Schnee von gestern. Kawasakis neuer Raumgleiter GTR 1400
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Schnee von gestern. Kawasakis neuer Raumgleiter GTR 1400
FAHRBERICHT KAWASAKI GTR 1400 Silberpfeil Von Markus Lehner (Text) und Wout Meppelink (Fotos) Raumschiff Enterprise? Schnee von gestern. Kawasakis neuer Raumgleiter GTR 1400 beamt dich sanft und schnell ans Ziel deiner Träume. D as auf -zigtausenden von Kilometern gestählte Tourenvolk, mit den Vierzylinder-PowerFlundern BMW K 1200 GT, Honda ST 1300 PanEuropean, Yamaha FJR 1300 bestens bestückt, hatte bisher für die raren Kawasaki-Reisekollegen nur ein mitleidiges Lächeln übrig. Kein Wunder, denn der letzte echte Kawa-Tourer, die GTR 1000, erblickte anno 1982 (!) das Licht der Globetrotter-Welt und blieb danach unglaubliche zwei Jahrzehnte – exakt bis 2003 – fast unverändert im Programm. Kein Wunder, entwickelte sich der behäbige Kawa-Oldie insbesondere in den USA (unter dem Namen «Concourse») zu einer Art Kultbike. Die 2002 lancierte ZZR 1200, Nachfolgerin der beliebten ZZR 1100, war erstens vom Konzept her ein Sporttourer, zweitens trotz 152 PS mit ihrem Vergaser-Motor technisch veraltet und drittens mit dem barock-schwülstigen Design völlig von der (Zeitgeist-) Rolle. Der Flop war vorprogram- miert, die ZZR 1200 verschwand so schnell wie sie gekommen war. Doch dann tauchten im Herbst 2006 die ersten Bilder einer gigantischen, topmodern gestylten GTR 1400 auf. Die bald nachgeschobenen, ersten Fakten liessen aufhorchen: nur leicht gedrosselter PowerVierzylinder aus der fast 200 PS starken ZZR 1400, neu sogar mit variabler Ventilsteuerung, Monocoque-Chassis, Chip statt Zündschlüssel, Reifendruck-Sensoren; dazu Sport-Features wie Ram-Air-Luftkanäle, radial montierte und betätigte Bremszangen, USD-Telegabel und AntiHopping-Kupplung, und das Ganze garniert mit dem kompletten Reise-Klimbim, also mit grossen Koffern, ABS, aufwändigem Kardan-Antrieb mit zwei Kreuzgelenken und je Seite vierfach(!) gelagertem TetraLever plus massiver einteiliger Aluschwinge, elektrisch verstellbarer Frontscheibe, Beinbelüftungen, Bordcomputer und Steckdose. Wahrlich eine Menge Holz; die Kawasaki-Strategen schienen auf einen Schlag all das nachholen zu wollen, was sie in den zwei Jahrzehnten zuvor vernachlässigt Der elektronische, codierte GTR«Schlüssel» wurde mit Mitsubishi entwickelt. 08 / 2007 TÖFF | 1 hatten. Selbst den eingefleischten K 1200-, PanEuropean- und FJR 1300-Kapitänen blieb angesichts dieses Luxuspakets nichts anderes übrig, als ihr mitleidiges Lächeln durch anerkennendes Nicken zu ersetzen. Zumal der Preis mit 24 990 Franken bis auf wenige Fränkli mit der GT-BMW und der FJR-Yamaha identisch ist. Nur die ST von Honda kostet rund zwei Tausender weniger, ist aber dafür mit Abstand die Älteste, Schwächste und fahrwerksmässig Labilste im Gran-Turismo-Quartett. unzähligen Bitumenflecken in der Region des Töffler-Nirvanas um den «Col de la Schlucht» mahnen zur Vorsicht. Trotzdem stelle ich sofort fest, dass die äusserst bequeme Sitzposition – der Lenker ist 15 cm höher und fast 10 cm weiter hinten montiert als auf der ZZR 1400 – dank relativ weit hinten montierten Rasten auch sportliche Ansätze zulässt. Zudem verblüfft, wie schlank sich die trocken 279 kg und voll getankt 308 kg schwere GTR im Sattel «GTR-Fahrer haben Führerschein und Reisepass immer dabei.» Kawasaki-Pressetext Freddy Oswald vom Schweizer Kawasaki-Importeur Fibag hält für Raschentschlossene sogar noch ein Zückerchen parat: «Wer die GTR noch dieses Jahr postet, kriegt ein TomTom-GPS inklusive Halterung zum halben Preis, also für 500 Franken, dazu.» Singing in the rain … Nun steht also der silbern glänzende Kawasaki-Tourenpfeil vor mir. Startbereit für die Weltreise. Aus verständlichen Gründen hat der Hersteller jedoch den globalen Trip für die zur Weltpremiere eingeladenen Fachjournalisten auf einen ausgedehnten Ritt durchs Kurvenparadies Elsass, garniert mit einem Abstecher auf die deutsche Autobahn, reduziert. Na ja, immerhin. Nur: Es schifft. Nicht aus Kübeln, aber immer wieder und teilweise deftig. Die Strassen sind auf jeden Fall patschnass, die 10 | TÖFF 08 / 2007 Da kommt was: Die GTR ist ein 300+-kg-Koloss. anfühlt. Die Oberschenkel sind nicht zu stark gespreizt, dank dem vorne schmalen Sattel haben Normalgewachsene den Reisedampfer im Stand gut unter Kontrolle. Aber der Sitzkomfort ist nicht der alleinige Grund, warum der Schreibende trotz misslicher Bedingungen unter dem Helm fröhlich ein Liedchen anstimmt. Nein. Die tieferen Gründe sind der unglaublich sanft ansprechende, leistungsmässig über alle Zweifel erhabene Motor und das bei normaler Fahrweise fast ohne Kraftaufwand zu dirigierende Chassis. Motor: Das isses … Der Reihenvierzylinder stammt aus der mit Ram-Air grandiose 200 PS starken ZZR 1400, wo er von bösen Zungen als «Luftpumpe» bezeichnet wird, weil unterhalb von 5000/min zu wenig Kraft freigesetzt werde. Wie auch immer: Für den Einsatz in der GTR wurde der Motor massiv überarbeitet. Neue Kolben mit deutlich weniger Verdichtung, mehr Schwungmasse an der Kurbelwelle, zwei statt nur eine Drosselklappe pro Einlasskanal (Durchmesser 40 statt 44 mm), andere Nockenwellen mit weniger Ventilhub, dazu eine radial und hydraulisch aktivierte Kupplung mit weicheren Ruckdämpfern und Anti-Hopping-Vorrichtung. Als Höhepunkt des Umbaus gab es eine aus der Automobil-Technik entlehnte variable Steuerung der Einlass-Nockenwelle. Über ein ausgeklügeltes System kann – selbstverständlich von der Motorelektronik gesteuert – via ein Öldrucksystem die Einlass-Nockenwelle um FAHRBERICHT KAWASAKI GTR 1400 1 Bequemer reisen: Gestoppt wird nur bei leerem Tank oder voller Blase. 4 5 2 3 2 Novum: Variable Ventilsteuerung. 3 Gezähmtes Monster: Statt 200 ZZRPS «nur» deren 155, dafür mehr Druck von unten. 4 Steckdose (rechts) und gut zugängliche Höhenverstellung der Scheinwerfer. 5 Griffgerecht: Handrad für hintere Federvorspannung. 6 Aufwändig: TetraLever mit Kardan. 6 maximal 24 Winkelgrade in ihrer Position gedreht werden und damit stufenloser Einfluss auf die Öffnungs- und Schliesszeiten der Nockenwelle genommen werden. Die Praxis rechtfertigt den immensen Aufwand, mit dem die Techniker den ZZR- Kraftmocken zum Reisebegleiter umfunktioniert haben. Das extrem sanfte Ansprechverhalten in winkeligen Passagen und/oder auf nassen Strassen ist traumhaft, die Extradämpfer in der Kupplung verringern die Lastwechsel beim Schalt- vorgängen auf ein vernachlässigbares Minimum. Auch die Kraftentfaltung ist standesgemäss. Ab 2000/min geht’s mächtig zur Sache, ab 50 km/h regelt der 1352-ccmVierzylinder auf Wunsch alles im fünften Gang. Geschaltet wird beim genüsslichen Touren bei maximal 5000/min. Der 6. Gang wird im ebenso übersichtlichen wie vollständigen Multifunktions-Cockpit als «OD» (= Overdrive) angezeigt. Zu Recht, denn bei 100 km/h stehen noch deutlich weniger als 3000/min an. Auf der fast trockenen deutschen Autobahn zeigt dann der ZZR-Abkömmling sein zweites Gesicht: 155 PS sind eine Menge Pferde, entsprechend gnadenlos schlürft die GTR die «Gegner» durch ihre beiden Ram-Air-Schlünde. Was sich da zwischen 5000 und knapp 10 000/min abspielt, gehört ganz klar zur SupersportFraktion. Nur das aus dem unendlich langen, weit über das Maschinenheck hinausragende End(ofen)rohr – das grauenhafte Teil erinnert alte Hasen irgendwie an alte DDR-MZ – entfleuchende Säuseln macht den Unterschied. Die Kraft wird derart locker aus den Zylindern geschüttelt, dass Brüllen oder Fauchen völlig deplatziert wäre. Kurz: Es ist fast unmöglich, diesem Jetzt gratis Test-Exemplar anfordern. Tel. 044 806 55 55 Fax 044 806 55 00 E-Mail: [email protected] FAHRBERICHT KAWASAKI GTR 1400 Motor irgendwelche Kritik zukommen zu lassen. Oder halt, ja, vielleicht die leichten Vibrationen, die vor allem beim Gaszumachen bei mehr als 5000/min kurz durch die Rasten surren. Aber das wär’s dann schon, und stören tut’s eh nur Mimosen. Fahrwerk: Moderne Zeiten Ebenso sanft und fahrerfreundlich wie der Motor agiert das Fahrwerk. Das aus ZZR 1400 und ZX-12R bekannte AluMonocoque wurde angesichts des Zusatzgewichts und höherer möglicher Zuladung um 20 Prozent steifer gebaut. Der Radstand wuchs, verglichen mit der ZZR 1400, dank einer 30 mm längeren Schwinge und eines flacheren Lenkkopfs um total 60 mm. Interessanter sind aber die vordere und hintere Aufhängung. Vorne wurde praktisch eine komplette Einheit aus dem Sportler-Teileregal eingebaut: Einstellbare 43-mm-USD-Gabel, radial betätigte und montierte Vierkolbenzangen mit 310-mmWave-Scheiben, dazu natürlich ein ABSSystem. Hinten wurde es ganz aufwändig, denn die mit den üblichen zwei Kreuzgelenken versehene Kardanwelle wird von einem beidseits geführten «Tetra-Lever»System unterstützt, welches die lästigen «Fahrstuhl»-Reaktionen des Kardans beim Beschleunigen und beim Gaszumachen auffangen soll. Und tatsächlich: Die vollmundige Marketing-Parole «Wie eine Kette» ist nicht aus der Luft gegriffen. Selbst bei boshaften Auf/Zu-Bewegungen der Gashand herrscht verblüffende Ruhe im GTRHeck. Echt beeindruckend. Die Abstimmung der GTR ist natürlich Komfort-orientiert. Via Handrad lässt sich die Vorspannung hinten bei Bedarf rasch erhöhen, vorne und hinten kann die Dämpfung angepasst werden. Wie zuhause 1 Vielleicht die grösste Stärke des GTR-Fahrwerks ist aber die Leichtigkeit der Bedienung. Vom ersten Meter an fühlt sich der Reiter – wir reden hier von erfahreneren Leuten, nicht von An- 1 fängern – zuhause. Perfekt ausbalanciert, flutscht die nur von aussen massig wirkende GTR beim ruhigen bis zügigen Gleiten präzis um Ecken jeglicher Art und Grösse. Der nötige Kraftaufwand ist verblüffend gering. Bremsen, Kupplung, Schaltung, alles geht fast wie von selbst und ist tadellos auf den Einsatzzweck abgestimmt. Die Bremsen kommen auch mit dem hohen Gewicht gut klar, ziehen auf leichten Druck sanft an und packen bei kräftigem Druck energisch zu. Und zwar sowohl vorne als auch hinten. Bei rascher Gangart sind natürlich die mehr als sechs Zentner zu spüren. Schnelle Schräglagenwechsel verlangen Muckies, Linienkorrekturen Zeit. Bei schlechtem Untergrund und übertrieben sportlicher Gangart wackelt auch die GTR fröhlich mit dem Hintern, genauso wie alle anderen Tourer der Oberklasse. Wunder kann auch Kawasaki keine vollbringen. Die netten Kleinigkeiten Was es sonst noch zu sagen gibt? Der Windschutz ist insgesamt gut, die elektrisch vom Lenker aus verstellbare Scheibe ein Genuss. Trotzdem tobt ab 160 km/h 2 1 Nix Handarbeit: Scheibe elektrisch verstellbar. 2 Klasse-Tourer mit Sportgenen. 12 | TÖFF 08 / 2007 1 Mehr Schwungmasse und AntiHopping-Kupplung für den 1352-ccmVierzylinder. 2 2 Heute selbstverständlich: Radial montierte Bremszangen und ABS. der Orkan auch hinter dieser Scheibe, egal in welcher Einstellung. Schade auch, dass Füsse und Hände des GTR-Kapitäns ungeschützt im Wasser- bzw. Luftstrom stehen. An das Gefummel mit Chip-Karte und klobigem Schlüssel, der für Tank- und Kofferdeckel zuständig ist, muss man sich gewöhnen. Aber das Sicherheitsdenken rechtfertigt den Schritt zur Chipkarte. Kleines Detail: Ein mit einer BMW K 1200 GT mit prallvollen Koffern angereister Journalist packte versuchsweise um. Und siehe da: Alle Utensilien fanden auch in den GTR-Behältern Platz. Wagen wir nach 500 Kilometern ein erstes Fazit: Top-Motor mit viel Kraft und noch mehr Kultur, hohe Benutzerfreundlichkeit, Preis/Leistungs-Verhältnis zumindest auf Höhe der Konkurrenz. In diesem Sinne: Herzlich willkommen, Kawasaki GTR 1400! 1 1 www.toeff-magazin.ch Motorrad-Occasionen mit mehr als 10 000 Angeboten! Kawasaki GTR 1400: Technische Daten Motor: Flüssigkeitsgek. Reihenvierzylinder-Viertakter, DOHC (Kette), 4 Ventile/Zyl., variable Ventilsteuerung, Bohrung u Hub 84 u 61 mm, 1352 ccm, Verdichtung 10,7. Elektr. Benzineinspritzung/Zündung, Saugrohr-x 40 mm. Ölbadkupplung, 6 Gänge, Kardan. 155 PS bei 8800/min, 136 Nm bei 6200/min. Die GTR hat den ersten Töff-Motor mit variabler Ventilsteuerung. Fahrwerk: Monocoque aus Aluminium, 43-mm-USD-Gabel, Federvorspannung und Dämpferzugstufe einstellbar, Alu-Zweiarmschwinge mit Hebelumlenkung und Zentralfederbein, Federvorspannung und Dämpferzugstufe einstellbar, Federwege 113/136 mm. Vorn Doppelscheibenbremse, x 310 mm, Vierkolbenzangen, hinten Scheibe, x 270 mm, Zweikolbenzange. ABS. Alu-Räder 3,50-17 und 6,00-17 Zoll. Reifen 120/70-17 und 190/50-17. Der Monocoque-Rahmen ist eine Weiterentwicklung der ZX-12R. Abmessungen: Radstand 1520 mm, Lenkkopfwinkel 63,9°, Nachlauf 112 mm, Sitzhöhe 815 mm, Gewicht fahrfertig voll getankt 308 kg, Tank 22 l. Der langjährige Touren-Kaiser Yamaha FJR 1300 A zum Vergleich: 143 PS, Gewicht voll getankt 283 kg, Fr. 24 930.– Preis: ca. Fr. 25 000.–, lieferbar ab August 2007 in Schwarz oder Silber, nur mit ABS lieferbar. Import: Fibag AG, Bahnhofstrasse 19, 5745 Safenwil, Tel. 062 788 85 55, Internet www.kawasaki.ch Der Marktplatz mit ausführlichem Markenhändler- und Zubehörverzeichnis