Im Rückwärtsgang nach unten
Transcrição
Im Rückwärtsgang nach unten
A71991_November_2015_oben_abben_A71991_November_2015_oben_abben 19.11.15 13:31 Seite 18 Im Rückwärtsgang nach unten Für seine Küche ist das Land am Gotthard weiss Gott nicht berühmt in der Welt. Wenns ums Essen geht, hiess das erste Gebot in Uri viele Jahrhunderte lang nicht «Koche gut!», sondern «Verschwende nichts!» Wer Nahrungsmittel verschwendet, wird der Sage nach bös bestraft: mit lebendig gewordenen Puppen, die einem die Haut vom Leib schneiden, oder mit Ungeheuern, die ganze Landstriche verwüsten. Wer einfach nur schlecht kocht, bleibt ungestraft. Aber Sage war gestern. Heute ist schöne neue Welt. Mit Kochkunst auf allen Sendern. Mit exquisiten Zutaten in allen Auslagen. Mit einem Gourmet in jedem Menschen. Und dieser Gourmet gebietet auch dem Land am Gotthard: Koche gut! Wie weit es Uri in dieser Disziplin schon gebracht hat? Wissen wir nicht. Vielleicht müssten wir dazu die vereinten Kritiker der Gastro-Bibeln von Michelin und GaultMillau befragen. Wollen wir aber nicht. Lieber gehen wir selber hinaus ins Land. Drei Gasthäuser und ihre Köche nehmen wir uns vor, und zwar von oben in Uri bis ganz unten. «Obä-n-appä», wie man so sagt. Ach ja, und natürlich machen wir es so wie unser grosses Vorbild, der allseits gefürchtete Gastrokritiker Anton Ego aus dem köstlichen Animationsfilm «Ratatouille». Will heissen: Wir ordern kein fixes Menü, wir ordern Perspektive. Sollen uns die Köche auftischen, wonach sie gerade Lust haben. Wir schauen ihnen bei der Arbeit zu und sind dankbar für das Ergebnis. Keine Kritik. Das Einzige, was in die Pfanne gehauen werden soll, sind die Zutaten. 18 Beginnen wir also oben, oben in Andermatt. Auf 1447 Metern über Meer, im Luxushotel The Chedi Andermatt, kocht Dietmar Sawyere. Mit 15 Gault-MillauPunkten ist der gebürtige Schweizer der aktuell höchstdekorierte Koch im Urnerland. Jetzt steht er in der asiatisch-orientalischen Küche von «The Restaurant» und dämpft einen Crevettenknödel. Knapp und konzentriert, kein Handgriff zu viel und keiner zu wenig. Den Knödel serviert er später zu Kalb aus Andermatt und Kaviar aus dem Tropenhaus Frutigen. Die Verbindung von Ost und West zeichnet nicht nur das Gericht aus, nicht nur das Hotel The Chedi Andermatt insgesamt, sondern auch Dietmar Sawyere. Mit 16 Jahren startete er seine Karriere als Chef de Partie im Londoner Savoy Hotel. Nach zwei Jahren wechselte er in gleicher Position zu Michel Bourdin in das The Connaught Hotel in London, wo er 1982 zum Young Chef of the Year gewählt wurde. Es folgten Stationen in Neuseeland, Hongkong und Bangkok. 1988 ging Dietmar Sawyere nach Australien, wurde Executive Chef im «The Regent of Melbourne». 1993 eröffnete er in Sydney sein eigenes Restaurant, das «Fourty One». Es wurde in den folgenden Jahren mit Auszeichnungen überhäuft. Dann, nach mehr als drei Jahrzehnten im Ausland, kehrte Dietmar Sawyere zurück in die Schweiz. «It’s a nice place to grow up», sagt er. Ein schöner Ort zum Aufwachsen. Zusammen mit seiner australischen Frau und den drei Kindern im Alter von fünf, neun und zwölf Jahren wohnt Dietmar Sawyere zurzeit in Beckenried. Von dort kann er schnell mit der Seilbahn hoch zur Klewenalp, zu seinem liebsten Hobby, dem Skifahren. Von dort pendelt er auch schnell nach Andermatt, zur Arbeit im «The Chedi». Und was will er dort erreichen? Sterne von Michelin? Mehr Punkte von Gault Millau? «Glückliche Gäste!», sagt der 52-jährige Spitzenkoch. «Das ist alles, was am Ende zählt.» Dietmar Sawyere muss es wissen. Er stammt aus einer Gastronomenfamilie. Schon der Vater war Maître de Cuisine. Und bereits steht der zwölfjährige Sohn – es ist gerade Zukunftstag – in der asiatisch-orientalischen Küche, wo er dem Spitzenkoch zur Hand geht. Dietmar Sawyere selber wollte schon als kleines Kind Koch werden. «Ein frühes Foto zeigt mich im Alter von drei. Ich stehe am Herd und mache Rührei», sagt Dietmar Sawyere. «Ich glaube, es war ganz gut.» Runter gehts. Von Andermatt nach Wassen, vom «The Restaurant» zur Gourmetstube im Hotel Krone. «A la fine bouche» heisst diese Stube vielsagend. Seit eineinhalb Jahren führt dort Damian Fry die Kelle. Oder besser: die Pinzette. Tatsächlich. Mit einer langen Pinzette greift Damian Fry die frisch glasierten Karottenwürfelchen aus dem Pfännchen, um eins nach dem anderen auf einer halbmondförmigen Lage aus Kürbisfonds fein säuberlich im Teller zu platzieren. Schwarze Sepia-Gnocchi und violette Marokko-Margeriten vollenden den Halbmond. Doch das Zentralgestirn auf dem Teller ist – auf Senfsabayon und mit ein wenig Kaviar – ein Filet vom Red Snapper. Aus der nahen Reuss wurde dieser Fisch bestimmt nicht gezogen. «Das Hauptaugenmerk liegt zwar auch in meiner Küche bei regionalen Produkten; gute Dinge gibt es aber auch andernorts auf unserem schönen Planeten», meint Damian Fry. Besonders gern mag er: Stopfleber. Ein schlechtes Gewissen hat er deswegen nicht. «Eine Zeit lang wohnte ich bei meiner Tante in Frankreich», erzählt der Koch. «Die Tante hatte eine Nachbarin, und die Nachbarin hatte eine Gänsemast. A71991_November_2015_oben_abben_A71991_November_2015_oben_abben 19.11.15 13:31 Seite 19 Im «The Chedi Andermatt» oben trifft Ost auf West, auch auf dem Teller. Crevettenknödel mit Kalb aus Andermatt. Jeden Abend watschelten die Gänse in Einerreihe zum Stopfen. Besonders tierfreundlich war das nicht, trotzdem hatte ich nie den Eindruck, die Gänse lebten elend.» Ein elendes Tierleben bekomme dem Teller ohnehin schlecht, meint Damian Fry. Daher arbeitet er am liebsten mit Tieren aus freier Wildbahn. Dem Geschmack nach muss der Red Snapper auf dem Teller also ein extrem freies Leben im Atlantik geführt haben. Für solche Köstlichkeiten erhielt Damian Fry von Gault Millau auf Anhieb 14 Punkte. Und er will mehr. «15 könnten es schon sein», meint der 36-Jährige. An der nötigen Erfahrung fehlt es ihm nicht. Im Lauf seiner jungen Karriere diente Damian Fry unter anderem beim damals besten Koch der Deutschschweiz, bei Horst Petermann in der «Kunststuben». Zum ersten Mal allein gekocht hat Damian Fry mit elf. Es war der Hochzeitstag der Eltern. Gemischter Salat, Schweinskotelett nach Walliser Art, Fruchtsalat. Als es um die Lehre ging, wollte Damian Fry erst Goldschmied werden. Doch dafür hätte der junge Hospentaler nach Luzern gehen müssen. Zu weit. Also ging er nur bis Andermatt, ins Hotel Monopol, um Koch zu lernen – obschon ihm wegen der langen Arbeitszeiten alle abgeraten hatten. «Die Präsenzzeit ist wirklich sehr lang», sagt Damian Fry heute. Von morgens früh bis abends spät kommen für ihn und seine Freundin, eine gelernte Köchin, manchmal gut und gern 18 bis 19 Stunden zusammen. «Da gibt es kein Pardon.» Damian Frys liebstes Hobby heisst denn auch Schlafen. «Man ist immer erholt, wenn man es gemacht hat.» Kein Handgriff zu viel und keiner zu wenig: Dietmar Sawyere. 19 A71991_November_2015_oben_abben_A71991_November_2015_oben_abben 19.11.15 13:31 Seite 20 Die «Krone» in Wassen avanciert zur kleinen Kunststube. Auf dem Teller strahlt die Sabayonsonne mit Red Snapper. Vom Tiefschlaf zum geografischen Tiefpunkt unserer Reise. 478 Höhenmeter und einen Gault-Millau-Punkt unter der «Krone» liegt das Schlossrestaurant A Pro in Seedorf. Erbaut wurde das malerische Wasserschlösschen im Urner Reussdelta vor mehr als vierhundert Jahren von Peter A Pro. Dieser hatte es dank florierenden Geschäften im Söldnerwesen zu ungeheurem Reichtum gebracht. Heute gehört das Schlösschen dem Kanton, der es vor sieben Jahren als Gasthaus an René Gisler und dessen Frau Cornelia verpachtet hat. Zur Anlage gehört ein idyllischer Garten. Dort wachsen wunderbare Blumen – nicht nur schön zum Anschauen, sondern auch gut zum Essen. René Gisler hält denn auch eine blumige Kreation bereit: Tafelspitz vom Kalb mit Frischkäsemousse und einem bunten Herbstsalat an Kürbisvinaigrette mit Blüten von Kapuzinerkresse und Lavendel. Das Kalb verlebte sein Dasein im Muotatal. «Beim Fleisch ist wichtig, dass ich den Metzger und dessen Philosophie kenne», sagt René Gisler. Seine eigene Philosophie heisst: Qualität, Kreativität und Gastlichkeit. Das sind auch die Werte der Gilde, einer Fachvereinigung etablierter Schweizer Gastronomen, zu denen René Gisler mit Stolz gehört. Kochen ist für den 56-jährigen Seedorfer keine hehre Kunst, sondern solides Handwerk. Dieses Handwerk hatte er schon als Kind lernen wollen. Auf der Suche nach einer Lehrstelle landete er im Hotel Drei Könige in Andermatt. Nach der Lehre folgten Stationen in Zug, Baden, Zürich, Andermatt und Altdorf. Immer waren es Kleinbetriebe, so wie jetzt das Schlossrestaurant. Selbst bei Vollbetrieb stehen höchstens drei Personen in der Küche. Führt in seiner Küche Kelle und Pinzette: Damian Fry. 20 A71991_November_2015_oben_abben_A71991_November_2015_oben_abben 19.11.15 13:31 Seite 21 Im Schlossrestaurant A Pro in Seedorf haben auch Blumen Saison: Tafelspitz vom Kalb mit buntem Herbstsalat. «Der zeitliche Aufwand ist enorm», sagt René Gisler. «Da braucht es viel Freude.» Diese Freude zieht er aus den positiven Rückmeldungen der Gäste. Nach getaner Arbeit, spätabends, sitzt René Gisler dann am liebsten still daheim. Mit einem Stück Käse, einer Scheibe Brot, einer Wurst und einem Glas Wein. Ganz gemütlich. Ganz gemütlich verabschieden wir uns nun auch aus dem Schlossrestaurant. Unsere kleine Tour, «obä-n-appä» durch die Urner Gastronomie, ist zu Ende, das Menü gegessen, wenn auch in umgekehrter Abfolge der Gänge. Erst der Hauptgang in Andermatt, dann das Fischgericht in Wassen und zuletzt die Vorspeise in Seedorf. Der Gourmet in uns ist zufrieden. Es wird gut gekocht im Land am Gotthard. Solides Küchenkunsthandwerk mit schönen Perspektiven. Macht Lust auf ein Dessert. Christian Mattli Solider Handwerker mit Willkommenskultur: René Gisler. 21