon, was Peter genau macht und umgekehrt. Also quittiere ich Peters Ausführungen nur mit einem leichten Kopfnicken und einem „Aha. Kann man das auch ohne Auswahlaxiom beweisen?“ Was Sie in diesem Zusammenhang vielleicht auch noch wissen sollten, ist, daß das Auswahlaxiom von einer Sekte innerhalb der Mathematikgemeinschaft abgelehnt wird. Vielleicht glaubten Sie ja bisher, daß man sich innerhalb der Mathematik darüber einig ist, was wahr und was falsch ist. So ganz stimmt das nicht. Es gibt eben Mathematiker, die glauben an das Auswahlaxiom und andere, die das nicht tun. So ähnlich wie manche Christen an die Jungfräulichkeit Marias und die Unfehlbarkeit des Papstes glauben und andere nicht. Nur daß die meisten Mathematiker an das Auswahlaxiom glauben. Peter erklärt mir also, warum er das Auswahlaxiom unbedingt benötigt. Das heißt, er beginnt damit, bricht mittendrin ab und sagt mir, daß die „Blonde da drüben schon die ganze Zeit herschaut.“ Das ist generell Peters Problem: mitten in seiner mathematischen Arbeit von Frauen unterbrochen zu werden. In den letzten Jahren haben seine Forschungen nicht sehr viele konkrete Ergebnisse gebracht, weil ihm in schöner Regelmäßigkeit immer eine Frau dazwischenkam. Mein Problem ist dazu invers, wie sich Mathematiker auszudrücken pflegen: meine Frau ist mir während meiner Forschungen abhanden gekommen. Es ist ziemlich genau ein Jahr her, daß mich Elisabeth ganz aufgelöst angerufen hat. Elisabeth war zu dem Zeitpunkt seit zirka fünf Monaten in London gewesen, während ich mich hier in der österreichischen Provinz mit dem Beweis eines wesentlichen Resultats quälte. Wesentlich nicht für den Fortschritt der Menschheit oder auch nur der Mathematik. Wesentlich nur für mich. Sie wisse nicht mehr, ob Sie mich noch liebe, sagte sie mir, und es wäre wohl besser, wenn jeder eine Zeitlang seine eigenen Wege ginge, um dann zu sehen, ob es denn noch Sinn mache usw. Den Rest können Sie sich denken. Was Peter betrifft, so bin ich mir immer noch nicht sicher, ob es seine Anziehung auf die Frauen oder die Umkehrung davon ist, die ihn von einer Beziehung in die nächste treibt. Hinsichtlich Frauen ist er jedenfalls ein klein wenig paranoid. Ständig blicken sie zu ihm, sprechen ihn an, kommen ihm zu nahe. Fest steht jedenfalls, daß es bis jetzt immer die falschen Frauen waren, die sich für ihn interessierten bzw. für die er sich interessierte. Elisabeth war hingegen genau die richtige Frau für mich gewesen. Nichts trübte unsere harmonische Beziehung, keiner von uns beiden dachte im Traum daran, daß uns die vorübergehende Trennung etwas anhaben könnte. Wenn Sie jetzt glauben, das wäre nur eine verklärte Sicht der Vergangenheit, dann sind Sie einfach nur zynisch. Was wissen Sie schon über Elisabeth und mich? Peter hat sich in der Zwischenzeit wieder etwas beruhigt und seine Ausführungen zum Zornschen Lemma wieder aufgenommen. Ich muß zugeben, daß wir abgesehen von unserem Interesse an Mathematik nicht viel gemein haben. Glauben Sie nicht, daß Wissenschafter tiefsinnigere Menschen sind. Im Gegenteil. Sie werden keine Schwierigkeiten haben, einen Historiker zu finden, der Pearl Harbor für einen gelungenen Film hält. Peter ist das, was ich mir immer unter oberflächlich vorgestellt habe. Noch vor wenigen Jahren wäre ich gar nicht auf die Idee gekommen, meine Zeit freiwillig mit jemandem wie ihm zu verbringen. Peters Person weist allerdings noch eine zusätzliche Facette auf. Er ist sich seiner Oberflächlichkeit durchaus bewußt und spielt des öfteren mit ironischen Selbstreflexionen über seine Anspruchslosigkeit in diversen Dingen. Außerdem ist er, das muß sogar ich als Mann ihm attestieren, außerordentlich charmant. Auch das ist mit ein Grund dafür, warum ich jetzt mit ihm in diesem verrauchten, lauten Lokal stehe. Seine Gesellschaft ist angenehm, und ich habe das Gefühl, wenigstens den Versuch zu unternehmen, unter die Leute zu kommen. Noch Monate nach dem Ende meiner Beziehung mit Elisabeth versuchte ich, meine sozialen Kontakte auf ein Minimum zu reduzieren, konzentrierte mich noch auf meine Arbeit. Obwohl sich rein empirisch fast nichts geändert hatte – wir hatten uns während ihrer ersten Monate in London, als unsere Trennung noch eine rein räumliche Angelegenheit war, auch nicht gesehen – war mein Gefühlsleben an einem Nullpunkt angelangt. Erst langsam freundete ich mich mit dem Gedanken an, es könnte auch noch eine Beziehung nach Elisabeth geben. Da Peter so ziemlich meine einzige Kontaktperson zur Außenwelt geblieben und er ohnehin immer von Frauen umgeben war, lag es also auf der Hand, seine Gesellschaft zu suchen. Ihm war meine Gegenwart auch nicht unangenehm, meinte er doch, es würden ihn weniger Frauen ansprechen, wenn er nicht alleine unterwegs war. Das würde unheilvolle Bekanntschaften verhindern. Unsere Motive, unsere Freizeit gemeinsam zu verbringen, könnten also gegenteiliger nicht sein. Peter hat inzwischen trotz der angeblichen ständigen Blicke von der anderen Seite des Lokals seinen Monolog beendet. Um ihn nicht weiter in Versuchung zu führen, schlage ich vor, das Lokal zu wechseln. Mühsam bahnen wir uns durch die Menschenmassen ins Freie. Ich genieße ich die eisigkalte Luft, die durch meine Lungen strömt. Einige Schritte durch die Nacht später schlägt uns wieder Hitze und Rauch entgegen. Wir zwängen uns über eine Stiege abwärts, ergattern einen gerade frei werdenden Tisch. Sobald ich sitze, überkommt mich wie meistens in den ersten Minuten Panik. Meine Lungen füllen sich mit jedem Atemzug mit Rauch. Ich habe das Gefühl zu ersticken. Mein ganzer Körper schwingt mit dem Dröhnen der über uns hängenden Lautsprecher. An dem Tisch in der Ecke fühle ich mich von der Masse eingeschlossen, der rettende Ausgang unerreichbar. Erst langsam beruhige ich mich, gewöhnen sich meine Sinne an die Umgebung. Ich frage mich wieder, warum ich mir das antue. Bisher war der Erfolg unserer Zweckgemeinschaft nämlich sehr dürftig gewesen. Peter hatte noch genügend andere Gelegenheiten gehabt und genutzt, Frauen kennenzulernen, während ich kein Glück hatte. Mittlerweile sage ich mir natürlich, kein Glück haben wollte. Warum suche ich gerade hier, wohin jemand wie Elisabeth sich wohl niemals verirrt hätte? Ein Ort, an dem ich mich frage, ob nun die Musik schlechter als die Luft ist oder umgekehrt, wo ich mich nicht entscheiden kann, ob die Gesichter so ausdruckslos sind wie die Gespräche belanglos, wo man die Lügen seinem Gegenüber ins Gesicht schreien muß, um verstanden zu werden... Ich versuche mich zu beherrschen, lenke meine Gedanken wieder auf das Zornsche Lemma und stelle Peter eine entsprechende Frage, die mathematisch so belanglos ist wie es der Ort meiner Meinung nach verlangt. Jemand setzt sich zu uns. Ich weiß, daß sie Peter gefällt. Jung, blond, schlank, große Brüste: 100 Punkte. Inmitten seiner Ausführungen zur transfiniten Induktion merkt er grinsend an: „Sieht aber gut aus.“ Ich versuche mein Lächeln möglichst gelangweilt aussehen zu lassen. Mein Kopf arbeitet immer noch an Peters Induktionsbeweis. Ich krame einen Schmierzettel aus der Brieftasche und suche nach einem Kugelschreiber, finde keinen. Unsere blonde Gefährtin bietet mir schließlich einen an, stellt sich als Sabine vor. Peter, ein Auge immer auf Sabine gerichtet, kritzelt einige kryptische Symbole aufs Papier, bis ich verstehe, was er meint. Sabine sieht Peter mit einem Gesichtsausdruck an, der zwischen fragend und beeindruckt schwankt. Als wir fertig sind, lächelt Peter sie an. „Funktionalanalysis“, beantwortet er ihren fragenden Blick, in einem Tonfall, als ob er damit gerade die Formel zur Entschlüsselung der Welt gelüftet hätte. Sabine findet das auch, jedenfalls ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen. Noch bevor sie ihrer Bewunderung für Peter auch in Worten Ausdruck verleihen kann, entdeckt sie glücklicherweise eine Freundin, die sie hier erwartet und entschuldigt sich kurz. „Für wie alt schätzt du sie?“ Ich denke mir 20, sage aber 17 und füge hinzu: „Höchstens.“ Sabine kommt mit ihrer Freundin zurück. Ich verstehe ihren Namen nicht richtig, es hört sich wie Esmeralda an, er interessiert mich aber ebensowenig wie die Person, zu der er gehört – oder auch eben nicht gehört. Nachdem Sabine sich in der Folge weitgehend mit Peter beschäftigt, versucht Esmeralda, ein Gespräch mit mir zu beginnen – ohne besonderen Erfolg. Ich bin zu sehr damit beschäftigt, Peter und Sabine zuzuhören. Ihr Dialog entwickelt sich beinahe wie in einem schlechten Hollywood-Film, meine Prognosen für den jeweiligen nächsten Satz stimmen mit einer statistischen Wahrscheinlickeit von weit über 50 Prozent. Ich spüre, wie Übelkeit in mir aufsteigt. Die stickige Luft wird wieder unerträglich. Ich schließe die Augen und versuche mich an den Beweis des Eulerschen Polyedersatzes zu erinnern, bis ich mich wieder einigermaßen beruhigt habe. Langsam stehe ich auf und gehe wie in Trance durch das Meer der verschwitzten Leiber, den Orkan aus Stimmen- und Musikwirrwarr. Angelangt in der Toilette schließe ich die Tür hinter mir ab und kauere mich ins Eck. Augen schließen, nichts denken. Dumpf, wie aus einer anderen, feindlichen Welt hämmert die Musik gegen meinen Verschlag. Nichts denken. Einige Minuten – wie viele? – später entschließe ich mich, wieder zu Peter an den Tisch zurückzukehren. Nicht weil ich mich besser fühle, aber Peter wird sich sonst weiß Gott was denken. Ich versuche mir das Absurde der Situation vor Augen zu halten, so zu tun, als würde ich das alles von weit weg beobachten, als wäre ich nicht genauso Teil von alldem hier wie jeder andere. Sabine und Esmeralda sind bereits gegangen, was ich mit einemmal schade finde. Eigentlich war Esmeralda oder wie auch immer sie geheißen hat, ja ganz nett gewesen. Und hübsch. Peter erkundigt sich mit der genau richtigen Mischung aus Mitgefühl und Distanz nach meinem Befinden. „Alles in Ordnung“, sage ich. Gar nichts in Ordnung, denke ich. Peter deutet lächelnd auf den Schmierzettel, auf dem neben seinen Formeln nun auch eine fünfstellige Zahl steht. Sabines Telefonnummer, wie ich mir denke. „Sieht so aus, als wäre ich wieder mal nicht erfolgreich gewesen, Dich von schädlichen Einflüssen fernzuhalten“, versuche ich einen Scherz, dessen Bitterkeit ich gar nicht zu verbergen suche. Peter hört nicht mehr auf zu lächeln und in mir steigt das Bedürfnis, ihm sein immer selbstsicheres Lächeln aus dem Gesicht zu schlagen. Er holt seine Brieftasche hervor, aus dieser eine seiner Visitenkarten, deren Rückseite er mir präsentiert. Da steht in Schönschreibschrift Sabine 31415. „Stimmt“, sagt er, „aber die“ – er zeigt auf den Schmierzettel mit dem Induktionsbeweis – „ist für Dich. Isabella hat Dich so süß gefunden...“ Das Wort süß spricht er dabei so aus, als müßte sich mir seine Bedeutung erst durch den Tonfall erschließen, sodaß ich Angst habe, die Übelkeit könnte sofort wieder in mir hochsteigen. Ich starre auf die Nummer und versuche, meine Lippen zu einem Lächeln zu verzerren. War Isabella nicht eine Variation von Elisabeth? Unwillkürlich erinnere ich mich daran, wie ich Elisabeth kennengelernt habe. Diesmal gelingt mir das Lächeln einwandfrei. Ich überlege kurz und stecke den Zettel mit Isabellas Nummer ein. Besser so. „Ich habe vorhin eine Idee gehabt, wie ich meinen Beweis für den Reduktionssatz wesentlich verkürzen kann. Ich muß mir das gleich ansehen“, sage ich zu Peter. Er sieht mich etwas zweifelnd an, sagt aber nichts und läßt mich gewähren. Wir verabschieden uns. Ein letztes Mal kämpfe ich mich durch das Gedränge. Im Freien angelangt erinnert nur noch das Pfeifen in meinen Ohren an das Chaos, dem ich soeben entstiegen bin. Ich fühle mich erleichtert. Auf dem Heimweg krame ich den Zettel mit Isabellas Telefonnummer hervor und werfe ihn weg. Sie werden sich vielleicht denken, daß ich mir als Mathematiker so eine Telefonnummer leicht merken kann, daß ich es mir auch noch anders überlegen könnte. Vergessen Sie das. Ich kann mich nicht einmal mehr an ihr Gesicht erinnern. Wenige Minuten später betrete ich meine Wohnung, kalt, kahl. Für einen kurzen Moment spüre ich, wie sich dieses schwarze Loch der Einsamkeit in mir auftut. Ich versuche es zusammen mit allen Gedanken an Elisabeth zu verdrängen. Es gelingt mir erst, als ich an meinem Schreibtisch sitze, das Buch zur mathematischen Logik aufgeschlagen. Mit einemmal gehöre ich nicht mehr zur mich kurz vorher noch umgebenden Welt. Hier, zwischen Gödelschem Unvollständigkeitstheorem und dem Satz von Löwenheim-Skolem bin ich zuhause, hier ist alles in Ordnung. Sie verstehen das vielleicht nicht. Aber Sie verstehen ja auch nichts von Mathematik. Zu meiner Beruhigung lese ich: „Das Zornsche Lemma ist äquivalent Wohlordnungssatz. Satz: Jede Menge läßt sich wohlordnen.“ Vielleicht verstehen Sie jetzt. zum folgenden sogenannten